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2. Die Wattenelfriede

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Die Pensionsmutter schloss die Haustür und schlurfte zurück zum Empfang. Sie verglich die Zeiger der Standuhr mit der Zeitangabe auf dem Computerbildschirm, der auf dem Tresen stand, und war zufrieden. In einer Viertelstunde würde Sandrine servieren. Zeit genug, um nach Oles Besuch ihre kleine Stube aufzuräumen oder wenigstens die Teetassen zu holen und auszuspülen. Mit dem dummen Stock in der Hand war das allerdings nicht einfach zu verwirklichen. Daher änderte sie ihren Plan.

»Wattenelfriede, du lässt deine Privatgemächer Privatgemächer sein und schreitest nun den Flur Richtung Esszimmer entlang«, befahl sie sich selbst, wie es ihr seit dem Tod ihrer Schwester zur Gewohnheit geworden war. »Tischdecken ist angesagt. Die Gäste gehen vor.«

»Wattenelfriede« war ein Spitzname, den ihr vor Jahrzehnten ein Stammgast gegeben hatte und dessen sich seitdem viele Besucher ihrer Pension bedienten. Sie hörte ihn gerne und bereute es, bei der Eröffnung ihres Hauses nicht von selbst drauf gekommen zu sein. Statt »Zum Wattenstieg« hätte sie die Pension dann »Wattengerda« getauft (immerhin stammte die Idee für dieses Haus ja von ihrer Schwester), eine Bezeichnung, die Touristen neugierig machen würde und sympathisch klang. Doch der eigentliche Name »Zum Wattenstieg«, der sich in der unmittelbaren Nähe der Pension zum Watt begründete, hatte sich damals bereits durchgesetzt; und Gerda – das war das traurige zweite Gegenargument – war zu jenem Zeitpunkt, als der Stammgast seinen Einfall hatte, leider längst verstorben.

»Der dumme Autounfall«, murmelte Elfriede. »Was hat er nicht alles kaputt gemacht.«

Sie dachte an den sentimentalen Ole, der ursprünglich Gerda hatte heiraten wollen und sich nicht daran störte, dass sie eine uneheliche Tochter hatte. Und sie dachte an Irmi, eben jene Tochter, die bei Gerdas Tod glücklicherweise noch jung genug gewesen war, dass sie den Verlust kaum gespürt hatte. Allerdings wäre später, als sie heranwuchs, der strenge Rat der leiblichen Mutter viel wirksamer gewesen als Elfriedes tantenhafte Warnungen hinsichtlich ihrer männlichen Verehrer. Mit Gerda an ihrer Seite wäre Irmi nicht an ihrer schlimmen Ehe zerbrochen, da war sich Elfriede gewiss.

Sie betrat den Speiseraum, das einzige wirklich geräumige Zimmer der Pension, und betrachtete die Bilder an der Wand. Viele Gäste hinterließen Fotografien von sich als Andenken, oft mit Unterschriften und Grüßen, und Elfriede hing die meisten an der Wand hinter dem Esstisch auf. Andere schmückten die Diele. Einige der Fotos waren sogar noch schwarzweiß, und auf einem von denen erkannte sie den Stammgast, der sie zum ersten Mal Wattenelfriede genannt hatte. Jetzt erinnerte sie sich an seinen Namen.

»Ulf Meininger«, sagte sie laut. »So hieß er. Wir waren auf einer Wattwanderung und er sagte plötzlich ›Wattenelfriede‹ zu mir und alle anderen lachten.«

Er war noch oft in ihre Pension gekommen und hatte keinen Hehl daraus gemacht, an der aufblühenden Irmi Gefallen zu finden. Die war sich jedoch zu fein gewesen für »den alten Meininger«, wie sie ihn abfällig genannt hatte, und war stattdessen auf einen Motorrad fahrenden, frechen Strolch hereingefallen.

»Schon komisch«, seufzte Elfriede und bezog sich damit auf den Umstand, dass sie in letzter Zeit immer öfter von melancholischen Erinnerungen überwältigt wurde. Vielleicht hatten ihre Zukunftspläne damit zu tun, vielleicht war es das Alter.

»Sandrine«, rief sie laut. »Du hast ja den Tisch schon eingedeckt! Das wollte ich doch tun.«

»Das war ich nicht«, schallte eine helle Stimme mit leichtem französischen Akzent aus der Küche zurück, »ich habe Immanuel gesagt, das zu tun. Er kann sich ruhig nützlich machen, finde ich.«

Wie aufs Stichwort trat Immanuel Stuber in den Speiseraum, die Hände voller Besteck. Er war ein blasser, sehr schlanker Mann mit Drei-Tage-Bart und länglichen Haaren, der immer barfuß ging. Sorgsam legte er das Besteck neben die Teller.

