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Ich sah, wie unter der Tempelschwelle Wasser hervorströmte und nach Osten floss … Dieses Wasser fließt in das Meer, in das Meer mit dem salzigen Wasser. So wird das salzige Wasser gesund. Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können und sehr viele Fische wird es geben. Wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben.

An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihr Laub wird nicht welken und sie werden nie ohne Frucht sein. Jeden Monat tragen sie frische Früchte; denn das Wasser des Flusses kommt aus dem Heiligtum.

Aus Ezechiel 47

Die zweite Bekehrung

1. Am Ganges

Tertiat – das ist die dritte Probezeit im Jesuitenorden.1 Tertiat macht der Jesuit, der nun schon einige Jahre berufstätig ist, um seine letzten Gelübde ablegen zu können.

Ich erhoffte mir zunächst nicht viel von diesem Tertiat, absolvierte es in den USA, um nebenher zu erfahren, wie sie dort das sterbende Ordensleben und die sterbende katholische Kirche organisieren. Das entsprach meiner damaligen Situation durchaus: Beruflich in der Fortbildung von Ordensleuten engagiert, war ich mit dem Problem der Überalterung der Orden konfrontiert. Aber ich fühlte auch mein eigenes (geistliches) Leben stagnieren – trotz aller Mühe, die ich mir gab. Ich wollte Jesus nachfolgen, hatte eine Ahnung, was das bedeutet, und war doch nicht in der Lage, das Kreuz in meinem Leben anzunehmen. Heftige Teamkonflikte zwangen mich zum Ausscheiden, obwohl ich die Arbeit liebte. Ich pflegte die geistlichen Übungen meines Ordens (Schriftbetrachtung, Heilige Messe, Jahresexerzitien, aktives Mitleben in der Kommunität, deren Oberer ich überdies war) und praktizierte Meditation, meist in Form des Jesusgebets. Gleichwohl waren meine Lebensprobleme nicht gelöst: Meine Einsamkeit. Der Kampf mit dem Zölibat. Mein Verlangen nach nahen Beziehungen … . Vieles hatte ich unternommen, um besser damit zurechtzukommen. Würde ich mit diesem Stand bis zu meinem Lebensende auskommen müssen?

Und nun hatte ich mein Tertiat angetreten. Ich hatte keine Ahnung, dass es zu einer wesentlichen Zäsur in meinem Leben werden sollte. Es schenkte mir eine „zweite“ Bekehrung. Neben der Arbeit an der eigenen Biografie und den Geistlichen Übungen der dreißig Tage2 enthält diese geistliche Sabbatzeit auch ein sogenanntes Experiment, einen praktischen Einsatz, um mit der inneren Erneuerung in der Alltagspraxis zu experimentieren. Bei der Wahl des Experiments wurde mir, der ich zunächst einen Einsatz in den USA im Sinn hatte, allmählich ganz und unbezweifelbar klar, dass ich nach Indien gehen sollte, nach Kolkata, um dort den „armen und demütigen Jesus“ zu suchen und zu finden. Dort arbeitete ich zunächst in Mutter Teresas Sterbehaus für die Ärmsten mit. Aber ich fand ihn nicht, den ich suchte. Sollte ich vielleicht aufs Land gehen, um mich stärker auszusetzen? Um diese Frage zu entscheiden, verbrachte ich die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr südlich von Kolkata im Ashram eines Jesuiten. Dort geschah etwas mit mir, was mir Hoffnung gab: Von meinem Herzen schien etwas wie eine eiserne Klammer abzufallen, die es eingeengt hatte. Ich empfand Trost. Sollte ich auf die Spur zu der Erfüllung gestoßen sein, die ich ersehnte? Also entschied ich, länger an diesem Ort zu bleiben, an dem es „nichts“ gab: kein bequemes Bett, keinen Strom und damit kein Radio und kein Fernsehen, weder Internet noch Licht – es wurde morgens gegen sieben Uhr hell und nachmittags gegen sechs Uhr dunkel –, natürlich weder Zeitung noch Zeitschriften – allerdings eine kleine Bibliothek und ringsherum nur ärmlichste Fischerdörfchen: Shopping unmöglich.

