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Die Witwe Appelhoff hat die Sommergrippe

Schwester Floriane hatte in all ihren Dienstjahren in der hiesigen Arztpraxis schon zahlreiche Varianten von Hustern, Schniefern und Niesern gehört und war dementsprechend Einiges gewöhnt. Das »Hatschie!« aber, das gerade aus dem Sprechzimmer durch die geschlossene Tür bis in den Warteraum dröhnte, hatte es in sich. Nicht nur, dass seine Lautstärke enorm war (die aufhorchenden Patienten vermeinten sogar, einen Widerhall zu spüren), es kam gleich in multipler Ausführung daher. Nicht zwei, nicht drei, sondern ganze acht Hatschies zählte Schwester Floriane.

»Ohaueha«, sagte sie und gab mit diesem Ausruf ihre Flensburger Herkunft preis, »welch ein Niesanfall!«

»Klingt fast wie mein Hasso, wenn er bellt«, witzelte Udo Hofmann.

Er hatte gut reden, denn er besuchte die Praxis nur, um ein harmloses Rezept verlängern zu lassen. Die Witwe Appelhoff hingegen, von der die schallenden Nieser stammten, hatte sich eine heftige Erkältung zugezogen und war schier verzweifelt, denn erstens hasste sie es, krank zu sein, und zweitens war sie es überhaupt nicht gewöhnt.

»Sie sind in den letzten zehn Jahren vielleicht zweimal hier gewesen«, sagte Dr. Kröger zu ihr. »Darauf können Sie sich wahrlich etwas einbilden. Eine sommerliche Erkältung wie diese jetzt ist nichts Schlimmes, kann vorkommen. So kriege ich Sie wenigstens mal zu Gesicht!«

Und er lächelte ihr gutmütig zu. Die Witwe Appelhoff drückte ihr bestes, mit Veilchen besticktes Taschentuch gegen die Nase und sagte mit heiserer Stimme:

»Ich weiß wirklich nicht, wo ich mir den Schnupfen eingefangen habe.«

»Was ich hier sehe, ist mehr als bloß ein Schnupfen, Frau Appelhoff«, entgegnete der Arzt. »Sie haben einen entzündeten Hals, tränende Augen, erhöhte Temperatur… Eine sogenannte Sommergrippe haben Sie sich zugezogen, und das ist auch nicht verwunderlich.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, draußen ist es heiß, der menschliche Körper sollte das genießen und zur Ruhe kommen. Sie aber tingeln in der Weltgeschichte herum, eine Ansprache hier, ein Wohltätigkeitsbasar da, und setzen sich im Zug und in den Bahnhofshallen ständig den vermaledeiten Klimaanlagen aus. Gepaart mit dem Stress, den Sie sich in Ihrem Alter zumuten –«

»Bitte?«

Die Witwe Appelhoff zog die linke Augenbraue empor. Sie verbat es sich, zum alten Eisen gezählt zu werden, und wies Dr. Kröger darauf hin, dass er deutlich älter war als sie.

»Nichtsdestotrotz ist das Immunsystem in unseren Jahrgängen nicht mehr so fit wie früher«, lenkte der Arzt ein. »Sie haben Ihre Erkältung ernst zu nehmen. Bettruhe, viel trinken, für die Halsentzündung empfehle ich Ihnen, mit Salbeitee oder Salzwasser zu gurgeln. Außerdem kriegen sie noch ein Rezept von mir, sollten Kopf- oder Gliederschmerzen dazu kommen. Soziales Engagement muss fürs Erste pausieren.«

»Selbst meine Förderung der Aktion Straßenkinder? Die Flyer wollte ich selbst verteilen, sobald sie per Post eintreffen.«

»Das lassen Sie schön bleiben. Damit würden Sie nur alle Bürger von Friedershagen anstecken und die Touristen obendrein, ganz zu schweigen von Herrn Pompadour. «

»Bitte wer?«

Die Witwe Appelhoff wollte auflachen, brachte aber nur unschönes Röcheln zustande.

»Herr Pompadour, dieser fremde Herr, der seit Längerem in Friedershagen herumspaziert. Ich weiß nicht, wie er wirklich heißt, aber er trägt sein Haar recht altmodisch, daher hab ich ihn so getauft.«

»Er muss ja großen Eindruck auf Sie gemacht haben, wenn er aus allen Urlaubern derart heraussticht.«

»Seiner Kleidung nach zu urteilen, ist er sehr wohlhabend. Mich würde es nicht wundern, wenn es sich um einen Geschäftsmann handelt, der in unseren Ort investieren will. Vielleicht in ein Hotel? Das hieße Platz für mehr Urlauber, und mehr Urlauber würden mehr Arbeitsplätze bedeuten. Mehr Arbeitsplätze wiederum brächten mehr Einwohner…«

»…und mehr Einwohner heißt, mehr Patienten für Sie. Wittere ich das durch meine verschnupfte Nase richtig?«

»Keine bösen Unterstellungen bitte«, wehrte Kröger ab. »Ich denke dabei nur an mein hohes Alter, an das Sie mich vorhin freundlicherweise erinnerten. Es braucht bald einen würdigen Nachfolger für meine Praxis, aber wer sollte in unser schläfriges Nest kommen wollen, solange hier nichts los ist?«

Da musste ihm die Witwe Appelhoff recht geben. Nachdem sie versprochen hatte, sich zu schonen, verließ sie das Sprechzimmer und wartete, bis Schwester Floriane ihr den Schein für die Apotheke ausgestellt hatte.

»Was sagt er?«, fragte Udo neugierig.

»Sommergrippe«, antwortete die Witwe Appelhoff niedergeschlagen.

»Hm«, machte der Fischer und wollte sie mit einem Wortspiel aufmuntern. »Hättest wohl lieber eine Groppe statt einer Grippe, wie?«

Er lachte laut über seinen eigenen Spaß. Seine Gesprächspartnerin lachte nicht, denn sie hatte bereits viele Fischwitze von Udo gehört und fand sie alle gleichermaßen unlustig.

»Dabei wollte ich diese Woche so viel erledigen. Flyer verteilen, meinen Garten in Ordnung bringen…«

Sie benieste ihre Enttäuschung dreimal.

»Gibt es keinen, der Ihnen hilft?«, fragte Schwester Floriane, während der Drucker lärmte.

»Gerlinde kann ich den Garten nicht aufhalsen«, antwortete die Witwe, »die hat mit dem Kochen genug zu tun. Mein Bruder Jörg kann allenfalls mit dem Schlauch die Beete wässern, aber sonst…«

»Engagiere dir doch einen Gärtner auf Zeit«, schlug Udo vor, den Blick auf die Sprechzimmertür gerichtet, denn er war der Nächste und wartete darauf, endlich aufgerufen zu werden. »Als ich Kind war, haben die Altvorderen uns immer in ihre Arbeiten eingespannt, sobald Ferien waren. Und es sind ja zurzeit Sommerferien, oder nicht?«

»Aber in den Ferien sollen sich die Kinder doch von der Schule ausruhen und in den Urlaub fahren«, widersprach die Witwe Appelhoff. »Im Sommerlager neue Freunde finden, im Familienausflug die Heimat kennenlernen – hatschi!«

»Ich muss unserem Fischer recht geben«, unterbrach sie Schwester Floriane. »Sechs Wochen sind doch viel zu lang, um sie nur mit Sommerlager oder Ausflügen zu füllen. Ich habe meine Annika zu Eggelings Strandkorbfabrik geschickt, für einen Ferienjob. Da kriegt sie mal praktische Dinge gezeigt, die sie auf der Schulbank nicht lernt, und kann ihr Taschengeld aufbessern. Hier ist Ihr Rezept!«

Sie reichte der Patientin ein bedrucktes Blatt Papier und schnatterte weiter.

»Sie könnten ebenfalls Kinder beschäftigen, wo Sie sowieso gern Ihr Vermögen in die Jugend investieren! Bei Ihnen sind sie gut aufgehoben und keiner kann sie zu Dingen verführen, für die sie noch zu jung sind. In den Ferien ist es ja viel schwerer für die Eltern, auf ihre Kinder aufzupassen.«

Die Witwe Appelhoff wunderte sich über die Anspielung der Arzthelferin.

»Wie kommen Sie darauf, dass den Kinder etwas geschehen könnte?«, fragte sie. »Bisher blieb unser Friedershagen von sowas verschont.«

»Ich meine ja keine Friedershagener«, antwortete Schwester Floriane, »sondern die diesjährigen Touristen. Die kommen mir mitunter sehr sonderbar vor. Jedenfalls einer von ihnen.«

Sie erzählte von einem fremden Herrn in schicker Garderobe und altmodischer Frisur, der immer nur zu Fuß unterwegs sei und verdächtig oft vor Hauseingängen stehen bleibe.

