Читать книгу Homestory - Die Enthüllung - Beth MacLean - Страница 6

Kapitel 2

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Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen und das unangenehme Quietschen der Bremsen verstummte. Tom öffnete schlaftrunken die Augen. Stundenlang hatte das gleichmäßige Geräusch der Fahrt ihn begleitet – lediglich unterbrochen vom Rattern, sobald sie eine Weiche passierten, oder vom Getöse beim Durchfahren von Tunneln. Nun herrschte Ruhe. Steif vom langen Sitzen richtete Tom sich vorsichtig auf, rieb seinen Nacken und sah sich blinzelnd im grell beleuchteten Abteil um. Er war der einzige Fahrgast. Draußen war es dunkel, also spiegelten die Fenster alles wider und Tom hatte das Gefühl auf dem Präsentierteller zu sitzen. Gut sichtbar für jeden, der von außen die Reisenden beobachten wollte.

Tom schluckte angestrengt und räusperte sich. Die trockene Luft, die in warmen Schwaden von der Heizung aufstieg, hatte seinen Hals ausgetrocknet. Er lehnte die Stirn an das kühle Glas, um ein paar Meter vom Bahnsteig überblicken zu können. In großen Buchstaben stand der Name seines Heimatortes auf einem Schild.

Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass er planmäßig an seinem Zielbahnhof eingetroffen war. Endstation. Dies traf nicht nur für seine heutige Reise zu, sondern auch für das Gefühl, das ihn vor Jahren nach London hatte ziehen lassen. Hier an der Küste, weit weg von den Großstädten, gab es nicht viele Möglichkeiten. Entweder arbeitete man als Fischer, im Hafen oder bot, wie seine Schwester Lynette, Touristen Zimmer mit Frühstück an. Seinen Lebensunterhalt allein mit der Zucht von Schafen zu bestreiten, war unmöglich geworden.

Tom erhob sich schwerfällig von der Sitzbank. Er schlüpfte in seine Jacke, schulterte den Rucksack und zerrte den Koffer von der Ablage. Mit einem letzten Blick vergewisserte er sich, dass er nichts hatte liegen lassen, und ging zum nächsten Ausstieg. Kalter Wind pfiff über die Gleise und ließ Tom frösteln, als er auf den spärlich beleuchteten Bahnsteig trat. Tom folgte den wenigen Personen, die aus den vorderen Waggons ausgestiegen waren, zum Bahnhofsgebäude und zog seinen Koffer hinter sich her. Das Häuschen aus grauen Steinen, die durch weiße Fugen voneinander getrennt wurden, mochte vielleicht bei Sonnenschein in den Augen von Touristen einen gewissen Charme besitzen. Jetzt allerdings wirkte es durch die flackernde Notbeleuchtung, als wäre es ein ausrangiertes Stück einer Miniatureisenbahn.

Tom umrundete das Gebäude auf einem schmalen Fußweg, wich den metallenen Sperrpfosten aus und blieb einen Moment auf dem Gehweg stehen. Blind tastete er in der Jackentasche nach seinem Handy, um seine Schwester anzurufen, überlegte es sich jedoch anders. Lynette hatte um diese Zeit bestimmt genug damit zu tun, sich um das Abendessen zu kümmern oder die Mädchen fürs Bett fertigzumachen. Da musste nicht auch noch er darum bitten, abgeholt zu werden. Außerdem würde ihm nach der langen Zugfahrt der etwa halbstündige Fußmarsch durch die Nacht guttun. Noch ein wenig Zeit, die ihm blieb, um seinen Gedanken nachzuhängen. Genau genommen war es nur ein Gedanke, der Tom beschäftigte. Der Gedanke an den Mann, der ihn im Sturm erobert hatte – und zwar im wahrsten Sinn des Wortes.

Er konnte nicht widerstehen, im Verzeichnis bis zum Namen ›Jake‹ zu scrollen, bereit, den Daumen auf das Feld zu drücken. Doch so weit durfte Tom nicht gehen. Sie hatten vereinbart, vorerst keinen Kontakt aufzunehmen. Einen Moment schwebte sein Finger über dem Display, ehe er das Menü ›Kontakte‹ schweren Herzens wieder schloss. Tom war hier bei seiner Schwester, hatte sich heute, am Tag, an dem sein Enthüllungsartikel erschienen war, klammheimlich nach Schottland abgesetzt, um dem Ansturm der Medien zu entgehen – und Jake war irgendwo in London, eine Tagesreise mit dem Zug von ihm entfernt. Nur Jakes Anwalt, Leland Harrison, der Tom im Prozess gegen dessen ehemalige Chefin Sharon Prescott vertrat, wusste, wo er sich aufhielt.

Entschlossen klappte Tom den Kragen hoch und marschierte los. Die Bahnhofstraße führte am Gebäude der Hafenaufsicht vorbei und umspannte das Becken, in dem sich der Fährverkehr abspielte, in einem großen Bogen. Landeinwärts lagen die Hallen des Fischmarktes sowie ein paar Pubs, ehe sich neben der Stadthalle das alte Rathaus, die Bank und dahinter die Wohngebiete anschlossen.

