Читать книгу ARKADIA - Bernhard Kempen - Страница 10
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ОглавлениеDas muss ich erst einmal verdauen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass mir dieser Brocken noch lange Zeit schwer im Magen liegen wird. Jedenfalls fühle ich mich erst etwas besser, nachdem ich mich für eine Weile in mein Apartment zurückgezogen habe.
Als ich gerade den Rest meiner Sachen ausgepackt und in den Schränken verstaut habe, ruft July über das Multifunktionsterminal an. Da ich noch keine konkreten Pläne für den Abend habe, wie man sich denken kann, verabreden wir uns in der Terrassenbar, einem beliebten Treffpunkt der Arkadier, den July mir bereits während unseres Spaziergangs gezeigt hat. Bevor ich mich auf den Weg mache, werfe ich mich in Schale, in einen leichten, ultralässigen Freizeitanzug von Belew, auf der Erde wirklich der letzte modische Schrei. Was das Outfit der übrigen Barbesucher betrifft, erübrigt sich wohl jeder Kommentar. Ich fühle mich im wahrsten Sinne des Wortes und in jeder Hinsicht overdressed.
»Hallo, Adrian!«, ruft July, die von ihrem Tisch in einer Ecke aufsteht und mir ein Stück entgegenkommt. »Falls du Angst hast, dich zu erkälten – so etwas kann dir auf Arkadia nicht passieren«, bemerkt sie mit einem anzüglichen Grinsen. Diesmal kann sie jedoch ihr Temperament beherrschen und legt mir zur Begrüßung lediglich die Hände an die Wangen.
»Im Gegenteil, die Isothermfasern dieses Anzugs sorgen ständig für eine optimale Hauttemperatur«, kontere ich. »Anscheinend hat sich diese segensreiche Erfindung noch nicht bis in diesen Winkel der Galaxis herumgesprochen.«
»Wir sind eben sehr konservativ in unserer Einstellung zur Mode.«
»Es nervt allmählich!«, erwidere ich ungehalten. »Warum müsst ihr ständig auf diesem Thema herumreiten? Es ist ganz allein meine Sache, wie ich herumlaufe!«
»Merkst du nicht, dass du überall Aufsehen erregst?«, fragt July zurück. »Wir sind es gewohnt, mit dem ganzen Körper zu kommunizieren. Für dich wäre es wahrscheinlich so, als würde dein Gesprächspartner eine Gesichtsmaske mit Augenschlitzen tragen – oder als würde ich dir den Rücken zukehren, während ich mit dir rede.«
Ich kann mir im letzten Augenblick eine böse Erwiderung verkneifen und rufe mir ins Gedächtnis, dass ich diese Reise unternommen habe, um die Bewohner dieses seltsamen Planeten näher kennenzulernen.
»Okay, ich habe verstanden«, sage ich beschwichtigend, »Aber du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mich von euch einfach so zum Nudismus bekehren lasse. Ich möchte irgendwann wieder in die Zivilisation zurückkehren.«
»Gut, lassen wir das Thema fürs Erste ruhen«, lenkt July ein und führt mich zu ihrem Tisch, wo sie mich einem jungen Mann vorstellt.
»Das ist Fawn«, sagt sie, »einer meiner zahlreichen Neffen. Er hat noch nie einen richtigen Erdling aus der Nähe gesehen.«
Fawn lächelt mich freundlich an und streckt mir unbeholfen eine Hand entgegen.
»Hallo!«, begrüße ich ihn und schüttele ihm die Hand. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass July ihm vor unserer Begegnung eingetrichtert hat, allzu intensiven körperlichen Kontakt zu mir zu vermeiden. Braver Junge!
»Ich habe alle deine Artikel gelesen«, sagt Fawn. »Sie sind … äußerst aufschlussreich.«
»Wie darf ich das verstehen?«, frage ich neugierig.
Fawn runzelt die augenbrauenlose Stirn unter der kahlen Schädeldecke und kratzt sich gedankenverloren am haarlosen Sack, vor dem sein kurzer, aber recht dicker Schwanz baumelt. Als vorwiegend heterosexueller Mann komme ich nur selten dazu, mir Gedanken über die Sexualorgane meiner Geschlechtsgenossen zu machen, aber wie mir in diesem Augenblick bewusst wird, entwickelt man auf Arkadia sehr schnell einen Blick für die individuellen Unterschiede in Größe und Form.
»Nun«, beginnt er, »die Art, wie du schreibst, lässt eine Menge Rückschlüsse auf die verklemmte Sexualität der Erdmenschen zu.«
Plötzlich ist mir der junge Mann gar nicht mehr so sympathisch.
»Fawn studiert Soziologie an der Universität von Arkadia«, erklärt July, während wir Platz nehmen. »Er kann dir einige unserer fremdartigen Sitten vielleicht etwas besser erklären als ich.«
»Erwarte nicht zu viel von mir«, sagt Fawn. »Ich bin erst im zweiten Semester.«
»Genau deswegen habe ich dich mitgebracht«, sagt July und legt ihm einen Arm um die Schulter. »Du bist noch jung und unverdorben. Adrian will bestimmt keine akademischen Vorträge hören, sondern Erfahrungen aus erster Hand sammeln.«
»Vorhin hast du mir gesagt, ich soll die Finger von ihm lassen!«, erwidert Fawn mit einem verschmitzten Grinsen.
