Читать книгу Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket) - Bernt Engelmann - Страница 7
Rom
ОглавлениеMitte Januar 1935 – eben war das Saargebiet, wohin sich viele politische Emigranten geflüchtet hatten, nach einer Volksabstimmung wieder deutsch geworden – bekamen wir einen langen Brief von Lotte Eichelbaum – aus Rom:
Ihr Lieben, allzu lange habt Ihr nichts von mir gehört! Aber erst in den letzten Stunden bin ich wieder etwas zur Ruhe gekommen; die Wochen und Monate zuvor ließen mir kaum Zeit zum Schreiben. Gestern Abend brachte mir Peppino – das ist unser Hausmeister, ein sehr lieber, freundlicher und hilfsbereiter Mann, so ganz anders als die Feldwebel-Portiers unserer früheren Gegend! – meine bunten Chintz-Vorhänge, die wir damals zusammen ausgesucht haben, und die Organza-Stores für das Schlafzimmer, und er hat sie mir auch gleich aufgehängt. Sie waren zum Waschen und Spannen nach so langer Zeit in den staubigen Kisten, und nun, da sie an den Fenstern hängen, ist alles fertig eingerichtet. Ihr erseht aus alledem, dass wir endlich wieder eine richtige Wohnung mit unseren eigenen Möbeln haben und uns nach anderthalb Jahren zu Hause fühlen können! Es sind vier Zimmerchen, mit Küche, Bad und WC, alles in allem kaum größer als unser altes Wohn- und Esszimmer, wenn die Schiebetür dazwischen geöffnet war, also mehr eine Puppenstube, aber in einem schönen Neubau am Monte Mario über dem rechten Tiber-Ufer, weit im Nordosten der herrlichen Stadt, und mit einem hübschen kleinen Balkon. Doch nun der Reihe nach: Wie Ihr wisst, bekam Curt ein Angebot und fuhr nach Rom – auf den Tag genau heute vor einem Jahr! Putti und ich blieben zunächst noch in Milano, weil es ja erst nur probeweise war. Aber schon am 1. März bekam Curt einen festen Vertrag – eine große Erleichterung für uns, auch wenn die Einkünfte bescheiden sind! Eine Woche nach Ostern trafen Putti und ich in Rom ein, und wir wohnten dann, etwas beengt, in einem kleinen Hotel, bis wir diese Wohnung fanden, deren Fertigstellung sich aber hinzog – bis Mitte Dezember. Ich war schon ganz nervös, weil die Handwerker uns immer wieder vertrösteten. Wir müssen uns erst noch abgewöhnen, alles an preußischen Maßstäben zu messen; in Frankreich nennt man Leute wie uns ›les chez-nous‹, weil sie alles bekritteln und behaupten, ›chez nous‹, bei uns zu Hause, sei alles besser gewesen – mit nur einer, aber vielleicht nicht ganz unwichtigen, Ausnahme …
Curt hat sehr viel zu tun, kommt oft erst spät aus Cinecittà (am entgegengesetzten Ende der Stadt, wo die Studios und Büros sind), und nicht selten arbeitet er dann noch zu Hause bis spät in die Nacht an den komplizierten Filmverträgen mit Hollywood, Paris und – Berlin, das für uns in immer weitere Ferne rückt … Fast vier Wochen hat es gedauert, bis Curt am vorigen Sonntag endlich die Zeit gefunden hat, seine Bibliothek einzuräumen. Als er fertig war, stand er davor wie ein Kind vor dem Weihnachtsbaum!
Wir haben von dem, was in Zürich lagerte, so viel herkommen lassen, wie wir hier unterbringen können, und es traf wirklich vollständig und unbeschädigt ein! Auch von meinem Meißner Porzellan, das Ihis merkwürdiger Bräutigam damals mit Agnes’ Unterstützung eingepackt hat, ist kein Stück kaputt – es grenzt an ein Wunder! Als ich es auspackte, musste ich an die Geburtstagsfeier denken, bei der sich die Männer – ausgerechnet! – um die schräge Schlachtordnung des Alten Fritz bei Leuthen stritten und Curt mit der Rotwein-Karaffe, Ziethens Reiterei, meine schönste Bratenplatte, die Armee des zaudernden Marschalls Daun, zerschmetterte, und Curts Schwester Hetty ließ vor Schreck auch noch die Sauciere fallen … Erinnert Ihr Euch noch daran, wie wir gelacht haben, als Curt ganz entgeistert auf den verwüsteten Tisch starrte und sagte: ›Genauso war es! Die österreichische Hauptmacht war vernichtet, und Daun musste Schlesien aufgeben!‹, und Putti schrie dazu wie am Spieß … Übrigens, Putti, der Euch alle herzlich grüßen lässt, ist seit Oktober Page im Hotel ›Excelsior‹ – in grüner Livree und mit schiefsitzendem Käppi –, natürlich nur nachmittags, wenn er keine Schule hat. Er verdient so gut dabei, dass Curt schon gesagt hat: ›Ich weiß gar nicht, warum ich so lange studieren musste – nur weil Onkel Moritz keine Ahnung davon hatte, dass ein Hotelpage mehr verdient als ein preußischer Gerichtsassessor …‹ Putti ist mächtig gewachsen, schon größer als ich und fast so groß wie sein Vater. Die hiesige Deutsche Schule war, wie Hetty sagen würde, ›etwas diffizil‹ und wollte ihn nicht haben; die italienischen Gymnasien haben eine zu schwere Aufnahmeprüfung, und so blieb uns nur das Lycée Chateaubriand, eine französische Anstalt für Diplomatenkinder, privat und unverschämt teuer. Er hat einen weiten Schulweg und fährt jeden Morgen mit dem Rad durch die halbe Stadt, was mich täglich aufs Neue in Angst versetzt. Doch er fühlt sich dort und überhaupt, seit wir in Rom sind, recht wohl. Die Pagenstellung hat ihm Willy K., Curts Chef, verschafft, der schon seit anderthalb Jahren im sehr vornehmen ›Excelsior‹ wohnt (auf Spesen natürlich!) und wirklich sehr nett und hilfsbereit ist. Seine Frau Anni und er laden uns häufig zum Essen ein, und heute können wir uns zum ersten Mal revanchieren: Sie kommen gleich zur Einweihung unserer Wohnung …
Dieser Abend mit Willy und Anni Karol begann mit einer freudigen Überraschung, denn gleich beim Betreten der Wohnung sagte Herr Karol: »Ich habe mir erlaubt, euch, außer Blumen, noch eine Kleinigkeit mitzubringen …«
Dann öffnete er noch einmal die Wohnungstür, und hereinkam – Georg Krauss!