Tom folgte der Straße, die sich in einem langgezogenen ›S‹ den Hügel bei der Bucht hinaufschlängelte, und wurde hin und wieder von einem Auto überholt, das wohl ebenfalls die höher gelegenen Wohnhäuser zum Ziel hatte. In gleichbleibendem Rhythmus setzte er einen Fuß vor den anderen, atmete die kalte Luft tief ein und spürte den durch die Anstrengung kräftigen Puls. Inzwischen lief er neben der Fahrbahn im Gras. Lediglich der Koffer ratterte über den Asphalt. Der Gehweg und die Straßenbeleuchtung hatten schon vor einer Weile geendet und Tom war froh, dass wenigstens der Mondschein die Landschaft und die weit auseinanderliegenden Gebäude mit einem silbrigen Hauch überzog. Er blieb stehen, um den Rucksack zurechtzurücken und blickte kurz zurück. Unten in der Bucht und im übrigen Ortsgebiet leuchteten die weißen und orangefarbenen Lichter wie Sterne am Himmel – nur viel kräftiger. Die Wellen glitzerten, bildeten einen Kontrast zu den schwarzen Schatten am Ufer und über allem stand eine leuchtend helle Scheibe am Himmel. Sehnsucht überkam ihn. Gern hätte er die Ruhe und diese Aussicht mit Jake geteilt und Tom fragte sich, wann sie sich wohl wiedersehen würden und ob er Jake jemals seinen Heimatort zeigen konnte.

Nach einer kurzen Atempause setzte er seinen Weg fort, der ihn zum letzten Haus der kleinen Ortschaft führte, ehe die Straße hinter dem Hügel verschwand. Lynette und Marc hatten es nach ihrer Hochzeit von einem Witwer gekauft, dessen Sohn an der Ostküste in Edinburgh lebte und der seinen Vater hatte zu sich holen wollen. Recht war es dem alten Mann nicht gewesen, auf seine alten Tage noch einmal verpflanzt zu werden, aber er hatte sich gefügt und ein Haus voller Erinnerungen zurückgelassen.

Tom sah die erleuchteten Fenster im Erd- und Obergeschoss und vermutete, dass alle noch wach waren. Er bemerkte, wie sich ein Lächeln auf seine Lippen stahl und die Vorfreude auf das Wiedersehen ihn antrieb. Mit seinem Koffer im Schlepptau bog Tom schließlich am Schild, das auf mietbare Zimmer mit Frühstück hinwies, in die geschotterte Einfahrt ab und nahm im Vorbeigehen wahr, dass daneben auf dem kleinen Rasenstück eingeschweißte Paletten standen. Während Tom auf die Haustür zuhielt, nahm er die kantigen Gebilde in Augenschein und glaubte, Säcke und Holzlattengebinde zu erkennen.

Seine Schwester hatte nichts von einem Umbau erwähnt, aber im Moment gab es Wichtigeres, als sich darüber Gedanken zu machen. Sein Herz hüpfte. In der Hoffnung, Lynette, seinen Schwager Marc oder eines der Mädchen zu entdecken, ließ Tom seinen Blick schweifen, suchte in den Fenstern nach ihnen und blieb kurz darauf vor der Eingangstür stehen. Eilig stellte er seinen Rucksack auf den Boden, öffnete den Reißverschluss und zog das Teddybärchen, das er für die jüngste seiner Nichten mitgebracht hatte, gerade so weit hoch, dass der Kopf herausragte. Tom betätigte beherzt den Türklopfer, dessen Ring aus zwei metallenen Disteln bestand. Lächelnd hielt er den Atem an und lauschte. Im Haus schien einiges in Bewegung zu kommen. Stimmen wurden lauter und das Getrappel kleiner Kinderfüße näherte sich.

»Ja?«

»Ich bin’s … Tom«, antwortete er. Das Lachen seiner Schwester erklang, als sie die Kinder nachsichtig ermahnte, wegzugehen, damit sie öffnen konnte. Ungeduldig trat Tom von einem Bein auf das andere. Endlich schwang die Tür auf und Lynette stand vor ihm. Sie strahlte bis über beide Ohren, breitete die Arme aus und zog Tom noch auf der Schwelle stürmisch an sich.

»Hey Großer!«, begrüßte sie ihren jüngeren Bruder freudig.

»Hallo Lynnie!«, flüsterte Tom in ihre braune Lockenmähne und atmete den vertrauten Geruch von Vanille ein, der mit ihr aus der Wohnung wehte. Es tat gut, sie nach langer Zeit wieder in den Armen zu halten. Sie strich über Toms Rücken, umrahmte schließlich sein Gesicht mit beiden Händen und sah zu ihm auf.

»Schön, dass du Urlaub bekommen hast und endlich da bist«, flüsterte Lynette. Tom bekam ein schlechtes Gewissen. Es war kein Urlaub, es war eher eine Flucht.

»Ja, wurde endlich mal wieder Zeit, nicht wahr?« Tom zwinkerte ihr zu. Er umarmte sie fest, hob sie hoch und ließ sie erst nach unten rutschen, als sie anfing zu kreischen und ihn kichernd in die Rippen puffte. Dann wandte er sich lachend seinen Nichten zu, die wie die Orgelpfeifen hinter ihrer Mutter standen und das Begrüßungsspektakel zwischen ihr und ihrem Onkel mit großen Augen verfolgt hatten.

