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1. Kapitel

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Einige Jahre später, Montag, 13. September

Als die zunehmende Mondsichel ihr unklares Licht auf die Felder links und rechts der Bundesstraße warf und Udo Voss mit den Scheinwerfern seines acht Jahre alten Golfs die Dunkelheit zwischen seinem Heimatort und der Kreisstadt durchschnitt, ahnte er noch nicht, dass sich bald sein Leben ein weiteres Mal radikal verändern würde.

Rechts der Straße kam der letzte Regionalexpress der Bahn auf ihn zugefahren, um im letzten Moment mit leichter Neigung parallel zur Fahrbahn den Gleisen zu folgen. Schnell verschwand er aus Udos Blickfeld. Udo blickte kurz nach links und erkannte am Horizont die Lichter einer Fähre. Nicht dass er in der Dunkelheit das Meer erkennen konnte, er wusste einfach, dass man im Herbst genau an dieser Stelle bis auf die Ostsee sehen konnte. Hasso, Udos Schäferhund fiepste leise auf dem Beifahrersitz. Nur noch wenige Hundert Meter, dann musste er in der Senke gleich nach dem Ortseingangsschild links in das Gewerbegebiet einbiegen.

An dem Tor der Fensterbaufirma stellte Udo seinen Golf ab und entnahm seiner Tasche die passenden Schlüssel. Bevor er ausstieg, leuchtete er kurz mit seiner Taschenlampe das Gelände des Anwesens ab. Auch Hasso verfolgte den Lichtstrahl.

Alles ruhig. Udo und Hasso konnten den Rundgang beginnen. Es war still. Nur hin und wieder hörte man ein Auto von der nahen Straße vorüberrauschen. Hasso ging Seite an Seite neben Udo auf das Hauptgebäude zu. Plötzlich blieb Hasso stehen und richtete seine sensiblen Hundeohren in Richtung des Gebäudes. Halt, hier stimmte etwas nicht. Udo hockte sich neben Hasso, der mit hoch aufgestellten Ohren aufmerksam seinen Kopf leicht nach links ausrichtete. Udo streichelte Hasso anerkennend.

„Was ist Hasso?“, fragte er. Etwas Metallenes fiel zu Boden und schepperte durch die Nacht. Udo löste die Hundeleine. „Los!“, befahl er flüsternd.

Kaum hatte Udo das Kommando gegeben, spurtete Hasso um das Gebäude herum, blieb dann vor einer der zahlreichen Gebäudenischen stehen und gab Laut.

Udo, der seit einem Handgemenge während einer seiner Kontrollgänge vor gut eineinhalb Jahren leicht gehbehindert war, folgte seinem aufmerksamen Begleiter so schnell er konnte.

Dann geschah alles ganz schnell: eilige Schritte auf dem Dach. Fast gleichzeitig sprang Hasso auf, stieß jemanden zu Boden und zeigte dem Niedergestoßenen drohend seinen Fang. Wenig später hörte Udo hinter sich ein dumpfes Geräusch und kurz darauf einen lautes Wehgeschrei.

Udo konnte sich auf Hasso, einen gut ausgebildeten, aber in die Jahre gekommenen Polizeischutzhund, verlassen. Er würde den Gestellten nicht entkommen lassen.

„Hilfe, Hilfe!“ flehte der auf dem Boden Liegende leise und bibberte. „N-Nehmen S-Sie die Töle da weg. Die hat mich g-gebissen.“

Udo leuchtete ihn an. „Wo hat er dich gebissen?“ Er ließ den Lichtkegel der Taschenlampe an ihm auf- und abwandern. Dabei traf der Lichtstrahl nahe der Fassade etwas längliches, Blankes. „Ich kann nichts erkennen, außer dass du auf dem Boden liegst und schlotterst. Hab’ dich nicht so mädchenhaft, das hättest du dir überlegen sollen, bevor du aufs Dach gestiegen bist. Erzähl’ mir bloß nicht, dass du hier Fenster bestellen wolltest. Dazu braucht man nämlich keine Leiter und keinen Schraubenschlüssel! Du kannst dir inzwischen schon mal überlegen, was du zu nachtschlafender Zeit im Gewerbepark zu suchen gehabt hast.“

Udo folgerte aus der Sachlage: Die Beiden hatten es auf die erst kürzlich montierten Solarpaneele abgesehen. Er sah sich kurz um. Nichts. Verdammt, warum mache ich hier die Arbeit der Kripo! Unangenehme Erinnerungen kamen in Udo hoch. Warum hatte ihm damals nur niemand geglaubt. Niemand außer Fründt. Eine Schande!

„Aus Hasso!“, gab Udo das Kommando.

„Los, leg dich auf den Bauch, Hände nach hinten!“ Mit silbergrauem faserverstärkten Klebeband band er geübt die Hände auf dem Rücken des jungen Mannes zusammen. Dieses Klebeband hatte er immer dabei. Er konnte damit Schlüssel kennzeichnen, beschädigte Regenfallrohre abdichten oder eben auch, wie jetzt, Verdächtige arretieren.

„Aufstehen!“

Der Festgenommene hatte Mühe, ganz ohne die Hilfe der Arme aufzustehen. Udo griff in seinen Gürtel. Seine starke Hand und seine gut einhundert Kilo Gewicht musste der junge Mann erst einmal überwinden.

„Bilde dir ja nicht ein, du könntest weglaufen. Hasso ist bestimmt schneller als du. Was er dann macht, weißt du ja nun.“

Während die Drei in die Richtung des Schreies gingen und Udo sich über die breitbeinige Gehweise des Festgenommenen wunderte, telefonierte Udo mit der Polizei und berichtete kurz von dem Vorfall.

„Die Kollegen sind unterwegs“, äffte Udo die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung nach um sich gleich darauf zu beschweren: „Das letzte Mal hat das ‚Unterwegs’ eine geschlagene Stunde gedauert! Ihr solltet hoffen, dass es dieses Mal nicht so lange dauert“, sagte er laut. Doch seine Gedanken gingen weiter: Wie soll ich da die ganzen anderen Kontrollstellen noch schaffen, wenn es hier wieder solange dauerte?

Inzwischen hatte Udo den anderen Tatverdächtigen am Boden liegend und rund fünf Meter von der Hauswand entfernt gefunden. Mit der Hand versuchte der Liegende, den blendenden Strahl der auf ihn zukommenden Lampe abzuschirmen. „Hilfe!“, jammerte er. „Mein Fuß.“

„Welcher?“

„Der rechte.“

„Hinsetzen!“, befahl Udo dem Ersten, der ihm umständlich Folge leistete. Udo schlang das reißfeste Klebeband um seine Beine.

Udo besah sich den Fuß. Geschwollen. Ohne Zweifel, damit konnte der Zweite keinen einzigen Schritt mehr laufen.

„Jetzt mal die Zähne zusammenbeißen, mein lieber Freund. Wer das Eine will, muss das Andere mögen.“ Auch ihm band Udo die Hände auf den Rücken. „Am besten, das sieht sich mal ein Arzt an. Ich glaube, auf die Füße können wir verzichten. Damit kommst du sowieso nicht weit.“ Anschließend verständigte er den Notarzt.

„Pass gut auf, Hasso!“ Hasso antwortete mit einem „Wau“.

Im Lichte der Taschenlampe kondensierte die Atemfeuchtigkeit in der Kälte. Udo zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und schlug den Kragen seiner lammfellgefütterten dunklen Lederjacke hoch.

„Euer nächtlicher Ausflug wird euch wohl teuer zu stehen kommen. Wohl an! Wir machen uns einen gemütlichen Abend bei kaltem Boden und einem frischen Lüftchen und warten auf die lieben Kollegen der Polizei.“

„Arschloch!“, schrie der Verletzte und versuchte Udo anzuspucken. Dann wandte er sich an seinen Komplizen: „Hast du dir wegen dem Clown da in die Hosen gepisst, oder wieso bist du so breitbeinig angekommen? Memme!“ Udo aber tat, als hörte er das nicht. Innerlich stellte er sich auf ein längeres Warten ein, das er unerträglicher empfand, als diese Beleidigung. Er hatte schon ganz andere gehört.

