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1 Amsterdam Centraal:
Im Nachtzug nach Amsterdam

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Amsterdam Centraal Station

Es gibt wieder Kontrollen. Im Sommer 2015 muss ich kurz hinter der deutsch-niederländischen Grenze meinen Ausweis zeigen, das erste Mal seit zwanzig Jahren. Der Gendarm der Koninklijke Marechaussee will sichergehen, dass ich Staatsbürgerin der Bundesrepublik bin. Eben noch hat er mit einem Kollegen zwei junge Männer nach draußen geschickt. Sie hatten keinen Ausweis dabei, keinen europäischen jedenfalls, auch keine Koffer, die sie wenigstens als Touristen hätten klassifizieren können, nur ein paar Plastiktüten. Nun stehen sie auf dem Bahnsteig von Hengelo, umringt von einigen weiteren Gendarmen, die sie um zwei Köpfe überragen. Ein ganz schöner Auftrieb wegen zwei müder Männer, von denen man nur ahnen kann, aus welchem Krisengebiet sie sich bis hierher durchgeschlagen haben. »Was passiert mit ihnen?«, frage ich den Gendarmen, der meinen Ausweis studiert. »Die kommen in ein Auffanglager, da können sie dann Asyl beantragen«, antwortet er, gibt mir meinen Ausweis zurück und geht weiter. Der Zug fährt an, es ist der Intercity von Berlin nach Amsterdam. Es ist ruhig im Großraumwagen, die meisten Leute schlafen oder lesen.

Das Buch D-Zug dritter Klasse von Irmgard Keun spielt ausschließlich in einem Eisenbahnabteil. Auf dem Weg von Berlin nach Paris kreuzen sich in dieser tragikomischen Geschichte die Schicksale einer Handvoll Menschen. Ein »dicker mondgesichtiger Herr« ist dabei, eine »behäbige Frau« und – die zentrale Figur – Lenchen, ein junges verträumtes Ding »in dem weniger glücklichen als anstrengenden Besitz von drei Männern, von denen keiner die Existenz des anderen auch nur ahnte«.

Als Irmgard Keun diese Zeilen im Jahr 1937 schreibt, hat sie Deutschland, wo ihre Bücher seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr erscheinen dürfen, bereits verlassen und ist ins Exil gegangen. Gerade 32 Jahre alt, war sie zunächst nach Ostende gezogen, ein in die Jahre gekommenes Seebad an der belgischen Küste, wo sie als Kind hin und wieder die Ferien verbracht hatte. Da trifft es sich gut, dass auch einige ihrer Schriftstellerkollegen hier gestrandet sind. Mit einem von ihnen, mit Joseph Roth, geht Irmgard Keun eine Liaison ein, denn der Ehemann in Deutschland ist weit und der Liebhaber in Amerika noch viel weiter. Zumindest gegenüber Letzterem, dem Arzt Arnold Strauss, behauptet sie in einem Brief, ihr Verhältnis zu Roth sei rein platonisch, man sei »keine Spur verliebt ineinander«, es herrsche »keine Spur von Flirtigkeit«. Das mag man glauben oder nicht, fest steht, auch Irmgard Keun befindet sich zumindest zeitweise im »anstrengenden Besitz dreier Männer«, die vermutlich nur wenig voneinander wissen.

D-Zug dritter Klasse beginnt jedenfalls mit folgenden Sätzen: »An einem späten Nachmittag im Juni verließ ein D-Zug den Anhalter Bahnhof in Berlin. Es war ein rechtschaffen ausgestatteter Zug mit Schlaf- und Speisewagen, mit erster, zweiter und dritter Klasse, mit schönen blanken Klosetts, emsig fegenden Reinemachefrauen, unpraktischen Aschbechern und mühsam zu öffnenden Fenstern.«

Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass der Zug, mit dem Fritz Landshoff 1933 von Berlin nach Amsterdam fährt, ganz ähnlich ausgestattet ist. Zwar reist der junge Verleger nicht im Juni, sondern im April, nicht am späten Nachmittag, sondern am späten Abend, doch vermutlich ist es ebenfalls die dritte Klasse eines D-Zugs, denn ob sich Fritz Landshoff in der misslichen Situation, in der er sich befindet, mehr als die dritte Klasse leisten kann, ist fraglich. Am Morgen hatte er noch nicht einmal gewusst, dass er überhaupt nach Amsterdam fahren würde. Landshoff, der bisher gemeinsam mit Gustav Kiepenheuer den Berliner Gustav Kiepenheuer Verlag geleitet hatte, führt auch nur wenig Gepäck bei sich, weil er nicht weiß, wie lange sein Aufenthalt dauern wird. Was er dagegen sehr wohl weiß, ist, dass sich schon einen Tag nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar »zwei Herren in langen schwarzen Ledermänteln« bei einer Nachbarin nach ihm und Ernst Toller erkundigt hatten. Bei dem befreundeten Schriftsteller war Landshoff nach der Scheidung von seiner ersten Frau untergekommen, doch in den folgenden Wochen hatte er mal hier, mal dort übernachtet, sich von Tag zu Tag gehangelt und sich den Kopf darüber zerbrochen, ob es unter den gegebenen politischen Umständen überhaupt noch möglich sei, Bücher herauszugeben, noch dazu solche, die das nationalsozialistische Regime nicht dulden würde. Dessen Angst vor dem kritischen gedruckten Wort ist so immens, dass es mit dem Antritt Hitlers als Reichskanzler Verbote hagelt für Bücher von Kommunisten, Juden, Sozialdemokraten, von allen, die des »undeutschen Geistes« verdächtigt werden. Es ist ein äußerst dehnbarer Begriff, der nach Belieben ausgefüllt wird und von dem niemand voraussagen kann, für welche Journalisten und Schriftsteller er noch herhalten muss, um sie mundtot zu machen.

Doch dann bekommt Fritz Landshoff Besuch von einem guten Bekannten, der ihm unverhofft ganz neue Perspektiven eröffnet. Nico Rost steht vor ihm, ein holländischer Journalist und Kommunist, der bereits seit zehn Jahren in Berlin lebt und sich in den gleichen Cafés tummelt wie Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Joseph Roth und all die anderen Helden der Großstadtbohème. Für Zeitungen in Amsterdam und Den Haag bespricht Rost deren Bücher, und wenn es sich ergibt, übersetzt er sie auch. Meistens im Auftrag von Em. Querido’s Uitgevers-Maatschappij, einem Amsterdamer Verlag, der in ähnlichem Fahrwasser unterwegs ist wie Gustav Kiepenheuer, linksliberal bis sozialistisch. Mit dem Verleger Emanuel Querido hatte Landshoff hin und wieder über Lizenzen korrespondiert, und nun lässt dieser Querido über Nico Rost ausrichten, dass er die Gründung eines deutschsprachigen Exilverlages plane und ob Landshoff sich nicht beteiligen wolle. Landshoff wird später in seinen Erinnerungen schreiben, dass er überrascht und erfreut über diese Anfrage gewesen sei, was leicht untertrieben klingt, musste ihm die Einladung Emanuel Queridos doch vorkommen wie ein Wink des Schicksals. Noch am gleichen Abend nimmt Fritz Landshoff den Nachtzug nach Amsterdam.

Fritz Helmut Landshoff – oder schlicht FH, wie manche seiner Freunde ihn nennen – wird 1901 in Berlin geboren. Seine Familie ist das, was man gemeinhin großbürgerlich nennt, die Jugend wohlbehütet, die Erziehung musisch und literarisch orientiert. Doch der Eindruck des Ersten Weltkriegs hinterlässt Spuren, schon früh wird er Mitglied der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Nach dem Besuch eines humanistischen Gymnasiums beginnt Landshoff in Freiburg Medizin zu studieren. Ob er ein guter Arzt geworden wäre? Die Welt wird es nicht erfahren, denn bereits bei der ersten Obduktion einer Leiche fällt er in Ohnmacht. Landshoff kann kein Blut sehen und sucht sich deshalb schleunigst ein Fach, in dem das Blutvergießen allenfalls auf dem Papier stattfindet. Er schreibt sich zunächst in München für Germanistik ein, und natürlich geht er nicht hin, als Adolf Hitler 1920 in der bayerischen Hauptstadt öffentlich auftritt. Später jedoch bereut er, diesen Mann nicht mit eigenen Augen gesehen zu haben, glaubt er doch, dass es ihn sensibilisiert hätte für die Gefahr, die von Hitler ausgeht. Vermutlich lässt er sich schlicht von den eindeutigen Versammlungsplakaten abhalten: Für Juden nicht zugelassen.