»Na, ihr drei?« Sobald Tom in die Knie ging, steigerte sich das Leuchten auf ihren Gesichtern. Die zwei älteren Mädchen stürmten auf ihn zu und warfen sich derart heftig in seine Arme, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Sofort hüllte ihn der süßliche Duft von Kindershampoo ein. Die Mädchen waren wohl frisch gebadet und in kuschelige Jogginganzüge gesteckt worden.

»Tommy!« Die zehnjährige Cate schlang ihre Arme fest um seinen Hals und drückte ihn. Sie war die Mutigste und Vorwitzigste. Ihr blondes Haar kitzelte an seiner Nase, während sie vor Aufregung hüpfte. Jedes Mal, wenn er seine Nichte sah, fiel ihm auf, wie sehr sie sich durch ihren hellen Teint von den übrigen Mitgliedern ihrer Familie unterschied. Marc, ihr Vater, machte hin und wieder Scherze darüber, dass sie wohl nach der Geburt einfach vertauscht worden wäre. Wobei Tom sicher war, dass sein Schwager Cate nicht einmal dann hergeben würde, wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte. Marc liebte alle seine Kinder abgöttisch.

Susan war sieben Jahre alt und als mittleres der drei Mädchen vereinte sie gleichwohl Charaktereigenschaften von Cate und dem zurückhaltenden Nesthäkchen Anny in sich. Sie lächelte selig und ließ sich von ihrer großen Schwester nicht dabei stören, sich an ihren Onkel zu kuscheln.

»Ich habe euch so vermisst«, murmelte Tom und wiegte die Mädchen hin und her. Nach einer Weile lösten sie sich von ihm, stellten sich zu beiden Seiten neben ihn und machten den Weg frei für Anny, die mit ihren vier Jahren die Jüngste und auch die Schüchternste war. Die Kleine hielt Abstand, wie immer, wenn Tom eine Weile nicht bei ihnen gewesen war. Aufmerksam beobachtete sie die beiden anderen, schmiegte sich jedoch im Moment noch an das Bein ihrer Mutter, die ihr ermutigend über das rotbraune Haar strich.

Tom schenkte ihr sein gewinnendstes Lächeln und winkte ihr zu, ohne den Abstand zu verringern. »Hallo Anny.«

Cate streckte einladend eine Hand aus. »Komm schon, Anny. Begrüße Tom«, redete sie aufmunternd auf die Kleine ein, doch die schien etwas viel Interessanteres als ihren Onkel entdeckt zu haben. Der Blick aus ihren grünen Augen flog zwischen Tom und dem Rucksack, der am Türrahmen lehnte, hin und her.

»Ich sehe schon«, ging Tom darauf ein, als er es bemerkte. »Du hast den Teddy entdeckt. Weißt du, Anny, der Kleine wollte unbedingt mitkommen, um dich kennenzulernen und bei dir zu bleiben.« Ein Ruck ging durch Anny. Die Versuchung, vorzupreschen, das Bärchen an sich zu nehmen und in die Riege ihrer Kuscheltiere einzureihen, schien groß zu sein. Nicht groß genug allerdings, um jegliche Vorsicht über Bord zu werfen und sich an Tom vorbei zu drängen.

Tom setzte eine ernste Miene auf und nickte bekräftigend. »Ich denke, er würde sich über eine Umarmung freuen. Wie wäre das?« Ein zaghaftes Lächeln umspielte Anny Lippen. Die Hoffnung auf einen neuen Spielkameraden gab offenbar den Ausschlag. Tom griff sich seinen Rucksack, stellte ihn näher zu Anny und öffnete den Reißverschluss. Zögernd machte sie einen Schritt, nahm das Stofftier und drückte es in inniger Umarmung an sich. Ihr glückliches Lächeln war für Tom das größte Dankeschön. »Euch beide habe ich natürlich nicht vergessen.« Er ließ Susan und Cate in den Rucksack greifen und schmunzelte, als sie eifrig die Päckchen tauschten, weil sie das der jeweils anderen erwischt hatten.

»Danke!« Cate und Susan verschwanden mit ihrer Beute und ließen Anny bei ihrer Mutter zurück.

»Schön, dass du immer an sie denkst und eine Kleinigkeit mitbringst.« Lynnie setzte einen tadelnden Blick auf. »Ich glaube, inzwischen rechnen sie schon fest damit, wenn ich deinen Besuch ankündige.«

»Du meinst, sie freuen sich mehr auf die Geschenke als auf mich?«, fragte Tom mit weinerlicher Stimme. Er legte seine Hand an die Brust und ließ seine Lippen zittern, ehe er auflachte.

»Nein, natürlich nicht. Sie würden dich bestimmt genauso herzlich empfangen, wenn du nichts dabeihättest. Du bist ihr Onkel – sie lieben dich!«

»Ja, ein alter Onkel. Ah!«, stöhnte Tom theatralisch, als sein Knie beim Aufstehen knackte. Anny sah ehrfürchtig zu, wie Tom den Koffer über die Schwelle wuchtete und absichtlich gebrechlich tat.

»Na, komm endlich rein. Ein paar Tage Erholung hast du dir wirklich verdient.« Lynnie zog ihren Bruder in die Diele und schloss die Haustür.

»Ob das Erholung wird?«, fragte Tom scherzhaft und legte einen Arm um seine Schwester, während aus dem angrenzenden Wohnzimmer das Poltern und Lachen der beiden Mädchen zu hören war. Anny tapste davon und schien überaus wichtige Dinge ins Ohr ihres neuen Teddys zu flüstern.

