Читать книгу Barfuß ins Verderben - Bernharda May - Страница 5
4. Max
Оглавление»Zum Wattenstieg« – schon der liebevoll geschnitzte Wegweiser, der an der Straßenecke stand, erfüllte Max mit Vorfreude. Er verließ den Pflasterweg und lief, das Gewicht seines Rucksacks kaum spürend, die Holzbretter entlang, bis er vor der Pension seiner Großtante stand.
Kaum zu glauben, dachte er. Er war höchstens anderthalb Wochen fort gewesen und hatte trotzdem sein Zuhause unglaublich vermisst.
Er brauchte nicht zu klingeln, denn selbstverständlich besaß er einen Schlüssel. Bereits in der Diele roch es nach Sandrines köstlichem Essen. Auf dem Tresen des Empfangs lagen die bekannten Prospekte über Sehenswürdigkeiten der Umgebung, an der Wand dahinter hing die aktuelle Gezeitentabelle. Auf dem Regal war keine Vase zu sehen und beide Schwestern – Elfriede und Gerda – sahen von ihrem Doppelporträt zu ihm herab.
»Das heißt, Ole ist schon da«, folgerte Max.
Bevor er in den Gesellschaftsraum ging, wo er die anderen vermutete, brachte er sein Gepäck nach oben; natürlich hatte er als »Enkel des Hauses« sein eigenes ständiges Zimmer. Dort machte er sich kurz frisch und suchte anschließend seine Großtante auf.
»Oma Friede«, rief er und umarmte sie.
Nur er durfte sie so nennen, obschon sie gar nicht seine richtige Oma war.
»Wie geht es dir? Du hast gestern geschrieben, du würdest dich krank fühlen?«
»Nicht wohl«, berichtigte Elfriede ihn. »Ich schrieb, ich fühle mich nicht wohl. Das ist etwas anderes als krank! Aber nun, wo du da bist, geht es mir viel besser. Wer weiß, vielleicht trifft Dr. Drozdowskis Prophezeiung ein und deine Anwesenheit wirkt wie ein Heilmittel.«
Max merkte, wie seine Großtante mit jedem Wort mehr und mehr aufzublühen schien. Rosige Wangen, leuchtende Augen – so hatte ihn in seinem Ferienjob niemand angestrahlt.
»Hast es in der Großstadt nicht lange ausgehalten, wie?«, fragte Elfriede.
»Ach, weißt du… Ich erwarte ja nicht viel, wenn ich als Aushilfe jobbe, aber wenn man bei Betrieben wie T-raq von Anfang an nichts weiter tun darf, als den Laufburschen zu markieren, wie soll man da vorankommen? So geht man doch nicht mit jemandem um, der offen über einen Quereinstieg nachdenkt! Da schmeiß ich den Job lieber hin.«
»Wie so vieles andere«, kommentierte jemand von der Seite und Max drehte sich um. »Die Ausbildung zum PTA hast du ja auch hingeschmissen. Wer war damals schuld? Die launische Apothekerin? Die leidigen Allergien?«
Natürlich, Ole Klävers. Sein abschätziger Blick prallte an Max ab. Der alte Mann hatte nie verstehen können, warum ein junger Mensch eine Ausbildung abbrach oder ein Praktikum verwarf. Schon absurd, dass ausgerechnet einem Dichter dafür die Fantasie fehlte.
»Ich finde schon irgendwann das Richtige für mich«, sagte Max und reichte Ole versöhnlich die Hand.
Der strich sich erst seine weiße Strähne von der Stirn, ehe er sie schüttelte.
»Du weißt, ich habe Kontakte«, sagte er ernst. »Ich kann dich in einem Verlag oder bei einer Zeitung unterbringen. Du musst nur wirklich wollen und den nötigen Fleiß zeigen.«
Max nickte höflich, verzichtete aber auf eine Antwort. Derweil ertönte ein gutherziges Lachen aus einer anderen Ecke und Gustav mischte sich ein:
»Nimm den Jungen nicht so streng ins Gericht, Ole. Er ist eben ein Lebenskünstler. Ein Freigeist, der seinen Prinzipien treu bleibt.«
Er trat an Max heran und drückte ihn fest an sich.
