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Die Witwe Appelhoff kennt die Jugend

Hoch im Norden, wo das Mecklenburgische unmerklich ins Vorpommersche übergeht und die Wellen der Ostsee mal feinen Sand, mal flache Steine unter die Schatten der Steilküsten spülen, liegt Friedershagen. Es gehört zu jenen kleinen Ortschaften, die vor vielen Jahrhunderten von mutigen Siedlern gegründet worden waren, nachdem der Mensch aus den drei Inseln Zingst, Darß und Fischland ein Ganzes geschaffen und mit dem Festland verknüpft hatte. Die so entstandene Halbinsel wird seitdem nordwärts von der See, im Süden von den Bodden begrenzt.

Freilich war Friedershagen zur Zeit seines Anfangs noch kein beschaulicher Urlaubsort gewesen wie jetzt, sondern ein gewöhnliches Fischerdorf. Heutzutage bringt traditioneller Fischfang allerdings wenig ein und die Leute müssen sich ihr finanzielles Einkommen auf andere Weise sichern. Zwar kann Friedershagen mit keinen großen Hotels aufwarten, wie man sie aus berühmten Ostseebädern kennt; doch immerhin gibt es neben zwei privaten Pensionen eine kleine Jugendherberge und ein Wirtshaus mit Gästezimmern, sodass zumindest jene Touristen eine Unterkunft finden, deren Komfortansprüche von bescheidener Natur sind.

Zwei solcher Touristen waren ein Herr und ein junges Mädchen, die sich eines Samstagmittags in der Jugendherberge als Alfons Schmidt nebst Tochter Madeleine anmeldeten. Sie erwischten die Herbergsmutter in einem erregten Zustand, der keineswegs ihrem gewöhnlichen Naturell entsprach. Nicht, dass sie sonst zu den mürrischen oder unsympathischen Mitmenschen gezählt hätte, aber ihre heutige Gesprächsbereitschaft wäre all ihren Freunden und Bekannten als unverhältnismäßig hoch eingeschätzt worden. Familie Schmidt, die zum ersten Mal in Friedershagen weilte, wusste das natürlich nicht und war angenehm überrascht, das Klischee des wortkargen Norddeutschen gleich bei ihrer Ankunft widerlegt zu finden.

»Willkommen in unserer kleinen Herberge! Hatten Sie eine angenehme Reise? Bei der Hitze sind Sie sicherlich mit offenen Fenstern gefahren. Oder hat Ihr Wagen Klimaanlage? Ich bin Anke Schubiak und immer für Sie da, wenn Sie irgendetwas brauchen – nur fürs Zuwedeln von Luft bin ich nicht zuständig, haha!«

»Schmidt mein Name«, erwiderte der Herr und lüftete kurz den Hut. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich meine Kopfbedeckung aufbehalte, aber die Sonne tut meiner hohen Stirn nicht gut.«

»Das kenne ich von meinem Ex-Mann, der hatte auch eine Halbglatze«, sagte Anke Schubiak leichthin, »und so förmlich müssen wir hier sowieso nicht sein. Ihre Ausweise bräuchte ich kurz, danke. Oh, aus Wismar sind Sie, wie ich sehe. Schöne Stadt, hat sich sehr herausgemacht in den letzten Jahren. Sie haben das Zimmer Zwo Null Drei, Herr Schmidt, und Ihre Tochter gleich daneben die Zwo Null Vier. Sie teilen sich das Bad in der Mitte. Hier die Schlüssel und dann bitte Ihre Unterschrift. Die Ausweise zurück. Frühstück ist von sieben bis neun, Nachtruhe ab 22 Uhr. Für den Strand können Sie sich extra Handtücher bei uns leihen. Bettwäsche bringt Ihnen mein Sohn gleich her. Den können Sie auch alles fragen, wenn Sie mich nicht vorfinden sollten. Das wird vor allem morgen der Fall sein, da kriegen wir nämlich hohen Besuch.«

»Hohen Besuch?«, fragte Madeleine und zeigte eine Reihe strahlend weißer Zähne. »Etwa ein Promi?«

»Ein Promi nicht«, lachte Anke Schubiak, »aber ein Komitee vom Heibideu.«

Madeleine musste über das merkwürdige Wort lachen, weil es in ihren Ohren sehr drollig klang. Herr Schmidt dagegen schaute irritiert drein, denn »Heibideu« sagte ihm rein gar nichts. Er strich sich nachdenklich über den Vollbart.

»Das ist die Abkürzung für einen neuen Verein«, erklärte Anke Schubiak. »Der Heimatliche Bildungsreisen Deutschland e.V. hat sich vor Kurzem gegründet und baut ein Netzwerk verschiedener Herbergen, Schullandheime und dergleichen auf, die einen besonderen heimatkundlichen Fokus bieten. Da hoffe ich natürlich, dass ich mit meinem kleinen Haus und den Programmpunkten drumherum überzeugen kann.«

»Wir drücken Ihnen die Daumen«, sagte Herr Schmidt freundlich, »und wenn es hilft, werden Madeleine und ich dem Komitee vorschwärmen, wie toll Sie es hier haben. Vielleicht kriegen wir ja dann Rabatt?«

»Ach, Sie scherzen«, lachte Anke Schubiak und rief nach ihrem Sohn. »Mattis, bring zweimal Bettwäsche!«

Ein hochgewachsener junger Mann kam um die Ecke, gelbgestreifte Bettbezüge unterm Arm, und grüßte schüchtern die Gäste. Seine Mutter wollte eben noch etwas sagen, als das Telefon klingelte. Mit einem Handzeichen gab sie Mattis zu verstehen, Familie Schmidt auf die Zimmer zu führen, während sie den Hörer abnahm. Dabei entging ihr, wie Madeleine ihrem Sohn keck zuzwinkerte.

»Jugendherberge Schubiak«, meldete sie sich. Kurz darauf zuckte sie zusammen. »Jetzt schon? Das ist aber zeitig! Danke, dass du mir Bescheid sagst! Ja, bis später!«

Sie legte auf und wählte eine andere Nummer.

»Gerlinde, hier ist Anke. Sag deiner Chefin, das Komitee sei bereits im Anmarsch! Die Kröger hat mich gerade angerufen, muss die Leute wohl gerade eben getroffen haben. Ja, das Fräulein Kröger. Nein, nicht die Frau Doktor. Deine Chefin soll so schnell wie möglich herkommen, ich brauche ihre moralische Unterstützung. Danke! Ach, wenn nur alles klappt!«

Ankes letzte Worte hörte Gerlinde am anderen Ende der Leitung schon nicht mehr. Sie hatte bereits aufgelegt und tippelte eilends von Küche zu Esszimmer, um die wichtige Neuigkeit zu überbringen.

Ihre »Chefin« war die wohlhabende Witwe Appelhoff, die gemeinsam mit ihrem Bruder in einem ehemaligen Gutsverwalterhaus lebte, welches etwas abgelegen von Friedershagen nahe am Bodden lag. Mit seinem Reetdach und der roten Backsteinfassade gehörte es zu den Schmuckstücken des Ortes. Gerlinde hatte dort bereits als junges Küchenmädchen gearbeitet, als die Witwe Appelhoff noch ein kleines Kind gewesen war. Später war sie zur Köchin und Haushaltshilfe aufgestiegen.

Aufgrund der vielen Jahre, die sie treu für die Familie gearbeitet hatte, und der wenigen Jahre, die zwischen ihrem Alter und dem der Witwe lagen, hielt Gerlinde allzu viel Förmlichkeit für unnötig. Ohne ihr Kommen mit einem Klopfen anzukündigen, platzte sie ins Speisezimmer und verkündete:

»Die Herrschaften vom Heibideu treffen ein. Die Schubiak wartet.«

»Danke dir, Gerlinde«, sagte die Witwe Appelhoff, am Kopfe des hölzernen Esstisches thronend, woraufhin die Köchin nickte und sich in ihre Küche zurückzog.

Ihr Bruder Jörg, der in seinem Rollstuhl an der breiten Längsseite saß, unterbrach für einen kurzen Augenblick die Zerteilung einer dicken Kartoffel.

»Heibideu?«, fragte er. »Heckst du wieder ein Projekt aus, um die verkorkste Jugend zu retten?«

»Wenn du es so formulieren willst«, antwortete die Witwe. »Anke will mit ihrer Jugendherberge dem Verein der Heimatlichen Bildungsreisen beitreten.«

»Und sie kann sich die Vereinsbeiträge leisten?«

Jörg war jemand, der stets skeptisch blieb und jeder guten Idee etwas Negatives abgewinnen konnte. Aber gerade darum mochte ihn seine Schwester so gern.

»Ich werde das Geld zunächst für sie auslegen. Für den Mitgliedsbeitrag erhält Ankes Jugendherberge Werbung in den Vereinsprospekten, die wiederum bundesweit an alle Schulen gehen, sowie eine Homepagegestaltung über Heibideu selbst. Unsere Hoffnung ist, dass durch die Reklame mehr Schulklassen auf uns aufmerksam werden und herkommen. Dann kommen die Auslagen wieder rein.«

»Und was sollen die Kinder hier in unserem abgelegenen Nest treiben? Auf die Bäume klettern, um W-LAN-Empfang zu kriegen?«

»Sie sollen etwas über die Boddenlandschaft lernen, die ja mehr oder weniger einzigartig ist«, erklärte die Witwe Appelhoff und fuchtelte dabei ungeduldig mit Messer und Gabel herum. »Sachkundelehrer nehmen ein Angebot wie dieses gewiss gern wahr. Stadtkinder können ihrer betonierten Umgebung entfliehen und sich hier in freier Natur bewegen. Dabei lernen sie die Küstenflora live kennen, statt darüber in trockenen Lehrbüchern zu lesen.«

»Noch dazu dürfen sie am Strand lärmen, bis sich keiner mehr dort entspannen kann«, bemerkte Jörg, denn er war auch jemand, der gern sarkastische Bemerkungen machte. Dies wiederum schätzte seine Schwester nicht sehr.

»Falls es dich tröstet: Der Heibideu richtet sich auch an Senioren und gestaltet geschichtliche Reisen aus. Einen Historiker wie dich dürfte das doch freuen?«

»Ich freue mich«, brummte Jörg und stocherte in seinem Gemüse herum.

Die Angewohnheit seiner Schwester, sich und ihr Vermögen für allerlei wohlmeinende Zwecke einzusetzen, empfand er trotz aller Ehrbarkeit manchmal als anstrengend. Die Witwe Appelhoff hingegen strahlte unbezwingbares Selbstvertrauen aus. Mit teurer Jacke und adrettem Hut bestückt, verabschiedete sich von Jörg, rief Gerlinde durch den Flur noch ein lautes »Tschüs« zu und schwang sich aufs Fahrrad.