»Ich helfe gern«, sagte er, »wo ich doch zum halben Preis hier wohnen darf.«

»Unser Deal war, dass Sie Sandrine die Künste veganer Küche beibringen«, entgegnete Elfriede, »und nicht ihre Hausarbeiten übernehmen.«

Immanuel winkte ab.

»Machen Sie sich keine Gedanken. Sandrine lernt schnell und ich hätte ein schlechtes Gewissen, nur wegen der paar Tipps und Rezepte, die ich ihr gebe, bevorzugt zu werden. Wir können aber gern einen neuen Deal aushandeln und ich zahle doch den vollen Preis?«

»Ein mittelloser Student wie Sie«, wehrte Elfriede ab. »Kommt nicht in Frage.«

Insgeheim war sie froh, dass jemand ihr ein paar lästige Handgriffe abnahm, jedenfalls solange, bis Dr. Drozdowski endlich eine Erklärung – und viel wichtiger, eine Behandlung – für ihre Herzprobleme gefunden hatte.

Sandrine trat herein und ihre hochgewachsene Erscheinung beherrschte augenblicklich den Raum. Sie war jung, dunkelhäutig und strahlte immenses Selbstbewusstsein aus. Während sie ihre Blanquette de la mer auftischte, schallte es laut aus ihrer Kehle:

»Dîner!«

Man hörte Schritte aus dem oberen Stockwerk, wie sie über die Diele hetzten, die Treppe hinabliefen und sich dem Speiseraum näherten. Herr von Voss trat ein, nickte den anderen zu und setzte sich. Sandrine begann, die Teller zu füllen, und bewegte sich dabei ausgesprochen elegant.

»Monsieur, falls Sie den Kabeljau nicht mögen, müssen Sie mit Immanuel den Gemüseauflauf teilen. Ich weiß ja, dass Sie mit Fisch auf Kriegsbeil stehen, wie man hier sagt.«

»Auf Kriegsfuß«, berichtigte Immanuel und reichte Herrn von Voss freundlich die Schüssel mit dem Auflauf hin. »Das Kriegsbeil begräbt man, wenn man sich versöhnt.«

»Bon«, sagte Sandrine kurz und setzte sich.

Herr von Voss nahm dankend die Schüssel an. Elfriede wunderte sich: Hatte Ole vorhin nicht erwähnt, von Voss hätte sich in der Stadt ein Fischbrötchen geholt? Wie kam Sandrine darauf, er würde Meerestiere verschmähen?

»Ursprünglich wollte ich ja ein Wurstgericht für uns zaubern«, plauderte Sandrine weiter, »aber jemand hat unsere Wiener heimlich aufgenascht.«

Sie bedachte Elfriede mit einem gespielt strengen Blick. Jene zwinkerte schelmisch und steckte sich, statt zu antworten, einen großen Löffel Kabeljau in den Mund.

»Wie man Würste ausgerechnet kalt essen kann«, fragte sich die junge Köchin. »Sie sind doch dann gar nicht knusprig und noch dazu viel zu trocken!«

Sie schüttelte sich.

»Aber was wundere ich mich, hier isst man abends auch bloß einen Gang statt mindestens drei.«

»Wie man Würste überhaupt essen kann«, fügte Immanuel hinzu und bedachte nun seinerseits Sandrine mit einem strengen Blick, nur dass der nicht gespielt war.

»Keine Grundsatzdiskussionen über Fleischkonsum am Esstisch«, befahl Elfriede. »Darauf hatten wir uns bereits letzte Woche geeinigt.«

»Sie haben die Wattenelfriede gehört«, triumphierte Sandrine.

Herr von Voss blieb die gesamte Zeit still und aß brav seinen Teller leer. Elfriede beobachtete ihn dabei heimlich. Er hatte ein recht sanftes, liebenswertes Gesicht, das sein Alter nicht preisgab. Lediglich die fortgeschrittenen Geheimratsecken und grauen Schläfen verrieten, dass er nicht mehr jung war. Sonderbar erschien ihr jedoch die Eigenart, wie er niemandem für länger als ein paar Sekunden in die Augen schauen konnte. Zudem wirkte er die meiste Zeit angestrengt, wenn nicht sogar gehetzt. Fragte man aber, wie es ihm gehe, antwortete er stets freundlich, alles sei gut und zufriedenstellend.

