Читать книгу Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket) - Bernt Engelmann - Страница 6

Zürich – Lugano – Como – Mailand – Rom

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Den ganzen 9. Juni 1933, seinen zwölften Geburtstag, verbrachte Putti auf der Eisenbahn. Es war eine lange Fahrt von Berlin über Leipzig, Zwickau, Plauen, Hof, Bamberg, Nürnberg, Ansbach nach Stuttgart und weiter nach Zürich, aber wider Erwarten verlief sie – wie er auf einer Postkarte aus Stuttgart mitteilte – »ganz lustig. Papa erzählte viele ulkige Geschichten von früher …«

Onkel Curt hatte bereits in Luckenwalde die Reiseflasche mit Cognac geleert und war, nachdem er sie von Putti beim Speisewagenkellner hatte auffüllen lassen und hin und wieder einen Schluck nahm, immer heiterer und gelassener geworden. Die Aufregungen des letzten Abends, die schlaflose Nacht und der traurige Abschied von Berlin und allen seinen Freunden schienen fast vergessen.

»Denkt nicht mehr daran, was gestern und vorher war«, sagte er, wenn Lottchen wieder nach ihrem Taschentuch zu suchen begann. »Das haben wir jetzt alles hinter uns, und in ein paar Stunden sind wir am Ziel. Wir machen nun Urlaub und freuen uns auf die Sommerfrische. Die Ferien haben schon begonnen!« Dann erzählte er, wie er als Sextaner mit den Eltern in ihr Sommerhaus nach Potsdam gezogen war, das dicht am Park vom Neuen Palais lag. Einmal sei er in diesem Park, wo zu spielen eigentlich verboten war, einem ein, zwei Jahre älteren Jungen begegnet, der sich ihm in den Weg stellte, ihn zu Boden stieß und rief: »Dir werde ich zeigen, wer hier Prinz ist!«

Aber da wäre plötzlich ein Reiter in weißer Uniform aufgetaucht, blitzschnell vom Pferd gestiegen und hätte seinem Gegner kräftig den Hintern versohlt mit den Worten: »Und dir werd ich zeigen, Oskar, wer hier Kaiser ist!«

Dies erkläre, hatte Onkel Curt hinzugefügt, seine zeitlebens etwas zwiespältigen Gefühle gegenüber dem Hause Hohenzollern. »Für Prinz Oskar und seine Brüder, die sich für Hitler haben einspannen lassen, habe ich nie etwas übriggehabt, aber Kaiser Wilhelm II. bin ich noch heute dankbar …«

Kurz vor Nürnberg war er dann eingeschlafen und erst in Stuttgart, wo ihr Kurswagen einem anderen Zug angehängt wurde, wieder aufgewacht, nun nicht mehr zum Spaßen aufgelegt. Je näher sie der Grenze kamen, desto unruhiger wurde er. Er hielt es dann im Abteil nicht mehr aus, begann auf dem Gang nervös auf und ab zu gehen, verschwand schließlich im WC, und als er ein paar Minuten später ins Abteil zurückkam, schien er sich wieder gefasst zu haben.

Das war schon kurz hinter Singen, und nachdem sie bei Schaffhausen die Grenze zur Schweiz passiert hatten, ohne von den nur flüchtig die Pässe kontrollierenden Beamten im Geringsten behelligt worden zu sein, schloss er erleichtert Frau und Sohn in die Arme.

»So, nun ist alle Angst vorbei! Jetzt sind wir in einem freien und anständigen Land!«

Und dann gestand er ihnen, was er kurz vor der Grenze getan hatte:

Er war im Geiste nochmals ganz genau durchgegangen, was ihnen bei einer strengen Kontrolle Schwierigkeiten bereiten könnte: Alle Papiere waren in Ordnung, kein Stempel fehlte; das Handgepäck enthielt absolut nichts, was Anstoß erregen konnte; jeder hatte nur so viel Geld bei sich, wie erlaubt war, und an Wertsachen nicht mehr, als was noch als normal gelten konnte – bis auf seine Taschenuhr!

Zwei Tage vor der Abreise hatte er sich von Goldstaubs noch dazu überreden lassen, von einem befreundeten Juwelier eine sehr teure Taschenuhr zu kaufen, die, trotz Vorzugspreis und Freundschaftsrabatt, ein kleines Vermögen gekostet hatte, die man aber im Notfall beleihen oder auch ohne großen Verlust würde verkaufen können. Gegen die Mitnahme einer Uhr konnte ja auch niemand etwas einwenden, aber da war ja noch die andere, die Armbanduhr am Handgelenk, Lottchens Hochzeitsgeschenk.

Als Jurist war er sich darüber im Klaren, dass ihm dies als Verbringung von nicht zum eigenen Gebrauch bestimmten Wertgegenständen ins Ausland und damit als Devisenvergehen zur Last gelegt werden konnte, und so hatte er die teure Taschenuhr aus dem WC-Fenster geworfen, um nicht in letzter Minute sie alle zu gefährden.

»Curtchen! Die schöne Uhr! Wie konntest du nur!«, hatte Lottchen zunächst ganz erschrocken gerufen, aber dann hatte auch sie die wieder aufkommenden Tränen unterdrückt und mitgelacht, denn die glückliche Ankunft in der Schweiz, wo man wieder Mensch sein konnte und keine Angst mehr zu haben brauchte, war ja etwas so Herrliches, dass man den Verlust einer Uhr, auch wenn sie aus Platin und mit Brillanten verziert gewesen war, leicht verschmerzen konnte.

Die Schweizer – das wussten sie ja von wiederholten Ferienaufenthalten im Berner Oberland und im Tessin – waren liebenswürdige, besonders ausländischen Gästen gegenüber stets sehr zuvorkommende Leute, und als sie dann in Zürich, wo sie spätabends eintrafen, ihre vorausbestellten Hotelzimmer betraten, fanden sie ihre Erwartungen bestätigt:

Der Direktor hatte es sich nicht nehmen lassen, einen großen Blumenstrauß für die gnädige Frau, Obst und Pralinen für den Herrn Sohn und eine gute Flasche für den geschätzten Herrn Doktor, der das Haus wieder einmal beehrte, auf die hoffentlich angenehm befundenen Zimmer zu schicken – mit den Komplimenten der Hoteldirektion, versteht sich.