Wider Erwarten waren Polizei und ärztlicher Notdienst bereits nach einer guten Viertelstunde vor Ort und Udo konnte seinen nächtlichen Kontrollgang mit dem Einscannen des Objektcodes in sein Lesegerät beenden. Er war sauer, hieß doch dieser Vorfall für ihn, wieder einen Haufen endloser Formulare auszufüllen und dafür seine Freizeit zu opfern. Ohnehin war seine tägliche Schicht oft elf, zwölf Stunden lang.

Hasso hatte Udos Stimmung mitbekommen. Beruhigend rieb er seinen Hals an Udos Bein, bevor Udo die Beifahrertür aufgeschlossen hatte und er sich auf seinen angestammten Platz neben Udo setzen konnte.

Nachdem er auch bei der Fleischerei im Gewerbepark alles kontrolliert hatte, war das nächste Ziel das Gewerbegebiet auf der Ostseite der Kreisstadt. Zu gern hätte Udo gewusst, was die Beiden auf dem Dach der Fensterfirma wirklich vorhatten. Ob er mit seiner Vermutung recht hatte?

Die Bundesstraße war frei. Udo trat etwas mehr aufs Gaspedal, in der Hoffnung er könne so etwas von der verlorenen Zeit einholen. Ein orangefarbener Blitz aus dem Starkasten in der siebziger Zone kurz vor der Kreisstadt holte ihn in die Realität zurück. „Auch das noch! Herr-Gott-Sakrament!“, fluchte er vor sich hin. „Und das alles für einen Stundenlohn von Fünf-Euro-Zwölf!“

Der Lokalreporter hatte seine Kamera eingepackt und den Tagungsraum des Jobcenters verlassen. „Kommen wir nun zum gemütlichen Teil. Der unterzeichnete Vertrag ist wahrhaft ein Grund, auf gutes Gelingen unserer Initiative anzustoßen.“ Justus Voigt, der Leiter des Jobcenters blickte in die Runde. „Besonders möchte ich hervorheben, dass es uns nun endlich gelungen ist, alle Parteien an einem Tisch zu bringen. Ja, nicht nur zusammenzubringen, sondern auch mit grundsoliden finanziellen Ergebnissen aufzuwarten. Lassen Sie mich mit den Damen unserer Runde beginnen: Sie, Frau Viola Maurer, mit Ihren profunden Ideen zu effektiven Bildungsangeboten in der Leif-GmbH, Sie, Frau Eva Jakob, für Ihre überaus nützlichen Kenntnisse in der Beschäftigungspolitik und deren Anwendung in Ihrer Übungsfirma Easy-Job und nicht zu vergessen unseren langjährigen Freund und Kollegen Alex Maurer mit der POWER-PSA, seiner Power-Job-Vermittlung!“

Voigt griff nach seinem Glas und erhob sich. „Erheben wir uns. In Anbetracht der Wichtigkeit unserer Vereinbarung für die Menschen in unserer Gesellschaft habe ich mir erlaubt, auf Kosten des Hauses eine Kiste echten Champagner zu ordern.“ Er hob sein Glas in die Höhe. „Zum Wohl, meine Damen und Herren! Auf gutes Gelingen.“

Die Gläser klangen und Viola Maurer, die in einem engen kurzen, aber schlichten roten Kleid erschienen war, blickte Justus Voigt mit einem Augenaufschlag an, wobei sie ihr lichtblondes schulterlanges Haar feminin wiegte. „Ich habe gar nicht geahnt, dass auch der Chef eines Jobcenters solch charmante Reden halten kann.“ Sie berührte ihn leicht am Oberarm. „Ich glaube, ich muss bei Ihnen mal Privatunterricht nehmen. Kommen Sie auch zu mir, wenn ich Sie gut bezahle?“ Dabei biss sie sich mit ihren oberen Schneidezähnen leicht auf die Unterlippe und strich ihm zärtlich die Wange. Sie stieß ihn mit ihrer Hüfte leicht an. „Wir werden ungestört sein“, meinte sie und lächelte. „Dafür werde ich sorgen.“

Die Tür zum Tagungsraum öffnete sich und Frau Knechtel, Voigts Sekretärin, steckte ihren Bubikopf durch den Türspalt.

„Herr Voigt, Herr Biegel wartet wegen einer Beschwerde über Frau Krause auf das Gespräch mit Ihnen. Sein Termin mit Ihnen ist schon vor über einer halben Stunde gewesen. Er wird allmählich ungehalten.“

„Frau Knechtel, Sie sehen ja wohl, dass wir hier beschäftigt sind?“, herrschte Voigt sie an. „Lassen Sie sich etwas einfallen. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, müssen Sie sich eine andere Beschäftigung suchen. Und jetzt verschwinden Sie!“

Die Tür krachte mit aller Wucht ins Schloss, während kurz darauf der Korken der nächsten Champagnerflasche knallte.

Während Justus Voigt und Viola Maurer flirteten, steckten Alex Maurer und Eva Jakob die Köpfe zusammen und tuschelten. Hin und wieder huschte ein Lächeln über die Lippen der Beiden. Wie zufällig lag die Hand von Alex auf der von Eva und Eva machte keine Anstalten ihre dort wegzuziehen.

Dienstag, 14. September

„Jobcenter will Arbeitslosigkeit über 50 halbieren“ und „Jobcenterchef erhebt erneut Klage gegen sittenwidrigen Lohn“, titelte die Kreis-Zeitung über einem großformatigen Foto mit den Unterzeichnern bei der Unterschriftsleistung. Mit der Initiative 50-plus ziehen jetzt das Jobzentrum, die Bildungsfirma Leif-GmbH und die Übungsfirma Easy-Job sowie POWER-PSA an einem Strang. Es darf nicht sein, so führte Justus Voigt vom Jobcenter der Münsterstadt aus, dass die wertvollen Erfahrungen der Überfünfzigjährigen brach liegenblieben. Es kommt darauf an, diese Personengruppe fest in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Unser Ziel ist die Vollbeschäftigung.

Udo Voss las entgegen seiner Gewohnheit den ganzen Artikel, hoffte er doch, trotz Vollzeitjob endlich aus der Abhängigkeit des Jobcenters zu entfliehen. Nichts, aber auch gar nichts war in diesem Artikel darüber zu erfahren, zu welchen Bedingungen die Leute seiner Altersgruppe in Arbeit kommen sollten. Seit er vor über zwei Jahren den Job als Wachtmann einer privaten Sicherheitsfirma übernommen hatte, hatte es immer wieder Unstimmigkeiten bei dem monatlichen Einkommensnachweis für das Jobcenter gegeben. Ohne das Geld vom Staat hätte er trotz der vielen Überstunden nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten können.

Udo blätterte weiter und suchte nach Interessantem. Die Überschrift „Polizei stellt Diebe auf frischer Tat“ weckte seinen Wissensdurst. Mitten hinein beim Lesen machte sich sein Handy bemerkbar. „Chef“, war auf dem kleinen farbigen Display zu lesen.

Udo war sauer. Nicht einmal den wohlverdienten Feierabend am Vormittag konnte der Chef akzeptieren. Ob er wieder einen außerplanmäßigen Zusatzjob hatte, ging ihm durch den Kopf, bevor Udo aufs Knöpfchen drückte.

„Voss“, meldete Udo sich und lauschte.

Bald darauf vergrößerte er den Abstand seines Handys von seinem Ohr. Das, was er hörte, war unangenehmer als ein Zusatzjob. Der Chef siezte ihn und zitierte ihn kurz und knapp für den späten Nachmittag in sein Büro. Dann legte der Chef wieder auf. Dass Udo nicht wusste, um was es ging, machte ihn äußerst unruhig.

Den kurzen Artikel zu den Dieben musste er aber noch schell zu Ende lesen. Schon bald stellte er fest, dass es sich dabei um den Vorfall bei der Fensterbaufirma vorgestern Nacht handelte. Die beiden Burschen hatten tatsächlich versucht, Solarpaneele vom Dach zu stehlen. Aber kein Wort von ihm und Hasso. Insgeheim ärgerte ihn das und ließ die Polizei besser dastehen, als sie es eigentlich verdiente. „Naja, Journalistendenke eben“, tat er es ab!