Statt „mehr von Trost und guten Gefühlen“ erlebte ich in den folgenden acht Wochen jedoch geradezu das Gegenteil: Langeweile, Trockenheit und Leere, Unruhe und viel Ablenkung in Gebet und Meditation – und ich betete und meditierte viel, auch nachts, da ich es vor Rückenschmerzen auf der harten Pritsche nicht lange aushalten konnte. Meiner Unerfülltheit konnte ich allerdings nicht ausweichen. Sie war mein Begleiter bei allem, was ich tat. Und doch muss sich dabei im Hintergrund, von mir unbemerkt, etwas verändert haben. Denn eines Tages gingen mir die Augen auf und ich „sah“, dass ich in der Einheit mit allem und mit Gott lebte. Dass alles von Gott erfüllt war. Einfach so. Die natürlichste Sache der Welt, die weitergeht, wie sie immer weitergeht, weil sie nie anders war als von Gott erfüllt. Eine Tatsache, die vollkommen nüchtern lässt. Ein Faktum jenseits aller Gefühle. Nur war ich bisher blind dafür gewesen.

Und nun saß ich am Howgli, einem Mündungsarm des Ganges zwischen Kolkata und Diamond Harbour, und dachte darüber nach, wie ich nach diesen Erfahrungen meines Ashram-Aufenthaltes in Zukunft beten und leben könne. Wie betet man zu einem Gott, der einen umgibt und durchdringt wie die Luft? „In dem wir leben uns bewegen und sind, ja, von dessen Art wir sind“? (Apg 17,28). Wohin das Herz erheben, wenn Gott alles erfüllt? Was ihm sagen, was er nicht wüsste, der ich vor ihm bin wie ein offenes Buch?

Ich hatte in den zwei Monaten im Ashram intensiv Meditation geübt, dabei meine Atmung kontrolliert, um den Atem zu verlangsamen und doppelt so lange aus- wie einzuatmen, mich auf ein Chakra und ein Mantra konzentriert, das mein Mitbruder mir gegeben hatte. Das erschien mir nun so unbedeutend und künstlich, wie einen Eimer Wasser in den Howgli zu schütten, der hier, nicht weit vor seiner Mündung, bereits mehrere Kilometer breit war und das unendliche Meer erahnen ließ. Ozeanriesen schipperten auf ihm nordwärts nach Kolkata. Die Wellen plätscherten müde ans Ufer. Die Fischer rollten ihre Netze ein mit magerem Fang. Wozu diese Plackerei?, dachte ich. Wozu ‚gut‘ meditieren? Wozu perfekte Meditationstechnik? Wozu Konzentration auf ein Chakra oder ein Mantra? Ausgefeilte Meditationstechnik: das hat etwas von Überheblichkeit! Als könne man durch Perfektion Erleuchtung herstellen, quasi Gott zum Erscheinen zwingen und festnageln, ihn in einer Falle fangen wie ein seltenes Tier. Der Mensch bliebe der Herr dabei, nach dessen Pfeife Gott tanzt. Wenn alles von Gott erfüllt, alles mit Ihm verbunden ist, ganz gleich, worauf die Aufmerksamkeit trifft, ist dann nicht vielmehr Offenheit des Empfangens angebracht? Nehmen und Verweilen bei dem, was die eigene Aufmerksamkeit auf sich zieht? Es gibt nichts als Gott und seine Sphäre, in der auch der Mensch lebt, „denn in allem ist dein [Gottes] unvergänglicher Geist“ (Weish 12,1). Für das Gebet bedeutet dies, dass das Empfangen an erster Stelle zu stehen hat – und alles weitere Gott überlassen wird:

– Wenn ich bete und ich bin müde, gelangweilt, unruhig, unlustig, unandächtig, so gestatte ich mir, so da zu sein. Wenn Er es anders haben will, dann möge Er mein Gebet verändern.

– Wenn ich da bin im Gebet in Wut, Schuld, Scham, verlassen, ungeduldig, voller Empörung, voller Abwehr, dann bin ich da in Wut, Schuld, Scham, verlassen und ungeduldig, voller Empörung, voller Abwehr. Das ist der Mensch, den Er gerade im Dasein hält voll Liebe – wieso sollte ich diesen Menschen zurückweisen?