»Als ob er Ausschau nach jemandem hält«, meinte die Arzthelferin. »Unheimlich, nicht?«

Die Witwe Appelhoff erkannte in Florianes Bericht den gleichen Herrn, von dem Doktor Kröger gesprochen hatte. Sie wunderte sich, auf welch verschiedene Weise die Leute einen Fremden wahrnahmen.

Auf dem Nachhauseweg radelte sie langsamer als sonst die Straße entlang, zum einen aufgrund der krankheitsbedingten Schwäche, zum anderen aus Gründen sorgfältigen Abwägens. Sie überlegte, ob ihr Garten tatsächlich fremden Kindern anvertraut werden könne, ob man denen damit nicht den Sommer verderbe und was Gerlinde und Jörg wohl dazu sagen würden. Am Ende kam sie zu dem Entschluss:

»Ach was, ich mache das! Der lütte Sven Kruse ist pfiffig und hilfsbereit, den könnte man fragen. Vielleicht hat er auch noch ein bis zwei Schulfreunde, die Lust haben mitzumachen. Gerlinde kann ein Auge auf die Kinder werfen und während der Arbeit lernen sie sogar etwas über den Eigenanbau von gesundem Gemüse, was ja auch nicht schaden kann. Und mein Jörg, der olle Brummbär? Der soll sich freuen, dass jemand das Gießen übernimmt.«

Den Sommerhut mit einer Hand auf dem Kopf haltend, bog sie in den Schotterweg ein, der zu ihrem Anwesen führte, und lehnte das Fahrrad unachtsam an die Mauer ihres Backsteinhauses. Drinnen setzte sich die Witwe Appelhoff ans Telefon und wählte die Nummer der Familie Kruse. Die tadelnden Blicke ihrer Köchin konnte sie so lange ignorieren, wie das Gespräch mit Svens Vater andauerte. Nachdem aber alles Wichtige besprochen und der erste Arbeitstag für den Jungen gleich für morgen veranschlagt worden war, musste sie sich fügen und von Gerlinde im Bett füttern lassen.

»Es gibt Hühnerbrühe, was sonst«, sagte die treue Köchin. »Hat zu Kinderzeiten schon geholfen und wirkt auch heute besser als alles, was Ihnen der Kröger verschreiben könnte. Die Medizin geben Sie am besten mir, ich werde sie für Sie einteilen.«

*

Am nächsten Morgen stand nicht nur ein kleiner, eifriger Gärtnergehilfe arbeitsbereit vor dem Appelhoff’schen Backsteinhaus, sondern derer gleich drei. Sven hatte seine Schulfreunde Liliane und Willy mitgebracht. Sie waren nicht im gleichen Alter, kannten sich aber vom allmorgendlichen Weg zur Grundschule und vertrugen sich recht gut, weil sie dieselben Lieblingslehrer hatten. Liliane war mit neun Jahren die Älteste im Trio und war eines jener bedauernswerten Kinder, deren Vorname im völligen Gegensatz zu ihrem Erscheinungsbild stand: Dick von Gestalt und plump in ihren Bewegungen erinnerte sie eher an ein schwerfälliges Riesenbaby als an ein zartes Pflänzchen. Das war einer der Gründe, warum das Mädchen nicht viele Freunde fand und dankbar war, mit Sven und Willy herumhängen zu dürfen. Die Jungen wiederum, jeweils acht und sieben Jahre alt, waren drollige Kerlchen, die sich in Gestalt und Auftreten ähnelten. Willy war zudem mit einem sehr sympathischen Lausbubengrinsen gesegnet, welches ihm bereits jetzt bei allen Lehrerinnen die Tür zur Nachsicht aufschloss, egal wie hartherzig sie sich auch zu geben bemühten.

Die Witwe Appelhoff hatte ihr Bett ans Fenster geschoben und schaute ihnen von oben zu, wie sie in den Beeten Unkraut zupften. Um sich nicht zu Tode zu langweilen, kippte sie das Fenster an und lauschte heimlich den kindlichen Gesprächen. Es stellte sich heraus, dass Willy am meisten Ahnung von Gartenpflanzen hatte und die anderen beiden darin unterwies, welche grünen Halme aus der Erde gezogen und welche dort zu verbleiben hatten. Dass er sich aufgrund seiner dadurch gewonnenen Chefposition die Hände bei Weitem nicht so schmutzig machte wie die anderen zwei, schien weder Liliane noch Sven zu stören. Letzterer bemerkte die ungleiche Arbeitsverteilung ohnehin nicht, war er doch die ganze Zeit über damit beschäftigt, von seinem neuen Smartphone zu schwärmen.

»Es hat eines dieser Langzeitakkus, wo du ewig nicht aufzuladen brauchst«, prahlte er, »und ist superschnell. Vor allem kann ich jetzt viel mehr Spiele drauf zocken! Wollt ihr mal sehen?«

»Geh mir weg mit Handy«, rümpfte Liliane ihre Nase. »Davon wird man nur verstrahlt und zusätzlich noch ausspioniert. Willibald und ich haben unser ganz eigenes Telefon erfunden, da kann niemand mithorchen!«

»Du sollst mich nicht Willibald nennen«, murrte Willy.

»So nennt dich deine Mutti auch«, sagte Liliane.

»Ach, die!« Der Junge wischte seine Versorgerin mit einer Handbewegung aus dem Gespräch. »Sag Willy, das ist cooler.«

»Was habt ihr denn erfunden?«, fragte Sven neugierig, ein großes Exemplar Hopfenklee aus dem Boden ziehend.

»Ein Büchsofon«, erwiderte Willy.

»Was’n doofes Wort«, lachte Sven. »Und was soll das bitte schön sein?«

»Eine Abkürzung«, erklärte Liliane wichtigtuerisch, während sie langsam die ausgerupften Quecken vom Beetrand in die Schubkarre hob. »Hab ich mir ausgedacht. Steht für Blechbüchsen-Schnur-Telefon.«

»Dann müsste es ja eigentlich Blechofon heißen«, berichtigte Sven altklug. »Aber ich glaube, ich kenne das, was ihr meint. Von wegen selbst erfunden!«

Die beiden anderen gaben zu, dass sie lediglich die Abkürzung erfunden hätten, nicht aber das Prinzip ihres Spielzeugs. Wie im Sachkundeunterricht gelernt, hatten sie zwei leere Konservendosen genommen, jeweils ein Loch in den Boden gestochen und beide mit einer langen Schnur verbunden.

Nun baumelte eine Blechdose am Haken in Lilianes Zimmer. Die Schnur führte durch ihr Fenster über das Geäst des Gartens hinweg zum Nachbargrundstück, wo sie auf einem Pfosten des alten Klettergerüsts Halt fand, auf dem bereits Willys Mutter als Kind gespielt hatte. Die letzte Strecke ging von Gerüst hin zum Fenster von Willys Zimmer, wo wiederum an einem Haken die andere Blechdose hing. Sprach nun Liliane in die eine Öffnung, konnte Willy das am anderen Ende problemlos hören und seiner Spielgefährtin antworten, ohne dass ein echtes Telefon bemüht werden musste oder man von Fenster zu Fenster schrie (was die Mütter ihnen wegen des Krachs schon mehrmals verboten hatten).

»Das einzige Problem ist, dass wir jedes Mal vorher checken müssen, ob die Schnur fest genug gespannt ist«, schloss Willy die Schilderung ab. »Egal, wie sehr ich nach dem Telefonat darauf achte, sie nochmal kräftig straff zu ziehen, am nächsten Tag ist sie wieder schlaff.«

Entgegen ihrem Mitteilungsbedürfnis gab Liliane nur ein kurzes »genau« von sich, denn sie hatte gerade festgestellt, dass sie statt Unkraut den Stiel eines Gemüses in den Fäusten gehabt hatte, das nun aus dem Boden herauslugte. Mit einer Emsigkeit, die man dem Mädchen kaum zugetraut hätte, versuchte sie nun, es wieder einzugraben und den Schaden bestmöglich zu verbergen.

»Wie findest du unser Büchsofon, Sven?«, fragte Willy.

»Na ja«, sagte Sven betont desinteressiert, »ihr habt halt Glück, dass ihr direkt nebeneinander wohnt. Aber wenn ich euch erstmal mit meinem neuen Smartphone daddeln lasse, werdet ihr merken, was eure Blechdosen alles nicht draufhaben!«

»Du wirst bestimmt mal genauso ein Schnösel wie der Lackaffe, der in letzter Zeit immer unsere Straße rauf und runter geht«, bemerkte Liliane.

»Was für’n Lackaffe denn nun wieder?«, maulte Sven, sauer darüber, dass er immer noch nicht dazu kam, tüchtig anzugeben.