In Frankfurt am Main promoviert Fritz Landshoff über Effi Briest, 1927 wird er Mitinhaber und Geschäftsführer des Gustav Kiepenheuer Verlages. Diese steile Karriere ist möglich, weil der 1909 gegründete Verlag, der bei Landshoffs Einstieg noch in Potsdam residiert, nach vielversprechenden Anfangsjahren nicht mehr sonderlich erfolgreich ist. Landshoff bekommt den Zuschlag deshalb nicht nur, aber auch, weil er dringend notwendiges Kapital mitbringt. Umso größer ist der Ehrgeiz des jungen Mannes. Gepaart mit diplomatischem Geschick und jugendlichem Charme geht die Rechnung auf, wie die zahlreichen Anekdoten bezeugen, die über Fritz Landshoff kursieren. Als Landshoff etwa eines Tages in Berlin mit dem Taxi zu Lion Feuchtwanger fährt – denn der wohnt in einer Gegend, die außerhalb des S-Bahn-Rings liegt –, bemerkt er zu spät, dass er kein Geld bei sich hat, und begrüßt den berühmten Schriftsteller, dem er zuvor noch nie begegnet ist, mit den Worten: »Mein Name ist Landshoff. Bitte seien Sie doch so freundlich und zahlen Sie mein Taxi.« Glücklicherweise nimmt es Lion Feuchtwanger mit Humor, bezahlt nicht nur das Taxi, sondern wird überdies wieder Autor im Gustav Kiepenheuer Verlag, den er einige Jahre zuvor ausgerechnet deshalb verlassen hatte, weil ihm ein stattlicher Vorschuss nicht gewährt worden war. Auch Bertolt Brecht und Arnold Zweig kehren zurück, Joseph Roth stößt 1928 ebenfalls zur illustren Runde. Und neben den renommierten Namen hat Landshoff ein gutes Gespür für Neuentdeckungen, zum Beispiel für einen gewissen Seghers, von dem Landshoff nicht wissen kann, dass es sich um eine Frau handelt, weil auf dem Manuskript kein Vorname steht. Vom S. Fischer Verlag abgelehnt, erhält Anna Seghers für ihr Debüt Aufstand der Fischer von St. Barbara, das bei Gustav Kiepenheuer erscheint, prompt den Kleist-Preis.

Endlich ist der Verlag wieder im Aufwind, und der Umzug von Potsdam nach Berlin verkürzt die Wege erheblich, nicht nur zu den Autoren, sondern auch in die einschlägigen Cafés und Restaurants, was im Zweifel dasselbe ist. Außerdem sucht sich Fritz Landshoff Verstärkung, seinen Studienfreund Hermann Kesten verpflichtet er als Lektor, ebenso Walter Landauer, mit dem er einst auf dasselbe Gymnasium gegangen war. Man kennt sich, man mag sich und hat dieselben Vorstellungen davon, was gute deutsche Literatur ausmacht. So könnte es weitergehen.

Weil sein Programm als linksbürgerlich gilt, reagiert der Gustav Kiepenheuer Verlag jedoch besonders sensibel auf die massiven Verschiebungen in der politischen Landschaft Anfang der 1930er Jahre. Die kurz vor der Machtergreifung Hitlers erscheinenden Volksausgaben von Karl Marx’ Das Kapital und Sigmund Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse zeugen zwar von einer gewissen historischen Weitsicht, können die Geschichte aber nicht aufhalten. Von den je 50.000 bereits gedruckten Exemplaren werden die meisten beschlagnahmt, ein ideeller und finanzieller Tiefschlag zugleich. Zwar schreibt Fritz Landshoff noch am 3. Februar 1933 an Arnold Zweig: »Wir machen weiter!«, doch die Nationalsozialisten haben den Verlag längst ins Visier genommen. So jedenfalls beschreibt es Hermann Kesten fünfzig Jahre später in einem Fernsehinterview.