»Schön, dass wir uns wiedersehen, Kleiner.«
Max freute sich zwar ebenfalls, auf die Umarmung hätte er aber gern verzichtet. Gustav J. Martens, der bekannte Maler, war ein kräftiger, großer Mann, der nur mit seinen Pinseln und Stiften zärtlich umging. Alle anderen fasste er mit liebevoller Grobheit an, weil er es einfach nicht besser konnte. Die Folge war, dass Freunde und Bekannte seine Zuneigung auf eher schmerzhafte, denn zärtliche Weise zu spüren bekamen.
Im Gegensatz zu Ole hatte Max den Künstler schon lang nicht mehr gesehen. Er sah keinen Deut älter aus als vor fünf Jahren, was im Großen und Ganzen seiner Glatze zu verdanken war. Max schwor sich, sein eigenes Haupt gleichfalls glatt zu scheren, sobald das erste graue Haar zu sehen war. Hoffentlich würde ihm das ebenso gut stehen wie Gustav.
»Darf ich dich von Oles lehrmeisterhaften Ratschlägen befreien und dir meine zauberhafte Begleitung vorstellen?«, fragte Gustav und führte Max quer durch den kleinen Gesellschaftsraum, hin zum Fenster. »Das ist Carmen.«
Vor Max stand eine Dame mittleren Alters, die ein rot-schwarzes Cocktailkleid trug, dazu silbernen Schmuck an Hals, Armen, Fingern und Ohren. Sie begrüßte ihn mit einem breiten Lächeln und zeigte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne zwischen ihren vollen, tiefroten Lippen.
»Ah, der junge Max! Freut mich sehr. Gustav hat viel von Ihnen erzählt.«
»Tatsächlich? Nur Gutes, hoffe ich.«
Carmen lachte. Es war ein gekünsteltes Lachen, aber bei Weitem nicht das am schlechtesten gespielte, das Max je gehört hatte. Sie erzählte ihm ungefragt, wie niedlich sie die Pension seiner Tante – oder war es Großmutter? – fände, wie sie die Aussicht aufs Meer genießen würde und überhaupt der Norden ja so faszinierend wäre.
»Gustav und ich wohnen in dem drolligen Bungalow hinter dem Haus«, schwärmte sie. »Dort, wo er seine größten Kunstwerke geschaffen hat. Elfriede hat ihm erlaubt, wieder ein Atelier daraus zu machen. Die Gute hat ohnehin kaum etwas darin verändert, seit er das letzte Mal da war. Und er wird ein ganz neues Gemälde schaffen. Aber keiner darf erfahren, was es sein wird. Es ist ein Geheimnis!«
Sie redete so laut, dass alle anderen im Zimmer unweigerlich zuhören mussten. Als das Wort »Geheimnis« viel, war es still. Max war zumute, als habe Carmen mit der Stille gerechnet, denn sie redete nun wichtigtuerisch auf alle ein:
»Unter Künstlern kann es nämlich vorkommen, dass einer dem anderen die Idee, den kreativen Einfall stiehlt. Darum sagt Gustav kein Wort über sein neues Werk. Nicht einmal mir, kann man sich das vorstellen? Aber ich füge mich. Die Launen eines Künstlers hat man selbstverständlich zu respektieren.«
Diese Frau ist unverschämt, stellte Max fest. Gustav hat ihr garantiert erzählt, wie vor zwanzig Jahren ein junger, aufstrebender Gestaltungskünstler seine Idee geklaut hatte. Das war ein dunkles Kapitel in der Geschichte des Wattenstiegs gewesen, denn der geistige Diebstahl hatte ausgerechnet hier stattgefunden und war zudem Elfriede zulasten zu legen.
Max erinnerte sich nur dunkel, denn er war damals noch ein kleines Kind gewesen. Aus Erzählungen wusste er jedoch genug. Jener Künstler hatte im Wattenstieg gewohnt und von Elfriedes Freundschaft zu Gustav J. Martens erfahren. Da hatte er ihr solange in den Ohren gelegen, bis sie ihm von dessen neuesten Projekt berichtet hatte: »Lidschatten« sollte ein Zyklus von Bildern heißen, der dadurch zustande kam, dass Gustav die Augen schloss, nachdem er lange in Lichter gestarrt hatte. Dann sollten die visuellen Eindrücke, die bei geschlossenem Lid entstanden, auf Leinwand festgehalten werden.