Er war erst vor einer Stunde aus Berlin angekommen und wusste viel zu berichten: Die Aufrüstung in Deutschland wäre in vollem Gange. Unter Bruch des Versailler Vertrags ließe Hitler die deutschen Streitkräfte verfünffachen, und es gäbe auch bereits, vorerst noch getarnt, eine Luftwaffe!
»Du meinst, es gibt bald Krieg?«, fragte Curt besorgt. Aber Krauss schüttelte den Kopf.
»Vorerst noch nicht – die Nazis brauchen noch einige Jahre, bis sie sich dazu stark genug fühlen, und bis dahin wird Hitler, dieser scheinheilige Halunke, aller Welt seine Friedensliebe beteuern. Göring ist gerade nach Polen gefahren und versichert den Generalen dort, dass sie keine zuverlässigeren Freunde hätten als die Nazis, und Ribbentrop reist demnächst nach London. Ich wette, er schließt mit den Engländern eine Art Freundschaftsabkommen und verspricht ihnen, Hitler werde nur ganz wenige Schlachtschiffe und U-Boote bauen lassen …«
»Dann besteht also keine Hoffnung, dass das Ausland eingreift und mit militärischem Druck dem Spuk ein Ende macht?«, fragte Karol.
»Weniger denn je«, erwiderte Krauss. »Die Engländer und Franzosen nehmen alles hin. Außenpolitisch hat der Schurke einen Erfolg nach dem andern, und er sitzt fest im Sattel. Nur mit Mussolini hat es Ärger gegeben, als im letzten Sommer die Nazis in Österreich zu putschen versuchten und dabei den Freund des Duce, den kleinen Diktator Dollfuß, ermordet haben. Aber Italien allein kann Hitler ja kaum gefährlich werden.«
»Uns kann es nur recht sein, wenn die Freundschaft zwischen Hitler und Mussolini in die Brüche geht«, stellte Karol fest, aber Dr. Krauss meinte düster: »Pack schlägt sich, Pack verträgt sich … Wir sollten nicht darauf bauen!«
Tags darauf, als sie allein waren, sagte Georg Krauss zu Curt: »Ich habe dir Geld mitgebracht – reg dich nicht auf! Ich weiß, es ist streng verboten, aber es ist ja schließlich dein Geld, das du ehrlich erworben und versteuert hast, und du brauchst es … Außerdem ist ja auch alles gutgegangen!«
Curt Eichelbaum war ganz aufgeregt.
»Um Himmels willen, Georg! Wenn sie dich erwischt hätten! Es wäre entsetzlich! Bitte, mach das nicht wieder! Ich will nicht, dass du unsertwegen deinen Kopf riskierst …« Er drückte ihm dankbar die Hand. »Versprich mir, dass damit jetzt Schluss ist – wir brauchen es ja auch nicht mehr so dringend …«
»Umso besser! Dann zahle ich es auf dem Rückweg in Zürich auf dein Konto – du hast doch noch etwas in der Schweiz gelassen?«
Curt nickte. »Ja, lass es in Zürich. Dann haben wir etwas mehr in Reserve für alle Fälle. Man weiß ja nie … – obwohl wir uns hier meiner Meinung nach sicher fühlen können. In einem paese sano come l’Italia, einem gesunden Land wie Italien, hat Mussolini erst kürzlich erklärt, gäbe es keine questione di razza, keine Rassenprobleme. Und tatsächlich macht man uns nicht die geringsten Schwierigkeiten.«
»Weil Karol gute Beziehungen zu den Faschisten hat«, stellte Georg Krauss trocken fest, »und weil du dich weder früher noch jetzt politisch betätigt hast … Übrigens, bekommt man hier das Pariser Tageblatt …?«
Das Ehepaar Willy und Anni Karol in Rom, 1938
Das wurde von dem hochbetagten Georg Bernhard, dem langjährigen Chefredakteur der einst sehr angesehenen, inzwischen eingestellten Berliner Vossischen Zeitung seit 1933 in Paris herausgegeben. Für jeden Nazigegner, der aus Deutschland kam, wo die Presse nur noch einseitig im Sinne der Nazis berichtete, waren solche in Prag und Paris erscheinenden Zeitungen der politischen Emigration begehrte Informationsquellen, ebenso die – im Reich verbotene – Basler National-Zeitung.
Georg Krauss war auch begierig auf ein Buch des früheren sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Gerhart Seger, der Ende 1933 aus dem Konzentrationslager Oranienburg bei Berlin hatte fliehen können und über die dort an den Gefangenen verübten Gräuel detailliert berichtet hatte. Aber Curt Eichelbaum erklärte ihm, solche Bücher wie auch die Emigrantenpresse wären in Italien verboten. Sie würden wohl eingeschmuggelt und illegal angeboten, aber damit wollte er nichts zu tun haben – er hielte sich strikt an die Vorschriften.
»Ich werde Putti bitten, mir das eine oder andere zu besorgen«, sagte Georg Krauss, aber Curt und Lottchen riefen wie aus einem Munde: »Nein, Georg, bitte – du bringst den Jungen in Gefahr!«
Er musste ihnen versprechen, Putti nicht mit solchen Wünschen zu behelligen, die ihn mit dem Gesetz in Konflikt bringen würden. Curt meinte, der Portier des Excelsior, wo Krauss abgestiegen war, wäre die richtige Adresse; er hätte von Karol gehört, dass der Concierge häufig für deutsche Hotelgäste »solche verbotenen Sachen« besorge …
Als Dr. Krauss dann später dem Portier seinen Wunsch zuflüsterte, nickte dieser nur, ließ den ihm zugeschobenen Geldschein in seiner Tasche verschwinden, schnippte mit den Fingern, und als daraufhin ein stämmiger Hausdiener auftauchte, erkundigte er sich: »Weißt du, wo Riccardo steckt? Ah, richtig! Er führt den Hund aus … Wenn er zurückkommt, Umberto, schick ihn gleich zu mir!« Und zu Krauss gewandt: »Bitte gedulden Sie sich ein wenig, dottore, der Page ist noch unterwegs. Er ist der Spezialist für diese Dinge – ich lasse sie Ihnen auf Ihr Zimmer bringen! Sie finden sie dort vor, wenn Sie zu Bett gehen.«
Krauss dankte ihm und ging eilig davon. Ehe der Page Riccardo zurückkam und seinen Auftrag entgegennahm, wollte er das Hotel verlassen haben; er hatte es ja Curt versprochen, Richard aus dem Spiel zu lassen.
