Читать книгу Steff - Bernt Danielsson - Страница 6
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In den folgenden Stunden wollte Stephanie mehrere Male ihre Tasche nehmen und gehen, Theodor Bach in der großen Küche im ersten Stock sitzenlassen und versuchen, den ganzen Vormittag und ihr peinlich dummes Vorhaben zu vergessen. Unzählige Male hatte sie sich gewünscht, das gelbe Schild unten am Tor nicht gesehen zu haben.
Vor ein paar Wochen war es ihr zum ersten Mal aufgefallen. An einem Dienstagmorgen, als es ihr richtig sauschlecht ging, hatte sie beschlossen, einen anderen Weg als sonst in die Schule zu gehen. Das hatte mehrere Gründe: erstens wollte sie versuchen, alles noch einmal durchzudenken, obwohl sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, zweitens hatte sie überhaupt keine Lust, in die Schule zu gehen, und drittens mußte sie ihre Jodphurs einlaufen, die sie vor ein paar Tagen gekauft hatte, um sich zu trösten.
Es waren die schönsten Jodphurs, die sie je gesehen hatte, aus wahnsinnig tollem braun-khaki-sandigem Wildleder. Sie wußte es sofort, ging in das Geschäft und erfuhr, daß sie in Holland designt, aber in Mexiko hergestellt und rasend teuer waren. Aber andererseits war sie rasend deprimiert, und man konnte ja nie wissen – vielleicht halfen so ein Paar supergeile Jodphurs.
Auch sonst, wenn sie neue Schuhe kaufte, schaute sie immer auf sie hinunter und stellte sich die Schuhe und sich selbst in einer neuen, spannenden Umgebung vor, dachte sich aus, was sie sagen und tun würde in dieser Umgebung mit ihren neuen Schuhen. Und wenn sie nun erstens andere Straßen ging als sonst und zweitens und drittens die schönsten Wildleder-Jodphurs anhatte, die sie je gesehen hatte, dann könnte sie sich ja vielleicht auch ein bißchen woandershin phantasieren, wie früher.
So tun, als ob sie woanders wäre, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land, daß sie jemand anders wäre. Sie wäre furchtbar gerne jemand anders gewesen, aber wie sehr sie sich auch anstrengte, sie wurde es nicht. Wie sehr sie es auch versuchte, es klappte einfach nicht mehr, früher war es doch so einfach gewesen.
Zuerst dachte sie, sie sei herausgewachsen, denn sie hatte schon den starken Verdacht, daß es ziemlich kindisch war, durch die Welt zu laufen und Tagträumen nachzuhängen, und vermutlich kann man es nicht mehr, wenn man älter wird.
,So ist es vielleicht‘, dachte sie, denn die ganzen letzten Wochen hatte sie kein bißchen phantasiert. Aber sie kam schnell zu dem Schluß, daß es daher kam, weil die letzten Wochen so abscheulich gewesen waren. Einfach unerträglich. Und wenn man die totale Depri hat, dann gibt es keinen Platz zum Phantasieren – obwohl man es gerade dann am nötigsten brauchen würde.
Wenn man drei Wochen lang jeden Tag Regelschmerzen hat, dann stimmt doch was nicht. Und wenn man es außerdem noch schafft, drei gigantische Pickel auf dem Kinn zu bekommen, gleichzeitig fett wie ein Schwein wird und jeden Abend beim Einschlafen heult, ja dann geht es einem doch wirklich nicht gut. Und genau so war es.
Es war tatsächlich so schlimm, daß sie die letzten Wochen das Gefühl hatte, in einer Art Nebel herumzulaufen. Oder in einem Glaskäfig. Ja genau, das war besser. Sie hatte das Gefühl, in einem Glaskäfig eingeschlossen zu sein, von der Umwelt abgeschlossen, hätte man sagen können. Und wenn sie sich bewegte, dann in Zeitlupe.
Es wurde immer schlimmer, und ausgerechnet an diesem Morgen war alles mega-super-saumäßig.
Da also ging sie zufällig an dem großen Haus vorbei, das man von der Straße aus fast nicht sehen konnte, teils wegen einer weißgekalkten Steinmauer, aber hauptsächlich weil der Garten so zugewachsen war.
Sie ging näher an das rostige Gartentor und schaute hinein. Da drinnen sah es aus wie in einem Dschungel, ein richtiger Urwald. Das einzige, was sie vom Haus sehen konnte, war ein viereckiger Turm mit einem runden Fenster, einem steilen, kirchenähnlichen Dach und einem Flaggenwimpel aus Metall, der über die nackten Zweige der Baumkronen, an denen nur noch vereinzelt Blätter hingen, ragte.