Auch an den folgenden beiden Tagen, die sie noch in Zürich verbrachten, um die Lagerung des großen Gepäcks, der Möbel und des Hausrats zu regeln und ein paar Besorgungen zu machen, wurden sie als bevorzugte Gäste behandelt. Schließlich war Herr Rechtsanwalt Dr. Eichelbaum schon wiederholt zu wichtigen und langwierigen Vertragsverhandlungen hier abgestiegen und hatte im Auftrag seiner Berliner Mandanten prominente Vertreter der Zürcher Bankwelt empfangen.

Auch diesmal traf er sich mit seinen schweizerischen Geschäftsfreunden, von denen einer ihm sein Chalet bei Davos anbot. »Sie können dort mit Ihrer Familie gern ein paar Monate Urlaub machen und sich erholen. Es wird Ihnen guttun. Es liegt wunderbar einsam, in einem prächtigen Skigebiet! Wir selbst werden – leider! – nicht vor Weihnachten dazu kommen, dort hinzufahren …«

Als Putti seinen Vater von diesem freundlichen Angebot erzählen hörte, war er begeistert: ein richtiges Blockhaus in den Bergen, wie es die Trapper in Amerika bauten, vielleicht sogar mit Schießscharten! Keine Schule weit und breit, nur noch Ferien, und nahe dem Haus ein Gebirgsbach, wo man Forellen fangen und probieren könnte, mit einer Bratpfanne Gold zu waschen!

Aber – und zu Lottchens großer Erleichterung – der Vater erklärte, er habe das großzügige Angebot natürlich nicht angenommen. Zwar reichte ihr Geld, das sie nach Bezahlung aller Steuern und Sonderabgaben nach Zürich hatten transferieren können, bei sehr sparsamer Lebensführung noch für ein bis anderthalb Jahre, jedoch müsste er sich nun rasch umsehen nach Möglichkeiten, beruflich wieder festen Fuß zu fassen.

Seit Hitler mit dem Ermächtigungsgesetz vom neuen Reichstag diktatorische Vollmachten für die nächsten vier Jahre erhalten hätte, müsste man sich darauf einrichten, dass der braune Spuk nicht so schnell vorüber sein würde, wie man anfangs gehofft hätte. Zur Eröffnung einer Anwaltspraxis bekäme er in der Schweiz keine Erlaubnis, und zum Nichtstun und Geldausgeben wäre es hier zu teuer. Also müsste er entweder bald eine Verdienstmöglichkeit finden oder sie müssten Weiterreisen, vielleicht nach Italien, wo das Leben etwas billiger wäre. Morgen hätte er eine Verabredung in Lugano – mit einem Schweizer, den er von früher her kenne und der ihn schon wiederholt zu seinem juristischen Berater hatte haben wollen. Wenn dies noch der Fall wäre, könnte ihnen dieser einflussreiche Mann wohl auch die Erlaubnis zu längerem Aufenthalt in der Schweiz verschaffen, und sie würden bleiben. Wenn nicht, müssten sie es in Italien versuchen.

So fuhren sie also am nächsten Morgen weiter nach Lugano, und unterwegs lasen sie die Zeitungen, auf die sich Puttis Vater, seit sie Deutschland verlassen hatten, geradezu stürzte und alles, was für sie von Interesse war oder wichtig werden konnte, genauestens studierte, wohl auch seiner Familie vorlas, wenn er sie damit zu ermuntern hoffte.

»Hört mal! Arturo Toscanini, der große Dirigent, hat seine Teilnahme an den Bayreuther Festspielen abgesagt – aus Protest gegen die Behandlung seiner jüdischen Künstlerkollegen durch die Nazis! Diese Backpfeife müsste Hitler doch eigentlich zur Besinnung bringen – solche Blamage vor der Weltöffentlichkeit kann er sich nicht leisten … Donnerwetter! Schmeling hat in New York den Kampf um die Weltmeisterschaft verloren – gegen den jüdischen Boxer Max Baer! Na, das freut mich aber – das wird die Nazis furchtbar ärgern!«

»Sie werden sagen: Das kommt davon, wenn man sich mit Juden einlässt«, hielt ihm seine Frau entgegen.

Putti aber, der sich dann die Sportseite erbat, fühlte sich hin und her gerissen. Ausgerechnet Maxe, sein Idol und das aller seiner Freunde, durch K. o. in der zehnten Runde um die fast sichere Weltmeisterschaft gebracht! Hätte es nicht ein anderer sein können, irgendein Muskelprotz von der SA? Andererseits war es natürlich eine tolle Sache, dass es ein jüdischer Boxer den Deutschen mal richtig gezeigt hatte und gegen den großen Max Schmeling Sieger geworden war!

»Ich weiß nicht«, meinte dazu seine Mutter. »Juden sollten sich nicht so vordrängen – es genügt doch, wenn man der Zweit- oder Drittbeste ist …«

»Und was ist mit Einstein?«, fragte Putti.

Die Eltern lachten.

Als sie durch den St.-Gotthard-Tunnel fuhren, hörte Putti den Vater sagen: »So, Lottchen, jetzt haben wir auch die Sprachgrenze hinter uns – gleich sind wir im Ticino, im Tessin, und da wird nur noch Italienisch gesprochen!«

Es schien ihn zu freuen, Putti aber erschrak.

Gewiss, der Papa konnte sich auf Italienisch unterhalten. Er liebte diese Sprache, die wie Musik klang. Aber was sollte er jetzt machen? Außer mit den Eltern würde er mit niemandem mehr reden können!

Hoffentlich, dachte er, bekommt Papa heute Abend von dem Schweizer Herrn ein gutes Angebot, und wir können dann in Zürich wohnen oder in einer anderen Stadt, wo Deutsch gesprochen wird, auch endlich die Kisten auspacken, die noch beim Spediteur stehen, und die elektrische Eisenbahn aufbauen …

Also drückte er die Daumen, dass Herr Dr. Hürlimann Papa helfen würde.

Es war ein kleiner, schon ziemlich alter Herr mit weißen Haaren, der dann im Hotel mit ihnen das Abendessen einnahm – nur eine Tasse Bouillon, etwas Quark und einen Apfel, denn er hatte einen äußerst schwachen Magen, und aus Rücksicht auf Herrn Dr. Hürlimann aßen sie das Gleiche.

Nach dem frugalen Mahl zogen sich die beiden Herren in ein Nebenzimmer zurück. Dr. Hürlimann, vom Hoteldirektor selbst unter vielen Verbeugungen dorthin begleitet, bestellte für die Unterredung eine Flasche kohlensäurefreies Mineralwasser mit zwei Gläsern und erklärte, dies ginge nun auf seine Rechnung.