Keine fünf Minuten brauchte sie, da war sie schon bei Anke Schubiak angelangt. In ihrem Übermut wäre sie beinahe mit einer anderen Frau zusammengestoßen, die soeben aus der Herberge trat, um abzureisen. Die Fahrradbremse quietschte, die fremde Frau erschrak und ihre pinkfarbene Reisetasche fiel zu Boden, als sie – gerade noch rechtzeitig – auswich.

»Entschuldigen Sie vielmals«, bat die Witwe Appelhoff.

»Kein Problem«, gab die Urlauberin freundlich zurück und begutachtete ihr pinkfarbenes Kleid, ob der aufgewirbelte Staub auch ja keine Flecke hinterlassen hatte. »Bei der Hitze sind unsere Reflexe eben nicht die besten, gell?«

»Lassen Sie mich wenigstens helfen, Ihr Gepäck wieder aufzulesen.«

Die beiden kamen ins Gespräch und nebenbei erspähte die Witwe Appelhoff, wie Anke Schubiak an der Tür zwei gut gekleidete Gäste empfing.

»Was das wohl für Leute sind?«, fragte die pinkfarbene Urlauberin. »Sie erscheinen mir etwas overdressed für den Besuch einer Jugendherberge, gell?«

»Das muss das Komitee sein, dass die Einrichtung prüfen will«, antwortete die Witwe Appelhoff. »Es geht um die Mitgliedschaft in einem neuen Netzwerk, müssen Sie wissen.«

Die beiden gut gekleideten Gäste verschwanden hinter der Eingangstür und ehe sie zufiel, schlüpften Alfons und Madeleine Schmidt hinaus und liefen in Richtung Strand.

»Komm, Papa, beeile dich!«, rief das junge Mädchen fröhlich.

»Dein alter Herr kann nicht so schnell, lauf nur schon voran!«

Die Witwe Appelhoff verabschiedete sich inzwischen von ihrer Zufallsbekanntschaft.

»Ich muss jetzt hinein und dazustoßen. Ich bin froh, dass unser kleiner Beinahe-Unfall nichts angerichtet hat und wünsche Ihnen eine gute Heimreise. Nicht wahr, es hat Ihnen in Schubiaks Jugendherberge doch sehr gefallen?«

»Äh, ja«, erwiderte die Urlauberin. »Es war alles hervorragend.«

Sie runzelte die Stirn, während sie ihre Reisetasche in den Kofferraum steckte.

»Klingt nach einem ›aber‹?«

Die Witwe Appelhoff wollte unbedingt wissen, ob etwas nicht in Ordnung gewesen sei. Jeder kleinste Mangel könnte schließlich den Erfolg beim Heibideu gefährden!

»Mir ist, als hätte ich die zwei Herrschaften schon mal gesehen«, sagte die Frau langsam. »In einem anderen Urlaubsort, letztes Jahr…«

»Das kann gut sein«, meinte die Witwe Appelhoff. »Die müssen sich ja vom Verein aus verschiedene Herbergen anschauen und reisen demzufolge viel herum.«

Die pinkfarbene Frau setzte sich ins Auto und startete den Motor, wirkte dabei aber geistesabwesend. Die Witwe Appelhoff wollte schon gehen, da rief ihr die andere aus dem geöffneten Fenster zu:

»Ich kann mich irren, aber ich muss Sie warnen: Die beiden sind nicht das, wofür sie sich ausgeben!«

Und damit fuhr sie davon. Nun war es die Witwe Appelhoff, die die Stirn runzelte. Was sollte sie denn mit dieser Warnung anfangen?

»Bestimmt irrt sich die Dame«, sagte sie zu sich. »Sie hat ja vorhin zugegeben, dass die Hitze ihr zusetzen würde.«

Die kryptischen Worte der Abreisenden beiseite schiebend, betrat sie die Jugendherberge und stellte fest, dass sich Anke Schubiaks Aufregung inzwischen so weit gesteigert hatte, dass ihre Geschwätzigkeit in völlige Sprachlosigkeit umgeschlagen war: Kaum eine Silbe konnte die Herbergsmutter von sich geben, während ein grauhaariger, untersetzter Herr mit Schnauzbart und eine dünne Dame mit verschnörkelter Brille auf der Hakennase sich bei ihr als Komitee für Heimatliche Bildungsreisen Deutschland e.V. vorstellten.

»Wir sind sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, Frau Schubiak«, lächelte der Herr und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Ewald Bunsen und das neben mir ist Mechthild Staudt.«

»Ja«, sagte Anke Schubiak nur und hätte beinahe ehrfürchtig einen Knicks gemacht, bevor sie sich darauf besann, wie albern das wirken würde.

»Wie besprochen werden wir die kommenden drei Nächte in Ihrem Etablissement verbringen und prüfen, ob Ihre Programmideen sowie die Angebote in der unmittelbaren Umgebung zu unserem Verein passen«, fügte die dünne Dame hinzu.

»Ja«, sagte Anke Schubiak wieder und blickte sich verunsichert um, als ob sie Verstärkung suche.

Die kam – rechtzeitig vor einer peinlichen Pause – in Gestalt der Witwe Appelhoff, welche energisch den Arm des älteren Herrn ergriff und kräftig schüttelte.

»Appelhoff mein Name«, lächelte sie, »ich habe Frau Schubiak geholfen, die Programme zu entwickeln, die wir für die Teilnehmer Ihrer Bildungsreisen anbieten könnten. Solange Frau Schubiak Ihre Daten in den PC eingibt und die Schlüssel zu Ihren Zimmern holt, kann ich Ihnen ja bereits ein paar Vorschläge zeigen?«

Während sich Anke Schubiak aus ihrer Starre löste und tat, was die Witwe Appelhoff ihr indirekt aufgetragen hatte, kramte Letztere aus ihrer Tasche mehrere Papierbögen hervor und breitete sie vor Herrn Bunsen und Frau Staudt aus.

»Wie Sie unschwer sehen können, haben wir unsere Ideen nach verschiedenen Kriterien sortiert. Ganz oben finden Sie Möglichkeiten, wie wir Schulklassen Erholung und Bildung zugleich bieten wollen – als Jugendherberge ist das ja unsere wichtigste Klientel. Aber wir haben auch die älteren Herrschaften berücksichtigt, die laut Ihrer Website ebenfalls gern Bildungsreisen über Heibideu buchen…«

Die Witwe Appelhoff hätte am liebsten gleich alles präsentiert, was sie sich für das Komitee ausgedacht hatte. Sie wurde jedoch von Familie Schmidt gebremst, die gerade vom Strand zurückkam. Herr Schmidt hatte sich mit Hut, Sonnenbrille und Jackett weitestgehend vor der Sonne geschützt, Madeleine dagegen trug einen knappen Bikini und hatte ihr Handtuch leger um die Schultern geworfen, um ihre frische Bräune zu präsentieren. Lediglich drei unappetitliche Mitesser auf der Stirnmitte schmälerten ihre jugendliche Schönheit. Fröhlich grüßten sie die anderen Gäste.

»Ein herrliches Wetter bei Ihnen«, schwärmte Herr Schmidt, »und dank der Seeluft leidet man auch nicht so schrecklich unter den Sonnenstrahlen.«

»Noch weniger gelitten hättest du, wenn du ins Wasser gekommen wärst, Vati!«, mahnte seine Tochter, ohne mit dem Kaugummikauen innezuhalten.

»Ach was«, Herr Schmidt zuckte mit den Schultern, »an den Dünen zu wandern ist ebenso schön. Ich habe ja gehofft, einen Kranich zu sehen, aber das ist mir noch nicht gelungen.«

Die Witwe Appelhoff mischte sich ein:

»An den Badestränden werden Sie kaum Glück haben, aber wandern Sie ruhig mal ins Naturschutzgebiet. Kranichzeit ist allerdings erst im Herbst.« Sie wandte sich an das Komitee. »Für eben jenen Zeitabschnitt haben Frau Schubiak und ich überlegt, ein saisonales Sonderprogramm rund um den Kranich zu kreieren. Was meinen Sie?«

Ehe Frau Staudt oder Herr Bunsen etwas erwidern konnten, schlug sich Herr Schmidt an die hohe Stirn.

»Sie müssen von dem Komitee sein, das die Herberge begutachtet, nicht wahr? Und ich plaudere mitten in Ihre Besprechung hinein, das tut mir leid. Was die Kraniche angeht«, er lächelte der Witwe Appelhoff zu, »danke für den Tipp! Dann gebe ich die Suche besser auf und mache es mir am Strand mit einem guten Buch gemütlich.«

»Du kannst gern von mir diesen schrecklichen Roman haben, den wir über die Ferien lesen müssen, Vati«, sagte Madeleine und holte ein blaues Taschenbuch aus ihrer Strandtasche hervor. »Er ist so sterbenslangweilig!«

»Du wolltest den Deutsch-Leistungskurs wählen«, erinnerte ihr Vater sie, »und ich habe dich gewarnt, dass da viel Lektüre auf dich zukommen wird.«

»Schon, aber über die Ferien…?«

»Ja, auch das. Es sind eh nur Pfingstferien. Und meckere nicht über den Roman, das ist ›Kleiner Mann – was nun?‹ von Fallada, den kann man wirklich gelesen haben. Wurde der Roman nicht sogar hier geschrieben?«

Er wandte sich ans Komitee, welches jedoch ratlos die Schultern hob und senkte.

»Nicht ganz«, wusste die Witwe Appelhoff. »Auf Hiddensee.«

»Nahe genug«, meinte Herr Schmidt. »Also kannst du das Buch in einer Umgebung studieren, die fast genau jener entspricht, wo es entstand. Toll, nicht wahr?«

Madeleine hatte für den Enthusiasmus ihres Vaters nur ein verächtliches Stöhnen übrig, woraufhin jener dem Rest der Anwesenden ein entschuldigendes »Teenager eben« zuwarf.

Mittlerweile hatte Anke Schubiak ihren zwei neuen Gästen die Zimmerschlüssel in die Hand gedrückt, Mattis hinzugerufen und ihn gebeten, das Gepäck des Komitees nach oben zu bringen.

»Wenn Sie sich frisch gemacht haben, werden Frau Appelhoff und ich Ihnen gern die nähere Umgebung zeigen und vielleicht schon eventuelle Programmvorschläge näher besprechen«, sagte sie und das Komitee war einverstanden.

Als der »hohe Besuch« sich entfernt hatte, atmete Anke Schubiak hörbar auf und drückte die Witwe Appelhoff an sich.

»Ich glaube, wir haben einen positiven ersten Eindruck auf sie gemacht!«

»Und dein Sohn scheint einen positiven Eindruck auf dieses junge Fräulein gemacht zu haben«, lächelte ihre Freundin belustigt und deutete auf Madeleine, die sich in eine Ecke gesetzt hatte und gelangweilt in ihrem blauen Taschenbuch blätterte.

»Was meinst du?«, fragte Anke Schubiak.