»Schwarzer Untergrund, naturgemäß, und darüber gleißende dünne Linien, violette Tupfer, orangefarbene Schimmer – alles sehr dunkel und unförmig – so hatte ich es mir vorgestellt«, hatte ihm Gustav Jahre später anvertraut. »Aber Elfriedes Plappermaul hat diesem Emporkömmling schon zu viel verraten. Er klaute meinen Einfall und machte daraus elektronische Kunst mit Monitoren und Glühlampen, die er ›Nicht-Bilder‹ nannte. Da brauchte ich mein Vorhaben natürlich nicht mehr in Angriff zu nehmen, sonst hätte man mich als Kopist verunglimpft.«
Dass Elfriede und Gustav dennoch ihre Freundschaft aufrechterhalten konnten, kam Max heute wie ein kleines Wunder vor. Carmens Kommentar dagegen musste ihnen wie frisches Salz auf alter Wunde vorkommen. Die Dame schien gar nicht zu merken, wie ihretwegen die Stimmung beinahe kippte. Zum Glück trat gerade Sandrine herein und verkündete mit gewohnt lautem Organ:
»Dîner! Folgen Sie mir bitte, alle!«
Der Esstisch war voll besetzt. Eigentlich wollte Max sich neben seine Großtante setzen, aber Carmen machte ihm den Stuhl abspenstig. Er nahm stattdessen zwischen Immanuel Stuber und Herrn von Voss Platz. Er konnte hören, wie Carmen der Gastgeberin zuraunte:
»Das finde ich ja mutig, hier auf dem Lande so multi-kulturelle Einstellungspolitik zu betreiben. Wo kommt Ihre Köchin denn her?«
»Fragen Sie sie ruhig selbst«, raunte Elfriede zurück. »Sie versteht unsere Sprache hervorragend.«
Carmen ergriff die Chance, sobald Sandrine ihren Teller füllte.
»Verraten Sie mir bitte, Sandrine: Wo kommen Sie her?«
»Moi? Aus Frankreich.«
Max entging nicht, wie Sandrine für den Besuch eine extra Portion französischen Akzent in ihre Worte legte.
»Nein, ich meine, wo kommen Sie wirklich her«, beharrte Carmen und deutete mit der Hand auf die dunkle Haut der Köchin. »Also ursprünglich.«
»Na, aus Frankreich«, erwiderte Sandrine. »Sagte ich doch.«
Es war zum Aus-der-Haut-fahren. Nicht nur Max, auch die anderen am Tisch waren peinlich berührt. Sie verstanden zwar, worauf Carmen hinauswollte, aber wie wenig Feingefühl für politische Korrektheit konnte ein Mensch heutzutage haben? Gustav hatte schließlich Mitleid mit seiner Geliebten, tätschelte ihre Hand und übernahm für sie das Wort.
»Sandrine, ich glaube, meine Begleitung meint Ihre Vorfahren.«
»Ach so!«
Sandrine hob mit gespielter Überraschung die Hände ans Gesicht. Max ahnte, dass die Köchin die ganze Zeit über gewusst hatte, was Carmen meinte, sie aber absichtlich zappeln ließ. Er fand das sehr sympathisch.
»Meine Großeltern verließen vor vielen, vielen Jahrzehnten Mali und kamen nach Frankreich«, erklärte sie. »Seitdem ist meine Familie französisch – naturellement!«
Mit dieser kurzen und bündigen Erklärung war das Thema für sie abgeschlossen. Sie setzte sich auf den letzten freien Stuhl, wünschte allen »Bon appétit!« und langte ordentlich zu. Die anderen taten es ihr nach.
Carmens Verhalten führte dazu, dass das Abendessen weitestgehend schweigend verlief. Niemand wollte sich eines neuen, vielleicht noch schlimmeren Fauxpas schuldig machen. Letztlich war es wieder Carmen, die nach dem Essen in ein neues Fettnäpfchen trat, indem sie ihre Zigarettenschachtel zückte.