Das Gespräch dauerte nicht sehr lange.

»Ich war froh«, hörte Putti seinen Vater davon berichten, »als er um halb zehn Uhr aufstand und sagte, er wäre es gewöhnt, um diese Zeit zu Bett zu gehen … Dieser Geizkragen! Allein in Deutschland hat er Abermillionen in Beteiligungen stecken. Ihm gehören Kinos, Filmgesellschaften, Varietés, Tanzpaläste und halbseidene Klubs. Außerdem hat er stille Beteiligungen an Flugzeug- und anderen Werken – doch sogar das abscheuliche Mineralwasser hat er zu bezahlen ›vergessen‹!«

»Das ist doch unwichtig, Curtchen, vergiss die Hauptsache nicht!«

»Die Hauptsache war, dass er mich ausgefragt hat, ob Gefahr bestände, dass die Nazis seine Nachtbars und ähnliche Lokalitäten schließen könnten, was ich leider verneinen musste, und ob schon aufgerüstet werde, was er sich erhofft, ich hingegen befürchte und vermute, aber nicht weiß …«

»Und hat er dir ein Angebot gemacht?«

»Allerdings – er schlug mir vor, die komplizierten Vertragswerke, die bisher meine Kollegen Krauss und Godin mit mir ausgearbeitet haben, fortan allein für ihn zu machen und zum halben Honorar! Natürlich habe ich das abgelehnt, aber er hoffte, ich würde es mir gewiss noch anders überlegen – doch da irrt er sich!«

»Gewiss, Curtchen, eine unerhörte Zumutung, aber …«, hörte Putti seine Mutter noch sagen. Dann wurde die Verbindungstür zum elterlichen Schlafzimmer leise geschlossen, und er verstand nicht mehr, was sie noch miteinander besprachen.

Aber er wusste jetzt, dass es mit der Schweiz nichts geworden war und dass er nun rasch Italienisch würde lernen müssen. Ein paar Worte hatte er ja schon von Papa beigebracht bekommen: Un piccolo gelato, per favore! So bekam man ein kleines Eis – aber wie erklärte man dem Mann hinter dem hohen Tresen, dass man ein großes haben wollte, oder zwar keins mit Bananen- und Melonengeschmack, sondern mit Vanille und Schokolade oder Erdbeeren? Leider konnte man, wenn man vor der Theke stand, nicht in die Gefäße sehen und dann auf das Gewünschte zeigen.

Am nächsten Tag fuhren sie weiter nach Como. Diesmal dauerte die Fahrt nicht lange. Die Stadt, die ganz nahe der schweizerischen Grenze an einem schönen See lag, gefiel Putti sehr. Auch stiegen sie wieder in einem Hotel ab, wo alle Deutsch verstanden. Als Erstes schrieben sie dann Ansichtskarten an alle guten Freunde in Deutschland. Papa las vor, was er zu berichten hatte:

Como. Hotel Barchetta, 15. Juni 1933.

Meine Lieben, obiges ist unsere vorläufige Adresse. Wir werden in Como bleiben, zunächst wenigstens, und uns die Post von hier abholen. Wir sind ganz froh, so schwer der Entschluss auch war.

Natürlich sind wir noch nicht ganz zur Besinnung gekommen. Aber die wunderbare Natur und die – innere – Ruhe, die man hier hat, sind schon etwas wert. Wir möchten gern von Euch hören – schreibt also bald!

Sobald wir festeren Fuß gefasst haben, hört Ihr mehr von uns. Wie es beruflich sein wird, habe ich natürlich keine Ahnung. Vorläufig ist es eine Art Sommerfrische – Hochzeitsreise mit Kind.

Herzlichste Grüße und alles Gute

Euer Curt.

»Und was hast du deinen Freunden zu berichten?«, fragte er Putti.

Putti, der noch bei der ersten Karte und über die Anrede Lieber Bernt! kaum hinausgekommen war, überlegte. Schließlich sagte er: »Naja, dass es hier Palmen gibt und dass man vielleicht schwimmen gehen kann, und dass es für mich sehr langweilig ist, weil ich überhaupt keine Freunde habe und erst sehr wenig Italienisch kann …«

Doch dieser betrübliche Zustand änderte sich schon bald. Nach knapp zwei Wochen im Hotel, wo es für Leute, die von ihren Ersparnissen leben mussten, auf die Dauer zu teuer war, fanden die Eltern ein möbliertes Ferienhaus, das zum 1. Juli zu vermieten war, und zogen dorthin um.

Die kleine Villa lag hoch über der Stadt am Monte Maurizio. Eine steinerne Treppe mit Hunderten von Stufen und so schmal, dass sie hintereinander hinaufsteigen mussten, war zu erklimmen, und von oben hatte man eine herrliche Aussicht auf Como und den See, allerdings auch auf eine Seidenspinnerei. Das Rauschen ihrer Spindeln war so laut, dass sie die Fenster schließen mussten, damit sie sich ohne zu schreien verständigen konnten. Puttis Eltern, noch außer Atem vom steilen Aufstieg, sahen sich entgeistert an.

»Du sagtest doch, Curtchen, es sei hier so wunderbar still – nur Vogelgezwitscher und fernes Glockenläuten …!?«

Er nickte bekümmert und schien nachzudenken. Dann rief er: »Richtig! Die junge Frau von der Agentur sagte, sie sei im Augenblick so beschäftigt, dass sie mir das Haus erst abends, nach Geschäftsschluss, zeigen könnte, besser noch am Sonntagvormittag, weil es dann heller sei …«

» … und vor allem ruhiger, weil sonntags die Maschinen abgestellt sind! Wahrscheinlich hat dir die Frau schöne Augen gemacht, und du bist auf ihre Tricks hereingefallen wie einer, der zum ersten Mal zum Jahrmarkt in die Stadt kommt. Und du willst ein Jude sein!?«

»Was heißt hier: wollen?«

Sie lachten noch, als es an der Haustür klopfte.