»Hast du den Blick nicht bemerkt, den sie Mattis zuwarf? Dein Sohn hat ihn jedenfalls kapiert, so rot, wie er anlief. Die Lütte scheint sich verguckt zu haben.«

Die Herbergsmutter zuckte desinteressiert mit den Achseln. Sie war nicht in der Verfassung, auf Flirtversuche junger Leute zu achten, wo es doch um die Zukunft ihrer Einrichtung ging. Um den gelungenen Ersteindruck beim Komitee zu festigen, holte sie die drei besten Fahrräder, die sie besaß, aus dem Keller packte kleine Getränkeflaschen und etwas Obst in einen Korb und lud Frau Staudt und Herrn Bunsen, sobald sie wieder aufgetaucht waren, zu einer Radpartie ein. Bewaffnet mit ihren Papierbögen schloss sich die Witwe Appelhoff an.

Sie fuhren durch Friedershagen, vorbei an mehreren Landhäusern (nicht alle so geräumig wie das Appelhoff’sche Anwesen), deren Fassaden mit buntbemalten Fensterläden verziert waren. Ihre Reetdächer erinnerten an die Zeit, als noch viele Seefahrer und Kapitänsfamilien darin wohnten. Anke Schubiak stellte während der Fahrt ihre Einfälle für mögliche Ausflüge des Heibideu vor.

»Unsere Kirche ist aus Kohlebrand-Backstein gebaut und manche unserer Häuser in Friedershagen stammen aus der Gründerzeit«, erzählte sie. »All diese Bauten sind für Reisegruppen reiferer Jahrgänge sehenswert, die sich für Architektur interessieren. Daneben wollen wir aber auch die geographischen und biologischen Besonderheiten integrieren, die wir hier mit Bodden und Ostsee direkt vor der Haustür vorfinden. Nicht wahr, Lotte?«

Die Witwe Appelhoff reagierte nicht, denn sie musste die ganze Zeit über an die Warnung der pinkfarbenen Urlauberin denken. Sie fragte sich, was an ihren Worten dran gewesen sein könnte. Im Gespräch über Hans Fallada hatte sie den Eindruck gewonnen, dass irgendwas nicht stimmte. War es die Tatsache, dass keiner vom Wirken des Schriftstellers auf Hiddensee gewusst hatte? Müsste einem Experten für Bildung und Heimatkunde so etwas nicht geläufig sein? Andererseits: Wieso sollten sich zwei Leute ausgerechnet als Heibideu-Komitee ausgeben? Was könnten sie damit bezwecken?

Als Herr Bunsen merkte, dass von seiner gedankenverlorenen Begleitung keine Antwort zu erwarten war, sagte er freundlich an ihrer Stelle:

»Ich finde, dass Ihre Jugendherberge eine vorzügliche Lage aufweist. Chancen für Erholung und Erforschung liegen selten so nahe beieinander wie hier. Nicht wahr, Frau Staudt?«

Letztgenannte, obgleich sie als die körperlich Fitteste erschien, hechelte unbeholfen hinterdrein, da sie schon lange keine Fahrradtouren mehr gemacht hatte. Dennoch war ihre Laune ungetrübt und sie stimmte ihrem Vereinskollegen zu:

»Vor und nach den Lerneinheiten und Forschungsstudien können die Schüler ohne verkehrstechnischen Aufwand zum Strand gelangen, um sich dort körperlich zu ertüchtigen. Das passt sehr gut zum Heibideu. Langsam wird es aber Zeit, dass wir zurückkehren und einen Blick über Frau Appelhoffs Verschriftlichungen werfen, meinen Sie nicht auch?«

Und dankbar nahm Frau Staudt zur Kenntnis, wie die anderen drei ihren Vorschlag annahmen. In der Herberge angekommen, wurden die Fahrräder abgestellt und man suchte den Speisesaal auf.

»Mattis wird die Räder in den Keller stellen«, sagte Anke Schubiak und sah sich suchend nach ihrem Sohn um. »Einstweilen wollen wir uns stärken. Sönke, unser Koch, ist für die Verpflegung hier verantwortlich.«

Sie geleitete das Komitee zur Kantine und stellte den Gästen einen Hünen von Mann vor.

»Freut mich«, sagte Herr Bunsen und wusste nicht, ob er den riesigen Mann siezen oder duzen sollte, denn Sönke war ein Name, den er weder als Vor- noch Zunamen einzuordnen wusste. Der Koch gab einfach nur ein »Tach« von sich und widmete sich wieder seinen Töpfen.

Anke sah sich immer noch nach Mattis um, fand ihn aber nicht. Die Witwe Appelhoff holte erneut ihre Unterlagen hervor und breitete sie auf dem Esstisch aus.

»Vorhin sprachen wir ja von den Angeboten, die wir erwachsenen Heibideu-Kunden machen könnten. Aber auch für Bildungsreisende im Grundschulalter haben wir etwas Feines: Eine Rallye bezüglich der Geschichte unserer Gegend! Das kommt bei Kindern ja immer an. Was Natur und Umwelt angeht, hat uns eine Lehrerin von hier geraten, Elemente wie Stationenlernen oder Gruppenpuzzle einzubinden. Was meinen Sie?«

Frau Staudt zeigte sich sehr beeindruckt und auch Herr Bunsen nickte zufrieden, bewiesen die Ausarbeitungen doch eindeutig, wie sehr sich die hiesige Jugendherberge auf die prüfenden Blicke des Vereins vorbereitet hatte. Sie diskutierten weitere denkbare Bildungsangebote, wobei die Witwe Appelhoff bemerkte, dass beide Vertreter vom Heibideu sich sehr gut mit den Gesprächsinhalten auskannten.

»Also sind sie doch vom Verein«, sagte sie sich, »und keine Betrüger. Man sollte eben auf die Worte von Zufallsbekanntschaften nichts geben.«

Frau Staudt fragte, ob es in Friedershagen auch schöngeistige Schätze wie berühmte Dichter oder Musiker gebe. Bunsens ursprüngliche Idee eines Kochkurses für Jugendliche, um ihnen die heimische Küche nahezubringen, kam allerdings nicht zur Sprache. Sönke hatte zwar ein schmackhaftes Abendgericht zubereitet, welches für Kantinenspeise wirklich überdurchschnittlich gut war; sein Auftreten wirkte aber nach wie vor einschüchternd und abweisend – unpassend für die Art von Kinderkochkurs, die dem Komitee vorschwebte.

Mahlzeit und Gespräch zogen sich bis in den späten Abend hin. Als die Sonne bereits untergegangen war, musste sich die Witwe Appelhoff verabschieden.

»Mein Bruder fragt sich bestimmt, wo ich stecke«, sagte sie und schüttelte den anderen die Hand. »Ich lasse Ihnen die schriftlichen Ausarbeitungen selbstverständlich hier. Vielleicht kann ich Sie ja überreden, mich morgen zu besuchen? Mein Haus liegt unmittelbar am Bodden, da können Sie aus nächster Nähe die vielfältigen Möglichkeiten sehen und einschätzen.«

Sie winkte Sönke zu und gab ihm mit erhobenem Daumen zu verstehen, wie sehr sein Abendessen ihr gemundet hatte. Der Koch nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis, wohl die freundlichste Geste, zu der er fähig war. Die Witwe Appelhoff eilte daraufhin zu ihrem Fahrrad, schwang sich auf den Sattel und fuhr davon, sich wundernd, dass Mattis die anderen drei Räder noch immer nicht in den Keller gebracht hatte.

Anke Schubiak kehrte mit den Gästen in den Speisesaal zurück und wollte ihnen gerade eine gute Nacht wünschen, als sie wütendes Gebrüll und Türknallen vernahm, das vom ersten Stockwerk zu kommen schien.

»Du meine Güte, ist es bei Ihnen immer so laut?«, fragte Frau Staudt.

»Und das nach Beginn der Nachtruhe«, tadelte Herr Bunsen.

Die Herbergsmutter versprach, nach dem Rechten zu sehen, und eilte hinauf. Auf halber Treppe kam ihr Mattis entgegen, ganz blass um die Nase.

»Kümmere dich um die Räder«, fuhr sie ihn an, ohne anzuhalten.

Oben traf sie einen entrüsteten Herrn Schmidt vor. Seine hohe Stirn leuchtete zornesrot und der Vollbart bebte vor Wut.

»Meine Tochter und ich reisen morgen ab. Unser Aufenthalt ist storniert!«

»Aber was ist denn los?«, wollte Anke Schubiak wissen.

Als Antwort wurde ihr die Tür vor der Nase zugeworfen. Ratlos sah sie zur Nachbartür, wo Madeleine mit verweinten Augen stand. Das Mädchen senkte den Kopf und schloss ihre Zimmertür ebenfalls, wenngleich bedeutend leiser als ihr Vater.

Für gewöhnlich würde Anke Schubiak geklopft und auf eine ausführliche Erklärung bestanden haben. Angesichts des Komitees, das auf der Treppe stand, verzichtete sie jedoch auf eine Fortführung der Szene.

»Wahrscheinlich familiäre Konflikte«, flüsterte sie Herrn Bunsen und Frau Staudt zu. »Kann in den besten Familien vorkommen.«

»So so«, sagte Herr Bunsen nur und zog sich aufs zweite Stockwerk zurück, wo sich sein Zimmer befand.

Frau Staudt folgte ihm stumm.

»Herrje, wie peinlich«, ärgerte sich Anke Schubiak und ging, da sie ja ohnehin nichts mehr an dem Vorfall ändern konnte, zu Bett.

Die Witwe Appelhoff erfuhr all das und noch mehr erst am folgenden Morgen, als sie in Friedershagens einziger Einkaufsmöglichkeit, Becks Lädchen, ihre Besorgungen machte. Dieses Lädchen war eine Mischung aus Kiosk, Lebensmittelgeschäft, Drogerie und Poststelle. Lorenz Beck stand am Schalter und war in ein Gespräch mit Frau Kröger und dem jungen Ortspolizist Peer Hövelmeyer vertieft, während die Witwe Appelhoff bei den Zeitschriften stand und nach einem Rätselheft für Profis suchte.

»Stinkwütend war er, als er ins Auto gestiegen ist«, sagte Frau Kröger, »stinkwütend! Und genauso stinkwütend hat Anke ihm nachgeschaut.«

»Kein Wunder, wenn er die Zeche prellt«, meinte Beck. »Glauben die Leute aus der Stadt etwa, sie würden überall freie Kost und Logis bekommen?«

»Anke Schubiak hat bei uns keine Anzeige gegen ihn erstattet«, gab Peer Hövelmeyer zu bedenken. »Wir wissen also gar nicht, ob er seinen Aufenthalt nun bezahlt oder nicht bezahlt hat.«

»Anke muss ihn verärgert haben«, mutmaßte Frau Kröger.

»Wie das denn?«, fragte Hövelmeyer. »Man hat bisher nie Schlimmes über ihre Herberge gehört.«

»Keine schmutzigen Betten, niemals schlechtes Essen…«, zählte Beck auf.

»Da bleibt nur eine Schlussfolgerung übrig«, behauptete Frau Kröger und sah die Herren mit einem ganz gewissen Blick an.