»Ts, ts, ts«, machte Sandrine und wackelte tadelnd mit dem Zeigefinger. »Nicht in der Nähe meiner Küche rauchen. Das dulde ich nicht.«
Damit die Dame nicht allzu dumm dastand, kam ihr Max zu Hilfe. Er holte seinerseits eine Zigarette aus der Hemdtasche, dazu ein Feuerzeug, und sagte:
»Seitdem sie hier ist, versucht Sandrine allen und jedem, das Rauchen abzugewöhnen. Bei mir hat sie’s aber nicht geschafft. Gehen wir hinters Haus, Carmen, da steht ein Aschenbecher.«
Hinter der Pension befand sich neben der Terrasse ein kleiner Garten. Weiße Trittsteine führten über grünes Gras hin zum Bungalow, der Gustav und Carmen als Unterkunft und Atelier dienen sollte. Die beiden Raucher setzten sich auf eine alte Hollywoodschaukel und begannen eine harmlose Plauderei.
»Ich hab wohl eins, zwei Mal etwas Dummes gesagt«, gestand Carmen. »Das passiert mir immer wieder. Wie dankbar bin ich Gustav, dass er darum nie viel Aufhebens macht.«
»Ja, er ist in Ordnung«, erwiderte Max. »Er hat viel Verständnis für die Menschen.«
»Im Gegensatz zu Klävers«, bemerkte Carmen. »Ich habe mitbekommen, wie er Sie getadelt hat, Max. Und auch mich hat er heute Abend mehrmals mit einem bösen Blick bedacht. Er ist sicher sauer, weil ich offen zugegeben habe, kein Werk von ihm zu kennen. Als ich ihn fragte, ob er von seiner Lyrik wirklich leben könne, zog er sich ganz beleidigt zurück.«
Max musste kichern. Ja, Ole Klävers war sehr sensibel, was seine Dichtkunst anging. Zum einen bildete er sich viel darauf ein, nur in kultivierten Kreisen bekannt zu sein, zum anderen schmerzte es ihn, dass nicht einmal die hiesige Buchhandlung seine Poesiebändchen anbot. Er hatte einmal unter falschem Namen ein Dutzend seiner Bücher dort bestellt und nie abgeholt, in der Hoffnung, der Händler würde sie dann ins Schaufenster oder wenigstens an den Verkaufstresen stellen, um sie loszuwerden. Stattdessen hatte man das Dutzend einfach wieder an den Verlag zurückgeschickt.
»Über Ole Klävers muss man drei Dinge wissen«, erzählte er Carmen. »Sein Erstlingswerk hieß ›Zwanzigtausend Meilen über dem Watt‹ und sollte eine lyrische Hommage an Jules Vernes Roman und an seine eigene nordische Heimat zugleich sein. Ich fand es gar nicht schlecht, auch wenn man es nur einmal liest und dann nie wieder. Sandrine dagegen war der Auffassung, es müsse eher ›Zwanzigtausend Meilen unterm Niveau‹ heißen. Sie liebt Jules Verne und hält nichts von Nachahmungen.«
»Zwanzigtausend Meilen unterm Niveau«, lachte Carmen. »Das gefällt mir. Und die zwei anderen Dinge, die man wissen muss?«
Max nahm einen Zug, bevor er weitersprach.
»Die zweite Sache, deretwegen Ole bekannt wurde, ist sein Versepos ›Die drei Mütter‹. Darin geht es um drei Frauen, die darum wetteifern, wer von ihnen das besonderste Kind zur Welt bringt. Die erste gebärt eines aus Glas, das dann zerbricht. Die zweite gebärt nur einen Schatten, der verschwindet, sobald die Sonne untergeht. Und was die dritte zur Welt bringt, weiß ich nicht mehr.«
»Klingt wie ein Märchen«, meinte Carmen.