Liliane erzählte von einem ältlichen Mann, der wegen seiner viel zu teuren Klamotten und blöden Frisur auffiel.

»Den musst du gesehen haben, sieht total blöd aus!«, kicherte sie.

»Was will denn so einer hier?«, wunderte sich Sven.

»Mein Vater meint, der sucht sich bestimmt ein Grundstück aus für seinen Alterswohnsitz«, sagte Willy.

Die Kinder wechselten das Thema; alte Herren und ihre Geschäfte waren für sie nämlich nur bedingt von Interesse. Sven erzählte endlich von seinem Smartphone und das Gespräch verlor sich langsam im Vogelgezwitscher, denn das Gärtnertrio entfernte sich mit der Schubkarre voller Unkraut in Richtung Komposthaufen.

Die Witwe Appelhoff war dankbar für die einkehrende Stille und schloss die Augen. Sie musste zugegeben, dass sie sich schwach und müde fühlte und die Bettruhe ihr gut tat. Die Unterhaltung der Kinder hatte zwar gegen die Langeweile geholfen, doch auf Dauer strengte es die Kranke an, dem Inhalt zu folgen. Jetzt hatte sie Zeit, um das Vernommene zu reflektieren.

Offenbar war der Herr bei Weitem nicht so gefährlich, wie Schwester Floriane sich ihn ausgemalt hatte, denn Liliane und Willy fühlten sich weder von ihm bedroht, noch waren sie von ihm in irgendeiner Weise behelligt worden. Stattdessen spielten die beiden friedlich mit Blechbüchsen, welche auf diese Weise umweltfreundlich recycelt wurden. Ja, so ein Schnurtelefon mit alten Konservendosen hatten ihr Bruder und sie in ihrer Kindheit ebenfalls gebastelt, aber es war nur kurz zum Einsatz gekommen. Gerlinde hatte es eines Tages aus Unachtsamkeit in den Müll geworfen. Als jene mit einem weiteren Teller Hühnerbrühe bewaffnet zur Tür hereintrat, sprach die Witwe Appelhoff sie darauf an.

»Ich kann mich nicht erinnern, Chefin«, behauptete die Köchin. »Wie oft haben Ihr werter Bruder und Sie nicht auf Ihr Spielzeug aufgepasst. Die Konserven lagen gewiss an einem Ort, wo sie nicht hingehörten, und ich kam meiner Haushaltspflicht nach, wie Ihr Herr Vater es von mir erwartete.«

»Trotzdem schön, dass solch einfache Bastelideen nicht in Vergessenheit geraten sind und fortbestehen«, meinte die Witwe Appelhoff und pustete auf den dampfenden Suppenlöffel.

»Mich nimmt wunder, dass die Mütter das überhaupt gestatten«, sagte Gerlinde.

»Warum? Wenn die Schnur hoch genug hängt, stört sie im Garten kaum.«

»Das nicht, aber erinnern Sie sich nicht an den Knatsch zwischen Louise Schnederpelz und der Frau Hartung-Prott? Obwohl Louise von ihrem Mann aus nicht arbeiten gehen darf, hat sie damals für ihren Willibald einen Kindergartenplatz bekommen! Frau Hartung-Prott hingegen kriegte für ihre Liliane keinen, dabei war sie Alleinerziehende, berufstätig und konnte nicht den ganzen Tag zu Hause rumsitzen.«

»Das war natürlich unfair von den Behörden«, gab die Witwe Appelhoff, artig ihre Suppe schlürfend, zu. »Dennoch kein Grund für die beiden, eine Nachbarschaftsfehde vom Zaun zu brechen.«

»Na, erzählen Sie das denen selbst! Wenn die sich auf der Straße begegnen, würdigen sie sich keines Blickes. In Becks Laden sagt man, dass die beiden Frauen seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt haben. Wobei ja im Grunde der Martin Schuld hat.«

»Wer?«

»Martin Schnederpelz, Louises Mann. Der Schnösel hält an seinem vorsintflutlichen Frauenbild fest und will die Familie allein ernähren. Louise hat sich als Hausfrauchen drein zu fügen. Wie sie sich dafür hergeben kann! Mein Carl sollte sich mal solch einen Vorschlag erlauben, der würde was von mir hören! Wenn Sie mich fragen, Chefin, hat Louise die Angelegenheit mit dem Kindergarten extra durchgesetzt, um sich einmal ihrem Martin gegenüber überlegen zu fühlen. Der hält ja von Kindergärten gar nichts.«

»Wie dem auch sei«, unterbrach die Witwe Appelhoff den Redeschwall ihrer Köchin, »ich sehe es als gutes Zeichen an, dass die beiden Kinder miteinander spielen dürfen. Egal, wie uneinig die Mütter sein mögen, sie tragen ihren Zwist immerhin nicht auf dem Rücken ihres Nachwuchses aus.«

»Das ist freilich lobenswert«, räumte Gerlinde ein. »Möglicherweise liegt das daran, dass Frau Hartung-Prott keine Zeit mehr fürs Streiten hat. Wegen amouröser Verpflichtungen.«

Der Witwe Appelhoff war die Andeutung im letzten Satz nicht entgangen, doch Gerlinde weigerte sich, mit Einzelheiten herauszurücken. Stattdessen ermahnte sie ihre »Chefin«, endlich ein Schläfchen zu halten, um dem Körper beim Heilungsprozess zu helfen, und verließ das Krankenzimmer. Doch ihre Worte ließen die Witwe Appelhoff nicht los und kein Genesungsschlaf stellte sich ein. Sie lag unruhig im Bett und zählte durch, wer in Friedershagen männlich und alleinstehend war und somit als Liebhaber für Sylvia Hartung-Prott in Frage kam – denn dass sie sich mit einem verheirateten Mann einlassen würde, hielt die Witwe Appelhoff für unwahrscheinlich.

»Sie muss ja auch an ihr Kind denken«, sagte sie sich.

Udo, der Fischer, schien ihr zu alt für Sylvia, ebenso ihr eigener Bruder Jörg (dessen Aktivitäten in dieser Richtung sie mit Sicherheit längst registriert hätte). Da wäre eher Sönke, der Koch in der hiesigen Jugendherberge, als Kandidat wahrscheinlicher, obgleich sein wortkarger und abweisender Habitus wenig attraktiv auf Frauen wirken dürfte. Oder vielleicht Lorenz Beck, der Ladenbesitzer? Immerhin war er wie Sylvia verwitwet und der Altersunterschied zwischen ihnen wäre nicht allzu groß. Am liebsten wäre es der Witwe Appelhoff allerdings gewesen, wenn es sich um den jungen Ortspolizisten Hövelmeyer handelte, der mit seinem schlichten Gemüt und sicherem Job Stabilität und Herzenswärme in die Familie brächte. Über diese und ähnliche Grübeleien verging die Zeit, bis das kleine Gärtnertrio seine Tagesschicht beendet hatte und für den Rest des Nachmittags von der schweren Arbeit entbunden wurde.

»Bis morgen«, hörte die Witwe Appelhoff ihren Bruder den Kindern nachrufen. »Dann werden die Hecken beschnitten, so weit wie ihr kommt!«

Sie schreckte auf und merkte, dass sie doch ein wenig geschlummert haben musste. Doch wie es bei Krankheiten manchmal vorkommt, fühlte sie sich jetzt noch weniger ausgeruht und es schwirrte ihr der Kopf. Da steckte Jörg den Kopf ins Krankenzimmer und erstattete kurz Bericht:

»Die drei Racker haben die Beete ganz gut hinbekommen, Lotte. Ich schlage vor, dass morgen die Hecken und übermorgen das Rasenmähen dran ist, damit es für sie abwechslungsreich bleibt. Sollen sie das Geld Ende jeder Woche kriegen oder erst, wenn alles vorbei ist?«

»Ende jeder Woche, das habe ich mit Kruses ausgemacht«, antwortete die Witwe Appelhoff, ihre Gedanken ordnend. »Aber viel wichtiger: Weißt du zufällig, mit wem die Sylvia Hartung-Prott zurzeit herumturtelt?«

»Lilianes Mutter? Was hat das mit dem Garten zu tun?«

»Nichts. Gerlinde deutete so etwas an und…«

»…du bist halt neugierig.«

Jörg lächelte mit milder Nachsicht, wie es gewöhnlich sonst nur alternde Großväter bei ihren Enkeln tun. Die Witwe Appelhoff konnte sich nicht verteidigen, denn ihre Nase begann zu laufen und sie musste ihr zweitbestes Taschentuch zur Hand nehmen, das mit gelben und weißen Rosen bedruckt war.