Ich habe das Gefühl, dass mir dieser Kerl immer unsympathischer wird.
Als die beiden sich lachend in die Arme fallen und Fawn seiner Tante liebevoll die Brust streichelt, beginne ich zu ahnen, dass die Arkadier noch einige Überraschungen für mich auf Lager haben. Ich beschließe, dass sich ein Adrian Ginjeet nicht von solchen Dingen erschüttern lassen sollte.
Dann kommen unsere Getränke. July tätschelt ungeniert den Po des Kellners, während er uns den Mooslikör serviert. Dabei handelt es sich um eine der wenigen arkadischen Spezialitäten auf der hiesigen Speise- und Getränkekarte. Ich bin mir gar nicht sicher, ob wirklich Alkohol drin ist, aber das Zeug schmeckt richtig gut.
Im folgenden Gespräch erfahre ich, dass Fawn siebzehn Jahre alt und der Sohn von June ist. Insgesamt beläuft sich die Schar von Julys ausschließlich weiblichen Geschwistern auf ein glattes Dutzend. Die älteste der Damen wird January gerufen, und die jüngste hört auf den Namen December.
Die Mutter der Schar ist übrigens die mittlerweile sechzigjährige Adventia Frypp, die kurz nach der Ankunft der ersten Siedler auf dem Planeten geboren wurde und sich rühmen darf, die älteste waschechte Arkadierin zu sein. Der Legende nach kam ihr erstes Töchterlein eher zufällig im Januar zur Welt, worauf die damals noch blutjunge Adventia den verwegenen Plan fasste, ihre weiteren Sprösslinge in den Folgemonaten der nächsten Jahre zu gebären. Ganz hat es nicht geklappt, da April und May versehentlich Ende März beziehungsweise Anfang Juni entbunden wurden, doch bei den folgenden Kindern konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Trotz dieser bemerkenswert konsequenten Familienplanung scheint Adventia nie einen Sinn für feste Beziehungen entwickelt zu haben, da sie sich für jeden Zeugungsprozess einen neuen Spender erwählte.
Julys Vater dagegen hat es nicht lange auf Arkadia ausgehalten und ist kurz nach seiner Liaison mit Adventia zur Erde zurückgekehrt. July ist ihm nie persönlich begegnet und hat bisher nur ein paar Botschaften über Stringfunk mit ihm ausgetauscht, womit sie jedoch nicht die geringsten Probleme zu haben scheint. Die Arkadier finden ihren Rückhalt nicht so sehr in traditionellen, stabilen Familienbeziehungen, sondern in der Gemeinschaft, die wiederum eine einzige große Familie ist, da fast alle Arkadier irgendwie miteinander verwandt, versippt oder verschwägert sind, wie es scheint.
July selbst ist Mitte dreißig und arbeitet als Planetografin an der Universität. Sie hält alle wichtigen Daten über Arkadia auf dem aktuellsten Stand und springt nebenbei als Reiseführerin ein, wenn sich tatsächlich einmal ein Besucher nach Arkadia verirrt.
»Und diese … wie hieß sie noch gleich? … Greedy? Gehört sie auch zu deiner Verwandtschaft?«, frage ich.
»Nein, Greedy ist ein Unikum, in jeder Hinsicht«, erwidert July kopfschüttelnd. »Sie scheint dir zu gefallen, wie?«
Ich zucke lässig mit den Schultern. »Sie macht einen ganz netten Eindruck. Ich habe mir eigentlich nie Gedanken darüber gemacht, ob ich Frauen mit einer bestimmten Haarfarbe vorziehe, aber Haare sollten sie schon haben.«
»Mit Haaren stelle ich es mir widerlich vor«, sagt Fawn. »Insbesondere beim Sex.«
»Greedy hätte da bestimmt keine Bedenken«, entgegnet July.
»Greedy!«, ruft Fawn mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Greedy vögelt doch alles, was ihr zwischen die Beine kommt!«
Die beiden liegen praktisch am Boden vor Lachen.
»Diese Dame scheint ja einen interessanten Ruf zu haben«, versuche ich meine erwachte Neugier vorsichtig zum Ausdruck zu bringen.
»Ist dir eigentlich klar, was es bedeutet, wenn die Arkadier jemanden ›gierig‹ nennen?«, fragt July, nachdem ihr Lachanfall vorbei ist.
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht …«, sage ich.
»Weil selbst die Arkadier über ihre ausgeprägte Libido staunen«, erklärt July. »Angeblich hat sie bereits die Beine breitgemacht, bevor sie richtig damit laufen konnte.«
Fawn nickt und schmunzelt leise vor sich hin. »Man sagt, dass sie schon als Säugling lieber an den Pimmeln ihrer Spielkameraden als am eigenen Daumen gelutscht hat.«
»Du musst es ja wissen!«, sagt July lachend.