Putti öffnete, und eine Frau mit einem Blumenstrauß kam herein. »Herzlich willkommen«, sagte sie auf Deutsch und schüttelte ihnen die Hände. »Ich sehe, Sie sind vergnügt. Das freut mich. Ich bin Frau Erbslöh, Ihre Nachbarin. Mein Mann leitet die Fabrik, die solchen Krach macht, aber man gewöhnt sich daran … Ich bin gekommen, um zu sehen, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Wir sind aus Elberfeld, und Sie sind aus Berlin, nicht wahr? Und Ihr Gatte, der Herr Doktor, ist Rechtsanwalt. Jedenfalls freuen wir uns, mal wieder Deutsch reden zu können, und mit so vornehmen und gebildeten Leuten … Glauben Sie mir: Hier lässt es sich gut leben – vor allem ruhiger als jetzt in Deutschland, wenn Sie verstehen, was ich meine … Und Ihrem netten Jungen wird es hier auch gefallen – wie heißt du denn? Richard? Sie werden dich Riccardo nennen, aber das macht ja nichts! Mein Karl, der wird Carlo gerufen – er ist so alt wie du – zwölf, nicht wahr? Er wird sich sehr freuen über einen deutschen Freund gleich nebenan!«


Putti und seine Eltern nach der Ankunft in Como, 1933

Dank Frau Erbslöh, die Lottchen gleich unter ihre Fittiche nahm, gab es keine Haushaltsprobleme und keine Anpassungsschwierigkeiten. Sie besorgte jemanden aus der Fabrik, der den verstopften Ausguss reinigte, die Propangasflasche für den Küchenherd auswechselte und den Warmwasserhahn im Bad mit einer neuen Dichtung versah; sie kannte die Quellen für frische Landeier, Butter, Honig, Bauernbrot und Gemüse, einen guten und keineswegs teuren Friseur und eine zuverlässige Zugehfrau, die einmal wöchentlich gründlich putzte, und sie wusste auch, wo es – unter dem Ladentisch, weil verbotenerweise aus der Schweiz eingeschmuggelt – die bereits in Prag erscheinenden Zeitungen der deutschen politischen Emigranten zu kaufen gab – eine Mitteilung, die Puttis Eltern aufhorchen ließ.

Frau Erbslöh hörte gar nicht auf zu reden, so froh war sie, endlich mal wieder mit, wie sie sagte, »richtigen Deutschen reden zu können, die keine Nazis sind«.

Auch Putti, der eigentlich nur darauf brannte, Karl Erbslöh kennenzulernen und den alles Übrige nicht sonderlich interessierte, war erstaunt über so viel Unbekümmertheit. Frau Erbslöh aber erklärte ganz unbefangen: »Como ist nicht groß – hier wissen die Leute alles über Fremde, die keine Touristen sind. Die Frau von der agenzia, die Ihnen das Haus vermietet hat, sagte schon heute früh zu mir: ›Signora Anna‹ – so nennen sie mich hier –, ›das sind noble, gebildete Leute, ein dottore aus Berlin mit einer eleganten Dame zur Frau und einem Sohn, so alt wie Ihr Carlo. Ihre Möbel sind in Zürich – sie haben gewiss Deutschland verlassen müssen …‹ Und Carlotta, die Sekretärin meines Mannes, ist die Cousine der Dame an der Rezeption des Hotels Barchetta, wo Sie bis jetzt gewohnt haben, und die gewiss einen Blick auf die Ansichtskarten geworfen hat, die Sie nach Deutschland geschickt haben – jedenfalls sagte sie mir, Sie seien ausgewandert … Die Leute hier sind ja so neugierig! Und so froh, wenn jemand kein Faschist und kein Nazi ist … Sie kommen doch heute Abend zu uns auf ein Glas Wein, nicht wahr? Mein Mann freut sich schon sehr darauf! Ach, da kommt ja auch mein Karl, der es nicht abwarten kann, Ihren Richard kennenzulernen!«

Für Putti wurde Como, nachdem Karl Erbslöh ihm alles Interessante gezeigt und sich mit ihm angefreundet hatte, nun tatsächlich zur Sommerfrische und war gar nicht mehr langweilig. Fast vergaß er, dass es für ihn und die Eltern kein Berliner Zuhause, keine Rückkehr zu alten Freunden und zu Agnes mehr gab.

Er wurde nur immer wieder daran erinnert, wenn die Eltern davon sprachen, aber auch sie waren jetzt gefasster und mitunter sogar ganz fröhlich, vor allem, wenn sie Erbslöhs besuchten oder diese zu ihnen kamen, was abwechselnd beinahe jeden Abend der Fall war.

Herr Erbslöh, der Direktor der lärmenden Seidenfabrik, war ein kräftiger Mann um die Fünfzig mit dünnem Haarkranz um den eckigen Schädel, Sommersprossen und kleinem Schnurrbart. Er erklärte schon bei der ersten Begegnung, seine Pranken vorweisend, er sei eigentlich nur ein einfacher Prolet, der es in mehr als dreißig Jahren »wackerer Maloche« für kapitalistische Ausbeuter zum Werkmeister und nun sogar zum Direktor eines Zweigbetriebs gebracht habe. Außerdem sei er Marxist und in Elberfeld als »Roter« bekannt. Hätte ihm die Geschäftsleitung nicht diesen Auslandsposten zugeschanzt, säße er jetzt wohl im KZ, sofern ihn die Wuppertaler SA-Rabauken nicht schon totgeschlagen hätten. Er sei genauso froh wie der Herr Doktor, hier in Como in Sicherheit zu sein und in Ruhe die Weltrevolution abwarten zu können, und gegen Juden habe er gar nichts, im Gegenteil, er begrüße ein Bündnis der bürgerlichen Intelligenz mit dem Proletariat, das dem Klassenkampf eine neue Qualität gebe.

Puttis Vater, der überhaupt nicht auf die Weltrevolution, sondern nur auf die Wiederkehr von Ruhe und Ordnung in Deutschland wartete, nicht die geringste Neigung zum Klassenkampf verspürte und im vorigen Jahr noch für Hindenburg gestimmt hatte, fand Herrn Erbslöh, wenn er seine politischen Ansichten verbreitete, etwas anstrengend. Aber er war dankbar für die große Hilfe, die Frau Erbslöh für Lottchen bedeutete, und froh darüber, dass Putti nun wieder einen Freund hatte und ganz glücklich zu sein schien.

Schon etwa drei Wochen nach ihrem Einzug in die vom Fabriklärm umbrandete Villa, wo man die nächtliche und sonntägliche Stille als doppelt wohltuend empfand, kam überraschend Georg Krauss aus Berlin zu Besuch. Er hatte sich eine Geschäftsreise in die Schweiz genehmigen lassen und einen Abstecher zum Freund und Kollegen in Como gewagt.

