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Kapitel 2

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24. März. Torch Creek Highschool. Nachmittag.

Mit dem letzten Klingeln der Schulglocke ging der übliche Tumult im kleinen Klassenzimmer der Torch Creek High los. Obwohl es nur noch einige Wochen bis zu den Abschlussprüfungen waren, übertönte die Lautstärke der Schüler sie fast. Der Geschichtslehrer versuchte sich noch für einen kurzen Moment Gehör zu verschaffen, doch gab dann auf. Der bevorstehende Sommer machte den sonst schon unruhigen Haufen Siebzehn- und Achtzehnjähriger besonders nervös. Neben den Vorbereitungen für die letzten Klausuren lagen etliche Pläne für den wichtigsten Event – den Abschlussball – in der Luft. Nicht zu vergessen die Frage, wer mit wem dort erschien.

Issy nutzte den Lärmpegel, um sich zu Ever hinüberzubeugen. Ihre Freundin sah sie seit einem SMS-Gespräch während der Stunde ungläubig an. Nun erweiterte sie diesen Gesichtsausdruck um weit aufgerissene Augen. Mit ihrem kindlichen Gesicht und den kurzen schwarzen Haaren sah Evers beste Freundin aus wie ein verschrecktes Reh.

„Und du hast ihn einfach mitgenommen? In deinem Auto? Mitten im Nirgendwo?“

„Es hat sich eben angeboten“, entschuldigte sich Ever und versuchte sich verlegen die Wange zu reiben, um zumindest einen Anschein von Sorge zu erwecken. „Er war auf dem Weg nach Torch Creek und ich wollte ihn besser kennenlernen.“

„Weißt du, was alles hätte passieren können?“

Issy legte die Hand auf ihre und drückte sie, als könnte die Geste besser zu Ever durchdringen als ihre Worte.

„Als ob zu dem Zeitpunkt nicht schon alles schiefgegangen wäre, was hätte schiefgehen können.“ Sie lachte zaghaft. „Ich meine, er wusste da schon so ziemlich alles, was ich vor dem Rest der Welt geheim halte.“

Die Freundin seufzte und machte sich daran, ihre Schulunterlagen in den Rucksack zu stopfen.

„Ach, es ist hoffnungslos mit dir zu argumentieren! Wenn sie dich irgendwann tot in einem Straßengraben finden, dann weißt du ja, wer es dir prophezeit hat.“

„Wenn du darüber redest, dann klingt es viel schlimmer als es war.“ Sie knuffte ihre zierliche Freundin mit dem Ellenbogen in die Seite. „George macht wirklich einen netten Eindruck auf mich.“

„Ja, das ist in der Tat auch nicht zu übersehen“, sagte Issy provokant beim Hinausgehen aus dem Klassenzimmer.

„Was meinst du?“ Ever spürte wie sich ihre Stirn kräuselte. Sie strich sich eine Haarlocke hinters Ohr, wie immer, wenn sie ihre Unsicherheit zu kaschieren versuchte.

„Du bist heller als sonst.“

„Heller?“ Zuerst verstand Ever nicht. Dann zog ihr Issy die Haare wieder vor die Augen und schnaubte etwas verächtlich. Auf den ersten Blick war es ein unwesentlicher Unterschied.

„Oh – mein – Gott! Wie lange ist das schon so?“

Erst jetzt merkte Ever, dass ihre sonst kastanienbraunen Locken in einem helleren Ton schimmerten. Einige feine Strähnen schienen fast blond. Es war eine Kleinigkeit, doch es erschreckte sie, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Die spontane Seite des Gestaltwandelns bereitete ihr regelmäßig Kopfzerbrechen und Panik. Die Angst, aus einer Laune heraus plötzlich anders auszusehen oder sich zu verändern, ohne es selbst zu bemerken.

„Issy! Wie lange ist das schon so?“, fragte sie nun bestimmter und strich sich nervös die Haare hinter die Ohren. Sie fischte nach einem Haargummi von ihrem Handgelenk, um sich einen Zopf zu binden, als würde es einen Unterschied machen.