Frau Knechtel öffnete die Fenster des Beratungsraumes weit. Sie war sauer. Echt sauer. Erst ließ sie Voigt mit dem armen Herrn Biegel allein, obwohl er mit ihm einen Termin hatte, und sie musste den armen Kerl auch noch anlügen. Ungeniert flirtete Voigt auch noch mit der verheirateten Viola Maurer unter den Augen ihres Ehemanns. Das tat weh. Bisher hatte sie geglaubt, dass sie die Auserwählte neben Voigts Frau war. „Das Schwein!“, sagte sie laut und hielt sich im gleichen Moment die Hand vor den Mund. Ängstlich sah sie sich um. Gott sei Dank, niemand weiter war hier.

Ein undefinierbarer süßlich-aromatischer Geruch stieg ihr in die Nase, als sie den Aschenbecher mit den filterlosen Zigarettenkippen entleerte. Normale Kippen riechen anders. Sie sah schon darüber hinweg, dass in diesem Gebäude Rauchverbot herrschte. Was haben die da nur gequalmt? In der kleinen Pentry-Küche sortierte sie das Geschirr in den Geschirrspüler. Sie wischte sich eine Träne von der Wange. Warum geriet sie nur immer wieder an so treulose Männer.

Udos Handy vollführte, getrieben von der Vibration des stillen Alarms, einen Tanz auf der polierten Tischplatte. Udo schrak von der Couch hoch. Schlaftrunken griff er ein paar Mal daneben, bis er das Telefon endlich in der Hand hielt. Scharf sehen konnte er noch nicht.

„Voss, Udo Voss!“, meldete er sich. Es dauerte eine Weile, bis er die Stimme erkannte. Der Chef hörte sich sehr aufgebracht an. Udo sah auf die Uhr. Er hatte den Termin verpasst. „Bitte entschuldige, Chef! Ich bin gleich unterwegs.“ Ungehalten brüllte der Chef ihn an, sodass auch ohne Freisprechfunktion ein Nichtbeteiligter jedes Wort verstehen hätte können. „OK, Bitte entschuldigen Sie, Chef!“

Während Udo in aller Hast seine Wohnung verließ und zum Golf eilte, bohrte sich in nicht gekannter Intensität die Frage in seine Gehirnwindungen, warum er so in Ungnade beim Chef geraten war, dass er sogar das Sie verlangte. Dabei hatte er ein ausgesprochen gutes Gefühl über die Verrichtung seines Dienstes. Am ehesten ließ sich die Situation noch mit seiner Suspendierung vor gut zwei Jahren vergleichen. Damals war er unschuldig gewesen, aber niemand, fast niemand, schenkte ihm Glauben.

Noch als Udo in seinen Golf einstieg, hatte er dieses eigenartige Gefühl der vom Schlaf verklebten Augen, das nur allmählich wich. Er wählte die etwas kurvenreichere aber schnellere Strecke über die Dörfer. Die glatte Straße verführte dazu, die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht allzu ernst zu nehmen. Hoffentlich hatte hier die Verkehrspolizei keine Geschwindigkeitskontrolle eingerichtet. Dennoch hatte er Respekt vor der Straße, was ein schwarz gekleideter Motorradfahrer mit seiner schwarzen schweren Maschine offensichtlich nicht hatte, dessen Rücken mit dem Schriftzug DarkDevils in deutscher Frakturschrift verziert war. Dieses Logo ließ ihn an seinen letzten Fall erinnern.

Udo schob diesen unangenehmen Gedanken beiseite. Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, was der Chef eigentlich von ihm wollte.

Nur eines wusste er: Für den Chef war die Angelegenheit so wichtig, dass sie keinen Aufschub duldete. Udo trat trotz leichter Kurve ein wenig mehr auf das Gaspedal.

Kurz darauf sah er die schwarze Maschine auf der Straße liegen und leitete eine Vollbremsung ein. Die Reifen quetschten auf der trockenen Straße. Das linke Vorderrad berührte schon das Motorrad, als er zum Stehen kam. Die Lüftung des Golfs zog den Gestank von verbranntem Gummi in das Wageninnere.

Von nun an ging fast alles automatisch: Warnblinker einschalten, sich um den Verletzten kümmern, der rund acht Meter weiter an einem Strauch zwischen zwei Bäumen lag. Der Motorradfahrer war nicht ansprechbar, doch konnte er seinen Puls noch fühlen. Er war schwach. Dann Notarzt und Polizei verständigen. Aus einem Riss seiner ledernen Hose am Oberschenkel trat Blut aus. Zuviel Blut, als dass er auf den Notarzt warten konnte.

Die Folie um seinen eingeschweißten Sanikasten setzte ihm zu. Er versuchte es wiederholt mit den Fingernägeln, dann mit den Zähnen. Wertvolle Zeit verstrich. Endlich, die Folie gab nach. Udo trat Schweiß auf die Stirn. Natürlich klebte die Öffnung die Einmalhandschuhe zusammen. Seine feuchten Finger konnten sie nicht öffnen. Er verzichtete darauf, nahm die Schere und schnitt die Hose des Opfers auf. Ein offener Bruch. Aber die Schlagader schien unverletzt.

Abbinden, hämmerte es in ihm. Abbinden, mach schnell! Udo sah sich um. „Einen Knebel, ich brauche einen Knebel!“, rief er, doch niemand hörte ihn.

In der Ferne hörte er schon ein Martinshorn. Udo schöpfte Hoffnung. Doch es wurde wieder leiser. Vorübergehend benutzte er die Schere als Knebel. Mit ihr hatte er nicht genügend Gewalt. Udo fiel der große Schraubendreher unter seinem Sitz ein. Er verhakte die Schere im Verband, was überraschend gut funktionierte.

Der Schraubendreher. Das war ein guter Einfall. Der Puls war schwach aber stabil. Auch der Atem. Mit dem Werkzeug hatte er genug Kraft, das Bluten der Wunde einzudämmen. Immer wieder kontrollierte er die Vitalfunktionen.

Die Sirene des Krankenwagens überdeckte alle anderen Geräusche. Plötzlich Ruhe. Autotüren klappten. Der Notarzt kniete sich neben den Verletzten. Udo gab kurz und präzise weiter, welche Maßnahmen er eingeleitet hatte.

Der Notarzt nickte. „Gut!“

Udo stand auf. Auch die Polizei war inzwischen eingetroffen. Fast eine halbe Stunde später konnte er seine Fahrt endlich fortsetzen.

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, ereiferte sich der Chef. „Erst ignorieren Sie so mir nichts, dir nichts den Termin, dann versprechen Sie mir hoch und heilig sofort zu kommen. Endlich, eine geschlagene Stunde später tauchen Sie hier auf. Verstehen Sie das unter sofort?“

Udo wollte den Grund nennen. „D…“

„Jetzt rede ich!“, schrie er Udo an. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Was muss ich mir noch von einem geschassten Kriminalkommissar bieten lassen? Eine Eigenmächtigkeit nach der anderen. Hier bin ich derjenige, der ’was zu sagen hat, verstanden! Ich stehe dafür gerade, was hier passiert und was nicht passiert. Ich sage hier, was zu tun und zu lassen ist. Es ist mein Geld, das ich ausgeben muss, wenn jemand die Firma verklagt.“ Der Chef setzte sich an seinen Schreibtisch und griff mit zitternder Hand ein Schreiben.