Tom wartete, bis Lynette das Licht in der Diele ausgeknipst hatte, und betrat zusammen mit ihr das Esszimmer, an das sich eine offene Küche anschloss. Im Grunde war es ein einziger großer Raum und Tom mochte das Gefühl von familiärer Gemeinschaft, das aufkam, wenn Lynette in der Küche werkelte und ihren mit Vanille aromatisierten Tee aufgoss, er mit seinem Schwager am Esstisch saß und erzählte, während die Kids auf dem Sofa oder auf dem Teppich spielten.

»Hast du Hunger? Wir haben schon gegessen. Ich mache dir aber gern noch Speck und Eier … oder lieber ein Sandwich? Was magst du trinken? Tee? Bier?« Fragend sah sie ihn an und blieb, fürsorglich, wie sie war, mitten in der Küche stehen. Bereit, ihm alle seine Wünsche zu erfüllen.

»Nur Wasser«, antwortete Tom und warf seine Jacke über einen Stuhl. Während sie eine Flasche aus dem mit Bildern und Zeichnungen beklebten Kühlschrank nahm, sie mit einem Zischen öffnete und das Mineralwasser in ein Glas goss, sah er sich um. Hier war alles beim Alten. Blumenampel über der Anrichte, Pflanzen und gebastelte Kunstwerke der Kinder auf den Fenstersimsen. Kein benutztes Geschirr neben der Spüle, auf der Arbeitsplatte standen nur die Geräte, die täglich gebraucht wurden – Toast, Mikrowelle, Kaffeemaschine. Nicht einmal Krümel lagen nach dem beendeten Abendessen auf der Tischdecke oder dem Kinderstuhl. Lynette war sich treu geblieben. Sie hatte ihm einmal gesagt, dass die Küche und das Esszimmer ihre Bereiche waren. Wenigstens in diesem überschaubaren Teil des Hauses wollte Lynette Ordnung haben und alle halfen nach ihren Möglichkeiten mit – dann war es Lynette egal, ob der Rest im Chaos versank. Sie brauchte das als Anker in ihrem Alltag und ihre Familie respektierte das. Tom fand, dass sie zu streng urteilte. Sie hielt auch alles andere vorbildlich in Ordnung. Die privaten Räume sowie die Zimmer, die sie an Gäste vermietete.

Tom fielen die Paletten in der Zufahrt wieder ein. Zumindest in dem Teil des Erdgeschosses, der der Familie vorbehalten war, deutete nichts auf Handwerkertätigkeiten hin. Die hell eingerichtete Küche mit den Glasfronten war aus dem gleichen Holz gearbeitet wie der Essbereich. Eine optische Trennung zum Wohnzimmer wurde dadurch erzielt, dass die Bodenplatten dort dunkler waren und die Farben des Sofas und des Fernsehschranks gedeckter ausfielen.

Tom schmunzelte. Im Augenblick herrschte dort grandiose Unordnung. Die Mädchen hatten alle Sessel und Sofateile an den kniehohen Tisch geschoben, sodass zwischen den Möbelstücken schmale Gänge entstanden waren. Unzählige Decken und Tücher überspannten das Arrangement und hatten ein Gebilde ähnlich einem Ameisen- oder Maulwurfhügel entstehen lassen. Überall auf dem Boden lagen Puppen, Kissen und Teile irgendwelcher Spiele verstreut.

Cate und Susan betätigten sich als Baumeister. Sie zogen an den Enden einiger Tücher, spannten sie frisch und fixierten sie mit Wäscheklammern an angrenzenden Decken. Tom kniete sich auf den Boden und spähte in das höhlenähnliche Monstrum. Anny saß mit einer Taschenlampe unter dem Wohnzimmertisch, hatte ihre Lieblingsstofftiere um sich geschart und lächelte ihn schüchtern an.

»Da hast du dir aber einen schönen Platz ausgesucht« Tom fühlte sich für einen Moment in seine Kindheit zurückversetzt. Auch er hatte es geliebt, imaginäre Burgen zu bauen und Abenteuer zu bestehen. Seine Körpergröße machte ihm hier allerdings eindeutig einen Strich durch die Rechnung. Sollte er versuchen, sich in die engen Gänge zu quetschen, würde er wahrscheinlich das ganze Bauwerk einreißen.

»Oh, nein!«, rief Susan. Die Decke, die sich eben noch wie ein Baldachin gespannt hatte, sank herab.

»Nicht loslassen!«, wies Cate ihre Schwester an und wandte sich dann an ihren Onkel. »Hilf uns! Schnell!« Tom hatte sich im Nu einen Überblick verschafft und den Fehler in der Statik gefunden. Er rückte das Sofa zurecht, beschwerte eine Decke mit einem Stapel Bücher und betrachtete zufrieden sein Werk.

»Ja, so ist es besser«, befand Susan, verschwand mit Cate im Tunnelsystem und klappte an dem Eingang, der auf Seite der Küche lag, ein Geschirrtuch herunter, damit sie vor neugierigen Blicken geschützt waren.

Tom schlenderte zum Esstisch, wo Lynette Platz genommen hatte und das Wasserglas für ihn bereitstand. Sie hatte den Kopf aufgestützt, lächelte ihn an und rührte in ihrem Pott, aus dem die Kette eines Tee-Eis hing.