„Den ganzen Morgen.“ Issy grinste schelmisch. Das war normalerweise ein Charakterzug an der Freundin, den Ever sehr schätze. In Situationen wie diesen beunruhigte es sie hingegen.

„Warum hast du nichts gesagt?“

„Ich hatte gehofft, irgendjemand anders bemerkt es – und das wäre eine Warnung für dich gewesen“, erklärte sie streng. „Aber die sind alle blind wie Maulwürfe, seit es nur noch um den Abschlussball geht...“

„Also?“, setzte Issy auf dem Gang an, nun mit großer Neugier. „Du hast mir bisher nur die abgefahrenen Geheimnisse erzählt. Wie sieht es denn mit den langweiligen Dingen über ihn aus?“

Die kleine Highschool von Torch Creek fasste kaum 400 Schüler, doch gerade jetzt, kurz vor dem Endspurt, wirkten die Hallen überfüllt. Über dem flachen Backsteingebäude lag seit Wochen ein gewisser, leicht schäbiger Glamour von farbenfrohen Bannern und Postern. An sämtlichen freien Wänden vervielfältigten sich die Zettel mit Bekanntmachungen, Informationen und Aufrufen. Es war unmöglich einen Meter zu gehen, ohne auf einem Flyer auszurutschen. Durch die Fensterfronten warf die kräftige Märzsonne ihre Strahlen in den Gang und Ever blinzelte ihr mit Vorfreude entgegen.

„Lass' mich überlegen. Sein Name ist George Tramente. Er hat die letzten Jahre in Los Angeles gelebt, aber das Stadtleben ist ihm zu hektisch geworden. Er hat das leer stehende Haus in der Baker Street gekauft und ist dieses Wochenende dort eingezogen“, erzählte sie beiläufig und öffnete dabei ihr Schließfach.

„Das verfluchte Haus in der Baker Street? Uhh, gruselig!“

„Mhm“, stimmte Ever halbherzig zu und begann Bücher aus dem Rucksack im Spind zu verstauen. Am Spiegel auf der Türinnenseite hingen drei Fotografien.

Auf dem ersten Bild lächelten Ever und ihr Adoptivvater Michael Crest auf der Einweihungsfeier des kleinen Naturkundemuseums vor gut drei Jahren in die Kamera. Sie trug ein fast kindliches Kleid mit orangefarbenen Blüten, dessen Rock fröhlich im Wind wehte. Ihr Vater trug wie immer einen dunklen, gut sitzenden Anzug. Lediglich seine Schläfen waren mittlerweile etwas grauer geworden, ansonsten sah er heute noch genauso aus. Als Bürgermeister von Torch Creek wirkte Michael Crest stets ein wenig steif, denn keine Veranstaltung, zu welcher die beiden gingen, war wirklich privat. Trotzdem bemühte er sich sehr, Normalität in ihrer beider Alltag zu bringen. Und Ever wusste, wie schwer das für ihn war.

Das zweite Foto zeigte sie und ihre Adoptivmutter Angelica auf dem Walk of Fame. Eigentlich wollte Angelica sie beide mit dem Hollywood Sign im Hintergrund fotografieren lassen, doch der Bildausschnitt reichte nicht aus für den weit entfernten Schriftzug. Sie mochte das Bild trotzdem, obgleich sich Angelica allein optisch extrem von Ever unterschied, was unter Umständen an der platinblonden Mähne und der Überdosis Botox im Gesicht ihrer Mutter liegen mochte. Nach der Scheidung ihrer Eltern hatte Ever ein altes Bild von ihnen Dreien bei ihrer Einschulung ausgetauscht, da es zu viele Erinnerungen wachrief. Angelica war es, die Michael und sie vor acht Jahren verlassen hatte, um „sich selbst zu finden“, wie sie es nannte. Sie zog nach Los Angeles, um dort Schauspielerin zu werden – mehr als ein paar lokale Werbespots waren dabei allerdings nicht herausgekommen.