Der Turm verriet, daß es ein Holzhaus war, das einen Anstrich gebrauchen könnte – so wie es jetzt aussah, war nicht sicher, welche Farbe es beim letzten bekommen hatte (und das mußte ungefähr vierzig Jahre her sein). Die anderen Häuser in dieser alleeähnlichen Straße waren bestimmt zur gleichen Zeit gebaut worden, aber sie waren in der letzten Zeit mehrfach renoviert und umgebaut worden, und die Gärten waren ordentlich und gepflegt.
Als sie plötzlich das große, knallgelbe Schild entdeckte, das mit vier rostigen Schrauben an der Mauer befestigt war und zur Hälfte von wucherndem Efeu bedeckt wurde, hatte sie eine Idee.
,Das ist vielleicht eine richtig gute Idee‘, dachte sie und war ausgesprochen erstaunt, denn die meisten Ideen, die sie in letzter Zeit gehabt hatte, waren durchgehend bescheuert gewesen. ,Wie die mit den Schlaftabletten meiner Mutter, zum Beispiel. Peinlich, peinlich . . .‘
Ganz oben auf dem Schild stand mit schwarzen Buchstaben
Autorisierter
Darunter stand
PRIVATDETEKTIV
mit knallroten Buchstaben, und darunter, mit den größten Buchstaben, die der Schildermaler hatte draufklemmen können,
THEODOR BACH
,Was für ein Name‘, dachte sie mit einem Grinsen, zog ein paar Zweige beiseite und las den Rest:
Beschattung und Nachforschungen. Sensible
aufträge . 8.00 – 16.00
Privatdetektiv Theodor Bach?
,Soll das ein Witz sein? Ist das ein Zehnjähriger, der zu viele Krimis gesehen hat? Gibt es in Wirklichkeit überhaupt Privatdetektive?‘
Es war kein handgeschriebenes Schild, es war auch nicht aus Pappe – sie tippte auf Email. Es sah profimäßig aus, auch wenn es besser zu einem Museum gepaßt hätte. ,Vielleicht ist es alt? Theodor Bach ist vielleicht so ein Typ, der vor siebzig Jahren hier gewohnt hat?‘ Es sah allerdings neu aus, bloß die Schrauben waren rostig und schief eingedreht.
,So ein Schild muß eine Menge kosten‘, dachte sie. ,Im Gegensatz zu diesem grünen Plastikbriefkasten am Gartentor.‘ Auf dem Deckel war ein Zettel mit braunem Tesa festgeklebt, auf den hatte jemand mit Filzer in dicken, kantigen Buchstaben geschrieben: NUR REKLAME!
,Und selbstverständlich kann man Bach heißen‘, dachte sie und schaute sich um, ob es noch einen Briefkasten gab, der für Post gedacht war (Den gab es nicht). ,Bach hat schließlich Bach geheißen, wenn auch nicht Theodor, sondern Johann Sebastian, und das ist auch nicht viel besser.‘
Natürlich war die Idee, hineinzugehen und zu klingeln zunächst nicht sehr ernst gemeint gewesen, sondern eher ein verzweifelter Versuch, die Phantasie in Schwung zu bringen. Privatdetektiv Theodor Bach war schon am Nachmittag im Schwedischunterricht fast gänzlich aus ihrer Erinnerung verschwunden, aber je schlimmer es mit Ricky wurde (und es wurde schlimmer mit ihm, das stand fest), desto mehr dachte sie, vielleicht könnte Theodor Bach doch eine Hilfe sein.
Als Ricky sie dann eines Abends auf dem Schulhof zu Boden stieß und dann bloß höhnisch grinsend und betrunken mit seinen grölenden sogenannten Freunden davonging, wuchs die Idee in ihr und wurde zu einem ernsthaften Gedanken – er wurde so ernsthaft, daß sie nicht mehr jedes Mal bei dem Gedanken an „autorisierter Privatdetektiv Theodor Bach“ grinsen mußte, sondern darüber nachdachte, wie er aussah und wie er war.
,Aber vermutlich ist es bloß kindisch und kostet einen Haufen Geld. Und wahrscheinlich gehen bloß im Kino Leute zu einem Privatdetektiv.‘
Aber es gab ja sonst niemanden, der ihr helfen konnte. Sie hatte mit einem total begriffsstutzigen und feisten Polizisten geredet, der alles nur abgewehrt und gesagt hatte, sie würden nun wirklich ihr Bestes tun, aber in diesem Fall müsse sie verstehen, daß
„Blabla-Blabla-wir-haben - wirklich - Wichtigeres - zu - tun-und-du-mußt-verstehen-blabla-[väterlicher Klaps auf den Kopf] - auf - Wiedersehen - du - wirst - schon - sehen - daß - sich -alles-aufklärt-und-im-schlimmsten - Fall - heilt - die - Zeit - alle - Wunden - und - hilft - einem - über-das-meiste-hinweg.“
„Die Zeit hat dir offenbar nicht geholfen, du blöder Knacker“ hatte sie zu ihm gesagt.