»Wo ist eigentlich Marc?«, erkundigte Tom sich nach seinem Schwager.

Lynette winkte ab und rollte mit den Augen. »Diese Woche musste er die Spätschicht übernehmen. Es gab einige Krankheitsfälle. Das einzig Gute ist, dass er sich dann tagsüber um die Schafe kümmern kann – wenn nötig. Vielleicht bist du noch wach, wenn er in ein paar Stunden heimkommt.«

Tom prustete und unterdrückte ein Gähnen. »Mal sehen. War ein langer Tag. Ich habe einen frühen Zug genommen, bin in Glasgow und Dalmuir umgestiegen und habe das Stück vom Bahnhof zu euch zu Fuß zurückgelegt.« Er ließ sich gegenüber seiner Schwester auf einen Stuhl fallen.

»Kein Taxi?«, foppte Lynette. »Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte dich doch abgeholt.«

»Nein, schon gut. Ich wollte dir keine Umstände machen, damit du dich in Ruhe um die Mädchen kümmern kannst … und Marc wäre eh nicht da gewesen. Ein bisschen Bewegung schadet nicht. Wie geht’s ihm eigentlich? Wollt ihr was Größeres auf die Beine stellen? Ich habe das Baumaterial in der Einfahrt gesehen.«

Lynettes Lächeln verschwand. »Wir haben uns einiges vorgenommen und wollen die oberen Zimmer renovieren. Es ist wirklich dringend nötig. Dadurch, dass Marc im Moment andere Arbeitszeiten hat, bekommt er zum Glück einen Zuschlag.« Sie lachte auf. »Und den haben wir auch bitter nötig. Zum einen geht der Umbau ganz schön ins Geld. Zum anderen müssen wir den finanziellen Ausfall auffangen. Es wird noch Wochen dauern, bis wir wieder zahlende Gäste haben werden.« Eine Sorgenfalte erschien auf ihrer Stirn, während sie das Tee-Ei abtropfen ließ und auf die Untertasse legte.

»Solange ich hier bin, helfe ich euch natürlich beim Renovieren … oder ich beaufsichtige die Rasselbande. Sag mir einfach Bescheid, wo’s fehlt, okay?«

»Das ist lieb.« Das Leuchten kehrte in Lynettes Augen zurück, als sie sich verschmitzt zu ihm beugte. »Aber du sollst deine Zeit hier bei uns genießen.« Lynette schlürfte vorsichtig an dem heißen Getränk. »Wollte Lauren denn nicht mitkommen?«

Tom spürte, wie sich Hitze auf seinen Wangen ausbreitete. Es war klar, dass das Gespräch irgendwann auf seine Ex-Freundin kommen würde. Bislang hatte er es vermieden, etwas von ihrer Trennung zu erwähnen. Aber im Vergleich mit den Dingen, die noch auf Tom zukamen, fiel die Sache mit Lauren überhaupt nicht ins Gewicht.

Tom räusperte sich und fuhr sich durch das Haar. »Wir sind nicht mehr zusammen«, gab er ohne Umschweife zu und wich Lynettes erstauntem Blick aus.

»Was? Warum? Was ist passiert? Seit wann?«

»Erst seit Kurzem. Es hat einfach nicht mehr gepasst, also ist sie gegangen«, erwiderte er lahm, zuckte mit den Schultern und versuchte sich an einem Lächeln. »Es ist okay, wirklich. Ich habe damit abgeschlossen.«

»Schade.« Tom war sicher, dass Lynette damit nicht Lauren meinte, die sie ohnehin nur einmal getroffen hatte, sondern es allgemein bedauerte, dass ihr Bruder wieder allein war. Was ja nicht stimmte. Er war heimlich mit Jake Crawford liiert. Der Gedanke beschleunigte seinen Puls und der Wunsch, Lynette von Jake zu erzählen, wurde schier übermächtig. Er konnte regelrecht spüren, wie sich die Worte in seinem Hals sammelten und dort einen unangenehmen Druck verursachten. Toms Herz schlug dumpf in seinem Brustkorb und trieb das Blut durch die Adern. War jetzt der richtige Augenblick? Sollte er es wagen und ihr von dieser unglaublichen Neuigkeit erzählen? Tom holte tief Luft – und sackte dann entmutigt wieder zusammen. Er brachte es nicht über sich, seine Schwester einzuweihen. Nicht, weil er Bedenken hegte, dass sie es herumerzählen würde, sondern weil er Angst davor hatte, nicht das erhoffte Verständnis in ihren Augen zu sehen.

»Ihr werdet schon eure Gründe gehabt haben.« Für Lynette schien das Thema damit erledigt zu sein, denn sie hob eine Augenbraue. »Lass uns über was anderes reden, ja? Die wirklich interessanten Dinge des Lebens!« Lynette lachte und als hätte sie erraten, dass Tom sich Gedanken über Jake machte, stand sie auf und holte eine der Zeitschriften aus dem Wohnzimmerregal. Stolz lächelnd schob Lynette sie über den Tisch zu Tom.

»Etwas spät, aber ich habe sie mir gekauft. Schon unglaublich, so einen berühmten Bruder zu haben.«

Sein Atem stockte. Es war genau jene Ausgabe seiner ehemaligen Redaktion, in der Jakes Homestory erschienen war. Ihm wurde heiß, als die Erinnerungen an die Nacht auf der Insel mit voller Wucht über Tom hereinbrachen.