Als Letztes steckte das Polaroid-Foto einer getigerten Katze neben dem rechteckigen Spiegel der Spindinnenseite. Evers beste Freundin, Issy Boyle, hatte dieses Bild von Ever geschossen, noch lange bevor sie Issy ihr Geheimnis offenbart hatte. Sie war in jenem Sommer vor fast vier Jahren in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung oft in der damals noch fremden Katzengestalt auf Issys Fenstersims aufgetaucht.

„Er sagte, er sei Gutachter und Restaurator für…“, setzte Ever an und dachte dann einen Moment nach. „irgendetwas mit mittelalterlichen Waffen, Schwerter, Dolche und so ein Zeug. Ich hab' es nicht so richtig verstanden. Er scheint auf alle Fälle ziemlich gut dafür bezahlt zu werden, dass er sich solchen alten Kram ansieht und aufpoliert.“

„Du scheinst Männer anzuziehen, die es mit Geschichte haben, hm?“ Issy schlug mit einem blechernen Geräusch ihr Schließfach zu und trat näher an Ever heran. „Denkst du, er und James könnten sich mögen?“

„Schwer zu sagen.“ Ever dachte an ihren selbsternannten Mentor und rümpfte die Nase.

„Als ich ihn gestern Nacht noch kurz angerufen habe, um ihm von meiner Begegnung zu erzählen, klang er alles andere als begeistert.“

„James macht sich Sorgen um dich“, wusste die Freundin und auf ihrem Gesicht zeichnete sich genau dieselben Bedenken ab. „Wozu er auch Grund hat. Du weißt schon: Vampir.“

„Issy!“, fauchte Ever halblaut und blickte sich nervös um. Die meisten Schüler hatten sich mittlerweile verflüchtigt, doch es gab immer ein paar, die in den Gängen herumlungerten. „Bist du wahnsinnig?“

„Weil ich mitten in einer Highschool über Vampire rede?“ Issy kicherte. „Hast du in den letzten zwei Jahren mal ein Kinoplakat angesehen oder einen Bücherladen betreten?“

Ever seufzte und zupfte an ihren Haaren herum, während sie sich kritisch im Spiegel ihres Spinds betrachtete. Die Haarfarbe wirkte wieder dunkel wie Baumrinde. Bewusst über ihr eigentliches Aussehen nachzudenken hatte vermutlich schon gereicht.

„Ich verstehe, dass er sich für mich verantwortlich fühlt. Aber James kann nicht entscheiden, was ich zu tun oder zu lassen habe. Vermutlich weiß er besser, was gut für mich ist und was nicht. Ziemlich sicher sogar. Das liegt schließlich in seiner Natur“, geriet Ever ins Reden und blendete das amüsierte Grinsen auf dem Gesicht ihrer Freundin einfach aus. „Aber ob ich einen Vampir daten will oder nicht, ist meine Entscheidung und nicht seine!“

„Herrje, worüber redet ihr zwei denn schon wieder?“ Charlotte Montgommerys Stimme kam überraschend und die dazugehörige Freundin zeigte sich erst, als Ever ihr Schließfach schloss.

„Supernatural“, platzte es nach einer Sekunde des Schweigens aus den beiden Freundinnen synchron heraus. Charlottes naturblonde Locken waren zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Make-up betonte die strahlend blauen Augen und jeder Lidschlag wirkte auf eine erstaunliche Art und Weise kalkuliert. Das Mädchen seufzte.

„Ihr solltet eure Köpfe weniger mit Trash füllen und mehr Lernstoff unterbringen. Nur noch ein paar Tage bis zur nächsten Prüfung.“ Sie trug einen Stapel Bücher in den Armen, der hervorragend dazu taugte, ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen. „Treffen wir uns heute Abend zum Lernen?”