„Ich weiß nicht, wie oft ich Ihnen das noch sagen soll“, begann er etwas ruhiger. „Sie haben als Wachtmann nicht die gleichen Rechte, wie ein Polizist. Ich wünschte, es wäre anders.“ Dann schrie er: „Aber es ist nicht anders!“

Das Blatt Papier verstärkte das Zittern seiner Hand. „Was ist das da eigentlich gewesen, bei der Fensterfirma? Hat Ihre Töle tatsächlich den einen Verdächtigen zu Boden gerissen?“

Endlich kam Udo zu Wort: „Ja, ich habe verschlafen, ja ich bin zu spät gekommen. Aber zu spät gekommen bin ich vor allem deshalb, weil ich einem Unfallopfer helfen musste! Ja, und Hasso hat auch einen jungen Mann zu Boden gerissen. Außer, dass er sich vor Angst in die Hose gemacht hat, ist ihm nichts weiter passiert. Außerdem: Hasso ist ein ausgebildeter, wenn auch pensionierter, Polizeihund. Man versucht eben nicht, Solarpaneele vom Dach zu klauen. Selber schuld.“

„Und genau das geht über Ihre Kompetenz, Herr Voss. Wenn Sie etwas bemerken, sprechen Sie die Leute an! Einfach nur ansprechen, klar?“ Der Chef schüttelte den Kopf. „Und Ihre Töle,“ er verzog verächtlich den Mund, „Entschuldigung Polizeihund, lassen Sie gefälligst im Auto, wenn er schon unbedingt mit muss!“

Udo setzte auf eine ruhige Stimme. „Schon vergessen, warum ich jetzt humpeln muss, Chef? Du brauchst dich ja nicht zusammenschlagen lassen. Du sitzt hier fein in deinem Büro. Sag mal, stimmt's bei dir noch? Bei dem miesen Gehalt soll ich mir auch noch die Knochen blau hauen lassen?“

„Ende der Diskussion! Zum allerletzten Mal: ohne Hund! Das ist eine Weisung! Und in Zukunft per Sie! Verstanden? Und jetzt raus!“

Das war eindeutig. So zusammengefaltet hatte ihn seit seiner Studienzeit niemand mehr. Die Chance, hier noch etwas zu bewegen, war äußerst gering. Udo nickte und drehte sich wortlos zum Gehen um. Er war schon fast an der Tür, da legte der Chef noch einmal nach: „Eine Kleinigkeit noch und Sie sind gefeuert!“

Das saß tief. Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. So ein Idiot! Hatte er nicht dazu beigetragen, dass die beiden endlich hinter Schloss und Riegel saßen und ihr Unwesen nicht mehr länger treiben konnten? Dankbar hätte der Chef ihm sein sollen! Es dauerte lange, bis sich Udos Kreislauf wieder normalisierte. Wieder und wieder gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf. Klar, ganz nach Vorschrift hatte er nicht gehandelt. Aber trotzdem: Wo kämen wir hin, wenn alle Leute immer nur wegsehen würden…

Als Udo Voss endlich in seinen Golf einstieg, sandte die Sonne die letzten Strahlen in den abendlichen Himmel. Er kraulte Hasso am Hals. „Guter Hund“, flüsterte er Hasso zu, um sich selber zu beruhigen, „guter Hund“. Udo startete den Motor.

Freitag, 1. Oktober

Justus Voigt hatte in seinem Büro mit den oft wiederholten Übungen seine Stimme um eine halbe Oktave tiefer trainiert, um so mehr Überzeugungskraft darzustellen. Das tat er immer vor Versammlungen.

Die Duftnote von Voigts Parfüm hatte sich im Versammlungsraum bereits ausgebreitet. Er legte sich akkurat das nächste Blatt mit einigen Zahlen zurecht und korrigierte mit der rechten Hand den Sitz seiner rahmenlosen Brille. „Kommen wir nun zur Auswertung der Tätigkeit der persönlichen Ansprechpartner. Ich möchte an dieser Stelle zum wiederholten Male betonen, dass es die Aufgabe der persönlichen Ansprechpartner ist, unsere Kunden schnellstmöglich in Beschäftigung zu bringen, Vermittlungshemmnisse zu beseitigen und Unwillige zur Aufgabe ihrer Blockadehaltung zu bewegen, wenn nötig, mit allen zu Gebote stehenden Möglichkeiten, einschließlich der konsequenten Anwendung von Sanktions- und anderen geeigneten Maßnahmen. Dabei sind in erster Linie all jene wieder in Arbeit zu bringen, die dem Arbeitsmarkt entsprechend den Direktiven der Bundesanstalt am besten entsprechen.“ Der Leiter des Jobcenters rückte sich abermals die rahmenlose Brille mit dem Luxusgestell zurecht.

„Im vergangenen Monat September hatten wir ein Angebot von 683 Stellen, von denen nur 417 vermittelt werden konnten. 417 Jobs von sechs Mitarbeitern! Das sind nur zwei Drittel! Ich sage das hier in aller Deutlichkeit noch einmal: Das ist entschieden zu wenig. Besonders positiv hervorheben möchte ich an dieser Stelle aber unsere Mitarbeiterin Evelin Krause, die allein in 211 Jobs vermittelt hat.“ Voigt machte eine kleine Pause und Frau Krause genoss dabei die Aufmerksamkeit sichtlich. „Die rote Laterne trägt wieder einmal Frau Gutrecht mit ganzen 17 Vermittlungen. Das sind wiederum sechs weniger als im Vormonat.“

Alle Blicke ruhten nun auf der ältesten Kollegin. Aber Frau Gutrechts Blick war selbstbewusst und gefasst.

„Ein besonderes Maß für die Qualität Ihrer aller Arbeit ist die Anzahl der Widersprüche. Insgesamt kann man mit der Entwicklung im letzten halben Jahr zufrieden sein. Meine Vorgabe, dass mindestens 45 Prozent negativ beschieden werden, ist eingehalten worden, wobei es auch hier wieder Unterschiede gibt. Positiv hervorheben muss ich an dieser Stelle, dass wiederum Frau Krause trotz ihres jungen Alters wieder eine hervorragende Arbeit geleistet hat, ganz im Gegensatz zu Frau Gutrecht.“ Bei dem Namen Gutrecht wurde er lauter. „In einem Falle hörte ich sogar davon, dass Sie, Frau Gutrecht, einen Kunden zur Klage aufforderten.“ Er sah sie tadelnd an. „Was in Gottes Namen haben Sie sich dabei gedacht? Die Kollegen der Rechtsabteilung konnten diesen Fall gerade noch klären, indem sie dem Kunden einen Vergleich vorschlugen. Ein Urteil in dieser Sache hätte fatale Auswirkungen auf die Finanzlage der Bundesagentur gehabt. Mit dieser, unserer Lösung kann sich kein Nachahmer auf ein solches Urteil berufen. Man könnte beinahe meinen, dass Sie die Kunden geradezu ermuntern, aufmüpfig zu werden und damit der Kaste der Advokaten und Rechtsanwälte zuarbeiten. Ich kann an dieser Stelle wohl verlangen, dass Sie mehr Teamgeist beweisen müssen. Was haben Sie dazu zu sagen? Wir hören.“

„Es sind heute eine ganze Reihe von Vorwürfen gegen mich vorgebracht worden. Leider entsprechen diese nicht alle der ganzen Wahrheit.“

In der Dienstberatung wurde es unruhig.

„Ruhe!“ befahl Voigt. Bewusst drückte er seine Stimmlage nach unten. „Welche Wahrheit denn? Es stimmt also nicht, dass Sie die niedrigste Vermittlungsrate haben, oder wie soll ich das verstehen?“

„Nein, das nicht, Herr Voigt. Aber Sie sollten weitere Fragen nach den Hintergründen stellen und nicht nur ein paar x-beliebige Zahlen auf eine Ihnen genehme Art und Weise interpretieren. Ich habe auch meine Statistik.“

„Da bin ich aber gespannt.“ Voigt lachte verächtlich.

„Ja, es ist richtig, ich habe 17 meiner Kunden in Arbeit gebracht. Alle 17 haben einen Job bekommen, der ihnen ein auskömmliches Leben ermöglicht. Den 23 vom Vormonat geht es ebenso. Alle sind aus unserer Statistik verschwunden. Nur zwei von ihnen mussten sich im ganzen letzten Jahr wieder im Jobcenter melden. So gesehen ist meine Tätigkeit hier durchaus ein Erfolg für die Betroffenen. Ich glaube nicht, dass Frau Krause eine ähnlich geringe Rücklaufquote hat. Es geht doch hier um Menschen und nicht um die Statistik! Haben Sie sich die Arbeitsangebote schon mal genauer angesehen, Herr Voigt? Was kommt denn für die Betroffenen bei der Annahme eines Großteils der möglichen Beschäftigungen unter dem Strich heraus? Würden Sie etwa einen 400-Euro-Job annehmen, der gleichzeitig von Ihnen verlangt, den eigenen PKW auf eigene Kosten zu Kundenfahrten zu nutzen oder täglich über 100 Kilometer zu fahren, um zur Arbeitsstelle und zurückgelangen? Sie wissen doch: Die Fahrtkostenpauschale gibt es von den gezahlten Steuern zurück. Und wer keine Steuern zahlt, hat eben Pech gehabt? Oder wie sehen Sie das? Was bleibt dann nach Abzug der Spritkosten, und ich spreche noch nicht einmal von verschleißbedingten Reparaturkosten, von diesen 400 Euro noch übrig? In einem anderen Angebot war sogar ein eigener PC Voraussetzung für die Aufnahme der Tätigkeit. Ehrlich gesagt, kann ich unter diesen Umständen niemanden in eine Tätigkeit unter Androhung von Sanktionen pressen, ja pressen, bei der ich annehmen muss, dass es für diesen Unternehmer nur um billigste Arbeitskräfte geht, die er so billig wie möglich auch wieder loswerden kann, wenn er sie nicht mehr benötigt. Wenn die Unternehmer nicht gezwungen werden, ihre Arbeitnehmer ordentlich zu behandeln und zu bezahlen, haben wir bald das Chaos und fast jeder braucht zum Überleben staatliche Unterstützung. Das dürfte dann sehr, sehr teuer für den Staat werden; oder, das ist viel wahrscheinlicher, die staatliche Unterstützung für die Betroffenen wird heruntergefahren werden.“