»Sie meinen –?« Beck wagte die Frage nicht zu beenden.

»Oh ja!« Frau Kröger nickte mehrmals. »Sie ist eine Frau im besten Alter. Und schon so lange geschieden!«

»Nein, das kann ich nicht glauben«, schüttelte Peer Hövelmeyer den Kopf.

Die Witwe Appelhoff hielt es nicht mehr aus. Wenn ihre Freundin Anke in ein Drama verwickelt war, wollte sie das genau wissen. Also fragte sie, was Frau Kröger genau gesehen haben wollte, und erfuhr, wie Herr Schmidt und seine Tochter bereits am Morgen, noch vor dem Frühstück, mit allem Gepäck abgereist waren.

»Hätte ich in dem Moment nicht gerade die Praxisfenster geputzt, ich würde das gar nicht bemerkt haben«, erzählte Frau Kröger.

Sie war die Gattin des hiesigen Arztes und sah es als eheliche Pflicht an, für Sauberkeit und Ordnung in dessen Praxis zu sorgen. Läge sie nicht so günstig in der Ortsmitte, von wo aus man alles Wichtige im Blick hatte – wer weiß, ob sie sich auch nur halb so tüchtig um die Fensterscheiben gekümmert hätte.

»Gestern wirkte die Familie noch sehr zufrieden mit der Herberge«, wunderte sich die Witwe Appelhoff. »Was da wohl vorgefallen sein mag?«

»Sehr peinlich jedenfalls für Anke«, meinte Frau Kröger. »Das Ganze spielte sich vor den Augen ihres hohen Besuchs vom Bildungsverein ab.«

»Und ärgerlich für mich«, fügte Beck hinzu. »Gestern kam die Tochter hier rein und wollte Schminkzeug kaufen, weil ihres zur Neige ging. Jetzt hab ich es bestellt und sie ist schon weg und ich bleibe drauf sitzen.«

»Ach, Lorenz«, tröstete ihn Peer Hövelmeyer. »Es werden schon andere junge Dinger kommen und dir das Make-up abkaufen.«

»Und die können sich dann hoffentlich besser schminken«, lästerte Frau Kröger. »Meine Schwägerin hat sie ja vor der abrupten Abreise noch getroffen und mir anvertraut, dass das Kind seine Pubertätspickel regelrecht mit Stolz vor sich her trüge. Tse! Zu meiner Zeit hat man noch gewusst, was ein Abdeckstift ist.«

»Weiß denn jemand, wohin die Schmidts abgereist sind?«, fragte die Witwe Appelhoff.

»Nicht offiziell«, sagte Frau Kröger und zögerte. »Mir war, als ob der Vater was vom Seebad-Hotel in sein Navi gesprochen hat. Ich stand putzend am Fenster und es stand offen, sodass mir nix anderes übrig blieb, als zuzuhören.«

»Da müssten die Ansprüche aber rasant nach oben gesprungen sein, wenn man von rustikaler Jugendherberge gleich zum mondänen Seebad-Hotel wechselt«, bemerkte Beck. »Du wirst dich wahrscheinlich verhört haben.«

Die Witwe Appelhoff merkte sich all diese Informationen, bezahlte ihr Rätselheft und radelte schnurstracks zur Jugendherberge. Sie fand eine bleiche Anke Schubiak an der Rezeption vor, die zu keinem Lächeln fähig war.

»Ach, Lotte«, seufzte sie, »wenn ich nur wüsste, was den Herrschaften missfallen hat! Die Tochter schwieg sich aus und der Vater fluchte unentwegt. Mattis weiß vielleicht Bescheid, aber ich finde ihn nirgends.« Ihre Hände zitterten vor Aufregung. »Ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht haben sollte!«

Die Witwe Appelhoff störte sich an Ankes zunehmender Unsicherheit, die vor den Gästen ein schlechtes Bild abgab. Kurzerhand übernahm sie die Führung: Der Herbergsmutter wurde verordnet, die leeren Zimmer der Schmidts zu säubern sowie anschließend Sönke wegen der Mittags- und Abendspeisung zu instruieren, und die Witwe Appelhoff wollte selbst die Rezeption betreuen, bis sich Mattis einfinden würde. Auch um das Komitee wollte sie sich kümmern.

»Wir lassen uns von den Launen der Schmidts nicht unterkriegen«, stellte sie fest. »Wenn du erst einmal Mitglied im Heibideu bist – und das wirst du bald – wird der heutige Stress vergessen sein.«

Anke ließ sich von ihrer energischen Freundin überzeugen, lud Wischeimer und Scheuerlappen auf den Wäschekorb und machte sich damit auf zu den Zimmern. Der Empfangsbereich der Jugendherberge war nun leer und still. Die Witwe Appelhoff nutzte die Gunst der Stunde und nahm den Telefonhörer in die Hand.

»Wollen doch mal sehen, ob Frau Krögers Ohren sie nun getäuscht haben oder nicht«, murmelte sie bei sich, wählte die Nummer des Seebad-Hotels und fragte, sobald sich eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung meldete, nach Herrn und Fräulein Schmidt.

»Sie haben ein Gepäckstück bei uns gelassen, das wir ihnen gern nachschicken würden«, log sie. »Sie müssten erst kürzlich eingetroffen sein.«

»Ich bedaure, wir haben heute noch keine Neuankömmlinge empfangen«, sagte die freundliche Stimme, »und wir erwarten auch keine Gäste dieses Namens.«

»Würden Sie es Ihnen ausrichten, sobald sie bei Ihnen ankommen?«

»Das wird kaum möglich sein. Wir sind zurzeit ausgebucht und haben diesbezüglich ein Schild vor der Einfahrt. Familie Schmidt wird sich gewiss nicht die Mühe machen, trotzdem bei uns vorzusprechen.«

Die Witwe Appelhoff bedankte sich für das Gespräch, legte auf und ärgerte sich, denn zu gern hätte sie herausgefunden, was es mit der Szene zwischen Vater und Tochter auf sich gehabt hatte. In ihren Augen war es ungeheuer rücksichtslos von den beiden gewesen, ihren Zwist in Anwesenheit des Komitees auszutragen, wo sie doch wussten, wie wichtig ein guter Gesamteindruck für die Jugendherberge war.

»Wenn ich diesen Schmidt wenigstens erreichen könnte! Mit etwas Überredung meinerseits sieht er bestimmt ein, dass er uns eine Erklärung schuldig ist.«

Herr Bunsen kam an die Rezeption, grüßte kurz und sprach mit ernster Miene:

»Wegen des Lärms habe ich heute Nacht kaum ein Auge zugetan. Den Besuch bei Ihnen werde ich nicht wahrnehmen können, denn ich bin mit der Suche nach einer Apotheke schon genug beschäftigt.«

»Was für Lärm denn?«, erkundigte sich die Witwe Appelhoff scheinheilig. »Ich dachte, die unangenehme Szene zwischen Vater und Tochter spielte sich heute Morgen ab, als alle schon auf den Beinen waren?«

»Mitnichten! Gestern Abend – nach Beginn der Nachtruhe – gab es einen Eklat zwischen den beiden, dem wir alle unangenehmerweise beiwohnen mussten. Selbst danach tat ich kein Auge zu. Die junge Frau heulte in ihrem Zimmer, der Mann trottete auf und ab. Wie soll man da schlafen?«

Die Witwe Appelhoff linste ins Gästebuch der Herberge und stellte fest, dass das Komitee nicht im selben Stockwerk wie die Schmidts untergebracht war. Als sie Herrn Bunsen darauf ansprach, antwortete der:

»Eben drum habe ich ja nicht schlafen können. Mein Zimmer liegt genau über dem dieser merkwürdigen Familie. Ein Glück, dass sie weg sind. Dennoch wäre es mir lieber, mit einem Schlafmittel für die kommende Nacht gewappnet zu sein. Man weiß ja nicht, ob noch unliebsamere Gestalten anreisen.«

»Eine Apotheke werden Sie in Friedershagen nicht finden«, bedauerte die Witwe Appelhoff. »Da müssten Sie den Nachbarort aufsuchen. Einfach durchs Wäldchen Richtung Westen. Eine schöne Wanderstrecke übrigens.«

Herr Bunsen wollte lieber das Auto nehmen, verließ die Herberge und Ruhe kehrte ein. Die Witwe Appelhoff wunderte sich über seine Lärmempfindlichkeit, denn als regelmäßigen Besucher von Jugendherbergen hätte sie ihm ein dickeres Fell zugetraut.

»Andernorts wird die Nachtruhe viel häufiger gestört als in diesem Haus«, murmelte sie zu sich selbst. »Wenn ganze Abschlussklassen eine Schulfahrt unternehmen, werden Nachtruhezeiten doch meist als bedeutungslos abgetan. Das wüsste er, wenn er regelmäßig Herbergen besichtigt und die Jugend kennt.«

Die Witwe Appelhoff kannte die Jugend nämlich. Aber Herr Bunsen vielleicht nicht so gut, wie er sollte? Das kleine Wörtchen »wenn« blieb in ihrem Kopf hängen und erinnerte sie an das, was die Frau in Pink gesagt hatte. Möglicherweise war Herr Bunsen gar nicht Mitglied vom Heibideu und gab sich nur als solches aus? Seine Unkenntnis über den Herbergsalltag würde erklären, warum er so unvorbereitet auf nächtlichen Lärm reagierte. Und nachdem die Witwe Appelhoff ihn gestern beim Abendessen beobachtet hatte, fiel ihr auch ein Motiv für einen solchen Betrug ein.

»Der schaufelt Sönkes bestes Essen in sich rein, weil er als angebliches Vereinsmitglied nichts bezahlen muss! Am Ende sind seine Begleitung und er Schmarotzer, die sich auf diese Weise durch zig Etablissements schnorren! Na, dem werde ich auf die Spur kommen.«

Sie schaltete ihr Smartphone ein, surfte durchs Internet und fand die Website des Heimatlichen Bildungsreisen Deutschland e.V., wo beinahe alle Mitglieder des Vorstandes aufgelistet und mit Foto vorgestellt wurden. Nur von Frau Staudt und Herrn Bunsen gab es kein Bild, was den Verdacht gegen sie erhärtete.

Schon wollte die Witwe Appelhoff aufspringen und die vermeintliche Betrügerin zur Rede stellen, als auf dem Display des Telefons eben jene Nummer aufleuchtete, die sie vorhin selbst gewählt hatte. Gewiss meldete sich das Seebad-Hotel, um von den Schmidts zu berichten. Doch als sie den Hörer abnahm, herrschte sie eine dunkle Stimme an:

»Mattis Schubiak?«

»Nein, hier ist…«

»Richten Sie Mattis Schubiak aus, er soll sich umgehend melden. Er weiß Bescheid.«

»Aber bei wem denn? Worum geht es überhaupt?«

»Geht Sie nichts an. Er weiß Bescheid.«

Und der Anrufer am anderen Ende der Leitung legte auf. Die Witwe Appelhoff hätte schwören können, dass es Schmidt war, der da gesprochen hatte. Aber ohne seine gute Laune klang er rabiat und bedrohlich. Zudem schien Ankes Sohn in der Angelegenheit irgendeine Rolle zu spielen, und der Umstand, dass er immer noch nicht aufgetaucht war, irritierte die Witwe Appelhoff sehr.