Putti versah seinen Dienst im Excelsior täglich von 15 bis 20 Uhr, an jedem zweiten Sonntag von 8 Uhr morgens bis zum frühen Nachmittag. Seine Aufgaben waren vielfältig und meist lohnend:
»Riccardo, gut, dass du pünktlich kommst! Du musst gleich zur Stazione Termini – nimm dein Fahrrad, dann bist du schneller dort. Die principessa Pignatelli trifft mit dem Ràpido aus Bologna ein – 15.16 Uhr, Gleis 9, der erste Wagen 1. Klasse. Du wirst sie erkennen – sie ist groß und hager und trägt Hüte wie Wagenräder. Hilf ihr beim Aussteigen und geleite sie und ihre Gesellschafterin zum Taxi – mehr nicht. Ums Gepäck kümmert sich Umberto, den habe ich schon losgeschickt, aber er ist ein Grobian – er würde der principessa den Arm auskugeln … Halt, Riccardo – auf dem Rückweg bringst du für Zimmer 217 die Theaterkarten mit – sie liegen bereit an der Kasse vom Teatro Reale …«
»Hier, Riccardo, bring dieses Telegramm sofort auf 110 zu Lord Seymour – vergiss nicht, Mylord zu sagen …!«
»Riccardo, Madame de Lautrecs Pudel muss ausgeführt werden – aber nur fünf Minuten, sonst erkältet er sich! Bring die Zeitungen mit und Zigaretten für Mrs. Campbell – sie sagt, du kennst ihre Marke. Halt, Riccardo, nimm auch die Post mit …«
»Riccardo, rasch, Signore Petersen wird aus Kopenhagen verlangt – er muss in der Bar sein oder im Restaurant – ein Dicker mit roten Haaren …«
»Riccardo – du musst mal eben mit den Herrschaften, die heute aus Berlin gekommen sind, zu Raffael, gleich nebenan an der Ecke der Via Veneto! Sie wollen Schuhe einkaufen – erkläre ihnen unterwegs, dass es kein besseres Schuhgeschäft in Rom – was sage ich! –, in ganz Italien gibt als Raffael. Und vergiss nicht, Signore Raffael einen Gruß von mir auszurichten – er weiß dann schon Bescheid!«
»Hör zu, Riccardo, diese Blumen sollst du der Dame auf Zimmer 485 bringen, und dazu diesen Brief! Aber, pass auf: Ihr Mann, der Commendatore Grandi, darf nichts davon wissen. Du sagst, die Direktion erlaube sich, der Signora respektvolle Glückwünsche auszusprechen, und den Brief steckst du ihr heimlich zu, verstanden?«
»Riccardo, presto! Nimm rasch ein Taxi und fahre zur Farmacia Internazionale – für Lady Twittenham-Jones. Sie braucht dringend Pilgrim’s Yellow Cough-Lozenges – keine anderen! Nein, ein Rezept ist nicht erforderlich – es sind einfache Hustenbonbons … Halt, Riccardo, lass auf dem Rückweg das Taxi am Ambassadore halten. Dr. Löwenstein will für heute einen ruhigen Tisch für sechs Personen, 20.30 Uhr … Sag Signora Laura, der dottore sei ein sehr guter Gast, und ich hätte schon ein Dutzend Mal bei ihr angerufen – entweder war besetzt oder keiner geht bei ihr ans Telefon!«
»Riccardo! Was, du hast schon Dienstschluss? Pass auf, das kannst du auf dem Heimweg erledigen: Signora Popolescu will diesen Brief besorgt haben – an ihren Astrologen in der Via Boncompagni, also kein großer Umweg für dich … Es ist äußerst dringend, weil Signore Popolescu übermorgen nach Bukarest zurückreisen muss und bis dahin sein Horoskop braucht. Und erkundige dich, ob das blonde Haarteil der Signora sich angefunden hat – wenn ja, bring es morgen früh vor der Schule rasch vorbei – ciao, Riccardo!«
Während Putti zur Via Boncompagni radelte, überlegte er: Von Madame Popolescus Astrologen war kein Trinkgeld zu erwarten, für die Ablieferung des Toupets, falls es gefunden worden war, ebenfalls nicht, denn Signore Luigi, der Portier, würde es beim Hotelfriseur aufkämmen lassen und der Besitzerin selbst überbringen. Dafür hatte Lady Twittenham-Jones ihn überreichlich belohnt, als er ihr auf einem silbernen Tablett die richtigen Hustenbonbons aufs Zimmer brachte, und Dr. Löwenstein, der fünf Personen im Ambassadore bewirten konnte und ein sehr guter Gast sein sollte, fiel zwar aus als Trinkgeld-Spender für die Tischbestellung, weil da Signore Luigi in der Vorhand war; er konnte aber vorgemerkt werden für Bücher und Zeitungen, die in Deutschland verboten waren.
Der Schuheinkauf mit den deutschen Gästen hatte sich in vielfacher Hinsicht als lohnend erwiesen: Erstens waren es berühmte Filmschauspieler gewesen – Hans Albers und Gustav Fröhlich hatte er sofort erkannt! Dass der dritte Jan Kiepura war, hatte er erst später erfahren. Zweitens war er für seine Dolmetscherdienste mit einem fürstlichen Trinkgeld bedacht worden, und drittens hatte sich Signore Raffael, der Inhaber des eleganten Geschäfts, ebenfalls erkenntlich gezeigt: »Such dir ein Paar Schuhe aus, Riccardo«, hatte er gesagt, »ich schenke sie dir! Und grüße Signore Luigi von mir! Solche Kunden soll er mir jeden Tag schicken!«
Für die Ablieferung der Blumen und des Briefes bei den Grandis war er doppelt und sehr reichlich belohnt worden – erst vom commendatore, der sich geschmeichelt gefühlt hatte, weil die Hoteldirektion seiner Frau Blumen aufs Zimmer schickte, dann etwas später von der Signora für seine Diskretion bei der Überbringung des Briefs.
Madame de Lautrec und ihr Pudel waren eine sichere Einnahmequelle und würden es für die nächsten 14 Tage bleiben – er hatte sich erkundigt –, und Mrs. Campbell, deren darling er war, weil er ihr ständig Zigaretten der richtigen Marke besorgte, ebenfalls, denn auch sie gedachte noch eine Weile in Rom zu bleiben und war sehr großzügig.