Nach diesen Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt ich stark anzweifle, erfahre ich, dass weder Greedys Eltern noch ihr genaues Alter bekannt sind. Man vermutet, dass sie etwa sechs Monate alt war, als sie vor knapp neunzehn Jahren von einem alten Arkadier namens Suma als schreiender Säugling mitten in der Wildnis entdeckt wurde. Der alte Einsiedler hat das Kind aufgezogen und ist offenbar vor einigen Jahren gestorben, wie ich den Erzählungen der beiden entnehme.
»Greedy ist ein Wunderkind mit zahlreichen Talenten«, sagt July. »Sie hat viel vom alten Suma gelernt. Zurzeit studiert sie Handelswirtschaft und Raumfahrttechnik. Ich fürchte, wenn sie damit fertig ist, wird sie es nicht mehr lange auf Arkadia aushalten.«
»Das kann ich mir denken«, sage ich, »nachdem sie inzwischen sämtliche männlichen Bewohner von Arkadia verschlissen haben dürfte.«
»Nicht nur die Männer …«, erwidert July grinsend.
»Hallo, wie geht’s?«, werden wir von einer jungen Frauenstimme unterbrochen. Ein schlankes, fast mageres, hellhäutiges Wesen drängt sich zwischen July und Fawn, um beide fest an sich zu drücken. »Ich bin wieder da!«
»Hallo, Sylphe!«, sagt July. »Ich dachte, du kommst erst morgen zurück.«
»Wir konnten das Projekt schneller als geplant abschließen. Du wirst staunen, wie viele neue Daten wir gesammelt haben …«
»Nicht jetzt, mein Kind! Wir haben einen Gast«, sagt July und deutet auf mich. »Das ist Adrian Ginjeet, ein Reporter von der Erde.«
»Das sieht man«, sagt Sylphe und kommt um den Tisch herum. »Ich habe auf dem Rückflug in den Nachrichten von dir gehört.«
Bevor July eingreifen kann, hat mir das junge Ding die überraschend kräftigen Arme um den Hals geschlungen und drückt meinen Kopf an ihren kleinen, festen Busen, als wäre es das Natürlichste des Universums.
Sylphes Körper scheint fast nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen und ist über und über mit Sommersprossen bedeckt. Ich kann bestätigen, dass kein Quadratzentimeter ihrer Haut frei davon ist. Hätte sie Haare gehabt, wären sie mit Sicherheit flammend rot gewesen.
»Huch, das kitzelt!«, ruft sie kichernd und weicht ein wenig zurück, um neugierig mit einem Finger über meinen Schnurrbart zu streichen.
Habe ich schon erwähnt, dass ich der stolze Besitzer eines gepflegten Oberlippenbärtchens bin?
»Sylphe«, kommt mir endlich July zu Hilfe, »der gute Adrian ist mit unseren Gepflogenheiten noch nicht allzu vertraut.«
»Oh, Entschuldigung!«, ruft sie und zieht sich schnell zurück, als hätte sie sich plötzlich an mir verbrannt. »Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass …«, fügt sie bedauernd hinzu.
»Schon gut«, erwidere ich mit einem gequälten Lächeln. »Ich habe es überlebt.«
»Ich habe im Augenblick ganz andere Sachen im Kopf«, sagt sie zerstreut, während sie um den Tisch herumgeht und sich auf Fawns Schoß setzt.
»Sylphe ist Biologin und war auf einer Expedition, die die andere Seite des Planeten erkunden sollte«, erklärt July. Dann lächelt sie das Pärchen liebevoll an. »Sie ist Fawns ältere Schwester.«
»Es tut gut, dich wieder zu spüren«, sagt sie zu ihm, während sie sich innig umarmen.
Ein reizendes Bild! Ist es nicht schön, wenn Bruder und Schwester sich so gut verstehen?
»Falls es dich interessiert, könnte ich dir morgen im Institut unsere Forschungsergebnisse zeigen«, schlägt Sylphe mir vor.
»Das Angebot nehme ich gern an«, erwidere ich freundlich.
»Du musst in deinem Bericht unbedingt die ungewöhnliche Biologie von Arkadia erwähnen«, sagt Sylphe. »Dieser Planet ist wirklich einzigartig im bekannten Universum.«
»Das ist mir nicht entgangen«, erwidere ich mit einer gewissen Irritation, weil Sylphe soeben ihre Hand an Fawns Schwanz gelegt hat, der daraufhin sichtlich eine längere und schlankere Gestalt annimmt.
Sylphe kichert leise, als Fawns Finger an ihren Brustwarzen herumspielen. »Dabei fällt mir etwas ein …«, sagte sie zu ihm. »Wir haben ein paar sehr interessante neue Säulenpilzarten entdeckt …«
»Und?«, fragt Fawn grinsend. »Konntet ihr irgendwelche praktischen Anwendungsmöglichkeiten ermitteln?«
»Nur solange sie jung und stramm sind … so wie du …«
Die beiden lachen sich fast tot.