»Um dich zu beruhigen, Gerlinde hat auch mir gegenüber Anspielungen gemacht«, fuhr Jörg fort. »Offenbar meint sie, dass ein fremder Tourist eine Affäre mit der Hartung-Prott hat, weil er immerzu den Mühlenweg entlangspaziert, wo sie wohnt, und auch auf der Wiese dahinter seine Runden dreht. Ich persönlich denke, dass er einfach nur die Natur beobachten will, aber Gerlinde…«

Es klingelte. Jörg erhob sich, um die Haustür zu öffnen, und die Witwe Appelhoff vernahm zunächst Stimmen, die lauter wurden, dann Schritte, die sich näherten, und zu guter Letzt schaute Malte John, der Postbote, in ihr Zimmer. Der Witwe Appelhoff passte das gut, denn Malte trieb sich berufsbedingt in ganz Friedershagen herum und würde am ehesten über den neuesten Klatsch und Tratsch Bescheid wissen. Im Moment allerdings stand er nur da und druckste herum.

»Wenn Sie mir sagen wollen, dass meine bestellten Flyer von der Spendenaktion noch nicht da sind, brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben«, versuchte die Witwe Appelhoff das Eis zu brechen. »Der Arzt hat mir verboten, in meinem jetzigen Zustand für die Straßenkinder zu kämpfen.«

»Oh, darum geht es mir gar nicht«, gestand Malte, »obwohl die Flyer endlich geliefert wurden. Sie können also jeden Bürger von Friedershagen mit dem Schicksal Ihrer obdachlosen Jugendlichen konfrontieren. Nein, es geht um etwas ganz anderes. Ich brauche Ihren Rat. Aber wenn Sie sich krank fühlen…«

»Es ist nur die Sommergrippe, halb so wild. Erzählen Sie.«

»Nun, Sie kennen doch sicher den Mühlenweg, wo die Frau Hartung-Prott wohnt, oder?«

Die Witwe Appelhoff war verblüfft.

»Wollen Sie mir jetzt auch von dem sonderbaren Herrn mit der Pompadour-Frisur erzählen?«, fragte sie.

Der Briefträger schüttelte den Kopf.

»Von einem sonderbaren Herrn weiß ich nichts. Nein, es geht um die Leute vom Mühlenweg. Ich habe Ärger bekommen, weil ihre Post schon zweimal verloren gegangen ist. Richtig heftigen Ärger!«

Diese Worte aktivierten auf Anhieb das ohnehin stark ausgeprägte Helfersyndrom der Witwe Appelhoff. Die Kranke richtete sich auf und hörte gespannt zu, was der Postbote zu erzählen hatte.

»Es ist so, dass ich neben meinem Briefträgerjob auch den Zustellservice von Kurold, dem neuen Paketdienst aus der Werbung, übernommen habe. Mit meinem Moped und dem stabilen Beiwagen ist das gut zu schaffen. Aber nun gingen laut Kurold schon zwei Sendungen nach Friedershagen verloren und Beschwerden gingen ein. Und nicht nur Beschwerden: Die Pakete waren jeweils versichert und Kurold musste blechen!«

»Das ist ärgerlich. Aber was hat das mit Ihnen zu tun, Malte?«

»Die Rückverfolgung hat ergeben, dass die Pakete hier im Ort abhandengekommen sein müssen, und man will mir einen Vorgesetzten schicken, der mir auf die Finger schaut.«

»Ich verstehe«, sagte die Witwe Appelhoff. »Bei Kurold nimmt man offenbar an, die Schuld für die fehlenden Sendungen liege bei Ihnen.«

»Eben das fürchte ich auch. Das bringt mich in eine furchtbare Zwickmühle!«

Er schilderte sein Dilemma, in das er hineingeraten war. Im Mühlenweg gab es einen Hund, den Rex vom alten Dirk Menken, dessen Zwinger nicht richtig schloss und der darum gern ausbüxte. Besonders hatte er es auf Lieferanten aller Art abgesehen und damit auch auf Malte John.

»Das Tier beißt zwar nicht, aber es springt um einen herum und man muss es weglocken, indem man Hundesnacks zurück aufs Grundstück wirft. Meistens kümmert sich Sylvia drum, sobald sie ihn bellen hört. Sie wohnt ja neben dem alten Menken. Doch es kam schon vor, dass ich auf mich allein gestellt war.«

»Und ich nehme an, in solch einer Situation hätte man aus Ihrem Beiwagen ein Paket klauen können, weil sie mit Rex beschäftigt waren?«

»Ganz richtig. Das ist freilich sehr unprofessionell von mir und auch die Paketverwahrung ist nicht die beste. Aber deswegen habe ich ja den Nebenjob angenommen, damit ich Geld für eine Aufrüstung zusammenkriege. Wenn ich die Sache mit dem Hund zugebe, feuert man mich wegen Nachlässigkeit. Wenn ich sie verschweige, könnte man hingegen mich für den Dieb halten und dann bin ich erst recht die Stelle los. Sie kennen sich mit kniffligen Fällen viel besser aus als alle anderen, Frau Appelhoff. Was soll ich tun?«

Die Witwe Appelhoff fühlte sich von Maltes Kompliment geschmeichelt. Sie dachte kurz nach und schlug dann vor, dass er pro-aktiv handeln müsse: Wenn sein Beiwagen beraubt worden war, müsse er zur Polizei gehen und Anzeige gegen unbekannt erstatten. Die würden das Moped nach Spuren untersuchen, Zeugen befragen und vielleicht sogar Hinweise am Tatort finden.

Doch zur Polizei gehen, eben das wollte Malte John nicht. Die Witwe Appelhoff war darüber überrascht, fand sie ihren eigenen Vorschlag doch einleuchtend und sehr überzeugend. Womöglich schmälerte die Erkältung ihre Selbstwahrnehmung? Der Postbote wollte jedenfalls nicht mit der Sprache herausrücken, warum er vor einer Anzeige zurückschreckte.

»Wenn Sie nicht vollkommen offen zu mir sind, kann ich Ihnen leider nichts Weiteres raten«, sagte die Kranke.

»Danke trotzdem für Ihre Mühe«, erwiderte Malte John, »und entschuldigen Sie vielmals die Störung. Ich werde auf jeden Fall über Ihren Vorschlag nachdenken, vielleicht… Na ja, gute Besserung, ich muss jetzt…«

Und er verschwand. Die Witwe Appelhoff stützte nachdenklich den Kopf in die Hände und merkte dabei, wie ihre Wangen glühten.

»Jetzt werde ich auch noch fiebrig«, murrte sie, »wie üblich bei einer Krankheit. Liegt man ruhig im Bett, bricht sie erst richtig aus!«

Wie recht sie damit hatte! Den gesamten folgenden Vormittag über schwitzte sie überall am Leib und musste trotzdem unter einer dicken Decke liegen. Länger als zehn Minuten konnte sie ihre Augen nicht offen halten und es waren eher Laute als Worte, die sie ausstieß, um Gerlinde von Wadenwickeln abzuhalten. Zwischendurch hatte sie verrückte Träume, von denen sie wiederum immer wieder aufwachte. Malte John und Frau Hartung-Prott spielten darin eine auffallend große Rolle und die Witwe Appelhoff begann sich zu fragen, warum der Briefträger die alleinerziehende Mutter beim Vornamen nannte.

Um die Mittagszeit ging das Fieber zurück, aber es blieb eine Art unsichtbarer Vorhang zwischen der Kranken und dem Rest der Welt hängen. Die Witwe Appelhoff bekam zwar Einiges von den Geschehnissen um sie herum mit, aber es kam ihr alles wie ein Déjà-vu vor. Zuerst hörte sie die Kinder draußen miteinander reden, und weil sie gleichzeitig an verschiedenen Seiten der Hecke schnitten, setzten sie ihre Stimmbänder mit aller Kraft ein, um auch ja verstanden zu werden. Sie sprachen wieder von ihren Handys, von ihren Geburtstagswünschen und davon, dass einer von ihnen ja demnächst eine Party aus diesem Anlass machen würde und die anderen eingeladen seien.

»Im Sommer sind die meisten ja im Urlaub, aber ich feiere trotzdem. Dann kommen eben nur die Harten in den Garten, wie meine Mama sagt!«

Die Witwe Appelhoff konnte nicht heraushören, wessen Stimme das gesagt hatte. Ab einer bestimmten Tonlage hörten sich alle Kinder für sie gleich an. Im Halbschlaf bekam sie noch mit, wie eben jene Mama die Party »super kostengünstig« ausgestalten würde, da sie einen tollen Anbieter im Internet gefunden habe. Eines der anderen Kinder schaltete sich ein und prahlte davon, dass seine Mutter sich »super gut« mit Internet auskennen würde und mit Sicherheit noch kostengünstigere Angebote gefunden hätte. Es wurde eingewandt, dass man bei Geburtstagen nicht geizig zu sein brauchte, was wiederum den Vorwurf provozierte, man solle nicht gierig sein und Geschenke bedeuteten »eh nicht so viel wie der Gedanke!« Das Gespräch eskalierte in einem Streit, wer die besten Eltern besäße, und Jörg musste sich einschalten, um Frieden zu stiften. Er trennte die drei, indem er jedem Kind einen Auftrag in einer anderen Ecke des Gartens erteilte.