– Wenn ich im Gebet Angst oder Schmerzen habe, dann empfange ich mich in meiner Angst und meinen Schmerzen; beides gehört zum Leben, ist, zumindest jetzt und hier, Teil meiner Wirklichkeit.

Ich muss nichts verbessern, Unangenehmes nicht abkürzen oder wegschaffen. In der Zeit, in der ich bete, nehme ich mich so, wie Gott mich mir jetzt und hier gibt. „Ich nehme mich so“ – d. h. so, wie ich mich nehmen kann. Ich muss mir zubilligen, manches nicht nehmen zu können oder zu wollen; dann ist es das Abweisenmüssen oder -wollen, das ich da sein zu lassen habe: jeweils dasjenige, was bei mir jetzt und hier der Fall ist, was meine Wirklichkeit ist – soweit sie sich mir eben offenbart. Wenn Gott mein Herz zu sich erheben will, so soll er das tun ; geschieht es nicht, so ist das jetzt wohl nicht nötig oder nicht dran. Erzwingen brauche ich es nicht. Denn ich kann nicht kontrollieren, den zu finden, „den meine Seele liebt“ (Hld 3,1). Es geht nur darum, zu sein und sich komplett Gott zu überlassen. Ich höre auf zu beten wie gewohnt. Soll Er in mir beten! Ich muss gar nicht wissen, wie ich richtig bete; soll der Geist für mich eintreten (vgl. Röm 8,26).

Es war mir klar, dass dies mein zukünftiger Weg sein müsse. Und zugleich war mir himmelangst. Ich fühlte mich, als wenn ich nackt den Rubikon überschritten und den Boden rein diesseitiger Realität ohne Religion betreten hätte. Doch das Vaterunser machte mir Mut. Auf den ersten Blick steht der Beter als Akteur quasi in der Mitte, der von ihm angesprochene Vater ihm gegenüber. Wenn aber der Beter vom Geist des Vaterunsers durchdrungen wird, wandeln sich Schauplatz und Aufstellung: Der Beter findet sich dann am Rande eines Raums vor, der vor ihm existiert und ohne ihn fortwährt; der restlos aufgespannt und vollkommen erfüllt wird von der sich verströmenden Liebe des Vaters im Himmel. Dessen bedingungslose Hingabe an „Böse und Gute, Gerechte und Ungerechte“3 rührt so an sein Herz, dass darin ein Verlangen, eine Bitte vor allen anderen erweckt wird: nämlich dass dieser Vater als Quelle des Heils allüberall erkannt, anerkannt, ja gepriesen werde und sein Reich komme. Dann würde einem jeden zuteil, was er in seinem tiefsten Herzen zu seiner Erfüllung ersehnt. In diesem Raum darf der Beter da sein mit seiner Bedürftigkeit und seiner Sehnsucht. Er darf Empfangender eines Heils sein, das zu schaffen er gar nicht imstande wäre. Daher ist letztlich nicht des Beters Wille und Vorstellung maßgebend, sondern Gottes Wille. Im Geist des Vaterunsers ist der sich mitteilende, unbedingt liebende Gott die absolute Mitte, nichts und niemand sonst. Wie das ruinierte Land aus Ezechiels unter dem Tempel verborgener Quelle – siehe den Text zu Beginn dieses Kapitels – Gesundung, frisches Leben, Fülle erfährt, so der Mensch von Gott her, wenn er annimmt, was ihm gegeben wird. Das Gegebene ist das, was jetzt und hier da ist. Was sonst sollte es sein? Um es zu nehmen, sind eigene Erwartungen und Vorstellungen loszulassen, wenn sie dem Empfangen im Wege stehen. Aus dem Sich-zu-eigen-Machen der gegebenen Wirklichkeit erwachsen Antwort und Ver-antwortung: Einsatz für die Gerechtigkeit, so dass alle „ihr tägliches Brot“ bekommen, Vergebung, Unterlassung von Verführung. Wer im Geist des Vaterunsers lebt, verwirklicht Gotteskindschaft auf Erden.

Als ich Indien verließ und wieder nach Hause fuhr, war ich reich beschenkt, weit über das hinaus, was ich hätte erwarten oder auch nur erahnen können. Allerdings hatte ich auch Angst: Würde ich den Schatz dieser Erfahrung bewahren können im dekadenten Westen?