»Als solches war es auch konzipiert«, sagte Max. »Aber Oles Timing war denkbar schlecht. Er veröffentlichte das Epos während der Hochphase der Frauenbewegung, und eine Menge Feministinnen sahen darin Diffamierung, antiquierte Rollenbilder und allerhand mehr. Ihre Vorwürfe brachten Ole Klävers zwar als Dichter in die Schlagzeilen, sein Werk wurde aber eher geschmäht als gelesen.«
»Traurig für ihn«, gab Carmen zu. »Aber umso berechtigter ist ja dann meine Frage, wovon der Mann eigentlich lebt?«
Wieder kicherte Max. Statt zu antworten, begann er leise ein Lied zu singen:
»Hallo, Frau Routine,
jetzt ziehst du bei uns ein.
Jetzt kommt die gleiche Schiene,
tagein, tagaus, tagein.«
Carmen war ganz Ohr.
»Das kenne ich! Wie geht es gleich weiter?«
Sie sann kurz nach und sang dann:
»Hallo, Frau Routine,
du schaust bei uns vorbei.
Kochst mir und meiner Freundin
den täglich Einheitsbrei.«
Den letzten Vers hatten Max und Carmen gemeinsam gesungen und nun lachten sie. Beinahe fielen ihnen die Zigaretten aus den Händen.
»Das ist von Klävers?«, fragte Carmen ungläubig. »Ein alter, alberner Schlager?«
»Jedenfalls der Text ist von ihm«, antwortete Max. »Und egal, wie albern das Lied ist, es war damals ein großer Hit. Die Tantiemen sind’s, die Ole sein unabhängiges Leben ermöglichen.«
Vom Gelächter angelockt, gesellten sich Herr von Voss und Immanuel Stuber zu den beiden auf die Terrasse.
»Oh, es gibt Cappuccino?«, rief Carmen auf, als sie Herrn von Voss vorsichtig eine volle Tasse vor sich hertragen sah. »Wissen Sie, ob es auch Latte Macchiato gibt?«
»Ja, den gibt es«, sagte Herr von Voss und setzte sich sachte auf einen Gartenstuhl, damit nichts verschütt ging. »Auch Espresso und normalen Kaffee und Trinkschokolade.«
»Seit wann gibt sich Sandrine solche Mühe mit den Heißgetränken?«, wunderte sich Max.
»Oh, das ist nicht von der Köchin«, erklärte Herr von Voss. »Das ist aus dem Kaffeeautomaten in der Diele.«
Immanuel Stuber fiel ihm ins Wort.
»So ein Umweltsündergerät, wofür ein Haufen Plastikmüll produziert werden muss«, schimpfte er. »Aluminiumkapseln, Plastiktüten – und wo kommt das am Ende alles hin? Ins Meer, wo es von unschuldigen Tieren gefressen wird, die daran verenden.«
»Sie sind Umweltaktivist?«, erkundigte sich Carmen und ein Hauch Verachtung lag in ihrem Ton.
»Ja«, bekannte Immanuel stolz, »und leider der einzige Mensch weit und breit, der den langfristigen Schaden erkennt, der von Kaffeeautomaten und dergleichen verursacht wird.«
Carmen blies den Qualm durch die Nase.
»Ich denke eher, dass die Medien stark übertreiben, wenn sie uns solche Horrorszenarien präsentieren«, meinte sie lapidar.
Immanuel würdigte sie keines Blickes. Er starrte in den Garten und schüttelte unbewusst den Kopf.
»Ich kann deine Bedenken teilen«, mischte sich Max ein und fand nichts dabei, seinen Altersgenossen ungefragt zu duzen. »Es kommt ja noch hinzu, dass der Automat hier im Wattenstieg verhindert, dass die Pensionsgäste in eines der gemütlichen Frankenhorner Cafés gehen. Neben dem Umweltschaden ist also zusätzlich der wirtschaftliche Faktor zu berücksichtigen.«
»Oh, gleich zwei Umweltaktivisten«, rief Carmen aus. »Dann schweige ich lieber und verrate nichts über meine Haarspraydose, die ich immer mit mir führe.«
Die Männer schauten sie irritiert an. Sie wussten nicht, ob Carmens Aussage als Scherz gemeint war.
»Wie soll man denn sonst die Frisur instand halten bei diesem Seewind?«, fügte sie hinzu und schenkte der Runde ein weiteres, strahlendes Lächeln.
Immanuel ignorierte ihre Frage und wendete sich Max zu.