Erst am Nachmittag kehrten die Kräfte der Kranken zurück und das Fieber sank von selbst (oder dank Doktor Krögers Tabletten?). Das Déjà-vu setzte sich allerdings fort, denn abermals hörte sie Malte John an der Haustür mit ihrem Bruder reden. Diesmal hatte er eine fremde Person mitgebracht, weswegen es die Witwe Appelhoff für ratsam hielt, sich aus dem Bett zu begeben und die zwei zu begrüßen. Ihr Spitzentaschentuch mit den bunten Primeln darauf hielt sie griffbereit.

Die fremde Person war eine Frau mittleren Alters mit hochgesteckten Haaren, kühlem Blick und wulstigen Schmolllippen. Sie steckte in einem blauen Kostüm, das eher wie eine Uniform als wie eine Sommergarderobe wirkte. Sie hielt der Witwe Appelhoff die Hand hin, um zu grüßen, doch die Kranke wehrte ab.

»Besser nicht, ich bin erkältet. Guten Tag erstmal. Sie wünschen…?«

»Guten Tag. Ich bin die Vorgesetzte von Herrn John und hier in Friedershagen, um die Diebstähle aufzuklären, die sich auf dem Postweg zugetragen haben. Ich habe mich eben schon Ihrem Bruder vorgestellt.«

»Und womit kann ich Ihnen helfen, Frau Kurold?«, fragte die Witwe Appelhoff.

»Oh, Kurold ist der Name unseres Paketservices. Eine Zusammensetzung aus Kurier und Herold, die sich hoffentlich durchsetzt – unser Unternehmen ist ja noch recht jung und noch nicht überall bekannt. Ich selbst heiße Dorothea Cocolos und möchte den Herrn John fortan auf seiner Route begleiten. Dabei möchte ich die Gelegenheit ergreifen, alle Friedershagener kennenzulernen, damit sich niemand wundert, warum zwei auf diesem Moped sitzen. In dem Geschäft vorhin kamen ja schnell alle möglichen Gerüchte zustande.«

»Freut mich, Frau Cocolos. Von welchem Geschäft sprechen Sie?«

»Becks Laden«, mischte sich Malte John ein. »Die Tratschtanten vom Dienst sind dort wieder mal über alles Mögliche hergezogen.«

»Ungeheuerliches habe ich gehört«, sagte Frau Cocolos. »Leider auch über Herrn John.«

Die Witwe Appelhoff sah, wie Malte missmutig den Kopf hängen ließ. Sie schwor Frau Cocolos gegenüber, dass Malte ein tüchtiger, ehrlicher junger Mann sei und Kurold froh sein solle, sich dank ihm in Friedershagen und Umgebung einen Namen machen zu können.

»Oh, dass er eine ehrliche Haut ist, will ich nicht bezweifeln«, entgegnete Frau Cocolos. »Aber er scheint schnell schwach zu werden.«

Malte Johns Kopf konnte nicht noch tiefer hängen. Die Witwe Appelhoff erriet, worauf seine Vorgesetzte anspielte.

»Sylvia?«

»Mittlerweile weiß es eh das ganze Dorf, da können Sie’s auch wissen, Frau Appelhoff«, erwiderte Malte. »Sylvia und ich sind ein Paar, aber erst seit Kurzem. Sie wollte nicht, dass es so schnell herauskommt.«

Der Witwe Appelhoff ging das zu Herzen. Malte John mochte nicht perfekt sein, aber die Geheimhaltung seiner Liebesaffäre verdeutlichte seine Ehre als Gentleman. Plötzlich hob er trotzig das Kinn.

»Damit das klar ist: Während meiner Arbeitszeiten kam es nie zu irgendwelchen Unanständigkeiten! Mit den Paketdiebstählen hat unsere Liebe nichts zu tun.«

»Warum gehen Sie beide wegen dieser Paketdiebstähle nicht zur Polizei?«, wunderte sich die Witwe Appelhoff erneut. »Das habe ich Malte gestern schon geraten. In Peer Hövelmeyer haben wir einen sehr fähigen Ordnungshüter im Ort.«

»Sie müssen verstehen, Frau Appelhoff, der Ruf von Kurold steht auf dem Spiel. Wenn der Kunde erfährt, dass wir bereits jetzt in Polizeiangelegenheiten verwickelt sind, wird er uns sein Vertrauen nicht schenken und sich an die althergebrachten Paketunternehmen wenden. Ich möchte lediglich wissen, inwiefern Herr John durch mögliche Vernachlässigung seiner Aufsichtspflicht eine Mitschuld an den Diebstählen trägt.«

Jörg, der die ganze Zeit stumm daneben saß, wurde streitlustig.

»Mir scheint eher, Ihre Firma will jegliche Verantwortung an das schwächste Glied ihrer Kette abwälzen, um die Versicherungssumme nicht bezahlen zu müssen. Am besten teile ich meinen Eindruck Ihrem Vorgesetzten mit, Frau Cocolos. Sie haben doch sicher eine Visitenkarte von Kurold dabei, der ich die Kontaktdaten entnehmen kann?«

Frau Cocolos’ dicke Lippen wurden etwas schmaler, als sie zugeben musste, keine Visitenkarte dabei zu haben. Sie habe all Ihre Unterlagen in ihrer Pension gelassen, davon ausgehend, sie auf der Tour mit Malte John nicht zu benötigen. Die Witwe Appelhoff fand das höchst unprofessionell, gemessen an der Art, wie Frau Cocolos sich bis eben aufgespielt hatte. Sie sagte aber nichts und wünschte den beiden noch einen schönen Tag.

»Ich muss wieder ins Bett«, sagte sie, und ihr Bruder fügte hinzu:

»In einem pflichte ich meiner Schwester bei. Die Polizei ist der richtige Ansprechpartner für Sie beide!«

Während die Witwe Appelhoff ihr Abendbrot aß, das nur aus einer dicken Brotscheibe mit Butter bestand (auf nichts anderes hatte sie Appetit), erwischte sie sich dabei zu hoffen, dass die unsympathische Dorothea Cocolos möglichst bald Bekanntschaft mit Menkens Rex macht. Bestimmt hatte diese Frau noch nie selbst Post ausgetragen, glaubte aber als Repräsentantin von Kurold, alles darüber zu wissen.

In der Nacht schlief sie ruhig und träumte nichts. Am Morgen erwachte sie mit knurrendem Magen, was Gerlinde fröhlich als Zeichen der Genesung deutete, und machte nach dem Frühstück einen kleinen Spaziergang. Sie ließ Maltes Bericht noch einmal Revue passieren und wunderte sich, dass jeder in Friedershagen von dem fremden Herren sprach und ausgerechnet der Postbote, der durch alle Straßen musste, nichts von dem markanten Touristen (oder was auch immer er war) bemerkt hatte.

»Wenn ihn die Liebe in den Mühlenweg führt, wird er nur Augen für Sylvia haben und für niemand anderen«, erklärte sich die Witwe Appelhoff diesen Punkt selbst.

Gerade im Mühlenweg aber waren die Pakete gestohlen worden. Das legte die Theorie nahe, dass der sonst so auffällige Herr sich absichtlich vor Malte John verbarg, um den rechten Moment abzupassen, ihn zu bestehlen. Aber warum hielt sich der Fremde nach den Diebstählen noch immer in Friedershagen auf und riskierte damit, entdeckt zu werden? Und was war mit den Paketen geschehen, die er an sich genommen hatte?

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte die Witwe Appelhoff während ihrer Überlegungen die Richtung zum Mühlenweg eingeschlagen. Just, als sie aufschaute, sah sie von Weitem einen Herrn aus Sylvia Hartung-Protts Haustüre treten. Er trug einen altmodischen Hut, Schlips und Kragen sowie, wie sie meinte erkennen zu können, teure Lackschuhe. Freundlich schüttelte er Sylvia die Hand und schlenderte langsam die Straße hinab, die Hände hinter dem Rücken verschränkend.

»Merkwürdige Kledasche für einen Sommerurlaub«, fand sie. »Das muss der Fremde sein, von dem alle berichten.«

Er war zu weit entfernt, um ihn näher betrachten zu können; außerdem erinnerte sie sich an das Verbot des Arztes, andere Leute anzustecken. Deshalb lief sie in weitem Bogen um den seltsamen Herrn herum und musste kurz auflachen. Die Idee, jenem merkwürdigen Mann eine Liaison mit der schicken Sylvia zu unterstellen, konnte wirklich nur Gerlindes melodramatischem Kopf entspringen. Spätestens der förmliche Abschied an der Haustür hätte auch ihrer treuen Haushälterin bewiesen, dass dort keinerlei Romantik herrschte. Nur was war dann der Grund für dessen Besuch bei Hartung-Protts?