Voigt schnaufte und verfiel in seine höhere, normale Stimme. „Habe ich mich hier verhört, oder maßen Sie sich hier tatsächlich an, die Richtlinien des Landrates und der Bundesanstalt zu ignorieren. Das geht entschieden zu weit, Frau Gutrecht! Es geht bei den Richtlinien für die Vermittlung auch darum, dass unsere Kunden mit einem Minijob erst einmal einen Fuß in die Tür zum ersten Arbeitsmarkt bekommen. Immerhin ist es möglich, und das trifft noch viel mehr auf die Zeitarbeit zu, dass eine Minijobstelle in eine Vollzeitstelle umgewandelt wird. Diese Chancen sind immer vorhanden, wie mir Herr Maurer von der Power-PSA bestätigte.“

„Dass ich nicht lache!“, platzte Frau Gutrecht dazwischen. „Ihre Statistik scheint Wunschdenken zu sein.“

Blicke wechselten zwischen den Anwesenden, aber niemand anderes wagte es, eine Bemerkung zu machen. Verstohlen grinsten einige Mitarbeiter in die Hand.

Voigt hatte sich mit seiner Stimme wieder in Griff. Er ignorierte den Zwischenruf. „Es ist nun einmal so, dass der Kunde für eine Arbeit schon mal ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen muss. Nur soviel zu Ihrer Bemerkung zu den Spritkosten, Frau Gutrecht!“ Dabei schlug Voigt mit der Faust auf den Tisch.

„Genau so ist es“, bestätigte Frau Krause. „Ich selber habe im Interesse meiner Kunden gute Kontakte zu dieser Zeitarbeitsfirma aufgebaut. Ich finde, jeder der dieses Angebot annimmt, kann erhobenen Hauptes stolz auf die eigene Leistung sein. Es geht doch darum, das Gefühl zu entwickeln, wieder gebraucht zu werden.“

Voigt nickte ihr anerkennend zu.

„Stolz auf die eigene Leistung und wieder gebraucht werden“, parodierte Frau Gutrecht die Äußerungen von Frau Krause. „Dass ich nicht lache! Sie müssen noch viel lernen, Kindchen. Stolz und Gebrauchtwerden reichen für ein reales Leben leider nicht aus, meine Gute. Wenn ich arbeite, will ich mir auch was leisten können und in den Urlaub fahren können, aber zumindest nicht jeden Cent vor dem Ausgeben umdrehen müssen. Denken Sie mal darüber nach. Wohnen Sie eigentlich immer noch bei Mutti?“

„Was hat es mit meiner Beschäftigung zu tun, dass ich bei meiner Mutter wohne?“ Frau Krause brach in Tränen aus. „Was haben Sie denn immer gegen mich. Dauernd hacken Sie auf mir umher.“ Dann rastete sie vollkommen aus. „Und du, Justus, musstest du unbedingt meine Vermittlungen von Kunden anführen? Das hast du doch nur gemacht, damit ich von den anderen ausgegrenzt werde. Neid wolltest du provozieren und mich damit ausbooten, du widerliches Geschöpf. Ich glaubte, du liebst mich. Wie kann man mit solchen Kollegen auskommen. Wenn du das noch mal machst, bringe ich mich um!“ Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie sprang auf und verließ den Raum.

Irritiert blickten sich alle an. Fast niemand verstand, warum sich Evelin Krause derart unvorhersehbar irrational verhielt.

Frau Gutrecht reagierte als Erste und stürzte ihr nach. „Ich kenne das!“, rief sie, noch bevor hinter ihr die Tür ins Schloss fiel.

Wenig später kamen beide Frauen wieder herein und setzten sich wortlos.

„Alles wieder in Ordnung“, kam Frau Gutrecht den Fragen zuvor, um dann übergangslos zum Thema zurückzukehren. „Herr Voigt, Sie forderten mich auf, Stellung zu beziehen. Bitte, das tue ich hiermit. Ihr Urteil über mich ist doch sowieso schon gefällt. Dann hören Sie jetzt hier auch die ungeschminkte Wahrheit. Was den Fall betrifft, einem meiner Kunden zu raten, gegen das Jobcenter zu klagen, so habe ich das durchaus mit Augenmaß angeregt. Es ist einfach undemokratisch und verfassungsfeindlich, Kunden ihre Rechte vorzuenthalten, wie es aufgrund Ihrer spleenigen Vorgaben leider immer wieder geschieht. Hinter vorgehaltener Hand sagt das hier fast jeder. Seien wir doch ehrlich: Nicht die meisten unserer Kunden bemühen sich, zu wenig in Arbeit zu kommen, sondern es gibt einfach zu wenige geeignete Jobs, von denen unsere Kunden auch leben können. Das ist ein gewaltiger Unterschied, ein gewaltiger!“

Gemurmel kam auf. Bis auf wenige Anwesende schauten die meisten bei diesen Worten vor sich auf den Tisch.

„Ich ...“, setzte Frau Gutrecht erneut an.

„Schluss mit der Propaganda! Ich entziehe Ihnen das Wort. Ich dulde es nicht, hier politische Ansichten zu verbreiten.“

Frau Gutrecht war außer sich: „Ihre Vorgaben sind ebenso politisch geprägt, wie meine Anschauungen, Herr Voigt!“

Dienstag, 5. Oktober

Udo hasste die Tage, an denen er einen oder manchmal auch mehrere der kleinen gräulichen Briefe im Postkasten vorfand. Meistens stand dann irgendwelcher Ärger ins Haus. Dieses Mal war es eine Einladung des Jobcenters zur weiteren beruflichen Entwicklung, wie es hieß. Zu einer Einladung geht man oder auch nicht. Hier jedoch sollte man sich tunlichst hüten, der Einladung nicht zu folgen. Unterschrieben hatte eine Frau Krause, und nicht wie üblich Frau Gutrecht, mit der er in den letzten Jahren immer gut ausgekommen war, die mit beiden Beinen im Leben stand. Schon, dass die Frau Krause den Termin um 14 Uhr ansetzte, zu einer Zeit, zu der eigentlich schlafen musste, und die auch nicht bereit war, die Uhrzeit zu ändern, verärgerte Udo sehr. Nicht einmal das Argument, dass er Nachtwächter sei, konnte sie erweichen.

Nun saß Udo also im Jobcenter. Der Termin schon um mehr als eine Stunde überfällig. Udo hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Endlich der erlösende Satz: „Herr Voss, bitte“, gesprochen von einer blonden, schlanken, wohlproportionierten und modern gekleideten Frau so um die 30. In ihrer hautengen schwarzen Hose und den pinkfarbenen Pulli und ebensolchen Pumps ging sie zu ihrem Büro voran. Udo schloss die Bürotür hinter sich.