Dr. Krauss brachte unerlaubterweise »für Curt noch eingegangene Honorare« mit, fast ein Monatseinkommen guter Zeiten, für Lottchen deren Lieblingspralinen, für Putti als nachträgliches Geburtstagsgeschenk eine Trapperausrüstung nebst Taschenlampe, außerdem eines meiner Lieblingsbücher, Emil und die Detektive, das ich ihm mitgegeben hatte.

»Kästner hat jetzt Schreibverbot«, berichtete Georg Krauss den Erwachsenen, und überhaupt habe sich der Druck noch verstärkt. Alle Parteien und Gewerkschaften waren aufgelöst, sämtliche dem Regime missliebigen Zeitungen verboten. Es gab nur noch die Organisationen der Nazis und deren Presse, an Literatur kaum anderes als »Blut und Boden«-Verherrlichung. Im Mai waren in allen Universitätsstädten »artfremde« Bücher öffentlich verbrannt worden – »Die größte Schande für ein Kulturvolk, die es überhaupt gibt!«, wie Dr. Krauss laut und deutlich erklärte, obwohl sie bei dieser Unterhaltung im Freien, auf einer Caféterrasse mitten in Como, an der Piazza vor dem Dom, saßen. Dr. Krauss hatte sie alle eingeladen, auch Erbslöhs, mit denen er sich sofort gut verstand.

»Und diese Dreckskerle, die unser Land in Schande bringen, werden vom Ausland auch noch hofiert! England, Frankreich und Italien haben heute einen Pakt mit der Hitler-Regierung geschlossen! Damit werten sie dieses Schurkenregime auf und billigen stillschweigend alle Missetaten!«


Rechtsanwalt Dr. Georg Krauss; während des Zweiten Weltkriegs als Verwaltungsoffizier in Frankreich. Nach dem Krieg war er 1. Generalkonsul der BRD in New York.

Die Männer tranken Grappa, die Frauen Wein, die beiden jungen Orangeade. Die Schnäpse brachte der Kellner in Espresso-Tassen. Die italienischen Faschisten führten gerade eine »Kampagne gegen das Laster« und hatten den Ausschank von Grappa streng reglementiert, nach 21 Uhr gänzlich verboten. Aber niemand schien dies sonderlich ernst zu nehmen.

»So lässt sich Faschismus gerade noch ertragen«, fand Dr. Krauss. Er hob sein Kaffeetässchen und stieß mit Herrn Erbslöh an. »Bei uns dagegen«, fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »da ist es genauso, wie es Max Liebermann kürzlich beschrieben hat: ›Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen muss …‹ – ich kann ihm da nur beipflichten. Prost, Curt! Auf unseren Nachbarn!«

Herr Erbslöh glaubte, er wäre gemeint, und dankte erfreut, obgleich das Prosit eigentlich dem 85-jährigen Maler und von den Nazis abgesetzten Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste galt, dessen Haus am Pariser Platz neben dem stand, wo Dr. Krauss noch als Anwalt praktizierte und wohin sein Freund Curt so gern zurückgekehrt wäre.

»Sei froh, dass du nicht gewartet hast, Curt«, sagte Georg Krauss etwas leiser. »Es wird jede Woche schwerer für alle, die noch zögern zu emigrieren. Goldstaubs bereiten jetzt ihre Auswanderung nach Amerika vor, Hirschfelds werden nächsten Monat nach Schweden abreisen – vor allem wegen der Kinder.«

Putti horchte auf.

»Poldi«, hörte er Dr. Krauss sagen, »ist jetzt allein – Puttis alte Freunde, auch Bernt, sind auf einer anderen Schule, wo es noch zivilisiert zugeht. Der arme Poldi aber muss in der Klasse hinten auf der ›Judenbank‹ sitzen, getrennt von den ›arischen‹ Schülern, und in den Pausen ist er auf dem Schulhof von drei älteren Hitlerjungen verprügelt worden. Nur ein Klassenkamerad ist ihm zu Hilfe gekommen …«

»Das war bestimmt der Wolfi«, rief Putti dazwischen. »Wolf Oppen, Papa, der bei uns in der Badischen Straße im zweiten Stock wohnt. Stimmt’s, Onkel Georg?«

Dr. Krauss nickte.

»Wolfi hat mir auch schon mal mächtig geholfen, als die Wilmersdorfer HJ hinter uns …« Putti brach ab, denn es fiel ihm ein, dass er, um die Eltern nicht aufzuregen, zu Hause nur erzählt hatte, er wäre auf der Treppe ausgerutscht und hingefallen.

Krauss, der seine Verlegenheit sah, kam ihm rasch zu Hilfe: »Das Tollste habe ich euch ja noch gar nicht erzählt: Erinnerst du dich an Krawuttke, Curt, unseren Hausmeister? Und an Max, das blasse Bürschchen, seinen missratenen Sohn, den du gegen Kaution …?«

»Ja, natürlich. Er kam gerade noch mit einer Geldstrafe davon. Was hat er nun wieder angestellt?«

»Er ist jetzt im Stab von Graf Helldorff, unserem neuen Polizeipräsidenten, und von diesem zum SA-Sturmführer z. b. V. ernannt. Z. b. V. heißt ›zur besonderen Verwendung‹. Er besucht wohlhabende jüdische Geschäftsleute und bietet ihnen seine Hilfe bei Auswanderung und Vermögenstransfer an. Bei Goldstaub war er und wollte dessen Atrium-Filmpalast kaufen – zu einem ›Freundschaftspreis‹, versteht sich, etwa so viel, wie die Polster der letzten Reihe im zweiten Rang gekostet haben … Umgekehrt will er Goldstaubs übriges Vermögen dann zum Transfer ins Ausland freigeben – was sagst du dazu?«

Putti stellte erleichtert fest, dass seine Eltern sich schon ganz auf das neue Thema eingestellt hatten. Seine Mutter gab ihrer Enttäuschung über die Zustände Ausdruck, die Gaunern erlaubten, als Polizei aufzutreten. Sein Vater aber dachte angestrengt nach.

»Also, Georg, ich hielte eine Schenkung für das Klügste«, meinte er schließlich, »natürlich notariell und mit einigen kleinen Auflagen …«

Georg Krauss stutzte, dann lachte er.