»Herr von Voss«, sprach Elfriede ihn nach Sandrines Dîner an, »wollen Sie mit mir hinaus aufs Watt, eine kleine Wanderung in der Abendkühle machen? Der Gezeitentabelle zufolge ist jetzt das richtige Stündchen dafür.«

»Vielen Dank«, erwiderte ihr Gast. »Ich habe von Ihren geführten Wattwanderungen ausschließlich Gutes gehört, aber ich muss leider ablehnen. Ich, äh, habe in meinem Zimmer zu tun.«

Er stand von seinem Stuhl auf und wollte gehen. In der Tür machte er jedoch Halt und ergänzte:

»Vielleicht ein andermal.«

Dann verschwand er in der Diele. Als er weg war, meinte Immanuel:

»Ein komischer Kauz ist das. Immer so umständlich.«

Er machte Elfriede den Vorschlag, sie zu begleiten.

»Sie müssten allerdings ein Weilchen warten. Ich will schnell meine Kamera holen, um draußen ein paar Fotos zu schießen. Da haben wir sicherlich teilweise die gleiche Strecke.«

Elfriede schielte zum Fenster. Die Sonne war bereits untergegangen und sie konnte sich nicht vorstellen, wie man im Dämmerlicht gute Fotos schießen könne. Allerdings war sie bereit zu akzeptieren, dass moderne Technik so gut wie alles ermöglichte, und der junge Herr Stuber hatte das neueste Modell eines Fotoapparats dabei.

»Ich glaube, er trägt irgendein Geheimnis mit sich herum«, sagte Sandrine, in Gedanken immer noch bei Herrn von Voss.

Man merkte ihr eine mädchenhafte Neugier an.

»Sie finden ihn interessant?«, bohrte Immanuel nach.

Sandrine lächelte ihm keck zu.

»Ältere Männer haben so viel mehr zu bieten als – wie sagt unsere Wattenelfriede immer? – die Jungspunde.«

Immanuel lachte und beide begannen, den Tisch abzudecken. Elfriede wollte die jungen Leute ungestört lassen und zog sich nach draußen zurück. Vor der Haustür zog sie die Schuhe und Socken aus, stieg die Holztreppe zum Watt hinab und drehte ihre Runde auf dem kühlen, schlammigen Boden. Den Spazierstock gebrauchte sie dabei nicht zum Abstützen, sondern stocherte mit ihm gedankenverloren vor den Füßen herum.

Die salzige Abendluft tat ihr wohl. Ihre Brust schmerzte nicht mehr und Sandrines schmackhafte Blanquette de la mer lag gut im Magen. Nachdem sie einige Schritte gegangen war, schaute sie auf ihre kleine Pension zurück. Wie sie da im Abendlicht zwischen den anderen Häuschen stand, mit kleinen Holzfenstern und schmalen, steilen Dachschrägen, verstand sie, was die Touristen an dem Haus immer wieder so niedlich und einladend fanden. Nun ja, bald würde es mit alldem vorbei sein. Der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten und die modernen Zeiten forderten ihren Tribut.

Die Tür der Pension öffnete sich und Immanuel Stuber kam heraus. Eine Kamera baumelte an seinem Hals.

»Die ist nigelnagelneu, wie ich es mir gedacht habe«, murmelte Elfriede und verzog nachdenklich den Mund. »Muss ein Geschenk gewesen sein. Als Student dürfte er ein Ding wie das da nicht aus eigener Tasche bezahlen können.«

Immanuel näherte sich dem Watt, das er nur vorsichtig betrat.

»Immer barfuß rumrennen und sich dann vor ein bisschen Schlamm ekeln«, grunzte Elfriede belustigt. »Und das, wo er ausgerechnet Meeresbiologe werden will.«

Sie beobachtete ihn, wie er hier und da ein paar Fotos machte. Er kam jedoch nicht weiter auf sie zu, sondern blieb auf dem Deich, weil dort das Frankenhorner Stadtpanorama besser zu sehen war. Ihre eigene Strecke führte dagegen stets tief ins Watt, je nachdem, wie es die Ebbe erlaubte.

Über der Pension blinkten mittlerweile die Sterne auf und ließen die unbeleuchteten Fenster des Obergeschosses noch dunkler wirken, als sie ohnehin waren. Es schien, als ob die dahinter liegenden Zimmer tiefschwarz wären. Wieder kam Elfriede ins Grübeln. Das Zimmer, welches sie Herrn von Voss zugeteilt hatte, war eines von denen, die in Richtung Deich zeigten. Er hatte behauptet, noch arbeiten zu wollen.

»Aber bei völliger Dunkelheit?«, fragte sie sich leise.

Im Wattenstieg gingen sonderbare Dinge vor.

Barfuß ins Verderben

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