Lord Seymour hingegen war ein Geizkragen, der angeblich nie Kleingeld bei sich hatte, nicht einmal für ein Telegramm und die zweimalige Anrede Mylord … Einen Ausgleich dafür aber bot die hagere principessa, die für drei Wochen nach Rom gekommen war; ihr Empfang auf dem Bahnsteig war ihm gut geglückt, und sie hatte ihm, bevor sie ins Taxi stieg, ein nobles Trinkgeld zukommen lassen und ihn nach seinem Namen gefragt, damit sie ihn rufen lassen könnte, wenn sie Besorgungen durch ihn erledigen lassen wollte.
Alles in allem, so befand Putti, konnte er mit den pekuniären Ergebnissen dieses Nachmittags durchaus zufrieden sein, desgleichen mit den Aussichten auf die nähere Zukunft. Er würde bald die seit Langem geplante Anschaffung eines Tennis-Dress vornehmen können, sogar die der dazugehörigen weißen Kappe, und damit würde er, wie einige seiner Mitschüler es taten, sich in der gelateria eine große Coppa Hawai bestellen und den gleichaltrigen ragazze mächtig imponieren …
Zu Puttis angenehmer Überraschung gab ihm der Astrologe, nachdem er den Brief gelesen und ihm das in Seidenpapier verpackte Haarteil der Madame Popolescu ausgehändigt hatte, doch noch ein – sogar recht anständiges – Trinkgeld; vermutlich hatte ihn die Nachricht von der baldigen Abreise des Gatten seiner Kundin in Geberlaune versetzt. Putti nahm dies als ein glückliches Vorzeichen für die weitere Entwicklung seiner Finanzen.
Auch wegen der Schule brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Französisch bereitete ihm keine großen Schwierigkeiten, zumal es hauptsächlich galt, Texte von Molière und Racine, Fabeln von Lafontaine und ganze Kapitel aus Chateaubriands Aventures du dernier des Abencérages auswendig zu lernen, was ihm verhältnismäßig leichtfiel. In Italienisch war er besser als die meisten seiner Mitschüler, sämtlich Ausländer, die in der Mehrzahl noch nicht so lange in Italien lebten wie er. Im Deutschunterricht nahmen sie glücklicherweise Schillers Tell durch, und von den übrigen Fächern machte ihm nur Englisch einige Mühe, wenn die Anforderungen über das hinausgingen, was die Besorgung von Hustenbonbons, Ansichtskarten oder Zigaretten ihm täglich abverlangte. Aber, so fand er, Englisch würde er ja wohl ohnehin nie in größerem Umfang benötigen, nachdem Großbritannien gerade ein Flottenabkommen mit Hitler geschlossen hatte.
Überhaupt wollte Putti in Italien bleiben, wo es auch seinen Eltern gefiel, nachdem sie sich eingelebt hatten.
Seine Mama, die den kleinen Haushalt versah und inzwischen so viel Italienisch gelernt hatte, dass sie sich mit den Nachbarn, in den Geschäften und mit dem freundlichen Hausmeister Peppino gut verständigen konnte, hatte anscheinend kein Heimweh mehr und sagte zu Georg Krauss und anderen guten Freunden, die aus Deutschland zu Besuch kamen: »Ich beneide euch nicht, dass ihr zurück nach Berlin fahren könnt … Ich bin froh, dass wir in Rom leben – ich möchte nirgendwo anders sein!«
Sein Papa fühlte sich ebenfalls wohl in Rom, allerdings – wie Putti wusste – sehnte er sich nach seiner großen und angesehenen Anwaltspraxis. In Cinecittà war er ja nur ein Angestellter, zwar mit auskömmlichem Gehalt und dem Chef als Freund, aber eben nicht mehr sein eigener Herr. Für die Schauspieler allerdings war er, der dottore, die wichtigste Persönlichkeit: Von ihm bekamen sie ihre Verträge, er war es, dem sie ihre Wünsche und Beschwerden vortrugen und der dann alles und meist zur allseitigen Zufriedenheit regelte, und außerdem zahlte er ihnen die Gagen aus.
Einmal war Putti dabei gewesen, als der Papa mit einer dicken Aktentasche voller Banknoten in sein kleines Büro ging, vor dessen Tür schon einige der Darsteller warteten. Einer der Jüngeren hatte sich dann mit ihm unterhalten, ihm geraten, doch auch zum Film zu gehen; eine große Karriere wäre ihm sicher.
Papa hatte sich daraufhin eingemischt: »Vittorio, setz doch dem Jungen keine Flausen in den Kopf! Eine große Karriere – dass ich nicht lache! So wie du, was? Nein, Riccardo wird natürlich Jurist – ein avvocato vielleicht, der dich verteidigen kann, wenn du wieder Ärger mit dem commissario hast …«
Sie hatten beide gelacht, und später hatte Putti von seinem Vater wissen wollen, ob dieser Vittorio ein berühmter Schauspieler wäre. Der Papa hatte gemeint, er sei zwar ein netter Kerl, aber berühmt könnte man ihn nicht nennen.
»Noch nicht«, hatte Willy Karol ihn verbessert. »Immerhin ist dieser De Sica meine Entdeckung, und ich glaube an sein Talent … Willst du etwa Schauspieler werden, Richard?«
»Nein«, erklärte Putti, »ich werde Portier – wie Signore Luigi. Dann verdiene ich so viel, dass ich uns ein Haus kaufen kann und eine Villa am Meer!«
»So ist es richtig!«, lobte ihn Karol. »Was meinst du, was ich schon alles gemacht habe, ehe ich direttore generale geworden bin! Schon mein Einstieg ins Filmgeschäft war nicht ganz einfach: Mein Bruder, der vor ein paar Jahren den ersten Tonfilm in USA gemacht hat – mit Al Jolson, The Singing Fool! –, war damals Vorführer in einem Lemberger Vorstadt-Kino. Er war zwanzig, ich war achtzehn, und wir sind dann in die kleinen galizischen Städtl gefahren – nach Rozborz und Zbydmów und Nisko –, wo wir auf eigene Rechnung allerlei Filmchen vorgeführt haben, meist in einem Zelt. Weil es oft keinen Strom gab, haben wir ihn von der Oberleitung der Eisenbahn abgenommen – mit einem Transformator. Einmal mussten wir die Vorstellung samt Zelt abbrechen, weil eine Rangier-Lokomotive kam, und ein andermal drohte uns ein Rabbi mit dem Großen Bann, ›weil man sich nicht soll machen keinerlei Bildnis‹, und mein Bruder erklärte, wir machen doch nicht, wir fuhren doch nur vor! Das hat ihn glücklicherweise überzeugt … Also, aus eigener Erfahrung schlage ich dir vor, du machst beides: Du tust, was dein Chef, Signore Luigi, dir rät, und wirst ein guter Hotelportier, und du machst dein Abitur und wirst dottore, wie es dein Papa will. Und wenn du daneben auch noch Schauspieler oder Filmmanager oder beides wirst, so kann das nichts schaden!«
Tags darauf, als Putti in die Schule kam, herrschte dort große Aufregung: Die Pflicht zum Beitritt in die faschistischen Jugendorganisationen war soeben auch auf die ständig in Italien lebenden Kinder von Ausländern ausgedehnt worden!