»Natürlich! Dass ich darauf nicht gekommen bin! Binnen welcher Frist kann die Schenkung widerrufen werden, wenn Bedürftigkeit eintritt?«

»Innerhalb der nächsten zehn Jahre, und es genügt, wenn der Schenker in seinem Einkommen erheblich gemindert ist.«

»Curt, das ist die Lösung! Das werde ich Goldstaub raten … Ach, es ist ein Jammer, dass du in Como sitzt und nicht mehr im Büro nebenan!«

Auf dem Heimweg sagte Putti zu seinem Onkel Georg: »Die Trapperausrüstung ist edelknorke, und am allerschönsten ist die Taschenlampe, mit der man sogar morsen kann! Hast du das gewusst?«

»Klar, und jetzt musst du Morsen lernen, als Erstes den internationalen Hilferuf SOS – dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz –, aber mach keinen Unsinn damit und übe nur im Zimmer. Um Hilfe darf man nur in wirklicher Not rufen!«

»Ich wollte dich bitten, die Trapper-Taschenlampe wieder mit nach Berlin zu nehmen und sie Wolf Oppen zu schenken …«

»Das finde ich aber sehr anständig von dir – aber, weißt du was? Ich habe noch eine zweite Lampe zu Hause, die bekommt der Wolf, und ich sage ihm wofür und richte ihm Grüße von dir aus – einverstanden?«

Wenn es von »edelknorke« noch eine Steigerung gegeben hätte, fand Putti, so wäre sie auf seinen Onkel Georg anzuwenden. Auch Karl Erbslöh war dieser Meinung. Die beiden Jungen verstanden sich von Tag zu Tag besser, aber gegen Ende August, als sie fast unzertrennliche Kumpel geworden waren, entschlossen sich Puttis Eltern zum Umzug nach Mailand.

In der Großstadt hoffte sein Vater eher eine Verdienstmöglichkeit zu finden, und dort gab es auch eine Schweizer Schule, die bereit war, den Schüler Richard Eichelbaum nach den Sommerferien aufzunehmen.

Anfang September nahmen sie Abschied von Erbslöhs, fuhren mit dem Zug ins nahe Milano und zogen in eine freundliche Familienpension in der Nähe der Scala, die ihnen empfohlen worden war. Nun hatte die Emigration erst wirklich begonnen, die »Sommerfrische« war endgültig vorbei, auch für Putti, der jetzt zu spüren begann, was es bedeutete, kein Zuhause mehr zu haben.

Bis zum frühen Nachmittag war er in der Schule, wo es ihm sehr schwerfiel, dem Unterricht in deutscher, italienischer und französischer Sprache, nicht selten auch in Schwyzerdütsch, zu folgen. Er, der in Berlin ein guter, die Anforderungen des Gymnasiums ohne Schwierigkeiten erfüllender Schüler gewesen war, zählte jetzt zu denen, die regelmäßig schlechte Noten bekamen, zu den »Nieten«, wie Dr. Zumsteg, sein Klassenlehrer, abfällig bemerkte.

Sein Vater versuchte ihn zu trösten: »Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein«, zitierte er den Evangelisten Matthäus, sehr zur Verwunderung von Lottchen, die besorgt fragte: »Du wirst doch nicht etwa fromm, Curtchen?«

Er lachte. »Keine Sorge – in gärend Drachengift hat man die Milch der frommen Denkart mir verwandelt …«

»Das kenne ich«, rief Putti, »das ist aus Wilhelm Tell, nicht wahr?«

»Na, siehst du, wenn du den Tell kennst, kannst du doch auf der Schweizer Schule damit glänzen!«

Putti befolgte dankbar diesen Rat. Nachdem ihm der Vater den entsprechenden Band von F. v. Schiller’s Sämmtliche Werke bei einem Antiquar besorgt hatte, las er das patriotische Schauspiel, bis er es fast auswendig konnte. Doch es bot sich ihm keine Gelegenheit, Herrn Dr. Zumsteg mit einem Zitat daraus zu beeindrucken, und seine Noten verbesserten sich durchaus nicht.

Es war überhaupt für ihn ein sehr trauriger Herbst und Winter, ohne Freunde, ohne Spielsachen, ausgenommen die Trapperausrüstung, mit der er aber im regnerischen Milano nichts anfangen konnte, und ohne ein richtiges Zuhause. Selbst die Abende, an denen sich die Pensionsgäste in der sala an einem großen Tisch zum gemeinsamen Abendessen einfanden und danach noch ein Stündchen beisammensaßen, miteinander plauderten oder Halma spielten, fand er anfangs nur langweilig, doch dann wurden sie ihm und auch seinen Eltern immer mehr zur Qual.

Seit Frau Curtius und Frau v. Stotz, ältere Beamtinnen des deutschen Konsulats, die ebenfalls in der pensione wohnten, herausgefunden hatten, dass es sich bei Dr. Eichelbaum und Familie um »nichtarische« Emigranten handelte, betraten sie die sala nur noch mit lautem Heil Hitler! und reckten dabei den rechten Arm zum »deutschen Gruß«. Sie erklärten den sehr erstaunten italienischen Pensionsgästen, dass sie so weit wie möglich entfernt von jenen »Hebräern« sitzen wollten, die zwar blond, aber keine »Arier« wären und daher »Untermenschen«, und sie ergingen sich in immer boshafteren Anzüglichkeiten, wobei die häufigen Fragen, ob dieses oder jenes Gericht, das serviert wurde, auch tatsächlich koscher sei, noch die harmlosesten waren. An einem nebligen Dezemberabend – Lottchen und Curt saßen bereits in der sala und unterhielten sich mit einem ingegnére aus Ascona, der ihnen wiederholt seine Sympathie bekundet hatte; Putti hatte sich einen der neuen Mickymausfilme ansehen wollen und gesagt, dass er etwas später käme – wurden sie plötzlich von schrillen Schreien aus dem hinteren Korridor aufgeschreckt: »Hiiilfe! Hiiilfe!«

Die Ursache blieb zunächst rätselhaft, das Abendessen verzögerte sich erheblich. Alle Gäste waren bereits versammelt. Auch Putti hatte sich längst eingefunden und saß brav zwischen seinen Eltern. Nur die Damen v. Stotz und Curtius sowie die Pensionswirtin fehlten noch.