»Ich muss meine Gedanken ordnen«, entschied sie und radelte, nachdem sie sich von Anke abgemeldet hatte, zurück nach Hause.

Als sie mittags mit ihrem Bruder auf der Terrasse saß, ließ sie die Begebenheiten Revue passieren. Jörg blätterte in einem Buch über antike Seefahrt, konnte sich aber nicht konzentrieren, weil ihn eine unregelmäßige Bewegung ablenkte, die er in den Augenwinkeln wahrnahm. Er schaute auf und sah, wie seine Schwester fortwährend ihren Kopf schüttelte.

»Was, in Gottes Namen, beschäftigt dich denn so sehr?«, fragte er sie und klappte das Buch zu.

»Ach, es war ein blöder Vormittag«, seufzte seine Schwester. »Ich musste Anke ständig unter die Arme greifen, weil Mattis nirgends zu finden war.«

»Mattis Schubiak war heute drüben in der Stadt auf der Bank«, wusste Jörg. Als seine Schwester ihn daraufhin verwundert anstarrte, fügte er hinzu: »Gerlinde war ebenfalls dort und hat ihn gesehen. Als sie vorhin kochte, hat sie es erwähnt.«

Die Witwe Appelhoff machte nur kurz »aha« und gab sich dann wieder ihren Gedanken hin, die sich nun eingehender um Mattis und den merkwürdigen Anruf in der Jugendherberge drehten. Jörg schätzte richtig ein, dass der Gesprächsbedarf seiner Schwester gedeckt war, gab seinem Rollstuhl einen Schubs und verabschiedete sich.

»Ich lese in meinem Zimmer weiter.«

Die Witwe Appelhoff machte wieder nur »aha«. Aber das war Jörg gewohnt. Ebenso war er gewohnt, allein am Kaffeetisch zu sitzen, weil seine umtriebige Schwester ihren Tag gern mit möglichst vielen Vorhaben füllte, die gewöhnliche Leute auf eine ganze Woche verteilen würden. So aß er denn in aller Ruhe sein süßes Hörnchen mit Orangenmarmelade, während die Witwe Appelhoff bereits ihr Fahrrad vor der Jugendherberge abschloss und Anke Schubiak aufsuchte.

»Nanu«, wunderte sie sich, »ich finde dich mit dem gleichen besorgten Gesichtsausdruck vor wie heute Morgen. Immer noch Ärger wegen der Schmidts? Ich dachte, da wäre langsam Gras drüber gewachsen…«

»Ach, das ist Schnee von gestern«, winkte Anke Schubiak ab. »Viel schlimmer ist, dass wir einen Dieb im Haus haben. Deswegen habe ich auch unseren Gendarm herbestellt.«

Ortspolizist Peer Hövelmeyer kam aus dem Hinterzimmer und grüßte freundlich. Auf den fragenden Blick der Witwe Appelhoff erklärte er:

»Herr Bunsen kann seit der Mittagsruhe seine neu gekauften Schlaftabletten nicht finden und dann stellte Frau Schubiak fest, dass auch noch ihr Geld weg ist.«

»Welches Geld?«

»Unsere Einnahmen vom letzten Monat«, sagte Anke. »Ich hatte sie noch nicht zur Bank gebracht. Jetzt kann ich Sönke das Gehalt nicht zahlen, er wird sich weigern zu kochen und dann haben wir die Komitee-Mitglieder endgültig verprellt, überempfindlich, wie die sind.«

Die Witwe Appelhoff war nicht dumm. Was, wenn das Komitee absichtlich überempfindlich reagierte? Vielleicht waren die zwei nicht nur Schmarotzer, sondern auch Diebe? Der Ärger mit den Schmidts wäre für sie leicht auszunutzen gewesen: Bei dem morgendlichen Trubel hätte einer von ihnen heimlich an den Safe gehen können, während die Herbergsmutter mit den Gästen gestritten hatte.

»Und wenn zwei Herbergsgäste Hals über Kopf abreisen und gleichzeitig Geld verloren geht, liegt es schließlich nahe, dass es einen Zusammenhang gibt«, fuhr sie fort. »Bunsen und Staudt könnten jeglichen Verdacht auf den Vater und seine Tochter lenken, um denen das Verbrechen anzuhängen.«

Anke zerstreute ihren Verdacht.

»An den Safe kommt keiner so leicht ran, der ist in meinem Schlafzimmer. Weder Bunsen noch Schmidt wären dahin gelangt.«

»Trotzdem könnte das Geld noch bei jemandem hier im Haus sein. Hövelmeyer muss eine Durchsuchung machen.«

»Und wenn sich das Ganze als Irrtum herausstellt, haben wir eine Verleumdungsklage am Hals. Nicht zu reden davon, dass wir den Heibideu vergessen können.«

Die Witwe Appelhoff schielte in die Kantine. Frau Staudt schenkte ihrem Kollegen gerade eine Tasse Tee ein und versuchte ihn aufzuheitern. Sie riet ihm sogar, die Einladung an den Bodden anzunehmen, um mit der Prüfung der Angebote fortzufahren. Das tat sie so freundlich, dass die Witwe Appelhoff zugeben musste, in ihr nur schwerlich eine Kriminelle sehen zu können.

»Aber wer käme denn noch in Frage? Während des fraglichen Zeitraums waren doch sonst keine Gäste in der Herberge, oder?«

Anke verneinte.

»Und deine Mitarbeiter?«

»Die Aushilfe hatte gestern frei. Deswegen konnte ich dich ja so gut gebrauchen. Sönke hat keine Ahnung, wo der Safe ist.«

»Bleibt nur noch einer.«

Anke wurde rot.

»Wenn du auf Mattis anspielst, vergiss es. Er ist kein Dieb.«

Die Witwe Appelhoff sprach nicht weiter. Doch ihr Schweigen wirkte.

»Gut, wenn du meinst, können wir gern auf sein Zimmer gehen und ihn fragen«, lenkte Anke ein. »Aber du wirst schon sehen, dass dabei nichts herauskommt.«

Sie lief voran, die Personaltreppe hinauf, an deren Ende Mattis seine private Unterkunft hatte. Peer Hövelmeyer und die Witwe Appelhoff folgten ihr. Letztere versuchte, ihre Freundin zu beruhigen.

»Ich sage ja nicht, dass Mattis das Geld gestohlen hat. Er hat es womöglich nur genommen, um es für dich zur Bank zu bringen. Mein Bruder erzählte mir, dass er dort gesehen wurde.«

Anke Schubiak schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, gab ein spöttisches »Ach was?« von sich und drückte auf die Klinke. Die Tür zu Mattis’ Zimmer war von innen verschlossen.

»Mattis, öffne bitte«, rief Anke Schubiak, »wir möchten dir eine Frage stellen.«

Als keine Antwort ertönte, begann die Herbergsmutter an die Türe zu klopfen.

»Seltsam, ich weiß, dass er dort drin ist.«

»Wann sahen Sie ihn denn zuletzt?«, wollte Hövelmeyer wissen.

»Heute Mittag tauschten wir uns kurz aus, da schloss er gerade seine Tür. Sie knarrt sehr laut, deswegen weiß ich, dass sie seitdem nicht mehr geöffnet wurde. Ich hätte das bei dem wenigen Betrieb hier gewiss gehört.«

Die Witwe Appelhoff atmete plötzlich scharf ein.

»Herr Bunsen vermisst seine Schlaftabletten, sagtest du?«

Sie griff Anke Schubiaks Arm.

»Hövelmeyer, brechen Sie die Tür auf. Sofort!«

Die zwei anderen errieten rasch, was die Witwe Appelhoff vermutete. Der Polizist warf sich zuerst mit der Schulter, dann mit der Wucht seines ganzen Körpers gegen die Zimmertür. Sie sprang auf und es bot sich das befürchtete Bild: Mattis lag reglos auf dem Bett, eine leere Schachtel Schlaftabletten neben ihm.

»Wir müssen Doktor Kröger holen«, schrie Anke Schubiak auf.

»Ein Rettungsdienst ist hier weitaus eher angebracht«, widersprach die Witwe Appelhoff. »Hövelmeyer, rufen Sie sofort Hilfe.«

Die kam auch, allerdings stellte sich ihre Notwendigkeit als gar nicht so dringend heraus wie angenommen.

»Ihr Sohn hätte doppelt so viele von den Dingern schlucken können, ohne ernste Folgen«, berichtete der Rettungssanitäter. »Es handelt sich um ein harmloses Schlafmittel. In manchen Ländern gibt’s das sogar rezeptfrei.«

»Er lag so still da und schlief so tief«, entgegnete Anke Schubiak.

»Dass die Tabletten harmlos sind, heißt ja nicht, dass sie keine Wirkung haben. Ich denke, um Mitternacht herum wäre er wieder zu sich gekommen und hätte sich gewundert, wo der Tag hin ist.«

Die besorgte Mutter brachte den Rettungsdienst hinaus. Die Witwe Appelhoff setzte sich ans Bett des benommenen Sohnes und schüttelte tadelnd den Kopf.

»Wie kommt es, dass du deiner Mama einen solchen Schrecken einjagst?«, fragte sie.

»Ich glaubte, es wäre besser so«, lallte Mattis mit schwerer Zunge. »Wie ich mich schäme! Wenn mein Dahinscheiden so geklappt hätte wie geplant, würde man meinen Abschiedsbrief in der Schublade gefunden haben.«

Er drehte sich dem Nachttisch zu, öffnete die Schublade und holte einen Zettel heraus. Mit mattem Arm reichte er ihn der Witwe Appelhoff.

»Darin steht alles. Sehen Sie, ich bin durch eine Dummheit in etwas hineingeraten, aus dem es kein Entrinnen gibt…«

Die Witwe Appelhoff las den Zettel und die ganze unangenehme Geschichte kam ans Licht: Wie die junge Madeleine ihm immer wieder zugezwinkert hatte; wie sie mehrmals nur in Bikini oder leichter Unterwäsche seinen Weg gekreuzt hatte; wie sie ihn zuletzt in ihr Zimmer gelockt und mit süßen Worten sowie deutlichen Gesten dazu gebracht hatte, sich einem Kuss hinzugeben.