Der Direktor des Lycée Chateaubriand, ein imposanter Herr mit gepflegtem Bart, hielt ihnen eine Ansprache, die in der Feststellung gipfelte, dem in Italien genossenen Gastrecht ständen auch Gastpflichten gegenüber, die es freudig zu erfüllen gelte. Alle Schüler bis zum zwölften Lebensjahr hätten sich deshalb in die Balilla, die Zwölf- bis Achtzehnjährigen in die Avanguardia einzureihen und ebenso gute Faschisten zu werden wie ihre italienischen Kameraden. Mit Stolz sollten sie ihre Schwarzhemden tragen, und bis zum Ende der Woche müsste jeder Schüler eine Uniform haben! Bald käme der große Tag, an dem das ganze Lycée Chateaubriand unter seiner Führung geschlossen zur Piazza Venezia marschieren und dem Duce zujubeln würde: Evviva l’Italia! Evviva il Duce!
Diese Mitteilung wurde von den meisten mit großer Freude aufgenommen, denn nun würden sie an jedem faschistischen Feiertag schulfrei haben, und auch schon vorher müsste der Unterricht häufig ausfallen, weil Marschieren ja geübt sein will. Putti erkundigte sich vorsichtshalber, ob auch »Nichtarier« … Der Direktor schnitt ihm das Wort ab: »Non c’é questione di razza …!«
Der »Duce« Benito Mussolini vor der avanguardisti des Lycée Chateaubriand
So bekam Putti zu seiner grünen Pagenuniform mit den blanken Messingknöpfen noch eine zweite, schwarze, nebst silberpaspeliertem schwarzem Käppi, die er allerdings nur selten tragen musste, denn er hatte sich wegen seiner Arbeit im Excelsior vom regelmäßigen Dienst befreien lassen. Meist hing die avanguardisti-Uniform im Schrank, aber jedes Mal, wenn er sie an einem der zahlreichen faschistischen Feiertage anziehen musste, seufzte seine Mutter: »Ich hoffe sehr, Putti, dass dies die letzte ist, die du tragen musst, und dass sie dich nicht auch noch zum Militär einziehen …!«
»Aber, Mama, ich bin noch nicht mal 15!«, beruhigte er sie.
Im Oktober 1935 waren 18 italienische Divisionen in Abessinien eingefallen, und seitdem führte Italien einen mörderischen, auf beiden Seiten verlustreichen Krieg zur Eroberung dieses riesigen Landes, dessen Kaiser, Negus Haile Selassie, seine Lanzenreiter und Bogenschützen gegen die Panzerkorps der Eindringlinge anstürmen ließ. Seit Januar 1936 setzte die italienische Luftwaffe auch Sprengbomben und sogar Giftgas gegen die Äthiopier ein – zur Empörung der Weltöffentlichkeit, unter deren Druck die meisten Regierungen sich den vom Völkerbund gegen Italien verhängten wirtschaftlichen Sanktionen angeschlossen hatten.
Im Sommer 1936, kurz nach Puttis 15. Geburtstag, brach in Spanien ein blutiger Bürgerkrieg aus, in den bald auch – auf Seiten des putschenden Militärs unter General Franco und gegen die Verteidiger der Republik und ihrer verfassungsmäßigen Regierung – deutsche und italienische Truppen eingriffen.
»Das gefallt mir gar nicht«, hörte Putti seinen Vater einmal zu Willy Karol sagen. »Diese deutsch-italienische Waffenbrüderschaft in Spanien könnte dazu fuhren, dass Hitler auf Mussolini stärkeren Einfluss gewinnt …«
»Oder umgekehrt«, meinte Karol, der zum Optimismus neigte. »Der Duce könnte durchaus mäßigend auf Hitler einwirken, zumindest, was dessen schwachsinnige ›Rassentheorien‹ angeht, deren Unhaltbarkeit sich in Berlin doch eben wieder beweist!«
Es fanden dort gerade die Olympischen Spiele statt, und deren unbestrittener Star war der schwarze Amerikaner Jesse Owens, der in gleich vier Leichtathletik-Disziplinen Goldmedaillen errang! Dieser triumphale Erfolg eines Farbigen, der nach den Thesen der Nazis zu den »Minderwertigen«, den »Ariern« weit Unterlegenen gehören sollte, hatte – wie aus seiner Umgebung glaubhaft berichtet wurde – bei Hitler Wutanfälle ausgelöst und ihm die Freude an der propagandistisch für ihn so wichtigen Olympiade gründlich verdorben.
Und schuld an Hitlers Ärger waren, wie Putti seinem Vater und Herrn Karol berichten konnte, wieder mal die Juden: Die Florettfechterin Helene Mayer aus Offenbach, die 1928 bei der Olympiade in Amsterdam eine Goldmedaille gewonnen hatte und seither zweimal Weltmeisterin geworden war, sollte zunächst nicht zur deutschen Olympiamannschaft zugelassen werden, denn »die blonde He«, wie sie genannt wurde, galt nach den Rassegesetzen der Nazis als Jüdin.