Ein Weg, den sich die Erfahrungen am Howgli bald suchten, um sich zu inkarnieren, war die Gründung des Ashram Jesu. Doch dauerte es Jahre, bis ich die Geschehnisse meines Tertiats wirklich verstehen konnte. Ich merkte es an der Unfertigkeit meiner Antworten auf die Frage von Gästen im Ashram Jesu – selbst nachdem dieser schon einige Jahre lief –, wo denn der Jesus sei, nach dem die Stätte heiße, er werde ja kaum je genannt. Ich war mir zwar gewiss, dass Jesus da war, vermochte jedoch seine Präsenz nicht so zu vermitteln, dass die von der Frage aufgebaute Spannung wirklich aufgelöst gewesen wäre. Ich war mir der Gegenwart Jesu sicher, doch die Frage war berechtigt. Langsam erschloss sich mir als eine erste Antwort, dass Jesu Gegenwart in der Weise liege, wie im Ashram gebetet werde, insofern das Gebet dort in erster Linie ein Hören ist. Ich lernte dieses Hören als Zentrum jeder Spiritualität zu sehen, die mit der Wirklichkeit, wie sie ist, zu tun haben will. Hören vollzieht sich nicht nur, solange geredet wird, sondern auch ganz wesentlich darüber hinaus! Hören ist ein Prozess aus folgenden Momenten:

1. Ein Signal von außen, ein Ruf, eine Anrede, aber allgemeiner auch eine Situation, ein Ereignis wird nach innen genommen, an sich herangelassen. Dies ist nicht selbstverständlich. Es gibt „Rufe“, äußere Wirklichkeiten, die uns nicht erreichen oder die wir nicht zur Kenntnis nehmen wollen.

2. Die nach innen genommene Wirklichkeit löst Wirkungen aus: innere Bewegungen wie Gefühle, Gedanken, Empfindungen, Wünsche, Ängste, Bewertungen, spontane Zustimmung oder Abwehr, innere Konflikte, geistige Gegebenheiten, was auch immer. Wer eine persönliche Antwort geben will, muss in die Tiefe gehen: dieses innere Feld kennen und unterscheiden lernen – bis etwas in ihm durchbricht.

3. In der Klarheit, die in einem solchen Durchbruch entsteht, kann die ureigene, die herangereifte und durchgebrochene Antwort gegeben und in die Wirklichkeit so eingegriffen werden, dass die innerste Mitte sich äußert, quasi Fleisch wird, sich inkarniert.

In der Tat ist dem Gebet eine Entwicklung zum Hören eigen, wie beispielsweise auch Kierkegaards Erfahrung bezeugt:

„Als mein Gebet immer andächtiger und immer innerlicher wurde,

da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen.

Zuletzt wurde ich ganz still;

ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist,

ich wurde ein Hörer.

Ich meinte erst, Beten sei Reden.

Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern Hören.

So ist es. Beten heißt nicht, sich selbst reden hören,

beten heißt still werden und still sein,

und warten, bis der Betende Gott hört.“4

Viele Menschen wissen, dass es in der Bibel ums Hören geht. Dass dies aber für die Spiritualität des alten wie des neuen Bundes fundamental ist, dessen sind sich nur wenige bewusst. Hören auf Gott, das Gehörte ernst nehmen und dementsprechend handeln – darum dreht sich die Bibel.

2. Hören in der Bibel

In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, und in den Evangelien haben wir es mit dem Verbum „ακουειν“ zu tun, das sowohl die sinnliche Wahrnehmung (eines Geräuschs) bezeichnet als auch das Vernehmen des Inhalts als auch das Verstehen des Inhalts, wenn es sich beim Gehörten um eine Aussage, Nachricht oder Kunde handelt, bis schließlich hin zum Beachten des Gehörten (Gen 23,17), ja dem Tun des Gehörten, das dann Gehorchen heißt (Ex 24,7). In der hellenistischen Mystik ist der Gedanke selten, dass die Offenbarung der Götter durch Hören aufgenommen wird. Nicht so im Alten Testament, wo „Hören“, „Hören und Tun“ zentrale Bedeutung haben. Den sehr häufigen Wendungen „so spricht der Herr“ u. ä. korrespondiert notwendigerweise das Hören und Aufnehmen des Wortes durch den Adressaten.