»Jetzt haben wir endlich Zeit, ausgiebig über das Interview und dein Treffen mit einem absoluten Superstar zu reden. Es war bestimmt unglaublich, ihm gegenüberzustehen. Am Telefon warst du ja nicht sonderlich gesprächig. Ich will alles wissen! Und ganz nebenbei … die meisten aus dem Ort ebenfalls. Alle Nase lang werde ich auf das Interview und die anschließende Homestory angesprochen.«

Tom stöhnte innerlich auf. »Ich dachte, hier interessieren sich alle nur für Änderungen im Fahrplan der Fähre oder den nächsten Termin der Schafauktion … und nicht für irgendwelche Artikel in Klatschblättern.« Er sah sich schon, wie er die Tage im Haus verbrachte, weil er sich vor neugierigen Nachbarn nicht retten konnte.

»Tja, da liegst du falsch.« Sie zog eine Schnute. »Aber jetzt erzähl endlich! Ich wusste schon immer, dass du zu Höherem berufen bist«, scherzte Lynette.

»Das würde ich so nicht sagen und da gibt es auch nicht viel zu erzählen. Ich wurde dazu verdonnert, ein Interview mit Jake zu führen … anfangs war ich nicht gerade begeistert … und dann –«

»Moment!« Lynette hob eine Hand. »Wie darf ich das verstehen … Jake? Du nennst ihn beim Vornamen? Einfach so?«

»Ja.«

»Wow, wie kam das? Macht … Jake … das bei jedem? Wie ist er so?« Lynette hing gebannt an seinen Lippen.

»Nett.«

»Nett? Nur nett?«

»Na ja … er ist … toll. Umgänglich, überhaupt nicht abgehoben.« Und wahnsinnig sexy, fügte Tom in Gedanken hinzu.

Lynette tippte auf das Cover. »Du hast ihn innerhalb kürzester Zeit sogar zweimal getroffen … und dann diesen genialen Artikel geschrieben. Deine Chefin kann wirklich froh sein, dich zu haben.«

Ihm wurde ein wenig übel. »Das bezweifle ich.«

Toms Schwester sah ihn irritiert an. »Wie meinst du das?«

»Ich arbeite nicht mehr bei WM.«

»Oh, wurdest du abgeworben?«

»Nein. Genau genommen arbeite ich im Moment überhaupt nirgends.« Entschuldigend zuckte Tom die Schultern. »Deswegen kann ich euch leider beim Umbau nicht sofort in dem Maße finanziell unterstützen, wie ich es gern täte. Erst später … wenn ich das Honorar für den Artikel erhalten habe.«

»Geld? Von dir? Ich bitte dich. Das ist doch überhaupt nicht der springende Punkt. Sag mir lieber, warum du deinen Job los bis? Du hast doch gern dort gearbeitet, oder? Willst du dir was anderes suchen? Du müsstest doch jetzt überall grandiose Chancen haben. Hast du etwa vor, ins Ausland zu gehen?« Alarmiert zog sie die Stirn in Falten.

»Nein.« Tom holte seinen Rucksack aus der Diele und zog die Zeitschrift heraus, die er heute quasi druckfrisch an einem Bahnhofskiosk erstanden hatte. Offenbar hatte Lynette noch nichts von seinem Enthüllungsartikel mitbekommen. Er schob das Magazin über den Tisch. »Das ist der Grund. Der Artikel ist heute erschienen. Ich habe mir schon gedacht, dass du ihn noch nicht gesehen hast und … ich wollte persönlich mit dir reden«, fügte Tom hinzu, wobei er noch nicht sicher war, ob dieses Gespräch auch seine Verbindung zu Jake beinhalten würde.

Mit großen Augen überflog sie die Schlagzeilen auf dem Cover und begann dann, hektisch zu der entsprechenden Seite zu blättern. Tom wartete schweigend ab, bis sie alles gelesen hatte.

Lynettes Stimme klang zunächst schrill, dann warf sie einen kurzen Blick ins Wohnzimmer zu den Kindern und besann sich. »Du zeigst deine ehemalige Chefin an, weil sie dich dazu benutzt hat, Jake Crawford zu erpressen, um an die Homestory zu gelangen?«

»Gut zusammengefasst.«

»Du kannst das unmöglich alleine durchziehen.«

»Ich weiß … muss ich ja zum Glück nicht.« Tom stöhnte auf und fuhr sich durch die Haare. »Was bitteschön hätte ich denn tun sollen? Ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen und habe mich geweigert, dabei zuzusehen, wie sie mit Menschen umgeht, als wären sie Figuren auf einem Spielbrett. « Er hob beschwichtigend die Hände. »Hör zu, Lynnie. Ich stecke da ziemlich tief drin und es könnte noch ganz schön heikel werden. Was ich dir sagen kann, ist, dass ich mit Leland Harrison einen tollen Anwalt habe, der mich in dieser Sache unterstützt. Bitte mach dir keine Sorgen, okay? Es gibt stichhaltige Beweise und Zeugenaussagen. Ich stehe regelmäßig in Kontakt mit der Kanzlei und auch Nelly hat sich heute schon bei mir gemeldet. Sharon Prescott wird sich verantworten müssen. Anscheinend hat sie bereits ihren Schreibtisch geräumt.«