»Wenn ich nur nicht so erkältet wäre«, schimpfte die Witwe Appelhoff, »dann könnte ich Sylvia einen Besuch abstatten und nachher in Becks Laden das Neueste aus der Gerüchteküche hören.«

Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als mit einem Kopf voller unbeantworteter Fragen den Heimweg anzutreten. In der Hoffnung, der schicke Herr würde irgendetwas fallen lassen, das seine Identität entlarven würde, folgte sie ihm eine Weile, doch es nützte nichts. Weder fiel ein verräterischer Brief noch ein geheimnisvoller Schlüsselbund aus seinen Taschen, um der Witwe Appelhoff bei der Lösung des Rätsels behilflich zu sein.

»Suchen Sie etwas, Frau Appelhoff?«, fragte Dirk Menken, der plötzlich neben ihr stand. »Ich kann Ihnen gern helfen.«

Dabei stocherte er mit seinem Spazierstock auf dem Boden herum. Die Witwe Appelhoff erschrak kurz, fasste sich aber schnell.

»Oh nein, danke. Ich glaubte nur, da läge etwas Müll herum.«

»Wenn das der Fall ist, stammt der bestimmt von den Urlaubern. Diese Touristen nehmen immer weniger Rücksicht auf unsere schöne Landschaft!«

Er pfiff durch die Zähne und ein großer Hund kam angerannt. Es war Rex, der Malte John ab und zu Ärger machte. Die Witwe Appelhoff lobte das schöne Fell des Tieres und erkundigte sich nach dessen Speiseplan. Der alte Menken erklärte stolz, dass er genauestens auf die Ernährung seines Hundes achtete.

»Nicht alles, was man in Becks Laden an Tierfutter bekommt, taugt was«, meinte er.

Die Witwe Appelhoff stimmte zu, obgleich sie gar kein Haustier hatte, und mit dieser einvernehmlichen Grundstimmung traute sie sich, das Herrchen von Rex auf dessen Ausbrüche anzusprechen. Der war ganz überrascht.

»Der Zwinger schließt wieder nicht richtig? Das ist ja ein Ding. Erst vor zwei Wochen hab ich das Schloss repariert. Rex, du Lausebengel, du kannst wohl zaubern?«

Er nahm ihn an die Leine.

»Ich schau mir den Zwinger noch einmal an«, versprach er. »Danke für den Hinweis, Frau Appelhoff. Und der Sylvia muss ich auch danken. Nicht viele trauen sich an meinen Rex, wo der doch so lieb ist!«

Er kraulte den Hund am Nacken und verabschiedete sich kopfnickend, um seinen Ausflug fortzusetzen. Die Witwe Appelhoff schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Etwas Gutes hatte der ausgedehnte Spaziergang: Die frische Luft blies ihr die Nase frei und sie schniefte kaum noch. Darum bemerkten auch die drei Gärtnergehilfen nicht, dass sie hinter der Hecke stand, als sie im Schuppen den alten Rasenmäher herausholten und dabei Kindergeheimnisse austauschten.

»Ätsch, Sven«, flüsterte eine der drei Stimmen, »ich habe in Mamas Truhe geschaut, wo sie immer die Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke versteckt. Sie denkt, ich weiß das nicht.«

»Und, was kriegste zum Geburtstag?«, fragte Sven zurück.

»Genauso ein Smartphone, wie du eins hast!«

Man hörte förmlich, wie die Zunge herausgestreckt wurde.

»Von wegen, es zählt nur der Gedanke beim Schenken, wie?«, höhnte Sven. »Hast du keinen Schiss, dass deine Mutter merkt, dass du heimlich nach den Geschenken schaust?«

»Ach was, wenn die erstmal vorm Computer sitzt und surft, merkt die nichts mehr von der Welt.«

»Bei meiner ist das auch so. Erst letztens sah ich ihr über die Schulter beim Surfen zu, ohne dass sie es merkte. Sie shoppte gerade nach…«

Weiter kam die Stimme nicht, denn ausgerechnet jetzt erlitt die Witwe Appelhoff einen bösen Hustenanfall und verriet sich. Liliane war die Erste, die über die Hecke schaute und sie erkannte.

»Frau Appelhoff, das hört sich ja noch gar nicht gut an«, meinte sie. »Besser, Sie gehen ins Haus.«

»Sollen wir lieber ein andermal den Rasen mähen?«, fragte Willy. »Das ist ja ziemlich laut.«

»Danke für eure Fürsorge, Kinder«, winkte die Witwe Appelhoff ab. »Ihr braucht keine Rücksicht auf mich zu nehmen. Ich bin ja froh, dass ihr mir die Gartenarbeit abnehmt! Nur weiter so!«

Tatsächlich bekam die Witwe Appelhoff kaum etwas vom Rasenmäherlärm mit, als sie im Wohnzimmer vor sich hin döste. Nachdem der Duft von Kaffee, den Jörg nachmittags zuzubereiten pflegte, sie geweckt hatte, prüfte sie selbst nach, ob das Gras wirklich kürzer sei. Weil dem so war, schlussfolgerte sie:

»Krögers Rezept war zu stark, ich verschlafe ja kostbare Zeit. Kein Wunder, dass ich mich gestern wie im Delirium fühlte.«

Das war Grund genug für sie, auf die weitere Einnahme der Medizin zu verzichten und am nächsten Tag erneut in Doktor Krögers Sprechzimmer zu sitzen.

»Das Gurgeln war in Ordnung, aber das andere Zeug hat mich völlig wegtreten lassen«, erzählte sie. »Ich nehme es seit gestern Abend nicht mehr und fühle mich viel wacher und kräftiger.«

Doktor Kröger war nicht erstaunt.

»Meinen Sie nicht, Frau Appelhoff, dass Sie sich kräftiger fühlen, eben weil sie das Medikament bis gestern Abend regelmäßig genommen haben?«

Seine Patientin hatte mit dieser Auslegung der Fakten nicht gerechnet und schwieg. Der Arzt nutzte die Gelegenheit, um fortzufahren.

»Des Weiteren ist Müdigkeit eine typische Nebenwirkung von Schmerz- und Fiebertabletten. Wären Sie öfter krank, wüssten Sie das. Sorgen brauchen Sie sich darüber nicht zu machen.«

»Sieht so aus, als hätte ich Ihnen gerade die Zeit gestohlen«, gestand die Witwe Appelhoff. »Und Ihren restlichen Patienten noch dazu. Wie peinlich! Wahrscheinlich werde ich langsam zu einer dieser betulichen alten Damen, die bei jedem Murks zum Arzt rennen.«

»Ihnen fällt einfach die Decke auf den Kopf«, diagnostizierte Kröger gutmütig. »Bei einer aktiven Person wie Ihnen nicht verwunderlich. Ihre Erkältung ist noch nicht vorüber, schonen Sie sich weiterhin. Wenn Sie die Schmerzmittel nicht benötigen, ist das in Ordnung.«

»Und die Ansteckungsgefahr?«

»Sie wollen immer noch Ihre Flyer verteilen, wie? Das verschieben Sie besser auf nächste Woche.«

»Malte John hat sie unlängst abgeliefert.«

»Der arme Teufel ist ja in aller Munde«, stellte der Arzt fest und tadelte die Klatschsucht, der sowohl seine Gattin als auch seine Schwester, das Fräulein Kröger, verfallen waren. »Die beiden Frauen haben nichts Besseres zu tun als zu diskutieren, weshalb die Hartung-Prott ausgerechnet den Briefträger als Vaterersatz für ihre Liliane ausgewählt hat, wo sie viel besser situierte Herren an Land ziehen könne. Pah! Wo die Liebe eben hinfällt, sage ich dazu. Und was erwidert meine Frau, unromantisch, wie sie ist? Dass die Kleine nur deshalb zu Ihnen zur Gartenarbeit geschickt wird, damit die Mutter sturmfreie Bude hat, wenn der Postmann zweimal klingelt. Meine Schwester toppt das noch und fügt hinzu: Die kleine Liliane muss sich das Geld für ihren Geburtstag wohl selbst verdienen, jetzt wo Frau Hartung-Prott nur einen Postboten statt eines Geschäftsmanns zum Liebhaber hat. Ist das nicht gehässig?«

Die Witwe Appelhoff sagte hierauf lieber nichts, denn hätte sie zugestimmt, würde sie automatisch die Familie des Arztes beleidigt haben. Sie verabschiedete sich und verließ das Sprechzimmer.