Die „Zehn Gebote“ werden im Buch Deuteronomium gerade nicht „geboten“, dekretiert, sondern eingeleitet mit den Worten: „Höre, Israel, die Gesetze und Rechtsvorschriften … Ihr sollt sie lernen, auf sie achten und sie halten“ (Dtn 5,1). Ein Prozess der Aneignung, der Meditation des Gesetzes, des immer tieferen Verstehens ist notwendig, damit das Halten der Gebote überhaupt möglich wird: eben Hören, das ein Prozess in der Zeit ist und nicht nur der Moment, in dem das Wort gesprochen wird. Ähnlich ist es beim Liebesgebot. Auch hier ist die Forderung nicht das Erste, sondern es heißt: „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4.5). Das Hören ist das Fundament, aus dem das Lieben erwächst. Umgekehrt reift im babylonischen Exil, als die exilierte Oberschicht weinend an den Flüssen Babels sitzt und nach der Ursache für die eingetretene Katastrophe forscht, die Überzeugung, dass das Nichthören auf Jahwe der wahre Grund für das Desaster des Staates Israel war. Man hatte noch andere Eisen im Feuer, z. B. den Baal, der für das Wirtschaftswachstum steht, und darüber geriet das Hören auf Jahwe zu kurz: Der Prozess des Hörens, wenn er überhaupt stattfand, wurde nicht zu Ende gegangen, er erreichte nicht das eigene Herz.

Scheinen im Alten Testament das Gesetz und die Propheten bzw. ihre entsprechende Auslegung das zu sein, worauf zu hören, was zu meditieren und sich anzueignen ist, geht Jesus weiter. Als frommer Jude steht er in der Tradition seines Volkes. Er kennt das Gesetz und besteht darauf, sich um seine Erfüllung zu mühen: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist“ (Mt 5,17 f). Liebe und Barmherzigkeit sind für ihn Prinzip und Ziel des Gesetzes. Daraufhin legt er es aus. Sein Horchen auf Gott jedoch geht weit über das hinaus, was das Gesetz regelt: Sein ganzes Leben stellt er unter den Willen seines Vaters. „Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 5,20). Die Bedeutung des Tuns des Willens Gottes zu betonen, wird er nicht müde. Wer hört und danach handelt, der gründet das Haus seines Lebens auf Felsen; einen solchen nennt Jesus „Freund“, und er ist sein wahrer Verwandter. Das Gebet scheint für Jesus ein herausragender Ort des Hörens zu sein: So beim Weggang aus Kafarnaum, um auch andernorts zu predigen (Mk 1,35 ff), so bei der Auswahl der Apostel (Lk 6,12–16), so auch, als er erkennen muss, dass Israel als Kollektiv sich seiner Botschaft verschließen würde. Vehement weist er den ihn vor der Passion bewahren wollenden Petrus zurück mit den Worten: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (Mk 8,33). „Was Gott will“, das ist es, was für Jesus zählt. Danach richtet er sich, nicht nach den Menschen, auch nicht nach ihren wohlmeinenden und entlastenden Vorschlägen. So wählt er die Annahme seiner Passion. Doch ist diese Annahme nach dem Zeugnis der Synoptiker ein Weg, der Weg des beständigen Weiterhörens: des Zulassens, In-ne-Werdens, Sich-Auseinandersetzens, Unterscheidens. Er mag begonnen haben mit dem Zulassen einer dunklen Ahnung von der Möglichkeit seiner Passion, entzündet an Zeichen der frühen Ablehnung durch die Pharisäer, genährt durch Verhaftung und Tod des Täufers. Als Jesus davon zu sprechen beginnt, hat er sich mit dem Widerstand, dem Unverständnis, der Scheu der Jünger und ihrer Angst auseinanderzusetzen. Dann kommt die Stunde, zu der er den Weg nach Jerusalem einschlägt, die Möglichkeit der Passion näherrückt und die Beweggründe unterscheidbarer werden. Bis zu seiner Verhaftung währt der sich verschlimmernde Kampf mit der ihm wie jedem Tier eigenen Abwehr von Schmerz und Tod (Mk 14,32 ff). Er wählt die Passion in Treue zu seinem wahren Selbst und der Maxime seines Lebens: „Abba, nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mk 14,36). Es gibt Wege, von denen man ganz tief weiß, dass man sie gehen muss, und die man in Freiheit wählt, obwohl sie alles kosten und den Angstschweiß aus dem Körper treiben.