„Damit das gleich klar ist, Herr Voss: Sie starren mir nicht mehr auf den Hintern, wie eben, und diskutieren nicht über Termine. Wenn ich mich darauf einlassen würde, käme ich nicht zu meiner eigentlichen Arbeit. Wie ich Ihren Unterlagen entnommen habe, arbeiten Sie als Mitarbeiter in einer Sicherheitsfirma. Da Sie von aufstockenden Transferleistungen abhängig sind, werden Sie zwölf Bewerbungen im Monat vorlegen, die alle zum Ziel haben, Ihre Hilfebedürftigkeit schnellstmöglich vollständig zu beenden. Ich weiß, dass Frau Gutrecht, die nicht mehr unserem Team angehört, die Kontrolle dieser Auflage vernachlässigt hat. Die Erfüllung dieser Auflage ist die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit.“

„Entschuldigen Sie mal, Frau Krause, wissen Sie eigentlich, dass ich fast jeden Tag, das heißt, meist sieben Tage die Woche, elf Stunden arbeite, manchmal auch noch mehr. Wann soll ich da die zwölf Bewerbungen im Monat schreiben? Schlafen muss ich schließlich auch noch irgendwann.“

„Arbeiten nennen Sie das, das Kärtchen durch den Kartenleser zu ziehen oder so? Hören Sie, mein Vater ist etwa in Ihrem Alter und ich weiß, dass er höchstens fünf Stunden schläft, trotz körperlicher Arbeit. Es bleibt also noch genügend Zeit, Bewerbungen zu schreiben und sich in den Firmen vorzustellen, die ja wohl meistens tagsüber, also in Ihrer Freizeit arbeiten.“

Udo schluckte. Er hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Mit dieser Frau Krause konnte er beim besten Willen nicht zurechtkommen, das wurde ihm mit einem Schlage klar. Unklar war ihm jedoch, was Frau Gutrecht veranlasst hatte, ihren Job im Jobcenter aufzugeben. Mit ihr war er immer gut ausgekommen, auch weil sie immer ein offenes Ohr für seine Probleme gehabt hatte.

Freitag, 8. Oktober

Die Ohrstöpsel, ohne die Udo am Tage ohnehin nicht schlafen konnte, drückten unangenehm. Mehrmals nahm er sie heraus, knetete sie zurecht und schob sie sich wieder in die Gehörgänge. Erfolglos. Immer wieder kamen ihm die Ereignisse der vergangenen Tage in Erinnerung: die Rüge von seinem Chef und dann auch noch diese Krause mit ihren krausen Vorstellungen. Aber was hatte die gute Frau Gutrecht veranlasst, sich beruflich zu verändern?

Udo legte sich auf die andere Seite. Bald darauf kreisten seine Gedanken erneut um diese Ereignisse. Udo wusste nicht, wie viele Male er versuchte, durch eine Lageveränderung den quälenden Gedanken zu entkommen. Viele Male, gleich einem sich ständig wiederholen Echo hörte er seinen Chef mit hallig-metallischer Stimme sagen: Suspendierung, Suspendierung, Suspendierung. Gleichzeitig schien er zu lachen. Lachte er ihn aus? Schwer zu sagen. Er lachte nur und hielt Frau Krause eng an sich gepresst im Arm. Auch sie lachte, wohl über ihn. Udo hatte das Gefühl, immer kleiner zu werden. Im Stehen sah er die Sitzfläche eines Stuhls von unten. Bald konnte er sich im Gras der Wiese vor dem Haus seiner Eltern verstecken. Plötzlich wurde es dunkler. Im letzten Augenblick erkannte er, dass es eine Schuhsohle war, die ihm das Licht nahm. Voller Angst versuchte er davonzulaufen, doch die Grashalme waren viel zu stark. Er fühlte sich wie im Maisfeld. Immer weiter senkte sich die Sohle und drohte ihn zu zerquetschen. Mit schmerzenden Beinen fiel er hin. Keine Zeit aufzustehen. Auf allen Vieren versuchte er, davonzukommen. Der Boden war nass. Schlamm spritzte ihm ins Gesicht. Schon spürte er die Schuhsohle an seinem Hinterteil. Udo versuchte zu schreien. Ein Kloß in der Kehle verhinderte das. Schon wurde er niedergedrückt. Ein mystischer Schrei weckte Udo. Völlig durchschwitzt riss er die Augen auf und blickte in zwei dunkelbraune treue Hundeaugen. Hassos nasse Zunge fuhr ihm mehrfach übers Gesicht, das er sich dann mit seinem Schlafanzugärmel abwischte. Udo fröstelte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er selbst diesen Schrei ausgestoßen hatte, von dem er aus seinem Albtraum erwachte. Er schaute auf seinen Wecker, der vor fast zehn Minuten geklingelt hatte, ohne dass eine Hand ihn ausstellen konnte.

„Alles noch im grünen Bereich“, beruhigte er sich. „Alles ist nur ein Traum gewesen. Ein Traum, ein Traum“, wiederholte er, um es sich selbst glaubhaft zu machen.

In seinen Gedanken gewann die Realität wieder die Vorherrschaft über das Surreale. Den Rest besorgte die Tasse türkisch gebrühten Kaffees, die er noch in aller Ruhe schlürfen konnte, bevor sein Dienst begann. Ein Blick in die Näpfe sagte Udo, dass Hasso satt war. Gut so.

Samstag, 9. Oktober

Während der Fahrt zum Dienst wurde der alte Golf von kräftigen Sturmböen, die der Regen mitgebracht hatte, geschüttelt. Die nasse Fahrbahn verstärkte den Blendeffekt der Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge. Da half auch die gelbe Blendschutzbrille nicht mehr viel. Auf dem Hügel, über den die Landstraße führte, erkannte Udo die Lichter einer Warnblinkanlage. Wenig später wurde er von einem wild um sich fuchtelnden Mann bei einem einheimischen silbergrauen Fiesta angehalten, der ihn bat, seine hochschwangere Frau ins Krankenhaus zu bringen, da die Wehen bereits eingesetzt hätten. Vermutlich sei seine Achse gebrochen, meinte er. Udo wendete sein Fahrzeug und machte sich mit der Frau auf den Weg ins Krankenhaus. Wenn er sich ein wenig beeilte, würde er auf jeden Fall noch alle Anlaufstellen auf die Reihe bekommen, kalkulierte er. Er musste nur die Reihenfolge ein wenig umstellen. Das war nichts Besonderes. Ohnehin stellte er seine Fahrtrouten selbst zusammen.

„Danke, Sie brauchen mich nur bis zum Eingang zu fahren. Den Rest werde ich allein schaffen.“ Udo half der Frau aus seinem Wagen, brachte ihre Reisetasche bis vor den Eingang und setzte dann seine Fahrt zu den Kontrollen fort. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und auch der Sturm hatte an Kraft verloren. Guter Dinge und mit sich selbst zufrieden erledigte er, Hasso an der Leine führend, seine Aufgabe. „Keine besonderen Vorkommnisse“ konnte er immer wieder in sein Journal schreiben. So konnte es weitergehen.

Evelin Krause schreckte hoch. „Dieser Mistkerl!“ schrie sie in ihr nächtliches Zimmer. Der Wecker projizierte in roten Ziffern Zwei-Uhr-Achtundreißig an die Zimmerdecke. Mit beiden Fäusten trommelte sie gegen das Bettgestell. „Dieser Mistkerl hat eine andere“, schluchzte sie. Dabei hatte sie sich schon neben Justus Voigt in seinem roten Cabrio durch die Stadt fahren sehen. Alle Kolleginnen beneideten sie, dass sie sich den Chef geangelt hatte. Und dann das: Vor versammelter Mannschaft hatte er Neid auf sie geschürt, wegen ihrer guten Vermittlungsergebnisse, dieser Affe.

Vor allem diese Gutrecht mit den schlechtesten Ergebnissen. Ob er was mit ihr hatte? Wie sonst konnte sie sich solche Äußerungen erlauben. Und nun ist sie sogar noch befördert worden. Dabei hatte sie, Evelin, doch die besten Ergebnisse. Die müssen was miteinander haben! Angewidert schüttelte sie den Kopf. Offenbar steht er auf alte Weiber.

Nein, das konnte nicht sein. Sie fühlte förmlich seinen leidenschaftlichen Blick, wenn sie ihn auf dem Flur begegnete, und sie begegnete ihm ziemlich oft. Dass er sie liebte, brauchte er ihr nicht zu sagen. Das wusste sie auch so. Punktum.

Oder war er nur geil auf sie, geil um seine eigenen Gelüste zu befriedigen, wie bei einer Nutte. Na klar, er ließ sie überwachen, damit sie sich auf dem Flur begegnen würden. Anschließend schloss er sich in sein Büro ein.