Schließlich erschien die noch sichtlich erregte Wirtin, gefolgt von den beiden Mädchen, die die Schüsseln mit den Spaghetti brachten. Sie tuschelten und kicherten miteinander. Die signora schilderte dann mit dramatischen Gesten, was vorgefallen war:

Die beiden deutschen Damen glaubten, un spettro, un folletto, ein Gespenst gesehen zu haben! Ihr Fenster hätte sich von allein knarrend geöffnet, und ein kleiner buckliger Mann mit einem breitkrempigen Schlapphut, rotglühenden Augen und struppigem Bart wäre ihnen erschienen. Mit dürren grünen Fingern habe er auf sie gedeutet und sie dann in altertümlichem Deutsch mit dem baldigen Tode bedroht …!

Unsinn natürlich, una follia, nichts als Halluzinationen dieser ohnehin etwas überspannten Damen. Man hätte sie mit Weinkrämpfen ins Bett bringen müssen, und von dottore Grimaldi wäre ihnen ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht und drei Tage strenge Bettruhe verordnet worden.

Lotte Eichelbaum warf einen raschen Blick auf ihren Sohn, der sich aber ungerührt ganz seinen Spaghetti widmete, dann zu ihrem Ehemann, dessen Mundwinkel zuckten.

»Curtchen, bitte! Beherrsch dich!«

Später erkundigte sich der Papa bei Putti, ob er noch seine Trapper-Taschenlampe von Onkel Georg hätte, deren Licht, wie er sich zu erinnern meinte, auch auf Rot und Grün verstellbar wäre. Putti bestätigte beides, nicht ohne Stolz, und erbot sich, ihm die Lampe vorzuführen.

Aber der Papa winkte ab.

»Ich wüsste nur noch gern, ob es ein – natürlich in die Mehrzahl abgeändertes – Zitat aus dem vierten Akt war, das die Damen gehört zu haben meinen?«

Als Curt dann zu Lottchen ins Nebenzimmer zurückkehrte, nickte er nur, aber sie gab sich damit nicht zufrieden.

»Nun sag schon: Welche Stelle aus dem Tell war es?«

Curt flüsterte, wie wenn er am Wiener Burgtheater spielte und noch im dritten Rang gehört werden wollte, auch mit dem entsprechenden Pathos: »Macht eure Rechnung mit dem Himmel, Weiber! Fort müsst ihr! Eure Uhr ist abgelaufen … Es ist zwar sehr frei nach Schiller, hat aber offenbar Eindruck gemacht.«

»Warst du sehr streng mit ihm?«

»Ich sah dazu keinen Anlass. Auch sagte er: ›Ich hab’ getan, was ich nicht lassen konnte!‹ – ebenfalls aus dem Tell …«

Putti, der nebenan angestrengt gelauscht hatte, hörte seine Eltern zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig lachen.

Als er am nächsten Tag aus der Schule kam, berichtete er seiner Mutter voller Freude, er wäre von Herrn Dr. Zumsteg in Deutsch sehr gelobt und mit der besten Note bedacht worden. Sie freute sich und erlaubte ihm, ins Kino zu gehen. Dann fiel ihr etwas ein, und sie fragte: »Habt ihr vielleicht heute Wilhelm Tell durchgenommen?«

»Ja, endlich! Und ich kam gleich zu Anfang dran, weil ich der Einzige war, der das Stück schon kannte. Ich habe es ausführlich erzählt und konnte sogar einiges auswendig zitieren!«

»Fabelhaft«, fand Puttis Mutter. »Da sieht man mal wieder, wie nützlich die gründliche Beschäftigung mit Klassikern sein kann … Übrigens, vielleicht solltest du es jetzt mal mit Shakespeares ›Julius Cäsar‹ versuchen – wir werden nämlich bald nach Rom ziehen! Denk dir, Papa hat endlich etwas gefunden!«

Curt, der sich in Mailand seit Monaten vergeblich bemüht hatte, eine Anstellung zu finden, wo seine juristischen Kenntnisse gefragt wären, hatte schließlich resigniert und es mit einer Arbeit versucht, für die er sich nicht eignete und die ihm, außer Spesen, auch nichts eingebracht hatte: Er sollte die vornehmsten Mailänder Hotels, Restaurants, Nachtlokale und Ladengeschäfte dazu bewegen, teure Anzeigen in eine Schiffszeitung zu setzen, die auf den aus Übersee in Genua einlaufenden Passagierdampfern zwei Tage vor der Landung verteilt wurde.

Aber die Mailänder Hoteliers, Gastronomen und Juweliere glaubten so wenig an einen Erfolg solcher Reklame wie er selbst. Nur einmal bestellte einer ein teures Inserat. Es war der jüdische Inhaber eines kleinen Juwelengeschäfts an der Piazza Loreto, mit dem er sich lange unterhalten hatte über das Unglück, das den Juden in Deutschland widerfahren war.

Indessen hatte sich bei Curt schon auf dem Heimweg das Pflichtgefühl des korrekten preußischen Notars gerührt und schließlich durchgesetzt. Am nächsten Vormittag war er nochmals bei dem mitfühlenden Juwelier erschienen, hatte seinem bislang einzigen Kunden das Inserat wieder ausgeredet, denn das wäre für ihn doch nur hinausgeworfenes Geld, und den Vertrag storniert. Der Juwelier, der ihn dann zum Mittagessen eingeladen hatte, war sehr dankbar gewesen, das ihn auch schon reuende Geld wieder zurückzuerhalten.

»Aber, geehrter Herr Doktor«, hatte er Curt versichert, »als Verkäufer bei mir im Geschäft möchte ich Sie, Gott behüte, nicht!«

Immerhin hatte ihn die erfolglose Anzeigen-Akquisition alle besseren Hotels und Lokale der Stadt kennenlernen lassen, und im vornehmsten albergo, dem Principe e Savoia an der Piazza della Repubblica, war er im Foyer von einem eleganten, etwa zehn Jahre jüngeren Mann angesprochen worden, der ihn, wie er sagte, von Berlin her kannte und sich freute, ihn wiederzusehen.

Es war der Filmkaufmann Willy Karol, den er vor einigen Jahren einmal beraten und vor beträchtlichem Schaden bewahrt hatte. Nun erfuhr er, dass Karol mit dem Italien-Geschäft der Ufa betraut war, das einen sehr beträchtlichen Umfang angenommen hatte. Zum einen galt das faschistische Italien Mussolinis den neuen Herren in Berlin als »befreundetes Land«, zum anderen aber boten deutsch-italienische Koproduktionen noch die Möglichkeit, »nichtarische«, »jüdisch versippte« oder aus politischen Gründen nicht mehr »tragbare« Filmschaffende weiter zu beschäftigen – weniger aus Freundlichkeit und Menschenliebe, als vielmehr zur Verhinderung des totalen Zusammenbruchs der deutschen Filmindustrie.