„Ich fürchte, ich bin schon verabredet“, plapperte Ever ein bisschen zu schnell. Charlotte beäugte sie argwöhnisch und selbst Issy schien überrascht und misstrauisch.

„War es das, worüber ihr eben tatsächlich geredet habt?“, hakte die selbstbewusste Blondine nach und legte den Kopf schief. „Das Gefasel über Vampire?“

„Ich habe Ever nur gefragt, wie ihr Date so ist und sie meinte, er sei kein gruseliger Vampir oder so etwas in der Art, sondern ein netter Typ“, begann Issy neben ihr zu fabulieren. „Nicht wahr, Ever?“

„So etwas in der Art“, raunte sie vorsichtig.

„Du hast ein Date?“ Charlottes Stimme ging eine Tonlage nach oben und sie bog die perfekt gezupften Augenbrauen. „Hast du momentan überhaupt Zeit für sowas?“

Ever wollte etwas Freches erwidern, als Issy sich bereits bei ihr einhakte und sie zum Gehen wegzog. „Sie hat auf alle Fälle deutlich weniger Zeit, wenn sie noch länger hier rumsteht und Däumchen dreht. Aber ich komme gerne zum Lernen vorbei. Um sechs bei dir?“

Damit ließen sie Charlotte mit einer etwas verdutzten Zustimmung zurück. Die Arzttochter war zwar eine echte Streberin und wirkte auf Außenstehende aufgrund ihres perfekten Äußeren vielleicht oberflächlich oder gar hochnäsig, doch unter dieser schönen Schale war sie verletzlich und liebenswert und immer für ihre Freundinnen da, wenn sie sie brauchten.

Als Issy und Ever das Eingangstor der Highschool hinter sich gelassen hatten und durch die Nachmittagssonne schlenderten, konnte Ever das Lachen nicht mehr zurückhalten.

„Ich habe also ein Date mit einem Typ, der kein gruseliger sondern ein netter Vampir ist oder wie?“ Sie atmete die staubige Luft von Torch Creek ein und fühlte sich aus irgendeinem Grund angenehm beruhigt in diesem Moment.

„Nun“, überlegte Issy vorsichtig, „hast du?“

„Keine Ahnung“, antwortete Ever unentschlossen. „Wir haben nur ausgemacht, uns heute bei James zu treffen. James will noch ein paar Angelegenheiten mit George besprechen. Und dann… mal sehen.“

Zu dieser Tageszeit war es relativ ruhig in den sonnenbeschienenen Straßen. Die aus hellem Stein gebauten Häuser wirkten wie ausgestorben und nur hier und da spielten einige Kinder in den Vorgärten. Erst später, mit dem Feierabend, würde wieder etwas mehr Leben in die kleine Stadt kommen. Gerade wirkte sie wie eine Geisterstadt inmitten der Wüste.

„Ich schätze, du hast noch ein wenig Zeit dir darüber Gedanken zu machen.“ Issy sah in einer übertriebenen Geste und mit einem spöttischen Grinsen auf ihr nacktes Handgelenk, als würde sie eine Armbanduhr tragen. „So etwa drei bis vier Stunden?“

„Fünf vor Sieben ist Sonnenuntergang“, korrigierte Ever fast automatisch.

„Ich sehe du hast dich schon rundum auf die neuen Umstände vorbereitet.“

„James war so freundlich mich darüber zu informieren“, gab Ever mit einem etwas verbissenen Tonfall zurück. „Er besteht darauf, George persönlich zu treffen, bevor er mich noch einmal mit ihm allein lässt. Er war ebenfalls so freundlich mich daran zu erinnern, dass er es weiß, wenn ich George ohne seinen Segen treffe.“

„Na dann wünsche ich dir, dass dein Vampir einen guten Eindruck bei deinem übernatürlichen Wachhund macht.“ Issy klopfte ihr ermutigend auf den Rücken und lachte, doch Ever konnte sich einen gequälten Seufzer nicht verkneifen.

Lost Vampire

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