Die »Blonde He«, die Fechterin Helene Mayer, die als »Nichtarierin« olympisches Gold und Silber für Deutschland gewann
Außer Helene Mayer gab es noch ein Dutzend deutsche Spitzensportler, in der Mehrzahl Frauen, die als »Nichtarier« von der Teilnahme an der Berliner Olympiade ausgeschlossen worden waren, obwohl sie in früheren Spielen für Deutschland Gold- und Silbermedaillen errungen hatten, aber erst der Fall der »blonden He«, die schon nach Amerika ausgewandert war, aber noch einen deutschen Pass hatte, brachte den Stein ins Rollen: Der amerikanische Vertreter im Internationalen Olympischen Komitee, General Charles E. Sherill, drohte mit dem Boykott der Berliner Olympiade durch die USA, falls Helene Mayer nicht in die deutsche Mannschaft aufgenommen würde. Die Nazis hatten zähneknirschend nachgegeben – mit dem Ergebnis, dass der »Führer« einem »amerikanischen Neger« gleich viermal zum Sieg gratulieren, außerdem drei jüdischen Florettfechterinnen widerstrebend die Hand geben und ihnen geheuchelte Glückwünsche aussprechen musste: der Ungarin Ilona Elek, der trotz großer Bedenken nach Berlin gekommenen Helene Mayer und der österreichischen »nichtarischen« Fechtmeisterin Ellen Preis!
»Woher weißt denn du das alles?«, fragte Willy Karol sehr verwundert, worauf Putti ihm und seinen Eltern stolz berichtete, zwei seiner Mitschüler auf dem Lycée Chateaubriand seien Söhne von IOC-Mitgliedern, und der »Fall Mayer« wäre bei denen zu Hause tagelang heftig diskutiert worden.
Auch zwischen Puttis Vater und Herrn Karol begann nun eine Debatte. Willy Karol meinte, das Nachgeben der Nazis und die Tatsache, dass sich Hitler dazu überwunden hatte, »Nichtarier« öffentlich auszuzeichnen, ließen auf eine gewisse Entkrampfung schließen. Curt Eichelbaum fand es empörend, dass jüdische Sportler überhaupt nach Berlin gekommen waren, und Puttis Mutter war der Meinung, die jüdischen Fechterinnen hätten wenigstens eine Medaille einer »arischen« Frau überlassen sollen.
Putti hörte ihnen nicht mehr zu, denn im Radio wurde das Fußball-Endspiel der Berliner Olympiade übertragen.
Der Sieg der Italiener, die vor Österreich und Norwegen Olympiasieger und Goldmedaillengewinner wurden, während die deutsche Mannschaft nur auf einen der hinteren Plätze kam, versetzte ihn dann in wilde Begeisterung.
»Papa! Mama! Onkel Willy! Stellt euch vor: Wir haben gewonnen! Evviva l’Italia!«
Nicht mal im Traum hätte er sich vorstellen können, dass ihn, als knapp zwei Jahre später, am 4. Juni 1938, Italiens Squadra Azzurra mit einem 4 : 2-Sieg über Ungarn erneut Fußball-Weltmeister und im ganzen Land stürmisch gefeiert wurde, ein solches Ereignis völlig kaltlassen und dass seine Begeisterung für Italien schon wieder dahin sein würde.
Schon einige Monate vor diesem neuerlichen Fußballsieg hatte sich eine politische Klima-Veränderung angekündigt: Ende Januar 1938 begann plötzlich in ganz Italien eine wilde Hetzkampagne gegen die Juden. Über Nacht wurden sie von einer bis dahin kaum beachteten religiösen Minderheit zu einer fremden razza, ja zum Feind der Nation – zum Glück nur in der offiziellen Propaganda! Die große Mehrheit der Italiener nahm von dieser neuen Erkenntnis der faschistischen Führung keinerlei Notiz. Die neuen judenfeindlichen Parolen wurden zu Recht als eine Konzession Mussolinis an den immer mächtiger werdenden Hitler angesehen, der aber keine praktische Bedeutung zuzumessen wäre. Auch Willy Karol, der gute Beziehungen zu hohen Faschistenführern hatte, hielt die Kampagne für ganz ungefährlich.
»Glaube mir, Curt, die Italiener sind völlig immun gegen dieses Gift! Außerdem gibt es unter 42 Millionen Einwohnern kaum 50.000 Juden, die etwa 10.000 Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich schon eingerechnet … Macht euch also keine Sorgen – es passiert nichts!«
Aber Curt Eichelbaum traf dennoch einige Vorkehrungen: Da sie in ihrer kleinen Wohnung ohnehin nicht alles hatten unterbringen können, ließ er die wertvollsten Teile des Hausrats, darunter das Meißner Porzellan für 24 Personen, das schon Lottchens Eltern von ihren Großeltern geerbt und das sie in Rom noch gar nicht ausgepackt hatten, nach Zürich zurückschicken, wo es die Spedition wieder auf Lager nahm. Außerdem begann er nun, sich intensiv um Kontakte zu amerikanischen Filmgesellschaften zu bemühen.
Seine Sorgen, die er vor Lottchen und Putti zu verbergen suchte, verstärkten sich noch, als im März 1938 Hitler-Deutschland von Österreich Besitz ergriff. Nun wehte die Hakenkreuzfahne schon am Brenner; aus Wien und anderen österreichischen Städten kamen Schreckensmeldungen über die plötzliche grausame Verfolgung der dortigen Juden, und es kursierten Gerüchte, Hitler und Mussolini wollten ihre durch den Anschluss Österreichs an Deutschland etwas getrübten Beziehungen in Kürze wieder klären und alle »offenen Fragen« besprechen, so dass es zwischen den Endpunkten der »Achse Berlin-Rom« keinerlei Differenzen mehr geben würde.
Die wenigen deutschen Emigranten in Italien sahen diesem Spitzengespräch mit einiger Sorge entgegen. Willy Karol aber meinte: »Hitlers nächstes Angriffsziel ist die Tschechoslowakei. Das aber wird deren Garantiemächte, vor allem Frankreich, zum Eingreifen zwingen. Dann ist Hitler auf Mussolinis Unterstützung dringend angewiesen, und er wird ihm gar nichts abverlangen können, vielmehr jedes gewünschte Zugeständnis machen müssen.«
»Karol hat recht«, meinte auch Georg Krauss, der zu Besuch gekommen war. »Ich glaube, ihr habt hier nichts zu befürchten.«
Putti, der dem Gespräch aufmerksam zugehört hatte, war nun sehr erleichtert. Wenn auch sein Onkel Georg fand, dass sich die Eltern unnötige Sorgen machten, stand der Ausführung seiner Pläne wohl nichts mehr im Wege: Signore Luigi hatte sich bereit erklärt, ihn im nächsten Jahr, wenn er 18 geworden war und die Schule hinter sich hatte, zu seinem Assistenten zu machen; die Direktion des Excelsior war einverstanden, und alles, was er noch benötigte, war etwas Kapital, denn Signore Luigi war kein Hotelangestellter, sondern ein selbständiger Unternehmer, der seinerseits die lukrative Portierloge des Nobelhotels gepachtet hatte und vom künftigen Juniorpartner eine stattliche Einlage verlangen konnte.