»Wenn du auch nicht mit dem Automaten einverstanden bist, könntest du ja die Wattenelfriede fragen, ob sie ihn wieder abschafft«, schlug er vor. »Auf dich hört sie, weil sie deine Tante ist.«
»Großtante«, korrigierte Max und dachte nach. »Mal sehen, was ich tun kann. Jetzt muss ich sowieso zu ihr, bestimmt dreht sie nochmal eine Runde auf dem Watt.«
Er drückte den Rest seiner Zigarette im Aschenbecher aus und erhob sich.
»Oh, ein Abendspaziergang am Meer«, schwärmte Carmen. »Wenn Gustav und ich nicht schon etwas vorhätten, würde ich zu gern mitkommen. Aber morgen um die Zeit darf ich Sie beide sicherlich begleiten?«
Wie kann eine Frau so töricht sein, fragte sich Max im Stillen. Laut erklärte er der Dame, dass ein Spaziergang auf dem Watt nicht jeden Tag zur gleichen Stunde stattfinden könne.
»Man muss sich hier nach Ebbe und Flut richten, wissen Sie«, erläuterte er. »Daher die Gezeitentabelle am Empfang.«
»Ach, ich Dummerchen«, lachte Carmen und zündete sich eine zweite Zigarette an. »Na, wie dem auch sei. Viel Spaß Ihnen beiden!«
Kokett schlug sie ihre Beine übereinander und in ihrem Gesicht lag Triumph. Jetzt hatte sie die ganze Hollywoodschaukel für sich allein.
*
Später auf dem Watt waren Elfriede und Max endlich unter sich. Die alte Frau stocherte wie gewohnt mit dem Spazierstock in der rechten Hand im Schlamm herum, mit der linken hatte sie sich bei ihrem Großneffen untergehakt.
»Carmen ist ja eine unmögliche Person«, urteilte Elfriede. »Gibt sich als Endvierzigerin aus und ist eindeutig Mitte Fünfzig. Ich hoffe, Gustav weiß das auch.«
»Falls nicht, wirst du es ihm verraten«, schmunzelte Max. »Auf deine einfühlsame, sensible Art.«
»Worüber habt ihr denn auf der Terrasse so gelacht?«, wollte Elfriede wissen.
Max berichtete von dem Gespräch über Ole und seine Großtante war sichtlich erheitert.
»Schade, dass Ole nicht mitgehört hat«, grinste sie. »Seinem Ego hätte das gut getan. Doch ich sollte nicht zu gehässig sein. Er will mir sein nächstes Werk widmen.«
Trotz der nächtlichen Dunkelheit konnte Max erkennen, wie sich ein Schleier von Zufriedenheit über ihr Gesicht legte. Er freute sich für die alte Frau und gönnte ihr eine stille Minute romantischer Träumerei, ehe er das Thema ansprach, was ihn schon den ganzen Abend beschäftigte.
»Der Kaffeeautomat, Oma Friede… Musste der wirklich sein?«
»Na, höre Mal, min Jung, das ist heutzutage selbstverständlich für unsere Gäste. Die Kaffeegewohnheiten sind vielfältiger geworden als früher. Du in deinem Alter solltest das am besten wissen.«
»Ja, schon klar«, erwiderte Max. »Aber eine Pension ist doch kein Service-Hotel. Ich fürchte, die typische Gemütlichkeit des Wattenstiegs geht verloren, wenn du dich mehr und mehr dem Mainstream anpasst.«
»Mainstream?«, fragte Elfriede und blieb stehen. »Was meinst du?«
»Ich meine damit nicht nur den Kaffeeautomaten. Das nächste wird ein Fernseher auf jedem Zimmer sein, ein 5-Gänge-Menü und Wi-Fi-Zugang für alle.«
»Und was wäre daran so schlimm?«
»Die Pension ›Zum Wattenstieg‹ ist deswegen so beliebt, weil sie so ursprünglich ist. Altmodisch, intim, geborgen… Die Leute kommen, um bei Meeresduft und Möwengesang abzuschalten, und nicht, um am Serviceangebot zu ersticken.«
Elfriede drückte seinen Arm liebevoll und setzte den Spaziergang fort.