Aber erst später am Abend, als sie die Nachttischlampe ausgemacht hatte und sich in den Schlaf heulte.
Die Schulpsychologin hieß Sara, sah aus wie ein Witz und hatte den ganzen Tag einen Schlafanzug an. Bei ihr hätte Stephanie nicht einmal klopfen wollen. Ihre Mutter hatte an und für sich versucht, ihr zu helfen, aber natürlich auf ihre unbeholfene mamahafte Art, was ganz deutlich zeigte, daß sie auch von ihr nicht ernst genommen wurde.
Warum kapierte bloß niemand, daß es um Leben und Tod ging – und nicht um irgendein Leben und irgendeinen Tod, sondern ihr Leben und ihren Tod.
Und was war mit Freundinnen?
Freundinnen? Sie hatte noch nie viele gehabt, und die Frage war wohl, ob sie im Moment überhaupt welche hatte. Meistens machte ihr das nichts aus, auch wenn sie sich manchmal wünschte, wie Sofie zu sein, die Freundinnen sammelte wie andere Leute Ansichtskarten oder Briefmarken, die nie allein war, die abendelang mit all ihren Freundinnen telefonierte (behauptete sie jedenfalls) und die ständig damit angab, daß sie so viele hatte.
Und in der Klasse?
Sicher. Einen ganzen Haufen von Klassenkameradinnen, mit denen sie schon manchmal halbherzig redete, tratschte, faselte, kicherte, grinste und lachte. Aber mehr auch nicht. Sie hatte meistens das Gefühl, daß alles nur aufgesetzt und angestrengt war. Außerdem waren die so kindisch – oder wer weiß, vielleicht war sie kindisch. Sie traute sich nie zu sagen, was sie wirklich dachte und meinte, wenn sie mit ihnen zusammen war, denn sie war sicher, die würden denken, sie sei komisch und blöd.
Aber stell dir vor, alle sind wie du?
,Wie?‘
Stell dir vor, alle Klassenkameradinnen sagen nie, was sie eigentlich denken und meinen, weil die auch Angst haben, daß die anderen denken, sie wären komisch und blöd?
,Tsss . . .‘ Das glaubte sie keine Sekunde. ,Total lächerlich. Nein, die meisten sind wirklich richtige Hühnerfotzen‘, – um einen Ausdruck zu verwenden, den sie von einem von Rickys sogenannten Freunden aufgeschnappt hatte. Sie hatte noch nie so ein widerwärtiges Wort gehört, und deshalb sagte sie es, auch wenn es nicht leichtfiel.
Aber eine beste Freundin?
,Beste Freundin?‘ Sie ging doch nicht mehr in den Kindergarten?
Nein, aber irgend einen guten Freund oder eine gute Freundin mußte sie doch haben.
,Tja, das wäre dann wohl Anki‘, aber auch wenn sie viel miteinander redeten und sich ziemlich oft trafen, so gab es doch eine Menge Dinge, die sie nie erzählte, und das mit Ricky war so eine Sache. Anki würde bloß nervös werden und angestrengt kichern und über etwas anderes reden – über Kleider, zum Beispiel.
Niemand nahm sie ernst. So war es. Niemand hörte ihr zu.
Aber wenn man jemanden dafür bezahlen würde? Die Leute bezahlen ja auch Geld für ihre Psychologen und Therapeuten. ,Es gibt vielleicht Leute, die meinen, ich würde auch eher so einen brauchen, aber das stimmt absolut nicht.‘
Sie hatte ein bißchen Geld auf ihrem Sparbuch, auch wenn es nicht sehr viel war. Und wenn sie bitten und betteln würde, dann könnte sie bestimmt auch ihrem Vater etwas aus der Tasche ziehen, das war nicht schwer.
Eine Woche später hatte sie sich überredet, und mit einem großen, nervösen auf- und abhüpfenden Kloß im Hals machte sie das rostige Gartentor auf, fiel fast in Ohnmacht vor Schreck, weil ein altes Fahrrad mit unglaublichem Krachen und Poltern auf den fast überwachsenen Schieferplattenweg fiel. Die rostige Klingel am Lenker hatte einen schrillen Ton, der lange nachhallte. Mit zittrigen Schritten kletterte sie über das rostige Fahrrad, das einen aufgeplatzten Sattel hatte und ursprünglich innen gegen das Gartentor gelehnt war.
,Unglaublich bescheuerter Platz zum Fahrradabstellen. Kein Wunder, daß es verrostet ist‘, dachte sie und kämpfte sich durch das Gestrüpp zu Theodor Bachs baufälligem Haus durch.
Nur zwei Stunden später hatte sie ihr Vorhaben mehrmals zutiefst bereut.