»Ihre Hände haben meine genommen und von selbst an Stellen geführt, die ich gar nicht berühren wollte, ehrlich«, beteuerte Mattis. »Ich wollte mich gerade von ihr abwenden, weil sie noch keine 18 war – da hörten wir ihren Vater kommen.«

»Und der erwischte euch in der pikanten Lage.«

»So ziemlich, ja. Ich stürzte erst noch in die Badekammer, um mich dort zu verstecken. Ich hätte gleich dort den Rasierer nehmen und mir die Pulsadern aufschlitzen sollen! Aber ich hoffte noch, sie würde ihn loswerden. Er ahnte aber, was vor sich ging, fand mich und platzte fast vor Wut. Aber anstatt mich einfach zu verprügeln, drohte er mit einer Anzeige, wenn ich die Schande nicht ordentlich entschädigen würde.«

»Du bist über 21«, nickte die Witwe Appelhoff, »und da ist das Gesetz sehr streng, wenn es um sexuelle Handlungen mit Minderjährigen geht. Zurecht, wie ich finde.«

»Ich bereue es auch zutiefst«, klagte Mattis. »Es ging eben alles so schnell. Aber wer wird mir glauben, dass die Initiative von ihr ausging?«

»Du sagst, Herr Schmidt wollte eine Entschädigung?«

»Erpressung ist wohl der bessere Begriff. Nach seiner Abreise ging ich zur Bank, aber ich hatte nicht so viel Geld auf dem Konto, wie ihm vorschwebte. Da klaute ich die Einnahmen aus Mamas Safe und schickte ihm alles ins Seebad-Hotel. Das würde ihn fürs Erste ruhigstellen, hoffte ich, bis Mamas Jugendherberge und das Komitee sich geeinigt hätten. Wenn dann keine Zahlungen mehr kämen und Schmidt die ganze Sache zur Anzeige bringen würde, wäre ich schon lange tot und die Angelegenheit erledigt…«

»Wenn du deinen Fehler einsiehst, wieso bist du nicht zur Polizei gegangen und hast dich selbst angezeigt? Dieser Schmidt würde nichts mehr gegen dich unternommen haben.«

»Im Gegenteil«, sagte Mattis und seine Augen wurden nass. »Er meinte, ich solle alles nach seinen Vorstellungen erledigen, sonst werde er dem Ruf unserer Jugendherberge in einem solchen Ausmaß schaden, dass nicht nur meine Mama, sondern ganz Friedershagen zu leiden hätte.«

Die Witwe verstand, dass eine großspurige Drohung wie diese einen verunsicherten jungen Mann wie Mattis beeindrucken musste.

»Ich freue mich, dass du Reue zeigst«, meinte sie, »und bedanke mich für deine Offenheit. Um Herrn Schmidt kümmere ich mich. Seine Erpressung ist keine angemessene Reaktion auf ein vermeintliches Unrecht, und was exakt du dir zu Schulden hast kommen lassen, werde ich noch genauestens untersuchen müssen.«

»Untersuchen?«, wiederholte Mattis verwirrt. »Wieso?«

»Findest du es nicht widersprüchlich, dass ein besorgter Vater wie Herr Schmidt mit seiner Tochter aus einer überschaubaren Jugendherberge direkt in ein überfülltes Seebad-Hotel flüchtet, um sie vor Männern zu schützen? Finanziell kann er sich das mit deinem Geld natürlich leisten, aber wieso weiß man dort nichts von ihm? Und was du alles erzählt hast… Eine weitere Kleinigkeit darin stört mich. Ja, sie stört mich sehr. Mattis, es liegen Ungereimtheiten vor, die umgehend aufzuklären sind.«

Sie schloss die Augen, erinnerte sich an den Beinahe-Unfall mit der Frau in Pink und erkannte endlich, was deren Worte wirklich bedeutet hatten. Mattis, dem keine Unstimmigkeit aufgefallen war außer seiner eigenen Fehlbarkeit, fragte, was die Witwe Appelhoff vorhabe. Als Antwort erhielt er den rätselhaften Hinweis, der Gendarm dürfe sie auf einen Tanzball begleiten.

»Du hütest noch eine Weile das Bett und erzählst deiner Mama vorerst nichts von alledem«, befahl sie, verließ das Zimmer und suchte Peer Hövelmeyer auf.

»Könnten Sie mich zum Seebad-Hotel fahren, Peer? Mit Ihrem Auto geht’s schneller als mit meinem Rad, und ich brauche dort Ihre Hilfe als Polizist.«

Hövelmeyer wollte es sich erst verbitten, als Chauffeur missbraucht zu werden, aber die Witwe Appelhoff argumentierte, sie wisse um den Verbleib des verschwundenen Geldes. Das machte den Polizisten neugierig, und so brausten beide im Polizeiwagen durchs Wäldchen geradewegs in die Nachbarstadt.

Unterwegs verriet die Witwe Appelhoff dem Polizisten, dass es sich um Erpressung handelte; warum Mattis sich Geld abknöpfen ließ, behielt sie jedoch für sich. Peer Hövelmeyer hatte ohnehin keine Zeit mehr, danach zu fragen, denn schon hatten sie ihr Ziel erreicht: Die hellen Mauern des Seebad-Hotels ragten vor ihnen empor und schienen mit ihrem Jugendstil-Stuck abschätzig auf das kleine Polizeiauto hinabzublicken, als wollten sie dieses profane Sinnbild der Alltagswelt von sich weisen.

»Ich mag diesen Bau nicht«, gab Peer Hövelmeyer zu. »Er ist so riesig. Sieht aus wie eine zu groß geratene Großstadtvilla. Wahrscheinlich verlaufen sich die Gäste dort drinnen regelmäßig.«

»Das wäre eine Erklärung, warum so selten einer von ihnen nach Friedershagen findet«, erwiderte die Witwe Appelhoff. »Parken Sie den Wagen hier und kommen Sie mit zur Rezeption. Ich möchte dort etwas überprüfen, was für die Polizei interessant sein könnte.«

Sie wurden am Empfang freundlich von einer jungen Frau begrüßt, deren Stimme wie jene am Telefon klang.

»Haben Sie bei uns ein Zimmer reserviert oder sind Sie Gast in unserem historischen Tanzsaal?«, fragte sie.

Das Seebad-Hotel war früher ein Kurhaus gewesen und hatte den großen Ballsaal beibehalten, in welchem bereits zur Kaiserzeit festliche Gesellschaften veranstaltet worden waren.

»Was findet dort denn statt?«, wollte Peer Hövelmeyer wissen.

Die junge Empfangsdame zeigte auf ein großes Schild, auf dem in grellen Buchstaben geschrieben stand:

»Willkommen auf dem 17. Boddenball, präsentiert vom Tanzsport-Club FDZ! Mit einem Tanzsportturnier der A-Klasse in den Lateinamerikanischen Tänzen um den Boddenpokal.«

»Die Veranstaltung findet in unserem historischen Kursaal statt. Sie können die Karten bei mir oder am Eingang kaufen. Der erste Publikumstanz findet soeben statt, danach treten die Paare den ersten Wettbewerb an.«

Die Witwe Appelhoff wollte eben dankend ablehnen, als Peer Hövelmeyer ausrief:

»Oh, dann ist mein Cousin bestimmt auch hier! Er ist ein großer Freund des Tanzsports, müssen Sie wissen. Hat selbst mal getanzt. Henrik Hövelmeyer, vielleicht mal gehört?«

»Nein, tut mir leid«, bedauerte die Empfangsdame. »Tritt er denn an? Dann wünsche ich viel Erfolg!«

»Ach, er macht das seit Jahren nicht mehr. Er ist jetzt nämlich der Kriminalkommissar dieser Gegend. Unter den Zuschauern wird er stecken.«

Als sie das vernahm, schaltete sich die Witwe Appelhoff ein.

»Der Polizeikommissar ist hier? Peer! Wenn wir hier einer kriminellen Sache auf der Spur sind, sollten wir besser Ihren Cousin einschalten. Ich hätte ihn gern zur Verstärkung dabei!«

»Aber Frau Appelhoff, nur wegen einer Vermutung Ihrerseits…?«

»Holen Sie ihn schon her!«

Peer Hövelmeyer gehorchte. Statt von seiner Dienstmarke Gebrauch zu machen, kaufte er ordnungsgemäß eine Eintrittskarte, eilte zum Kursaal und ließ seine Augen über das Publikum schweifen, während die Witwe Appelhoff die junge Frau an der Rezeption in ein belangloses Gespräch verwickelte.

Kommissar Hövelmeyer hatte sich anlässlich des Abends seine blonden Strähnen mit Gel nach hinten frisiert, trug einen schicken Anzug, der seine schlanke Taille betonte sowie in Farbe und Muster zu seinen Schuhen passte, und machte alles in allem den Eindruck eines Mannes, der sich seines guten Aussehens bewusst war. Als ihn sein Cousin plötzlich unsanft am Ärmel zupfte, konnten die Umstehenden leicht an den Formen ihrer Gesichter erkennen, dass sie verwandt sein mussten: Beide hatten eine gerade, etwas zu lange Nase, dichte Augenbrauen und ein eckiges Kinn; aber sonst schienen sie wenig gemein zu haben.

»Mensch, Peer«, schimpfte der Kommissar, »was zerrst du mich denn weg, wenn gerade der erste Turniertanz losgeht?«

»Die Frau Appelhoff und ich sind einem Erpresser auf der Spur«, erklärte der junge Polizist. »Das müsste dich doch interessieren?«

An der Rezeption angekommen, wollte die Witwe Appelhoff dem Kommissar die Hand schütteln, der aber gab sich reserviert.

»Mein Cousin behauptet, Sie hätten eine Vermutung kriminalistischer Natur?«, fragte er, nicht ohne einer gehörigen Portion Skepsis in der Stimme.

»Oh ja«, antwortete die Witwe Appelhoff. »Es treibt sich ein Mann in diesem Seebad-Hotel herum, der einen Bürger von Friedershagen zu erpressen versucht. Es gibt Hinweise darauf, dass er ein Verbrecher ist.«

»Und welche Hinweise sind das bitte?«, fragte der Kommissar weiter, schaute dabei allerdings über die Schulter zurück zum Kursaal.

»Ich werde sie Ihnen erklären, aber dafür brauche ich die Hilfe der jungen Frau hier.« Sie wandte sich an die Empfangsdame. »Sie stimmen mir doch zu, dass in Ihrem Hotel zurzeit kein Gast mit dem Namen Schmidt beherbergt wird?«

»Ja, das stimmt. Kürzlich erhielten wir zwar einen Anruf für einen Herrn Schmidt…«

»Tut nichts zur Sache. Herr Kommissar, ich werde Ihnen einen Mann zeigen, den Ihr Cousin identifizieren wird. Kommen Sie, Peer. Und Sie bitte auch, meine Dame.«

Die Witwe Appelhoff hakte sich bei dem Polizist ein und flanierte mit ihm durch die Eingangshalle. Sie spähten durch die Fenster des Ballsaals und bald schon zeigten sie auf einen Mann mit Vollbart und Hut, der mit einem jungen Mädchen in der hinteren Reihe saß und dem Turniertanz zusah.

»Das ist der Herr Schmidt, der in der Jugendherberge abstieg«, versicherte Peer Hövelmeyer.