Als sie sich von Schwester Floriane verabschieden wollte, schenkte jene ihr keine Beachtung. Sie schaute durch den Lamellenvorhang auf die Hauptstraße, wo sich etwas Aufregendes abspielen musste. Die Witwe Appelhoff fragte erst gar nicht nach, sondern lief gleich selbst hinaus, um nachzusehen, was es sei. Frau Cocolos stand dort und klopfte Dreck von ihrem blauen Kostüm, während Malte John auf seinem Moped saß und beruhigend auf sie einredete.

»Der Rex tut keinem was. Der wollte Sie nicht beißen, bestimmt nicht. Sie haben doch gesehen, wie schnell Frau Hartung-Prott den Hund wieder zur Raison gebracht hat. Der will nur spielen.«

Die Witwe Appelhoff kam auf die zwei zu und erkundigte sich, was vorgefallen sei. Weil beide zugleich antworteten, musste sie geduldig die Fäden entwirren. Folgender Zwischenfall entpuppte sich als Ursache für die Aufregung:

Im Mühlenweg waren Pakete abzuliefern und Malte John wollte dies unter der Beobachtung seiner Vorgesetzten gewissenhaft erledigen. Menkens Rex war jedoch wieder aus seinem Zwinger ausgebrochen und kam auf sie zugerannt. Frau Cocolos hatte panische Angst vor Hunden und wollte weglaufen, was das Tier als Einladung zum Spielen verstand. Er sprang sie an, sie kreischte und Malte konnte nichts ausrichten. Endlich kam Sylvia Hartung-Prott aus ihrem Haus gestürzt, noch im Morgenmantel, der nur geringfügig den Blick auf ihre Reizwäsche verdeckte. Sie pfiff nach Rex, nahm ihn beim Halsband und zog ihn zurück auf Menkens Grundstück, wo sie ihn in den Zwinger sperrte. Mit Spuren von Hundetapsen übersät, bestand Frau Cocolos darauf, sofort zu ihrer Pension zurückgefahren zu werden, bevor die Tour weitergehen könne.

»Ich nehme an, die Pakete waren während dieses ganzen Tohuwabohus unbeaufsichtigt?«, fragte die Witwe Appelhoff ernst.

Statt zu antworten, schauten sich Malte John und Frau Cocolos entsetzt an. Gleichzeitig stürzten sie sich auf den Beiwagen, hoben die Abdeckung auf und mussten feststellen, dass ein Paket fehlte.

»An wen ging es denn?«, wollte die Witwe Appelhoff wissen.

»Es war für Louise Schnederpelz«, antwortete Malte John.

Frau Cocolos zog die Brauen zusammen.

»Das letzte gestohlene Paket hätte ebenfalls Louise Schnederpelz zugestellt werden müssen«, sagte sie.

»Und wer war der Absender?«, fragte ihr Gegenüber weiter.

»Orynok, einer dieser Online-Versandhandel.«

Nun ahnte die Witwe Appelhoff, was hinter den Diebstählen steckte. Sie befahl Malte und Frau Cocolos, sich wieder aufs Moped zu setzen und zurück zum Mühlenweg zu fahren, sie würde schnellstmöglich nachkommen. Kein Schniefen und kein Husten störte ihre Anweisungen, denen sofort Folge geleistet wurde.

Der Mühlenweg war nicht weit weg. Malte John hatte das Moped abgestellt und schlich mit Frau Cocolos bereits um die Grundstücke, als die Witwe Appelhoff auf ihrem Fahrrad abgehetzt, aber zielstrebig in die Kurve bog und direkt auf sie zukam. Noch vor dem Absteigen rief sie ihnen zu:

»Schaut zwischen die Häuser von Schnederpelz und Hartung-Prott! Und Malte, du hast doch bestimmt ein Smartphone dabei? Schalte die Kamerafunktion ein! Wir filmen das Ganze.«

Sie versteckten sich in dem hohen Sommergras und näherten sich der besagten Grundstücke von hinten. Frau Cocolos entdeckte ihn zuerst:

»Sehen Sie, da ist ein kleiner Herr, der heimlich versucht, durch das Fenster zu schauen!«

»Herr Pompadour«, erkannte die Witwe Appelhoff.

»Dieser Fremde gehört weder zu Schnederpelz noch zu Hartung-Prott«, wusste Malte.

»Er verhält sich sehr verdächtig«, meinte Frau Cocolos. »Lassen Sie uns zugreifen, er ist bestimmt der Dieb!«

»Das dachte ich zunächst auch«, sagte die Witwe Appelhoff und hielt die andere am Arm fest, bevor sie voreilig auf den schicken Herrn springen konnte. »Aber wenn er das Paket geklaut hat, wo ist es jetzt? Und wonach schnüffelt er an Schnederpelzens Haus herum? Da!«

Eine weitere Gestalt schlich durch den Garten, darauf bedacht, von Herrn Pompadour nicht entdeckt zu werden. Als der um die Ecke verschwand, eilte die Gestalt hinterher.

»Oje«, rief die Witwe Appelhoff, »jetzt wird es ernst! Lauft schnell!«

Sie ließen das Sommergras hinter sich, stürzten in den Garten, die Ecke herum und konnten eben noch »Halt!« schreien – da war Sylvia Hartung-Protts Arm samt Fleischhammer schon auf den Fremden niedergesaust. Ob der Schrei die Angreiferin in letzter Sekunde aus der Fassung gebracht oder das Opfer rechtzeitig gewarnt hatte, konnte im Anschluss keiner mehr sagen. Jedenfalls traf Sylvia nicht den Kopf, sondern nur die Schulter, und der Herr sackte vor Schmerzen stöhnend zusammen. Die Witwe Appelhoff eilte ihm zu Hilfe, Dorothea Cocolos schlug der Frau Hartung-Prott geistesgegenwärtig den Hammer aus der Hand. Nur Malte John stand abseits und konnte nicht fassen, was seine Sylvia getan hatte.

»Er schlich hier herum«, verteidigte sie sich, als sie seinen stummen Vorwurf im Blick sah. »Ich glaubte, er sei ein Einbrecher und wolle Louise etwas antun! Da musste ich sie doch schützen?«

Der fremde Herr raffte sich trotz Verletzung auf, zog so würdevoll, wie es in seinem Zustand möglich war, eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche und hielt sie den Umstehenden hin.

»Gestatten, Bert Meyer vom Orynok-Online-Versand«, sagte er kraftlos. »Ich bin auf der Suche nach einem Betrüger, der unseren Kundenservice hintergeht. Und ich denke, ich hab ihn gefunden.«

»Nicht ganz«, berichtigte die Witwe Appelhoff und schaute zum Eingang von Familie Schnederpelz.

Dort stand Louise, Willys Mutter, und schaute verstört dem Geschehen zu.

»Ach, Sylvia«, hauchte sie schließlich kopfschüttelnd.

»Sag nichts«, gab diese harsch zurück.

Doch Schweigen sollte den beiden nichts helfen, denn wie sich später herausstellte, war die Beweislage war eindeutig.

*

Eine Woche später war die Witwe Appelhoff wieder fit. Die Flyer für die Aktion Straßenkinder lagen allerdings noch auf ihrem Wohnzimmertisch, denn bevor sie die Verteilung derselben in Angriff nahm, wollte sie Frau Cocolos und Herrn Meyer auf ihrer Terrasse mit Kaffee und Kuchen verwöhnen. Beide Gäste würden demnächst abreisen und sollten der schlimmen Erlebnisse zum Trotz einen positiven Eindruck von Friedershagen mit nach Hause nehmen.

»Soll lieber ich Ihnen eingießen, Herr Meyer?«, fragte die Gastgeberin. »Wegen Ihrer Schulter, meine ich.«

Bert Meyer lehnte dankend ab. Die Verletzung, die ihm Sylvia Hartung-Prott beigefügt hatte, sei schon so gut wie verheilt.

»Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass eine zarte Person wie sie mich jemals angreifen könnte«, meinte er. »Noch dazu, wo wir uns am Vortag überaus nett miteinander unterhalten hatten und ich sie gar nicht verdächtigte, mit gestohlenem Gut zu handeln. Mein Fokus war ja bereits auf ihre Nachbarin gedriftet.«

»Gerade deshalb wurde Sylvia ja panisch«, erklärte die Witwe Appelhoff. »Ihren Verdacht hatte sie zwar zerstreuen können, aber sobald sie merkte, dass sie sich nun auf ihre Komplizin konzentrierten, glaubte sie, handeln zu müssen. Ihr Komplott sollte nicht ans Licht kommen.«

Gerlinde brachte ein neues Kännchen Milch auf die Terrasse, da das alte bereit geleert worden war. Sie schüttelte den Kopf, weil sie nach wie vor nicht fassen konnte, wie die beiden Frauen ganz Friedershagen an der Nase herumgeführt hatten.