Etwas verschwommen flimmert es über den Bildschirm meines Computers, und zunächst bin ich erstaunt über den Ort des Geschehens. Man stelle sich vor: Im gut besuchten Café Kranzler am Kurfürstendamm in Berlin befragt 1983 ein etwas steifer Moderator die betagten Herren Landshoff und Kesten zu ihren Lebensläufen. Um sie herum hocken nur unwesentlich jüngere Herrschaften bei Kaffee und Kuchen, und einige von ihnen würden vermutlich zusammenzucken, forderte man sie auf, sich hier und jetzt zu ihrer eigenen Vergangenheit zu äußern. Die Stimmen schwirren, das Geschirr klappert, so dass man sich fast in einem Loriot-Sketch wähnte, wären Fritz Landshoff und Hermann Kesten nicht zu sehr Gentlemen, um sich von solchen Umständen aus dem Konzept bringen zu lassen. Fritz Landshoff, nun bereits 82 Jahre alt, hellwach, charismatisch, mit eindrucksvoll großem Kopf und voller weißer Mähne, schlägt diplomatisch den Bogen, wenn er erzählt, wie er schon einmal im Kranzler gesessen habe, zusammen mit dem Schriftsteller Georg Kaiser. An das Datum erinnere er sich noch genau, es sei der 30. Januar 1933 gewesen. »Irgendwann ist ein Zeitungsjunge hereingekommen, mit einer Sonderausgabe der B. Z., und der hat gerufen ›Hitler Reichskanzler, Hitler Reichskanzler!‹ Georg Kaiser hat daraufhin nur trocken bemerkt: ›Ein Kegelverein verändert seinen Vorstand.‹«

Mit welcher Wucht dieser Vereinsvorstand sich ins Getriebe der Geschichte werfen würde, darüber können die Männer im Café am Kurfürstendamm zu jenem Zeitpunkt nur mutmaßen, doch die Gedankenspiele über einen Umzug des Verlages hätten schon bald eingesetzt. »An die Schweiz, an Österreich und die Tschechoslowakei haben wir gedacht«, erzählt Landshoff, »schon weil wir uns dort als deutscher Verlag einen ausreichenden Kundenstamm erhofften. Aber an Holland? Keiner von uns hatte an Holland gedacht.«

Eigentlich erstaunlich. Schließlich haben die Niederlande auch Anfang des 20. Jahrhunderts den Ruf eines besonders liberalen und weltoffenen Landes. Doch auf der kulturellen Weltkarte ist dieses Land nur dürftig verzeichnet, die Auswahl an Übersetzungen niederländischer Literatur ist überschaubar, lediglich der Roman Max Havelaar von Eduard Douwes Dekker – veröffentlicht unter dem Pseudonym Multatuli – wird zum echten Verkaufsschlager. Umgekehrt dagegen eilt den deutschen Schriftstellern ihr Ruf voraus. Thomas Mann, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger oder Joseph Roth sind in Amsterdam, Utrecht und Den Haag klingende Namen, sie werden mit Interesse gelesen, ob nun im Original oder in der Übersetzung. Ganz zu schweigen von Karl May und Hedwig Courths-Mahler, die ihr ganz eigenes, noch viel größeres Publikum erreichen. Wie kommt es also zu dieser literarischen Einbahnstraße? Am Selbstbewusstsein der Niederländer kann es nicht liegen, aber vielleicht daran, dass man in Deutschland bei niederländischer Kunst eher an Malerei als an Literatur denkt und dass auch die Holländer selbst ihre Alten Meister höher schätzen als ihre Dichter? Einer der wenigen niederländischen Historiker, die mit ihrem Werk tatsächlich Weltruhm erlangen, hat sich diese Frage auch gestellt. Abgesehen davon, dass der Name Johan Huizingas in jedem Land anders und meistens falsch ausgesprochen wird – »Heusincha« trifft es noch am ehesten –, werden seine Hauptwerke Herbst des Mittelalters und Homo ludens bis heute gelesen. Seine kulturkritischen Texte jedoch kann ich an einem kühlen Herbsttag vor einem kleinen Antiquariat an der Amsterdamer Singel aus der Kiste mit Sonderangeboten fischen. Ganze zwei Euro kosten Huizingas Cultuurhistorische verkenningen (Kulturhistorische Erkundungen) aus dem Jahr 1929, in denen sich unter anderem ein ausführlicher Beitrag zum Einfluss der deutschen Kultur auf die Niederlande findet, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts heißt es da: »Der durchschnittliche wohlhabende Niederländer reiste erst an den Rhein, dann in den Harz, schließlich auch nach Thüringen oder in den Schwarzwald; die Schweiz blieb wenigen vorbehalten. Bis in die letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts hinein, ehe die junge Malerei und Literatur ihnen die Schönheit des eigenen Landes wieder kräftig einflüsterte, blieben für die Niederländer ›die Berge‹, und das waren die deutschen Berge, das Ideal der Naturschönheit. Die Generation um 1860 kannte Schiller, und vor allem Heine, besser als die eigenen Dichter, und sie interessierte sich mehr für Wasserfälle als für das Mysterium des holländischen Lichts.«