»Ich verstehe schon, was du meinst. Keine Sorge, Wi-Fi kommt mir nicht ins Haus, solange ich dort wohne. Gäste, die beim Frühstück schon am Handy kleben, brauche ich nicht. Die Idee mit dem 5-Gänge-Menü dagegen – jetzt, wo wir mit Sandrine eine französische Kochkünstlerin haben…«
»Oma Friede!«
»Ich scherze nur. Keine Sorge, das mute ich dem armen Mädchen nicht zu. Sei beruhigt, Max, solange die Pension besteht, wird sich nicht mehr viel ändern.«
Max wurde stutzig.
»Wieso sagst du das so komisch?«
»Tat ich das?«
Elfriede blieb erneut stehen. Sie schwieg eine Weile und sagte dann in einem Ton, der sehr ernst und überhaupt nicht plauderhaft war:
»Höre zu, min Jung. Ich bin seit einer Weile am Verhandeln mit der Lighttower Group, der neuen Hotelkette. Du kennst sie?«
»Ja. ›Cosy but Uncostly‹ ist deren Slogan, nicht wahr? Unweit von Frankenhorn gibt es ein Hotel von denen, und bei meinem Ausbildungsplatz gab es auch eins, gleich um die Ecke. Wir waren da mal essen, kurz bevor ich abgebrochen habe. So ›uncostly‹ war das dann doch nicht, fand ich.«
»Um diese Hotelgruppe geht es jedenfalls. Deren Vertreter wollen an den Küsten Badehotels verschiedener Größenordnungen aufziehen und kamen auf mich zu. Die Verbindung mit Künstlern wie Gustav und Ole könnte den Standpunkt Frankenhorn für Touristen attraktiv machen, meinen sie.«
»Und du willst unseren Wattenstieg an sie verkaufen?«
»Richtig. Du weißt, dass mir das Alter zusetzt. Frau Drozdowski hat das ebenfalls angedeutet. Bekomme ich für meine Pension einen anständigen Preis, hat die Schufterei ein Ende und ich kann mich auf einen erholsamen Ruhestand freuen.«
Max verstand die Beweggründe seiner Großtante.
»Du sollst aber nicht leer ausgehen«, versprach Elfriede. »Die Verhandlungen ziehen sich etwas hin, weil ich dich als Gerdas Enkel versorgt wissen will. Noch zögern die Lighttower Hotels, meinen Bedingungen entgegenzukommen. Aber ich bin zuversichtlich und du wirst dann genug Geld haben, um gut leben zu können.«
»Es ist furchtbar lieb von dir, dass du bei dieser Sache auch an mich denkst«, sagte Max und war ehrlich gerührt.
»Für mich eine Selbstverständlichkeit«, wehrte Elfriede ab.
Ihr war nicht nach Sentimentalität, und im sachlichen Geschäftston fuhr sie fort:
»Von einer ganz anderen Seite habe ich ebenfalls ein Kaufangebot erhalten. Es reicht zwar nicht an jenes von der Lighttower-Gruppe heran, aber das brauchen die ja nicht zu wissen. Ich werde den Hotelleuten demnächst davon berichten und hoffe, dass sie spätestens dann meinen geforderten Preis zahlen und die Verträge unterzeichnen wollen. So, nun weißt du Bescheid. Zeit für uns, zurück an Land zu gehen. Die Flut kommt.«
Auf dem Rückweg ging Max das Gehörte mehrmals durch den Kopf, während er seine Zehen mit jedem Schritt in den weichen, kühlen Schlamm des Watts bohrte. Doch erst vor der Haustür der Pension, nachdem er seine Füße gesäubert hatte, äußerte er sich endlich zu dem Sachverhalt.
»Du hast vermutlich mit allem recht und tust das Richtige. Wenn du magst, begleite ich dich zum nächsten Gespräch mit Lighttower Hotels.«
»Das ist lieb von dir, min Jung«, sagte Elfriede und ging ins Haus.
Max blieb noch eine Weile auf dem Treppchen draußen sitzen. Erst allmählich wurde ihm bewusst, dass die Entscheidung seiner Großtante seiner sorglosen Jugend ein unwiderrufliches Ende setzte.
»Und die Wattenelfriede wird bald Geschichte sein«, flüsterte er in die Nacht.