»Uns allen Glauben zu machen, sie seien zerstritten, und in Wahrheit die eigene Post stehlen, um sich an der Beute zu bereichern! Welch kriminelle Energie!«

»Und eine gehörige Portion Einfallsreichtum«, fügte die Witwe Appelhoff hinzu, denn der Plan von Louise Schnederpelz und Sylvia Hartung-Prott war gut durchdacht gewesen. »Das muss man ihnen zubilligen.«

Die beiden Mütter hatten sich aufgrund chronischen Geldmangels zusammengetan und ausgemacht, dass Louise sich beim Orynok-Versand teure Elektronikgeräte bestellen sollte: Smartphones, Kameras und dergleichen. Während Sylvia mittels ihrer weiblichen Reize die Aufmerksamkeit des Postboten fesselte und der absichtlich freigelassene Rex (dessen Zwingertür mitnichten kaputt war) andere Passanten vom Spaziergang auf dem Mühlenweg abhielt, konnte Louise ihr Paket aus dem Beiwagen stehlen und sich später darüber empören, dass es nicht geliefert worden sei. Eine Beschwerde bei Orynok sorgte dafür, dass ihre Ausgaben zurückerstattet wurden. Sie versteckte das Paket im Garten, wo Sylvia es schnell fand und den Inhalt im Internet versteigerte.

»Den Gewinn haben sie sich schwesterlich geteilt«, sagte die Witwe Appelhoff, »und ganz plötzlich konnten ihre Kinder ein ähnlich teures Smartphone besitzen wie Sven Kruse.«

»Das Gespräch der Kinder über ihre Geschenke hat Sie wohl auf die Spur gebracht?«, fragte Bert Meyer und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab.

»In der Tat war es ein Anhaltspunkt, der mich zum Nachdenken brachte«, erwiderte seine Gastgeberin. »Ihr plötzlicher Sinneswandel erschrak mich, waren die Kinder noch am Vortag betont bescheiden gewesen. Des Weiteren wunderte ich mich, warum beide Mütter ihren Willy beziehungsweise ihre Liliane ausgerechnet über die Mittagszeit zu mir schickten.«

»Weil das der Zeitraum für Malte Johns Postroute war«, erkannte Gerlinde.

»Die heimliche Affäre zwischen Sylvia und ihm konnte als Erklärung für Lilianes Arbeitszeiten gelten, aber für Willy gab es keinen Grund, mittags nicht bei seiner Mutter zu sein«, berichtete die Witwe Appelhoff weiter. »Als eines der Kinder dann noch von surfenden Mamas im Internet sprach, ahnte ich, was mit den gestohlenen Waren passiert sein musste.«

»Und Sie ahnten richtig«, lobte Bert Meyer und begann, von seinem bescheidenen Beitrag zu erzählen, der zur Entlarvung der beiden Täterinnen geführt hatte. »Mein Anhaltspunkt waren eben jene Geschehnisse im Internet. Ich bemerkte, dass die Elektronikartikel, welche bei uns bestellt wurden und dann angeblich verloren gingen, kurze Zeit später bei einer Online-Auktions-Plattform angeboten wurden.«

»Hätte man da nicht gleich eingreifen können?«, fragte Frau Cocolos.

»Leider nein«, entgegnete Meyer. »Der Anbieter vermied es, den Käufer seiner Waren die Option der Selbstabholung wählen zu lassen. Als Frau Schnederpelz sich zum zweiten Mal über nicht gelieferte Bestellungen beschwerte, wurden wir bei Orynok hellhörig. Kaum sahen wir das Produkt woanders im Privatangebot, kauften wir es selbst. Leider war der Absender so schlau, seine Adresse unleserlich anzugeben. Aber der Poststempel zeigte uns, dass die Gegend, wohin das Produkt ursprünglich gehen sollte, und jene, von wo es nun illegal verschickt worden ist, die gleiche war. Darum kam ich her und sah mich in Ruhe um. Aber man konnte Frau Schnederpelz nie dabei erwischen, dass sie ein Paket stahl.«

»Wegen Rex«, nickte Gerlinde.

»Ebenso wenig schien die Nachbarin involviert, weil sie ja nie in Kontakt mit Louise Schnederpelz trat«, fuhr Bert Meyer fort. »Es war wie verhext!«

»Gerade das interessiert mich sehr«, sagte Gerlinde. »Wie in aller Welt konnte Louise Schnederpelz wissen, dass Malte Johns Moped gerade unbeaufsichtigt auf der Straße stand, wenn Sylvia ihr gar nicht Bescheid gab?«

»Aber den gab sie ihr doch«, lächelte die Witwe Appelhoff.

»Wie denn? Sie sprachen nie miteinander, telefonierten nicht…«

»Nicht per Handy oder Festnetz«, gab die Witwe Appelhoff zu, »aber dank des Schnurtelefons ihrer Kinder konnten sie in einen Kontakt treten, den keine Polizei der Welt überwachen oder zurückverfolgen könnte. Ich stelle es mir so vor: Sobald Sylvia den Rex bellen hörte, wusste sie, der Postbote kommt. Sie geht in Lilianes Zimmer, nimmt die Blechbüchse und gibt ihrer Nachbarin Bescheid. Louise lässt den Hund frei, um den Mühlenweg für Passanten unsicher zu machen. Sylvia selbst läuft an die Haustür und verführt den Liebhaber. Zeit genug für Louise, den Beiwagen nach ihrem Paket zu durchsuchen, es an sich zu nehmen und rechtzeitig zu verstecken, bevor das Pärchen von seinem Stelldichein zurückkehrt, Sylvia nach dem Hund pfeift und Malte John seine Tour fortsetzt.«

»Das ist wirklich einfallsreich«, gab Gerlinde zu.

»Und der Grund, warum beide Kinder mittags nicht im Haus sein durften«, fügte die Witwe Appelhoff hinzu.

»Nur unser Postbote tut mir leid«, seufzte Frau Cocolos. »Hoffentlich ist er über den Ausgang der betrügerischen Affäre nicht allzu betrübt.«

Die Witwe Appelhoff teilte ihr Mitgefühl nicht. Zum einen wohnte Malte John ein gesunder Optimismus inne, der ihn noch nie lange an einem Rückschlag hatte verzweifeln lassen. Zum anderen gehörte er zu jenen gut aussehenden Männern, nach denen sich die Frauen gerne umdrehten. Man durfte darauf vertrauen, dass unter ihnen irgendwann die Richtige sein würde.

Kinderstimmen ertönten. Sven, Liliane und Willy kamen gerade mit einer Schubkarre um die Ecke und waren über und über mit Gartendreck bedeckt. Sie machten keinerlei Anstalten, sich zu waschen, denn sie waren stolz auf die Wahrzeichen ihrer harten Arbeit.

»So, wie ihr ausseht, habt ihr eine kühle Limonade verdient«, sagte Gerlinde.

»Und Kuchen«, fügte die Witwe Appelhoff hinzu und reichte den dreien die Platte mit den übrig gebliebenen Stücken. »Esst euch satt! Genug geschuftet für heute.«

»Aber erst Hände waschen«, befahl Gerlinde in einem Ton, dem die Kinder nicht widersprechen wollten.

»Was passiert mit den Kindern dieser verbrecherischen Mütter?« wollte Frau Cocolos wissen, als die kleinen Gartengehilfen sich entfernt hatten. »Sie wirken ja nicht sehr betroffen.«

»Um Willy mache ich mir keine Sorgen«, antwortete die Witwe Appelhoff. »Er findet sicherlich Halt bei seinem Vater. Seine Mutter wird zwar bestraft werden müssen, aber ihr Betrug wiegt nicht so schwer wie der körperliche Angriff Frau Hartung-Protts.«

»Hätte mich mit dem Fleischhammer beinahe geklopft wie ein Schnitzel«, erschauerte Herr Meyer.

»Und das Mädchen?«, fragte Frau Cocolos weiter.

Das würde sich zeigen müssen, gab die Witwe Appelhoff zu.

»Man erzählt sich, eine entfernte Verwandte sei nach Friedershagen gekommen und kümmere sich einstweilen um Sylvias Tochter. Alles Weitere hängt vom Verlauf der Gerichtsverhandlung ab.«

Die trüben Zukunftsaussichten für Liliane drückten die gemütliche Stimmung am Kaffeetisch. Da kam Udo Hofmann, der Fischer, des Wegs, schaute über den Zaun und glaubte angesichts der ernsten Mienen, mit einem seiner Witzchen für gute Laune sorgen zu müssen.

»Na, Frau Appelhoff, wieder ganz gesund? Da bin ich aber heilbuttfroh! Hahaha!«

Die Witwe Appelhoff mischt sich ein

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