»Das Geld hast du in zwei, drei Jahren beisammen, wenn du ein bisschen sparst, Riccardo«, hatte Signore Luigi gemeint, »aber das lohnt sich! Wenn du erst einmal die gekreuzten Schlüssel auf dem Revers trägst, bist du ein angesehener und bald auch ein gemachter Mann! Ich, zum Beispiel, werde mir in sechs, acht Jahren noch ein Hotel kaufen – auf Ischia, wo ich zu Hause bin …«
»Sie haben schon ein eigenes Hotel!?«
»Ja, ein Ferienhotel, das ich meinem Schwager verpachtet habe, aber das auf Ischia, das werde ich selbst führen, und dann …«
Seither hatte Putti die kühnsten Pläne, und er fragte sich, warum er, nur seinen Eltern zuliebe, internationales Recht studieren sollte.
Am Abend des 2. Mai, als er mit seinen Eltern auf dem Balkon saß und gerade den ersten Versuch machen wollte, sie mit den verlockenden Vorschlägen des Signore Luigi bekannt zu machen, klingelte es.
Putti ging zur Wohnungstür. Als er sie öffnete, standen dort zwei bewaffnete Schwarzhemden. Etwas im Hintergrund sah er Peppino, den Hausmeister, sehr verlegen und ihm stumm bedeutend, es sei nicht zu verhindern gewesen.
»Sie und Ihr Vater, der dottore, müssen leider mitkommen«, erklärte der eine der beiden Bewaffneten, freundlich, aber bestimmt.
Putti erfuhr dann zu seinem Entsetzen, dass er und sein Vater verhaftet wären, aber zehn Minuten Zeit hätten, das Nötigste, das sie im Gefängnis brauchen würden, einzupacken.
»Gefängnis? Hören Sie, das muss eine Verwechslung sein! Wir haben nichts getan, ich bin avanguardisto, mein Vater ist avvocato in Cinecittà, unsere Papiere sind in Ordnung!«
Er zeigte ihnen seinen Ausweis – es half nichts. Sie mussten mit und in den vergitterten Transportwagen steigen, der auf der Straße vor dem Haus wartete, umlagert von neugierigen Nachbarn. Die Mutter stand am Fenster, fassungslos schluchzend.
»Verständige sofort Willy!«, rief sein Vater ihr noch zu, ehe er in den Wagen stieg, wo schon acht andere Gefangene saßen – alle aus Deutschland geflüchtete Juden! Auch Dr. Veilchenfeld, ihr Hausarzt, war dabei.
»Das Unglück hat uns eingeholt, Herr Eichelbaum«, sagte er traurig.
Die Fahrt ging nach Trastevere, dem Stadtteil auf dem rechten Tiber-Ufer, zu dem uralten Gefängnis, das verblüffender Weise Regina Coeli, Himmelskönigin, hieß. Unterwegs hörten sie von ihren Mitgefangenen, ihre Einlieferung sei nur eine Sicherheitsmaßnahme zum Schutze Hitlers, der am nächsten Tag in Rom zu einem Staatsbesuch erwartet wurde.
»Während der Anwesenheit von Exzellenz Hitler dürfen in Rom keine Teppiche geklopft, keine Wäscheleinen gespannt, keine Kleidungsstücke und Betten an Fenstern oder Balkonen gelüftet werden«, teilte ihnen ihr Wächter mit. »Sogar alle Hunde und Katzen müssen eingesperrt werden.«
»Und alle Juden, natürlich«, ergänzte Dr. Veilchenfeld.
»Nein, dottore, nur die aus Deutschland!«
Mehr als hundert Emigranten, meist ältere Leute, unter ihnen einige, die sie kannten, warteten mit ihnen zusammen viele Stunden, bis die beiden Beamten, die deutschen Namen mühsam buchstabierend, endlich alle Verhafteten registriert, deren Personalien, einschließlich der Namen ihrer Väter und Mütter, sorgfältig in das dicke Eingangsbuch eingetragen hatten. Putti warf immer wieder besorgte Blicke auf seinen Vater, der kein Wort sprach und wie versteinert wirkte.
Adolf Hitler und Benito Mussolini
Als sie endlich an der Reihe waren, ihre Personalien anzugeben, war es bereits nach Mitternacht. Aber der schon recht erschöpft wirkende Beamte hatte nichts von seiner Geduld und Freundlichkeit eingebüßt.
»Ah, Sie sind aus Berlin! Das ist eine schöne Stadt, deren Namen mir keine Schwierigkeiten macht. Ende gut – alles gut! Sie sind die letzten … Lassen Sie nicht den Kopf hängen, dottore! Unsere alte Himmelskönigin ist zwar kein Grandhotel, aber wir sind auch keine Menschenfresser. Wir sind froh, wenn wir es nicht mit Verbrechergesindel zu tun haben, sondern mit zivilisierten, gebildeten Menschen. Sie haben halt Pech gehabt – das ist alles!«
Durch endlose Gänge und Eisentüren brachte man sie dann zu ihren Zellen.
»Bitte sehr!«, sagte der Wärter und schloss hinter ihnen ab. Es waren schlimme Stunden, die sie dann in der Zelle verbrachten. Die harten Pritschen mit den vor Schmutz starrenden Decken, der übelriechende Abortkübel und selbst die Wanzen, die sie bald zu plagen begannen, waren indessen nicht halb so schwer zu ertragen wie die bittere Enttäuschung aller ihrer Hoffnungen, die Ungewissheit ihres weiteren Schicksals und die Sorge um die zu Hause allein und verzweifelt zurückgebliebene Lotte.