Die meisten Filmautoren – von Vicki Baum bis Carl Zuckmayer –, die wichtigsten Regisseure und Produzenten wie Paul Czinner, Alexander Korda, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Max Ophüls, Erich Pommer, Otto Preminger, Leontine Sagan, Robert Siodmak, Josef von Sternberg, Wilhelm Thiele, Billy Wilder und viele andere, die bedeutendsten Filmkomponisten, aber auch die besten Kameraleute und vor allem die bekanntesten und beliebtesten Darsteller hatten jetzt in Deutschland Berufsverbot.

Curt hörte mit wachsendem Staunen, wer da alles vom Ministerium des Dr. Goebbels von Bühne und Leinwand verbannt worden war: Siegfried Arno, Else und Albert Bassermann, Elisabeth Bergner, Ilse und Curt Bois, Felix Bressart, Ernst Deutsch, Julius Falkenstein, Franziska Gaal, Kurt Gerron, Therese Giehse, Paul Grätz, Dolly Haas, Max Hansen, Oskar Homolka, Fritz Kortner, Peter Lorre, Lucy Mannheim, Fritzi Massary, Paul Morgan, Grete Mosheim, Max Pallenberg, Lilli Palmer, Camilla Spira, Ernst Stahl-Nachbaur, Szöke Szakall, Rosa Valetti, Conrad Veidt, Otto Wallburg und Adolf Wohlbrück, um nur die populärsten zu nennen, außerdem Sängerinnen und Sänger wie Gitta Alpar, Jan Kiepura, Josef Schmidt und Richard Tauber. Marlene Dietrich war freiwillig ausgewandert, Tilla Durieux mit ihrem jüdischen Ehemann geflüchtet.

Einigen »Nichtariern« oder mit solchen Verheirateten hatten die braunen Machthaber wegen ihrer besonderen Beliebtheit notgedrungen »vorläufig« gestattet, weiter aufzutreten, so Hans Albers – der sich weigerte, sich von Hansi Burg scheiden zu lassen –, Georg Alexander, Paul Henckels, Joachim Gottschalk, Theo Lingen, Hans Moser, Henny Porten, der Sängerin Erna Sack, Leo Slezak und Eduard von Winterstein. Selbst einigen nur hinter den Kulissen, als technische oder kaufmännische Spitzenkräfte, in der Filmindustrie tätigen »Nichtariern« war wegen ihrer Unentbehrlichkeit vorerst erlaubt worden, ihren Beruf weiter auszuüben, nach Möglichkeit außerhalb der Reichsgrenzen und bei Koproduktionen mit ausländischen Filmgesellschaften.

Zu diesen unentbehrlichen »Nichtariern«, so erfuhr Curt nun, gehörte auch sein früherer Klient Willy Karol, der ihn zu einem Cognac eingeladen hatte und ihn auszufragen begann: Ob er schon beruflich Fuß gefasst hätte, wie es mit seinen Sprachkenntnissen stehe, ob er auch komplizierte Verträge in englischer, französischer und italienischer Sprache aufsetzen könnte?

»Hören Sie, lieber Herr Dr. Eichelbaum, Sie schickt mir der Himmel! Sie sind genau der Mann, den ich in Rom brauche! Hätten Sie Lust dazu?«

Sie einigten sich dann, sowohl auf ein zunächst nicht allzu hohes, jedoch zum Leben ausreichendes Honorar als auch darauf, dass Curt Eichelbaum probeweise für sechs Monate zu Herrn Karol nach Rom ziehen sollte, vorerst allein, und dass die Reise- und Aufenthaltskosten von der Ufa getragen würden.

»Auf eine Filmkarriere hatte ich eigentlich nicht zu hoffen gewagt«, sagte Curt zu Lotte und Putti, nachdem er ihnen von der Unterredung mit Herrn Karol erzählt hatte, »am allerwenigsten bei der Ufa … Werdet ihr denn eine Weile lang ohne mich zurechtkommen? Es wird bestimmt keine sechs Monate dauern. Spätestens in sechs, acht Wochen werde ich euch entweder nachkommen lassen – oder wieder hier sein …«

»Ich werde auf Mama gut aufpassen«, erklärte Putti.

»Und ich auf den Jungen«, sagte Lottchen. »Ich drücke uns fest die Daumen, dass es in Rom so wird, wie wir hoffen!«

1. April 1935. Die sieben offiziellen Konzentrationslager in Deutschland werden der SS unterstellt.

Mai 1935. Die allgemeine Wehrpflicht wird eingeführt.

Juni 1935. Die Arbeitsdienstpflicht wird eingeführt.

September 1935. Die »Nürnberger Gesetze« machen die Juden, aber auch christliche »Nichtarier« und »Mischlinge«, zu Menschen minderen Rechts.

November 1935. Allen »Nichtariern« wird die Reichsbürgerschaft aberkannt.

Oktober 1935. Der Überfall Italiens auf Äthiopien beginnt.

Januar 1936. Den italienischen Verbänden gelingt nach Einsatz von Fliegerbomben und Giftgas gegen die Zivilbevölkerung der erste Durchbruch.

7. März 1936. Die deutsche Wehrmacht marschiert ins bis dahin entmilitarisierte Rheinland ein.

April 1936. In Deutschland beginnt der Propagandafeldzug gegen die moderne, angeblich »entartete« Kunst.

Juli 1936. Mit einem Putsch faschistischer Militärs unter Führung General Francos beginnt der Spanische Bürgerkrieg.

August 1936. Olympische Spiele in Berlin.

Herbst 1936. Deutsche (»Legion Condor«) und italienische Truppen werden in Spanien zur Unterstützung Francos eingesetzt.

Juli 1937. Die Japaner greifen China an und erobern Peking.

25. September 1937. Mussolini kommt erstmals zu einem Staatsbesuch nach Berlin.

Februar 1938. Hitler entlässt Reichswehrminister General v. Blomberg und übernimmt selbst den Oberbefehl. Pastor Niemöller kommt ins KZ.

März 1938. Hitler lässt die Wehrmacht in Österreich einmarschieren. Über 99% in Deutschland und Österreich stimmen im April für den »Anschluss«.

Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket)

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