»So schnell? Dein Text ist doch heute erst erschienen, oder?«

»Ja. Aber … bereits vor der Veröffentlichung des Enthüllungsartikels hat sich Harrison mit der Staatsanwaltschaft in Verbindung gesetzt. Die Sache läuft auf Hochtouren.«

»Und … was denkst du, wie Jake Crawford reagiert? Warte!«, rief sie aus, als sie die gesamte Tragweite überblickte. »Wenn die Homestory nur wegen Prescotts Erpressung zustande kam … dann wusste er bereits davon während eurer Zusammenarbeit!« Lynettes Augen wurden groß und sie starrte Tom mit offenem Mund an. »Wie hat er sich verhalten? Wie seid ihr miteinander ausgekommen? Konntest du den Sachverhalt klären? Hat er dir abgenommen, dass du nichts damit zu tun hast?«

»Ja. Zum Glück. Er war es auch, der den Kontakt zu seinem Anwalt hergestellt hat. Aber bitte, Lynette, zu keinem ein Wort, okay? Sonst kann die ganze Sache vielleicht noch kippen.«

Lynette wischte durch die Luft und zog die Augenbrauen zusammen. »Ja, ja, schon klar. Aber … was wirst du jetzt tun … ich meine … wie geht es jetzt weiter?«

»Tja, vorerst werde ich hier bei euch bleiben. Ich kann nicht zurück nach London. Der ganze Trubel in der Redaktion … und bestimmt auch vor meiner Wohnung.«

»Deiner Wohnung?«

»Na klar, oder denkst du, dass alle dichthalten und die Personalabteilung meine Adresse löscht? Ich bin keine Insel, Lynnie, so ein, zwei Menschen wissen schon, wo ich lebe«, erwiderte Tom sarkastisch »Der Versuchung, zum Tippgeber zu werden, können sicher nicht alle widerstehen. Ein paar Sensationslustige werden bestimmt versuchen, mich dort abzupassen.«

Lynette verschränkte die Arme vor der Brust. »Da können sie lange warten. Du bleibst erst mal hier.« Sie verstummte und starrte nachdenklich vor sich hin. Dann wurden ihre Gesichtszüge weicher. »Du tust das Richtige. Ich bin stolz auf dich. Das weißt du, oder?«

Tom drückte die Hand seiner Schwester. »Ich weiß.« Er fühlte sich erschöpft, wollte die Last des Schweigens nicht länger mit sich tragen. Nach einem tiefen Atemzug setzte er an, um die letzte Hürde zu nehmen. »Da ist noch etwas. In letzter Zeit … ist viel passiert. Jake und ich … wir haben nicht nur die Homestory –«

»Mami!« Mit einem spitzen Schrei und geröteten Wangen rannte Anny auf Lynette zu, kletterte auf den Schoß und suchte Schutz vor ihrer Schwester. Breitbeinig blieb Susan in gebührendem Abstand stehen und stemmte die Fäuste in die Seiten.

»Gib mir die Pferde!«, verlangte sie, streckte die Hand aus und erwartete die Herausgabe.

»Nein!« Trotzig schüttelte Anny den Kopf.

»Hey, was ist denn los?«, versuchte Lynette, sich einen Überblick zu verschaffen.

»Ich will die Farm aufbauen, aber Anny hat beide Pferde genommen«, beklagte sich Susan.

Lynette schloss für einen Moment die Augen und seufzte. »Zum Glück sind es zwei Pferde. Schatz, such dir eins aus. Das andere gibst du Susan. Später könnt ihr tauschen. Dein Teddy kann sowieso nur auf einem reiten«, vermittelte sie zwischen den Geschwistern.

Im ersten Moment sah es so aus, als wollte sich die Kleine dem Vorschlag ihrer Mutter verweigern. Dann jedoch begutachtete sie nachdenklich die Plüschtiere in ihren Händen und entschied sich für das braune. Ohne weitere Zwischenfälle zogen die beiden ab.

Durch diese Unterbrechung war der Moment, in dem Tom seinen Mut zusammengekratzt hatte, leider vorüber. Aufgewühlt verschob er das Gespräch auf später – auf irgendwann, wenn er bereit dazu war.

Lynette stützte die Ellenbogen auf den Tisch und massierte sich die Schläfen. Sie wirkte müde und unter ihren Augen waren dunkle Ringe sichtbar.

»Entschuldige. Die beiden sind in den letzten Tagen oft wie Hund und Katz. Außerdem sollte ich Anny so langsam ins Bett stecken«, wandte sie sich mit einem dünnen Lächeln an Tom. »Was wolltest du sagen? Jake und du …«, griff sie Toms Satz wieder auf. »Ich kann mir vorstellen, dass ihr so einiges wegen Sharon Prescott durchgemacht habt. Du vor allem. Er wird den Kampf mit der Presse ja gewohnt sein.«

Tom winkte ab. »Ach, lassen wir das. Ich will einfach den Kopf freikriegen und wenigstens kurz mal alles hinter mir lassen.«

Lynette seufzte. »Was hältst du davon, dich oben einzuquartieren, während ich mich um die Gutenachtgeschichte für die Kleine kümmere?«

»Gute Idee.«

»Ab morgen darfst du das übernehmen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich zeige Tom sein Zimmer. Bin sofort wieder da«, gab Lynette den Mädchen Bescheid. »Und dann ist Schlafenszeit«, fügte sie mit einem Blick auf Anny hinzu.