Diesmal war es Putti, der den Vater aufzuheitern versuchte: »Emigranten haben einen großen Vorteil: Sie kennen keine Langeweile, sondern erleben dauernd Überraschungen. Heute, zum Beispiel, da radelte ich morgens in Uniform zur Schule, weil das Lycée den Vorbeimarsch beim Hitler-Besuch proben musste. An der Piazza Croce Rossa kam mir ein großes schwarzes Auto entgegen, in dem der Duce saß. Als guter avanguardisto sprang ich vom Rad und grüßte stramm. Er nickte mir freundlich zu wie einem alten Bekannten, denn wir begegnen uns ziemlich häufig. Nachmittags im Excelsior erzählte ich der Contessa Bragnini davon, und sie sagte: ›Der Duce mag dich, Riccardo! Da wirst du es weit bringen!‹, und schau, wie recht sie hat!«
Aber er hatte keinen Erfolg mit seinen Aufheiterungsversuchen. Erst am nächsten Morgen, als man sie gegen neun Uhr aus ihrer Zelle holte und in ein leeres Büro führte, ohne dass sie dort eingeschlossen wurden, ließ bei seinem Vater die nervöse Spannung etwas nach, und sein Lebensmut schien zurückzukehren.
Noch eine Stunde, die ihnen endlos erschien, ließ man sie warten, denn der italienischen Bürokratie war jede Hast fremd. Ein Angestellter mit Ärmelschonern steckte den Kopf zur Tür hinein und fragte, wie man Eichelbaum schriebe.
Schließlich kam ein ebenso freundlicher Beamter, der ihnen umständlich erläuterte, dass sie entlassen wären und nach Hause gehen könnten. Nur müssten sie versprechen, für die Dauer des »Führerbesuchs« in Rom keinesfalls ihre Wohnung zu verlassen, sich auch nicht an den Fenstern oder auf dem Balkon zu zeigen.
»Glaubt vielleicht jemand, wir wollten ihm Blumen oder Konfetti streuen?«
Diesmal lächelte nicht nur der Beamte, sondern auch Puttis Vater.
Vor dem Gefängnistor wartete Willy Karol auf sie in einem Taxi, dessen Zähler bereits eine stattliche Summe anzeigte. Karol kam ihnen rasch entgegen und umarmte sie. Er sah müde aus.
»War es sehr schwierig …?«, fragte Curt seinen Freund.
»Schwierig war es nur, einen der hohen Herren zu finden«, sagte Karol und gähnte. »Ich habe die Nacht mit der Inspektion aller Night Clubs und geheimen Lasterhöhlen von Rom verbracht. Falls die Sittenpolizei einen Experten braucht: Ich wäre jetzt der richtige Mann! Erst gegen fünf Uhr früh wurde ich fündig – dann war es eine Kleinigkeit, eure Freilassung zu erwirken. Erheblich langwieriger war es, anschließend den Instanzenweg zu durchlaufen – bis zu dem Beamten, der das Tor auch tatsächlich aufschließen kann … Jedenfalls habt ihr nun nichts mehr zu befürchten. Nehmt es als ein betrübliches Versehen – es wird sich nicht wiederholen! Und der zuständige Parteifunktionär, der euch im Auge behalten muss, bis Hitler wieder abgereist ist, wird euch keine Schwierigkeiten machen …«
»Auch das noch! Ein Aufpasser!« Curt war ganz deprimiert. »Und wieso bist du sicher, dass er uns …«
»Reg dich nicht auf, Curt«, fiel ihm Karol ins Wort, »der zuständige Funktionär heißt Peppino und ist euer Hausmeister …«
Putti lachte, auch sein Vater beruhigte sich nun wieder.
Als sie vor ihrem Haus hielten, riss ihnen der Taxifahrer die Tür auf, zog die Mütze und verbeugte sich tief. Er hatte Karol schon die ganze Nacht hindurch herumgefahren und mehr eingenommen als sonst in einem Monat.
»Wir drehen einen Film über den historischen Besuch des ›Führers‹ in Rom«, sagte Karol und gab dem Fahrer noch ein nobles Trinkgeld. »Diese ebenfalls historische Taxiquittung gehört natürlich zu den Vorkosten, die wir dem Goebbels-Ministerium in Rechnung stellen …«
»Buon giorno, Signore dottore, benvenuto Signorino Riccardo! Welch ein Glück, dass Sie wieder zu Hause sind!« Peppino, freudig bewegt, öffnete schon die Aufzugstür für sie. »Mi scusi, per favore! Mi dispiace molto, Signore dottore!«, versicherte er ihnen. »Non se l’abbia a male, prego!«
Aber obwohl nun äußerlich der Alltag wieder einkehrte, sollte es noch etliche Wochen dauern, ehe sich Eichelbaums von dem Schrecken erholten.
Dann, Ende Juli 1938, als sich schon die Sommerhitze über Rom gelegt hatte und alle Aktivitäten erlahmten, gab es eine neue Überraschung, doch diesmal eine erfreuliche: Eine amerikanische Filmgesellschaft von internationalem Rang bot Dr. Eichelbaum, dessen Ruf als hervorragender, branchenerfahrener Jurist inzwischen auch die Chefetagen von Hollywood erreicht hatte, einen langfristigen, gutdotierten Vertrag an; er sollte künftig allein ihre umfangreichen Interessen in Italien vertreten!
»Wir haben es geschafft!«, erklärte Puttis Vater strahlend, als er von den Verhandlungen nach Hause kam.
»Bleiben wir in Rom?«, wollten Frau und Sohn wissen.
»Auf alle Fälle! Ich werde nur ab und zu nach Mailand oder Venedig reisen müssen – das nächste Mal in vier Wochen zur Unterzeichnung der Verträge. Und bis dahin – so habe ich mir gedacht – machen wir endlich mal wieder Urlaub und erholen uns ein bisschen! Wir könnten zum Beispiel nach Como fahren und Erbslöhs besuchen. Was haltet ihr davon?«
Lottchen und auch Putti stimmten begeistert zu.
September 1938. Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Italien, Frankreich und England spricht Deutschland die West-CSR (Sudetenland) zu; Hitler verspricht feierlich, dass damit seine territorialen Ansprüche befriedigt sind.
9. November 1938. »Reichskristallnacht« genannte größte Judenverfolgung der Neuzeit. Zerstörung nahezu aller Synagogen, jüdischen Wohnungen und Geschäfte, umfangreiche Plünderungen, zahlreiche Tote und Verletzte sind die Folge. Den deutschen Juden wird die Bezahlung des Schadens auferlegt; 35.000 kommen als Geiseln in KZs.
März 1939. Deutsche Truppen marschieren in die »Rest«-Tschechoslowakei ein, die zum »Protektorat Böhmen und Mähren« erklärt wird, und besetzen auch das litauische Memelgebiet.
7. April 1939. Italien überfällt Albanien und besetzt das Land.