»Das kann aber nicht sein«, widersprach die Empfangsdame, die dem Fingerzeig gemäß in die gleiche Richtung schaute, und ihre Stimme klang nicht mehr so freundlich. »Das ist Herr Müller, er ist mit seiner Tochter heute Vormittag angereist. Ich habe mir doch den Ausweis persönlich zeigen lassen. Schauen Sie nur!«

Sie lief zurück zu ihrem Schalter, nahm das Gästebuch zur Hand und zeigte auf den Eintrag von Herrn Müller. Der Kommissar beäugte ihn schweigend, sah dann von der Empfangsdame zu seinem Cousin, wieder zurück ins Gästebuch und schließlich auf die Witwe Appelhoff.

»Der Mann ist also unter zwei Namen bekannt?«

Die Witwe Appelhoff nickte.

»Verdächtig, nicht wahr? Ich würde mit Ihnen gerne das Zimmer dieses Herrn besuchen und auch das seiner Tochter. Auf dem Weg dorthin erzähle ich Ihnen, was in Friedershagen vorfiel und warum das hier ein Kriminalfall größeren Ausmaßes ist.«

Die Empfangsdame fühlte sich zwar unbehaglich, das Zimmer eines Gastes Fremden zugänglich zu machen; aber da es sich bei eben jenem Gast offensichtlich um einen Schwindler handelte und einer der Fremden Polizeikommissar war, überwand sie sich und gab den Schlüssel heraus.

»Am besten kommen Sie gleich mit«, schlug die Witwe Appelhoff vor. »Wir können einen Mitarbeiter dieses Hotels gut gebrauchen.«

Sie stiegen zu viert die Stufen zu den Hotelzimmern hinauf, während die Kapelle im Saal eine feurige Samba spielte. Herr Schmidt und Madeleine schauten den schnellen Schritten und geschmeidigen Hüftschwüngen der Turnierteilnehmer gebannt zu; demnach brauchte man während der Inspektion ihrer Unterkünfte keine Störung ihrerseits zu befürchten.

Zunächst war das Zimmer des Vaters an der Reihe. Kommissar Hövelmeyer bedeutete den anderen, an der Türschwelle zu warten, während er vorsichtig einen Blick auf den Nachttisch warf, wo diverse Utensilien wie Autoschlüssel, Portemonnaie und Aufladekabel fürs Handy herumlagen. Er klappte das Portemonnaie auf und entdeckte darin zwei Personalausweise. Beide zeigten den gleichen Mann mit Vollbart, nur hieß er auf dem einen Schmidt, auf dem anderen Müller. Der Kommissar schnalzte, zufrieden über diesen Fund, mit der Zunge.

»Ist das nicht illegal ohne Durchsuchungsbefehl?«, fragte sein Cousin. »Oder sind Hotelräume eine juristische Grauzone?«

»Es ist Gefahr im Verzug«, erwiderte der Kommissar, »denn wir wollen nicht, dass einer der beiden Ausweise als mögliches Beweisstück für Dokumentenfälschung verloren geht.«

Sein Cousin gab sich mit dieser Erklärung zufrieden und beglückwünschte die Witwe Appelhoff für ihren guten Riecher hinsichtlich dieser kriminalistischen Angelegenheit. Die jedoch wies das Kompliment von sich und sagte:

»Auf die Ausweise kam es mir gar nicht an. Wenn Sie wissen möchten, welches Spiel Vater und Tochter wirklich treiben, müssen Sie sich nur in deren Bädern genauer umsehen. Und vielleicht noch in der Handtasche dieser Madeleine.«

»Die beiden haben zusammen nur ein Badezimmer«, korrigierte die Empfangsdame, »der Vater bestand darauf. Es trennt ihre beiden Zimmer voneinander.«

»Tatsächlich?«, lächelte die Witwe Appelhoff amüsiert. »Na, das passt ja wunderbar ins Konzept.«

Sie ignorierte die Anweisung des Kommissars, durchquerte das Hotelzimmer und öffnete die Tür zum Bad.

»Wie ich es dachte!«, rief sie aus und zeigte auf die Ablage vor dem Spiegelschrank. »Sehen Sie nur! Drei Dinge beweisen eindeutig, dass die beiden nicht sind, was sie zu sein vorgeben.«

Die Vettern Hövelmeyer schauten auf die Kosmetikartikel, die dort aufgereiht waren. Lippenstift, Lidschatten, Ladyshaver, Abdeckstift, Bürste und Nagellackentferner für Madeleine standen neben Handcreme, Brillentuch, Rasierer, Deoroller und Mundspülung für ihren Vater. An beiden Enden lag jeweils eine Zahnbürste, die eine in pink und die andere in blau. Die Tür zum anderen Zimmer stand offen und auf Madeleines Bett lag der Inhalt ihrer Handtasche verstreut: Taschenspiegel, Kaugummi, der Roman »Kleiner Mann – was nun?«, eine grellbunte Jugendzeitschrift, diverse Zettelchen und billiger Schmuck. Der Kommissar konnte mit all dem nichts anfangen und warf der Witwe Appelhoff einen ratlosen Blick zu.

»Männer sind blind«, seufzte sie enttäuscht und wandte sich der Empfangsdame zu. »Sie sehen es?«

»Ja, ich glaube, ich weiß, was Sie meinen«, antwortete die junge Frau, »aber nicht, was es zu bedeuten hat.«

»Das wird sich klären, nachdem Sie unseren Gendarm neu eingekleidet haben. Ich schlage ein Outfit vor, das ihn wie einen Kellner aussehen lässt. Derweil weihe ich den Kommissar in die Geheimnisse weiblicher Kosmetik ein – dann wird er verstehen…«

Unten im historischen Ballsaal hatten die Turniertänzer inzwischen alles getanzt, was zum lateinamerikanischen Programm gehörte. Der Jive war verklungen, hatte aber dem Großteil der Zuschauer derart eingeheizt, dass nun viele Frauen mittleren Alters bei der Eröffnung des zweiten Publikumstanzes ihre Gatten auf die Tanzfläche zogen und beweisen wollten, welch kesse Sohle sie noch aufs Parkett zu legen imstande waren. Herr Schmidt und seine Tochter verzichteten auf das Gedränge und blieben sitzen. Madeleine schaute einem Turniertänzer mit besonders enger Hose hinterher, woraufhin sie sich ein tadelndes »Hm-hm« einfing.

»Lenk die Herren nicht von ihrem Wettbewerb ab, meine Kleine«, mahnte Herr Schmidt.

»Man wird ja nochmal gucken dürfen«, entgegnete Madeleine und fügte gehässig hinzu: »Auf der Tanzfläche sind ja gerade nur wandelnde Leichen unterwegs.«

»Immerhin etwas Lustiges fürs Auge«, meinte Schmidt, nicht minder gehässig, und so scherzten die beiden abfällig über die tanzenden Damen und Herren.

Dies war der richtige Auftritt für Peer Hövelmeyer, der in Fliege, Weste und Schürze neben dem Tisch auftauchte, an einen Stuhl rempelte und stolpernd ein Glas Rotwein von seinem Tablett fallen ließ – direkt auf Madeleines Schoß.

»Oh, pardon!«, rief er aus und nahm eine weiße Serviette. »Lassen Sie mich dieses Malheur bereinigen!«

Madeleine war erschrocken aufgesprungen und riss ihm die Serviette aus der Hand.

»Das wisch ich selber weg!«

»Das Hotel wird Ihr Kleid reinigen«, versicherte der falsche Kellner. Sein Kopf war hochrot und seine Lippen zitterten. »Wir übernehmen die Kosten, ganz sicher. Aber bitte, bitte sagen Sie nichts meiner Chefin, bitte!«

Flehentlich hob er die Arme. Zuerst wollte Madeleine schimpfen, dann aber sah sie zu Schmidt und erriet schnell, was der ihr mit seinem Gesichtsausdruck sagen wollte. Sofort schlug ihre Stimmung um und sie versprach Hövelmeyer liebenswürdig, der Hotelleitung nichts zu verraten.

»Es war ein Unfall, das verstehen wir doch. Aber das Kleid brauche ich demnächst. Am besten kommen Sie mit mir aufs Zimmer. Ich ziehe mich um, damit ich es Ihnen für die Reinigung geben kann. Geht doch klar, Papa?«

»Sicher«, nickte Schmidt. »Aber in zehn Minuten bist du wieder hier.«

Madeleine hakte sich bei dem falschen Kellner unter und verließ den Ballsaal. Ihr Vater sah ihnen nach, kratzte sich am Bart und überlegte, ob er die tollpatschige Bedienung nicht schon irgendwo gesehen hatte.

Das junge Mädchen führte Hövelmeyer in ihr Zimmer und redete dabei unentwegt von diversen Nichtigkeiten wie der Mode ihrer Lieblingsstars, den Frisuren der Tänzerinnen und wie sie ihre Pfingstferien genoss. Dabei schien sie es nicht zu stören, ihr Kleid vor den Augen eines Fremden abzulegen, bis sie nur noch in Unterwäsche vor ihm stand. Wie zufällig schaute sie in den Spiegel und erschrak:

»Oje, habe ich etwa eine Laufmasche hinten in meiner Strumpfhose? Seien Sie so lieb und schauen Sie mal nach.«

Und wie selbstverständlich nahm sie die Hand Hövelmeyers und führte sie an ihre Kniekehle, wo er nach der Laufmasche tasten sollte.

»Sie haben aber warme Finger«, sagte sie leise, »und so zärtlich!«

Ihre großen Augen zwinkerten Peer zu, ihre roten Lippen öffneten sich zu einem koketten Lächeln, ihre Fingerspitzen glitten auf Hövelmeyers Handrücken auf und ab.

»Ich mag ja Männer in solch schicken, altmodischen Outfits wie deinem«, gab sie flüsternd zu und ihre Wangen röteten sich.

Dem falschen Kellner stockte der Atem und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. So recht wusste er nicht, was weiter zu tun war, aber jegliche Entscheidung wurde ihm abgenommen – die Tür schlug auf, Schmidt stürmte herein und brüllte:

»Was erlauben Sie sich?«

Er schlug die Tür wütend hinter sich zu, packte Madeleine am Arm und zog sie von Hövelmeyer fort.

»Lass dich von dem Wüstling nicht befummeln, Kind!«, rief er. »Geh ins Bad und wasch dir den Schmutz seiner Hände ab!«

Madeleine wollte etwas entgegnen, doch Schmidt verbot ihr mit deutlicher Geste das Wort und zeigte auf die Badezimmertür.

»Was ich mit dem pädophilen Schwein hier zu bereden habe, ist nichts für deine Ohren«, knurrte er.

Hövelmeyer hatte sich in die Ecke des Zimmers verzogen und nestelte nervös an seiner Kellnerweste.

»Minderjährige verführen, wie?«, fuhr Schmidt ihn an. »Haben Sie eine Ahnung, wie jung meine Tochter noch ist? Oder ist gerade ihr Alter der Grund, dass Sie scharf auf sie sind?«

Er holte mit der Hand aus, um zuzuschlagen, doch zögerte er plötzlich und besann sich.