»Nein!«, kam prompt die Antwort. Lynette trat in die Diele, drehte sich zu Tom um und ging dann rückwärts weiter. »Momentan ist alles ein bisschen chaotisch.« Sie zeigte zur Tür am Ende des Ganges, auf der ein Schild mit der Aufschrift ›PRIVAT‹ angebracht worden war. »Marc und ich schlafen im hinteren Zimmer, die Mädchen vorübergehend oben. Wenn der Umbau abgeschlossen ist, wird es im ersten Stock vier Gästezimmer geben und wir fünf ziehen ins Dachgeschoss.« Sie zeigte nach oben und betrat die erste Stufe. Tom ließ seinen Blick über einen mit Aufstellern und Prospekten bestückten Tisch schweifen. Fahrpläne der Fähren, Visitenkarten ortsansässiger Pubs und Restaurants, Notizzettel und Stifte waren akkurat angeordnet, ließen aber noch genügend Platz für das große Gästebuch, in das sich jeder Besucher mit Lob oder Anregungen eintragen durfte. An der Wand hingen die Schlüssel für die Gästezimmer, nummeriert mit glänzenden Ziffern und jeder versehen mit einem individuellen Anhänger. Die Nische unter der Treppe war auf diese Weise platzsparend zu einer Art Empfang umfunktioniert worden.

Er warf den Rucksack über die Schulter und zog seinen Koffer zur Treppe, die seine Schwester bereits zur Hälfte emporgestiegen war. Ihre Schritte wurden durch den Teppich gedämpft, der auf den Trittflächen klebte. Deutliche Gebrauchsspuren wie Flecken, eingetrocknete Gipsklumpen und Abschürfungen an der Wand zeugten von der Notwendigkeit, auch diesen Teil des Hauses einer Erneuerung zu unterziehen, sobald oben die Renovierungsarbeiten beendet waren.

Lynette stützte sich auf das Geländer und wartete, bis Tom das erste Stockwerk erreicht hatte. Hier befanden sich die vier Zimmer, an die sich jeweils ein Bad anschloss und die seine Schwester sonst immer für Gäste bereithielt. Zwei der Türen standen offen und Tom konnte die kahlen Wände sehen. An manchen Stellen klebten noch Tapetenreste, Folien lagen auf dem Boden und unter einer Leiter stand ein Eimer mit diversen Pinseln und Farbrollen.

»Tja, nicht mehr wiederzuerkennen, was?«, hörte er Lynette hinter sich, als er sich mit einem kurzen Rundgang einen Überblick verschaffte. Tom knipste in beiden Zimmern die nackten Glühbirnen an der Decke an und warf einen Blick in die Räume. Es gab noch viel zu tun, aber er hegte keine Zweifel, dass am Ende der Renovierungsarbeiten liebevoll eingerichtete Zimmer zur Vermietung bereitstanden, in denen sich die Gäste rundum wohlfühlten.

»Die Mädchen schlafen hinten. Zum Glück kommt Anny inzwischen gut damit zurecht, dass wir unten keinen Platz für ihr Bett haben. Es hilft ihr, dass ihre großen Schwestern mit im Zimmer schlafen.« Lynette zeigte auf die Tür, die am weitesten vom Treppenaufgang entfernt lag. »Damit wir sie notfalls auch nachts hören können, steht unten bei uns ein Babyphone … und … jetzt bist du ja da.«

Tom erwiderte ihr Lächeln. »Na klar, ich passe auf die Mäuse auf. Hoffentlich muss ich nicht auf der Baustelle schlafen. In dem Fall würde ich einfach unten das Sofa in Beschlag nehmen.«

Lynette legte ihre Hand auf seinen Arm, öffnete die verbliebene Tür und schaltete das Licht an.

»Wo denkst du hin? Ein Gästezimmer ist noch möbliert. In diesem Fall ist es dein Glück, dass Marc nicht so schnell vorankommt.« Tom trat ein und stellte sein Gepäck neben den Sessel in der Ecke. Hier war alles noch so, wie er es in Erinnerung hatte. Unempfindlicher Teppich in Dunkelgrau zog sich durch den ganzen Raum. Vorhänge, Tapeten und sogar die Bettwäsche hingegen waren Ton in Ton abgestimmt und füllten das Zimmer mit sattem Grün.

Aus reiner Gewohnheit trat er ans Fenster und zog die dicken Stoffbahnen zu, auch wenn keines der Nachbarhäuser so dicht bei ihnen stand, dass jemand sie in den beleuchteten Fenstern hätte sehen und beobachten können. Die Heizung unter dem Sims gluckerte und warme Luft stieg auf. Nur zwei Schritte entfernt stand eines der beiden Betten, die durch ein Nachtschränkchen voneinander getrennt wurden. Neben dem anderen führte eine Tür ins Bad und Tom freute sich auf eine warme Dusche. Er spürte die Erschöpfung nach diesem langen Tag.

»Pack erstmal in Ruhe aus. Ich bringe Anny ins Bett und mach’s mir dann bei den Großen im Wohnzimmer gemütlich. Wenn du etwas brauchst, meldest du dich, ja?«

»Ich komme nachher nochmal runter und sag Gute Nacht.« Tom küsste seine Schwester flüchtig auf die Stirn. »Danke für alles.«

Homestory - Die Enthüllung

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