„Justus Voigt, du dreckiger Kerl!“, brüllte sie. Der ist wie alle Vorgesetzten: hinterlistig und nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Dabei war sie gar nicht so abgeneigt, mit ihm auch mal so eine Nacht zu verbringen, ohne Verpflichtungen. Die Knechtel würde dann vor Wut überschäumen, frohlockte sie. Warum merkte er das bloß nicht, der Idiot. Als ob ihre Gedanken noch nicht ausreichten, kreischte sie „Du Idiot, du Idiot!“

Die Tür ging auf. „Evelin?“

Evelin schwieg. Ihre Mutter schaltete das Licht ein. Evelin saß verkrampft in ihrem Bett, die Hände zur Faust geballt und den Kopf auf die Brust gesenkt. Sie atmete schwer.

„Evelin, ich möchte dir helfen. Ich verstehe deine Gefühle gegenüber Voigt. Ich habe es an deinem Blick gesehen.“

Evelin nickte.

„Am besten du machst deine Arbeit so gut du kannst. Die fachliche Anerkennung kann und wird er dir dann nicht versagen.“

Langsam entkrampfte Evelin und legte sich. „Danke Mama.“

„Alles ist gut. Du brauchst den Schlaf, Liebes. Vielleicht solltest du doch mal eine stationäre Therapie machen? Denk’ mal darüber nach.“

„Quatsch! Beim letzten Mal haben die mich nur mit Pillen zugedröhnt. Ich stand völlig neben mir! Das weißt du doch, Mama!“

„Ist gut, Evelin. Und jetzt ruh’ dich aus.“

Die Mutter schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer. Es war anstrengend, sich immer auf Evelins schnell wechselnde Launen einzustellen. Die Mutter nahm das schwarz-weiße Buch über das manisch depressive Syndrom, das auf dem Nachttisch lag und las, bis sie zu müde wurde, um dem Inhalt zu folgen.

Je näher Udo kam, desto intensiver wurden die Blaulichtblitze, die über das abgeerntete Feld zuckten. Ihn packte die Sorge, dass er nicht zu dem Objekt durchkommen würde. Sollte er gleich umdrehen, um es andersherum zu versuchen? Das würde ihn eine viertel Stunde Umweg kosten. Mit jeder Überlegung näherte er sich dem Objekt der Softwarefirma. Udo war unentschlossen.

Die Büsche am Rande der Straße und die hügligen Felder ließen für einen kurzen Augenblick die Sicht frei. Udo bremste. Aufgestellte Scheinwerfer beleuchteten das Gebäude der Firma.

Beim Annähern konnte Udo keine Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr erkennen, nur Polizei und Krankenwagen. Was war passiert? Er fuhr bis nahe an die Absperrung heran und stellte den Motor ab. Hasso musste jetzt allein im Wagen zurückbleiben. Aufgeregt bellte er.

Während Udo bis an das Absperrband ging, blickte er sich um. Scheinwerfer erhellten die Umgebung. Ein etwa 40-jähriger Mann stieg gerade in das Einsatzfahrzeug, offenbar zur Befragung, ein. Zu einem andern Fahrzeug wurde ein Motorradfahrer mit Handschellen geführt. Für einen kurzen Augenblick konnte er das Gesicht erkennen. Sofort wurde er an seinen letzten Fall vor seiner ungerechtfertigten Suspendierung erinnert. Ja, diesen Rocker hatte er schon einmal selber verhört. Eine verdammt harte Nuss. Einen Augenblick hielt er inne. Wer hatte damals nur die Informationen an die Presse weitergegeben, deren Geheimhaltung so wichtig für die Ermittlung war. Wie oft hatte er darüber schon nachgedacht. Immer mit dem gleichen deprimierenden Ergebnis. Mit aller Gewalt riss er sich von diesem Gedanken los.

Udo stellte sich bei einem Beamten vor und fragte nach dem Einsatzleiter. Udo hörte das Funkgerät des Beamten rauschen.

„Kriminalhauptmeister Anderson. Bitte warten Sie hier. Ich werde Kriminaloberkommissar Fründt benachrichtigen.“

Mit dem Druck auf die Sprechtaste hörte es auf zu rauschen. „Hubert, ein Herr Voss ist hier. Er ist von der Sicherheitsfirma. Personalien habe ich schon überprüft.“

„Ist gut, ich komme gleich. - Udo, Udo Voss etwa?“, quäkte es aus dem kleinen Lautsprecher, der alle Stimmbesonderheiten verschluckte.

„Ja. Kennt ihr euch?“

Eine Antwort kam nicht aus dem Gerät.

„Du verstehst, Udo, dass wir auch dich als Mitarbeiter der beauftragten Sicherheitsfirma interviewen müssen. Du brauchst also erst gar nicht zu fragen, was passiert ist“, begann Hubert Fründt schon beim Näherkommen. „Aber lass' dich erst einmal begrüßen, alter Junge.“ Fründt gab Udo herzlich die Hand. „Es ist ja schon eine kleine Ewigkeit her!“

„Das kann man wohl sagen, Hubert. Trotzdem frag’ ich, was passiert ist. Vielleicht kann ich ja etwas zu den Ermittlungen beitragen. Mir schwant da so etwas, als ich eben den silbergrauen Fiesta hier stehen sah. Ihr habt also den Täter!?“

„Das fällt unter die Geheimhaltung. Das solltest du eigentlich wissen, Udo. Was, was ist denn mit dem Fiesta?“ Fründt konnte Udo nichts vormachen. Seine Fähigkeit, in Gesichtern zu lesen war in der Dienststelle legendär.

„Nun tu nicht so! Mir machst du doch nichts vor. Also, Klartext: Den Fiesta habe ich die Nacht schon einmal gesehen. Kennzeichen habe ich mir gemerkt, rein reflexartig, weißt du ja.“ Udo zog einen Zettel aus seiner Brusttasche und gab ihn Fründt. „Hab es aufgeschrieben, falls es Rückfragen vom Krankenhaus geben sollte. Zurück zum Fiesta. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass der anderthalb Kilometer über diese Buckelpiste bis hier her mit ’ner gebrochenen Achse fahren kann.“ Dann erzählte Udo dem Kriminaloberkommissar Hubert Fründt die Geschichte von der hochschwangeren Frau.

Montag, 11. Oktober

Udos Dienstnacht war ohne besondere Vorkommnisse verlaufen. Hasso lag auf der Rückbank und hatte seinen Kopf auf seine Vorderpfoten gelegt. Nur ab und zu öffnete er seine Augen, um nach dem Rechten zu sehen. Plötzlich stellte er sich auf und bellte kurz. Blaue Blitze und die Sirene eines Einsatzfahrzeuges der Polizei nötigten Udo am rechten Fahrbahnrand zum langsam Fahren. Trotz aufmerksamer Fahrweise hatte er sie erst jetzt, unmittelbar hinter ihm, bemerkt. Das Fahrzeug überholte den Golf.

„Polizei, bitte folgen“ blinkte in roter Leuchtschrift im Heckfenster auf. Das Polizeifahrzeug wurde langsamer und fuhr auf den Sandstreifen.

„Ist die rote Heckleuchte etwa ausgefallen?“ schoss es Udo durch den Kopf, „oder die Nummernschildbeleuchtung?“

Udo schaltete die Zündung ab.

Die Art, wie sich die beiden Polizisten dem Golf näherten, flößte Udo Angst ein.

„Eine Verwechselung, das kann nur eine Verwechselung sein“. Udos Puls raste.

Genauso, mit gezogener Dienstwaffe. Wie oft hatte er sich so früher Kriminellen zu seinem eigenen Schutz genähert.

„Ruhig bleiben, keine hektischen Bewegungen!“, pochte es von innen an seine Stirn. Er legte die Hände langsam aufs Lenkrad. Auf dieser Seite des Einsatzes fühlte sich die Lage noch bedrohlicher an. Udos Herz schlug ihm bis an den Hals. Auch wenn er wusste, dass es strenge Regeln für den Einsatz von Schusswaffen gab, war es ihm durchaus nicht egal, in den Lauf einer Pistole zu blicken. Würde der Gegenüber alle seine gewollten und ungewollten Bewegungen richtig deuten können?

„Platz!“, gab er Hasso den Befehl. Was war, wenn Hasso sich bewegte?

Nachdem er Zulassung und Führerschein ausgehändigt hatte, musste Udo sich mit den Händen auf dem kalten Blech seines schwarzen Golfs abstützen und die Beine spreizen. Wohl wissend, dass immer noch eine Waffe auf ihn gerichtet war, befolgte er die Anweisungen auf das Genauste. Die Leibesvisitation ergab keine Beanstandungen. Dennoch wurden ihm Handschellen angelegt und er wurde zum Einsatzfahrzeug geführt.