Diese Ausweitung der Orientierung des Lebens an Gottes Willen über das in Gesetz und Propheten Gesagte hinaus auf alle Lebensvollzüge bedarf einer tieferen und umfassenderen Quelle der Erkenntnis, als Worte und selbst das Studium der heiligen Schriften sie vermitteln können. Diese Quelle liegt in der Unmittelbarkeit des Innersten, des Herzens als seiner Mitte, zu Gott. Diese spricht sich bei Jesus in unerhörten, blasphemisch anmutenden Worten aus wie: „Alles, was der Vater hat, ist mein“ (Joh 16,15) oder „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30) – und tatsächlich wird er wegen Gotteslästerung verurteilt (Mk 14,64). Diese Einheit kann nicht äußerlich oder an der Oberfläche bestehen, und die Kommunikation dieser Einheit muss im Innersten und im Besitz desselben Geistes vonstattengehen.

Zu einer solchen Kommunikation in der innersten Tiefe sind auch die Christen berufen. Die Oberfläche genügt nicht: weder oberflächliches Kennen – „Wir haben doch mit dir gegessen und getrunken, und du hast auf unseren Straßen gelehrt“ (Lk 13,26 f) – noch oberflächliche Frömmigkeit – „Herr! Herr! sagen“ (Mt 7,21) – noch auch große Werke: „… sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten, und haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mit deinem Namen große Wunder vollbracht?“ (Mt 7,22 f). Die Antwort ist immer dieselbe: „Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Gesetzes!“ (Mt 7,23). Der Neue Bund besteht darin, „Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein. … Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr“ (Jer 31,33–34). Der Zugang in die innerste Tiefe und Mitte des Menschen, in sein Herz, wird freigemacht, so dass er nicht mehr als Knecht die Aufforderungen von außen befolgt, sondern seinen Willen formt im Dialog seines Herzens mit Gott – wenn er bei den Bewegungen seines Herzens bleibt!

Der Wackelkandidat in diesem Dialogprozess ist der Mensch, der den Weg des Hörens nicht zu Ende geht. Er bleibt nicht dran, hat keine Ausdauer (Lk 18,1). Er klopft jetzt an oder sucht – ganz wichtig! –, im nächsten Moment jedoch ist er anderweitig beschäftigt und vergisst seine Absicht. Nur wer Suchender, Bittender, Anklopfender bleibt, den führt der Prozess von der Oberfläche weg in die Tiefe. Nur ihm wird „der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben“ (Lk 11,9–13). Ein solcher Mensch wird zum „Sohn“: „Der Sohn kann nichts von sich aus tun [der Mensch, der nicht Sohn ist, kann das schon], sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. … Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er tut …“ (Joh 5,16 f). Es sind letztlich Vertrauen in die Wahrheit und Hoffnung, die den Weg in die Tiefe erlauben. Je offener und vorbehaltloser der Mensch in den Prozess eintritt, je mehr er bereit ist, sich sozusagen zu lassen, zu wollen, was Gott will, umso mehr will Gott, was der Mensch will. „Dann wird euch der Vater alles geben, worum ihr ihn in meinem [des Sohnes] Namen bittet“ (Joh 15,16).

Das alles ist nicht fertig da. Doch auf dem Weg des Hörens erstarken die Voraussetzungen des Hörens: Glaube, Hoffnung, Liebe zur Wahrheit, so dass der Prozess langsam in die Tiefe wächst. Das Herz eröffnet sich langsam. Der Hörende reift allmählich in die Unmittelbarkeit zu Gott hinein, den er in diesem Prozess überhaupt erst entdeckt und kennenlernt. Langsam bekommt er Anteil an einer ungekannten, nicht vorstellbaren Seligkeit. Es ist entscheidend, immer wieder den „Schritt“ des Hörens zu wagen.

Der spirituelle Weg

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