»Wir regeln das besser auf andere Art«, lenkte er ein. »Zum Äußersten kam es ja schließlich nicht, oder?«

Hövelmeyer schüttelte den Kopf und Madeleine, vor der Badtür stehend, hauchte ein sanftes Nein.

»Dann gibt es für mich keinen Grund, Sie anzuzeigen, obwohl ich es liebend gern tun würde«, sprach Schmidt mit merklich sachlicherem Ton. »Was ist es Ihnen denn wert, weder an Polizei noch an Ihre Chefin verpfiffen zu werden?«

Hövelmeyer hub zur Antwort an, da wurde plötzlich die Tür ein zweites Mal aufgerissen und die Witwe Appelhoff stürzte hinein, direkt auf Madeleine zu.

»Was muss ich da durch die Zimmerwände hören«, jammerte sie, »das arme Kind fast schon vergewaltigt, und das in solch zartem Alter! Halt die Tränen nicht zurück, meine Liebe, ich bin ja da. Wir Frauen müssen zusammenhalten.«

Und sie presste der völlig überraschten Madeleine ein Papiertaschentuch ins Gesicht und rubbelte damit an ihren Augen herum, bis das Mädchen vor Schmerz aufschrie.

»Oh, ich wollte dir partout nicht wehtun«, sagte die Witwe Appelhoff verlegen und nahm das Taschentuch beiseite.

Als Madeleine nun aufblickte, sah sie verändert aus.

»Holla«, staunte die Witwe Appelhoff und hielt das Taschentuch in die Höhe. »Da habe ich doch glatt deine drei Pubertätspickel abgewischt! Wie erwachsen du plötzlich aussiehst!«

Madeleine erschrak, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und stürzte zur Badtür hin. Sobald sie sie öffnete, stieß sie mit Kommissar Hövelmeyer zusammen, der die ganze Zeit über darin gewartet hatte. Schmidt erkannte die Lage schneller als Madeleine und wandte sich zum Flur. Dort stand die Empfangsdame im Wege, doch er stieß sie fort. Sie wollte sich noch an seinem Vollbart festkrallen, der aber löste sich vom Kinn und die junge Frau stand mit einem Bündel falscher Haare da. Schmidt sprang die Treppen hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

»Hinterher!«, befahl der Kommissar und stürzte mit seinem Cousin dem Flüchtenden nach.

Gerade spielte die Kapelle zum zweiten Mal ihr Turnierprogramm, weil die Wettbewerbsteilnehmer zur nächsten Runde antraten. Das Publikum bewunderte die glitzernden Röcke und glänzenden Schuhe und natürlich deren Träger selbst, die sich elegant zu brasilianischen Rhythmen bewegten.

Wie gegensätzlich war das Bild, welches sich den Hotelangestellten bot: Zwei Herren in teuren Anzügen rannten quer durch den Empfangssaal, so schnell es ihre engen Halbschuhe zuließen. Dem Ersten hingen lose Haare an den Wangen und sein Hut flog ihm von der Glatze. Der Zweite brüllte immerzu »Stehen bleiben!« und »Polizei!«. Als die Kapelle von Brasilien nach Kuba wechselte und zu einem schmissigen Cha-Cha-Cha ansetzte, erkannte der Verfolger, dass ihm der Glatzkopf entwischen würde. Also riss er einer älteren Besucherin, die gerade aus der Damentoilette trat, mit einem höflichen »Pardon« die flache Clutch aus der Hand und schleuderte sie, einem Diskus gleich, dem Flüchtigen auf den Hinterkopf. Schmidt jaulte auf, denn die Clutch bestand aus echten, harten Perlen, und verlangsamte merklich seinen Schritt. Beim letzten Cha-Cha-Cha hatte ihn der Kommissar in seinem festen Griff.

»Sie werden uns viel zu erklären haben«, versprach er ihm, »Sie und ihre Partnerin!«

Inzwischen waren die anderen ebenfalls im Empfangssaal angelangt. Madeleine stand missmutig im Bademantel neben Peer Hövelmeyer, der sie am Arm festhielt. Die Witwe Appelhoff hob die Clutch auf und reichte sie der älteren Dame, indem sie sie beglückwünschte:

»Ihr Accessoire hat soeben dem Gesetz zu Recht und Ordnung verholfen.«

»Sie hatten recht, Frau Appelhoff«, platzte es aus Peer Hövelmeyer voller Bewunderung heraus, »die zwei spielten uns wahrhaftig die ganze Zeit über nur eine Komödie vor! Und man konnte sie anhand des Zeugs vor dem Spiegelschrank durchschauen! Der Rasierer des Vaters, obwohl der einen Vollbart hat – der Abdeckstift der Tochter, obwohl sie ihre Pickel nicht übermalt…«

»Ganz richtig, Peer«, sagte die Witwe Appelhoff ohne Spur von Stolz, »es widersprach dem Auftreten der beiden Schmidts oder Müllers oder wieauchimmer sie heißen, dass sich diese beiden Dinge in ihrem Besitz befanden – noch dazu an einer Stelle, die auf regelmäßigen Gebrauch hinwies. Wenn der werte Herr aber sein Gesicht gar nicht rasierte, überlegte ich, was rasiert er dann? Natürlich, seinen Kopf! Damit man die Glatze aber für echt hielt, wurde der Abdeckstift dazu verwendet, unsauber rasierte Stellen zu überdecken. So konnte Herr Schmidt-Müller seinen Hut lüften, wann immer es angebracht war.«

Der Polizist nickte verstehend, die Empfangsdame hingegen war verwirrt.

»Warum hat die Tochter den Abdeckstift nicht einfach für beides verwendet – für ihre eigenen Pickel und fürs Polieren der väterlichen Glatze?«

»Weil Madeleine die Pickel brauchte, um jung zu wirken«, erklärte die Witwe Appelhoff. »Deswegen auch die Jugendzeitschrift, das leidige Kaugummikauen, das ganze Teenie-Getue… Im entscheidenden Moment musste man ihr schließlich abkaufen, dass sie minderjährig sei. Sonst würden sich erwachsene Männer, die sich auf ein Techtelmechtel mit ihr einließen, nicht von dem vermeintlichen Vater erpressen lassen.«

»Der Vater dieser Frau hier ist also nur ein Vermeintlicher?«, mischte sich nun die Dame mit der perlenbestickten Clutch ein.

»In Wahrheit werden sie etwa im gleichen Alter sein«, vermutete der Kommissar. »Ein Gaunerpärchen, dass Vater und Tochter spielt, um mit dem Vorwurf ›Verführung Minderjähriger‹ irgendwelchen Dummköpfen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nicht wahr?«

Der angesprochene Schmidt gab nur einen brummenden Laut von sich.

»Wir sagen nichts ohne unseren Anwalt«, sagte Madeleine.

»Sehr gut«, lobte Kommissar Hövelmeyer, »der wird sicher auch Ihren echten Namen und das wahre Alter kennen. Rufen Sie ihn am besten gleich an!«

Die junge Gaunerin fühlte sich ertappt und ließ den Kopf hängen. Peer Hövelmeyer aber runzelte die Stirn und fragte:

»Frau Appelhoff, vorhin sprachen Sie von drei Dingen, die unsere Betrüger entlarven würden. Rasierer und Abdeckstift sind aber nur zwei. Worum handelt es sich denn bei dem dritten Indiz?«

»Oh, das ist zugegebenermaßen nur zu begreifen, wenn man sich mit der Jugend auskennt«, antwortete die Witwe Appelhoff. »Sehen Sie, Madeleine sprach immer wieder von Falladas Roman und trug ihn stets bei sich, um über die leidige Schullektüre klagen zu können – ganz dem Klischee des faulen Schülers entsprechend. Nun weiß ich aber dank eines Gesprächs mit unserer Lehrerin im Ort, dass ›Kleiner Mann – was nun?‹ schon in Klasse 9 gelesen wird und nicht erst in einem Deutsch-Leistungskurs.«

Sie drehte sich zu Madeleine.

»Das war vielleicht vor zehn Jahren der Fall, als Sie wirklich noch zur Schule gingen, wie?«

Madeleine fauchte:

»Sie blöde Kuh!«

»Das klingt nach einem Geständnis«, sagte die Witwe Appelhoff lakonisch und der Kommissar pflichtete ihr bei.

Noch am selben Abend wurden Herr Schmidt und Madeleine abgeführt. Sie verzichteten darauf, ihren Anwalt einzuschalten (sie hatten nämlich gar keinen) und hielten es für klüger, ein Geständnis abzulegen. Dabei betonten sie, dass die beiden Betrugsversuche die einzigen ihrer Art gewesen seien. In der Jugendherberge probierten sie zunächst aus, ob ihre falschen Identitäten glaubwürdig erschienen, und erst im teuren Seebad-Hotel wollten sie finanziell groß abräumen. Der Vorfall mit Mattis Schubiak sei lediglich eine Generalprobe gewesen und mit einem Selbstmordversuch seinerseits hätten sie nicht gerechnet.

Kommissar Hövelmeyer hörte sich alles geduldig an, protokollierte fleißig und kommentierte nichts davon. Es war schließlich Sache des Gerichts, während des kommenden Verfahrens zu entscheiden, was mit dem Gaunerpaar geschehen sollte.

Zufrieden, die Unruhestifter entlarvt zu haben, kehrte die Witwe Appelhoff nach Friedershagen zurück. Gemeinsam mit Peer Hövelmeyer verdeutlichte sie dem Komitee des Heibideu (denn Herr Bunsen und Frau Staudt waren tatsächlich unbescholtene Repräsentanten des Vereins), in welch neuem Licht die unschönen Szenen rund um Familie Schmidts Abreise erschienen. Sogleich behandelten Herr Bunsen und Frau Staudt die Herbergsmutter mit ausgesuchter Freundlichkeit, drückten ihr Mitgefühl aus und versicherten, dass die Bewilligung des Mitgliedsantrags nur noch reine Formsache war.

Als die Witwe Appelhoff das vernommen hatte, wusste sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie verabschiedete sich, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr nach Hause.

Jörg sah kurz von seinen Büchern auf, um sie zu begrüßen.

»Na, wieder zufrieden mit dir und der Welt?«

»Oh ja«, lächelte die Witwe Appelhoff. »Ich habe das Gefühl, den Weg zu einer besseren Bildung unserer Kinder ein bisschen mitgestaltet zu haben.«

»Schön«, war alles, was Jörg dazu sagte. »Gerlinde will in einer halben Stunde das Abendessen servieren. Es gibt Krautroulade.«

Weil Krautroulade zu den Lieblingsspeisen der Witwe Appelhoff gehörte, wurde ihr Lächeln noch ein bisschen breiter. Sie setzte sich zu ihrem Bruder, schaute aus dem offenen Fenster in die freie Natur und atmete die frische Seeluft ein.

Die Witwe Appelhoff mischt sich ein

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