„Sie sind vorläufig festgenommen, Herr Voss, wenn der Name überhaupt stimmt. Sie werden des Führens eines Kraftfahrzeuges ohne gültigen Führerschein beschuldigt. Ihr Fahrzeug hat auch keine gültige Zulassung mehr und die Nummernschilder sind gefälscht. Zur Klärung der näheren Umstände nehmen wir Sie mit aufs Revier.“

Über Funk wurde die Dienststelle informiert.

Udo war fassungslos. „Bitte hören Sie! Hier liegt offenbar ein Missverständnis vor.“

„Diese Sprüche kennen wir“, war die Antwort.

Stimmt, von solchen Aussagen hätte ich mich auch nicht beeindrucken lassen, gab Udo für sich zu. Auch wenn Udo in diesem Falle wusste, dass es sich hier wirklich nur um einen Irrtum handeln konnte. An die Möglichkeit, dass die Polizisten in Wirklichkeit gar keine Polizisten waren, mochte er gar nicht denken.

Udo saß in der Zelle. Minuten fühlten sich wie Stunden an. Sein Chef verließ sich auf ihn. Mit Recht konnte er sich auf Udo verlassen, das wusste sein Chef; trotz aller Differenzen. Differenzen gab es nur bei der Auslegung der Kompetenzen. Naja, nur! Offensichtlich konnte Udo nicht damit rechnen, in den nächsten Stunden freigelassen zu werden. Noch war es Zeit einen Ersatz für die Kontrollaufgaben seiner Objekte zu beauftragen. Er musste dringend telefonieren.

Udos Chef war aufgebracht. „Ein Krimineller in meiner Wachfirma“, schrie er aus dem Telefon. „Was muss ich mir eigentlich noch bieten lassen: Erst am laufenden Band Kompetenzüberschreitungen und jetzt stellt sich heraus, dass der Kriminalkommissar A.D. selbst kriminell ist. Wirklich toll!“

Die Pritsche in Udos Zelle war keinesfalls mit dem kuschligen Bett bei ihm zuhause vergleichbar. Keine Beteuerung hatte bei dem Verhör genützt, dass sich alles um einen Irrtum handeln müsse. Ja, man hatte ihm nicht einmal gesagt, wie es Hasso ging und wo er war.

Fingerabdrücke wurden ihm abgenommen und eine Speichelprobe, also das ganze Programm beim Erkennungsdienst. Das endlose Verhör mit den sich immer wieder wiederholten Fragen hatte ihn nach der Nachtschicht für die Sicherheitsfirma an den Rand dessen gebracht, irgendetwas zuzugeben, nur damit er in Ruhe gelassen würde und endlich schlafen konnte. Genauso wusste er, dass es in diesem Falle erst richtig losging. Nichts hatte genützt, die Kommissare von seiner Unschuld zu überzeugen. Er wusste nicht mehr, wie oft er den Satz „Computer lügen nicht“ in den unterschiedlichsten Lautstären und Betonungen gehört hatte. Offenbar war auch niemand bereit, seine Geschichte mit der Suspendierung zu überprüfen. Dass sie unberechtigt war, hatte er noch gar nicht verlauten lassen. Höchstwahrscheinlich wäre dann der Kommissar in einen Lachkrampf ausgebrochen und er machte sich erst recht verdächtig. Er kannte die Verhörmethoden.

Udo legte sich hin und schoss die Augen. „Fristlos gekündigt“, echote er seinen Chef ein paar Mal „Fristlos gekündigt“, bevor er in einen ruhelosen Schlaf versank.

Dienstag, 12. Oktober

Nach vier Stunden Ruhe, in denen Udo auch nicht recht zum Schlafen kam, wurde er schon wieder ins Verhörzimmer gebracht. Udo wusste nicht, wie oft er beteuert hatte, dass es sich hier um einen Irrtum, offenbar einen Computerfehler, handeln musste. Irgendwann musste es den Beamten doch auffallen, dass hier etwas nicht stimmte, oder zumindest seinen Aussagen nachgehen. Lange musste er warten, bis der Kommissar den Raum betrat.

„Ihre Dokumente sind offenbar echt, wie haben Sie das gemacht, Herr Voss?“

„Herr Kommissar, die sind echt, weil es die Originalpapiere sind! Für Ihre Computerfehler kann ich nichts. Ich nehme auch an, dass Sie die angeblich eingezogenen Dokumente, also Führerschein und Zulassung nicht finden können. Und die werden Sie auch nicht finden können. Gefunden haben Sie auch keine Unstimmigkeiten zwischen meiner Zulassung und dem Fahrzeug, ganz zu schweigen von den angeblichen Unfallspuren. Das ist nun schon das zweite Mal, dass mir seitens der Polizei Unrecht angetan wird. Vor drei Jahren die ungerechtfertigte Suspendierung und jetzt will man mir eine Straftat anhängen. Was ist bloß mit Euch los?“

„Wir haben das nachgeprüft. Ihre Suspendierung damals bei dem Rocker-Fall war tatsächlich mysteriös, aber ungerechtfertigt?“ Der Kommissar hob unwissend Schultern und Hände.

Dass der Kommissar den Rocker-Fall erwähnte, bedeutete, dass man hier tatsächlich seine Angaben überprüft hatte.

„In unserer EDV sind Sie jedoch mit den Ihnen vorgeworfenen Eintragungen registriert. Deshalb waren Sie auch zur Fahndung ausgeschrieben.“

„Das kann doch nicht wahr sein!“, rief Udo dazwischen. „Ich bin unschuldig!“

Der Kommissar beschwichtigte Udo, indem er seine ausgestreckte Handfläche in der Luft nach unten drehte.

„Die eingetragenen Daten wurden inzwischen korrigiert.“

Udo wusste genau, was das bedeutete. Man konnte ihn nicht länger festhalten. Tief atmete Udo durch.

„Dass ich durch Ihren Computerfehler meinen Job verloren habe, geht Sie wohl nichts an, oder?“

Der Kommissar hob hilflos die Schultern. „Wenn Sie es schon wissen?“

Trotz der Aufklärung des Vorfalls wollte der Chef der Wachfirma seine fristlose Kündigung nicht zurücknehmen. Was blieb Udo nun anderes übrig, als beim Jobcenter vorzusprechen und der arroganten Frau Krause seine Situation zu erklären. Er stellte sich auf eine lange Wartezeit ein, bis er zu Frau Krause vorgelassen würde. Seine schlimmsten Erwartungen wurden übertroffen.

Schon während Udos Vortrag konnte Evelin Krause ihr triumphierendes Gefühl nicht verbergen, was bei Udo mannigfaltige Befürchtungen auslöste. Immer wieder betonte er seine Unschuld.

„So, Sie sind also fristlos gekündigt worden. Dafür ist laut unseren Sanktionsanweisungen eine vierteljährliche Sperrzeit vorgesehen!“, ließ Sie ihre Macht und ihren Triumph heraus. „Eine fristlose Kündigung belegt einen schweren Verstoß gegenüber dem Arbeitgeber.“

„Aber ich bin doch unschuldig da hineingeraten, Frau Krause. Rufen Sie doch auf dem Polizeirevier an, wenn Sie mir nicht glauben!“

„Haben Sie ein Schriftstück darüber? - Nein? - Dann ist alles für mich klar!“, begründete sie schnippisch. „Es gehört zu Ihrer Mitwirkungspflicht, alle Unterlagen und Beweise vorzulegen. Basta!“

Udo erhob sich von seinem Stuhl. „Hören Sie, Frau Krause, ich weiß nicht, wie oft ich noch beteuern soll, dass ich einem Computerfehler zum Opfer gefallen bin. Ich habe dafür schon meinen Arbeitsplatz verloren und jetzt wollen Sie mir auch noch die Lebensgrundlage nehmen?“ Udo schnaufte vor Wut. „Und bevor ich mich hier vergesse: Sie hören von meinem Anwalt!“

Udo nahm seine Sachen und riss die Tür auf, sodass sie mit Gepolter an den Schrank schlug und ging.

Udos Hände zitterten, als er die Fahrertür seines schwarzen Golfs aufschloss. Hasso winselte und leckte ihm beruhigend das Gesicht.

Schmarotzer

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