In Emanuel Querido, dem Verleger, der Nico Rost zu Fritz Landshoff schickt, muss etwas von dieser Haltung nachklingen. Ende des 19. Jahrhunderts aufgewachsen und dreißig Jahre älter als Landshoff, spricht Querido selbst zwar nur wenig Deutsch, doch seit der Gründung seines niederländischen Verlages im Jahr 1915 hat er immer wieder Übersetzungen deutscher Romane herausgegeben, von denen nicht wenige zu Bestsellern wurden. Kaum dass »seine« deutschen Autoren im eigenen Land nicht mehr erscheinen dürfen, reagiert er deshalb mit einem ihm völlig logisch erscheinenden Schritt, nicht ahnend, dass der Amsterdamer Verleger Gerard de Lange zur gleichen Zeit dieselbe Idee hat.

»Keiner von uns hatte an Holland gedacht«, sagt Fritz Landshoff 1983 im Café Kranzler und fügt hinzu: »Es sind die holländischen Verleger gewesen, die die Initiative zu der Gründung dieser Verlage genommen haben.«

Im April 1933 reist Fritz Landshoff also im Nachtzug nach Amsterdam, und man kann nur darüber spekulieren, was im Kopf des 31-Jährigen vorgeht. Vermutlich versucht er zu lesen, doch schweifen seine Gedanken immer wieder ab, weil er sich ausmalt, wie die nächsten Monate und Jahre seines Lebens verlaufen könnten. Auch Fritz Landshoff muss den Gendarmen an der deutsch-niederländischen Grenze seinen Reisepass zeigen, aber niemand hält ihn auf, niemand holt ihn aus dem Zug. Noch hat die große Flucht aus Deutschland nicht begonnen und hegen die niederländischen Behörden keinen Verdacht, dass hier einer einreisen könnte, der nicht in absehbarer Zeit auch wieder ausreist. Als zwischen Apeldoorn und Hilversum die Sonne aufgeht, treten vor dem Fenster des Nachtzugs die Konturen von Feldern und Städten hervor, langsam bekommt das Land Farbe. Vielleicht trinkt Fritz Landshoff nun einen Morgenkaffee im Speisewagen der Mitropa, vielleicht ist er müde und wach zugleich, nervös, freudig erregt, so wie man sich halt fühlt, wenn man ins Ungewisse reist. Schließlich fährt der Zug in den Amsterdamer Hauptbahnhof ein, Centraal Station, rechts liegt der Hafen, in dem das Tagwerk der Arbeiter bereits begonnen hat, links die Stadt, wo es etwas länger dauert, bis die Angestellten und Kaufleute ihre Betriebstemperatur erreichen.

Es klingt wie die Szene aus einem Roman, und tatsächlich: Wer die deutsche Exilliteratur, die in den 1930er Jahren im Querido Verlag erscheint, aufmerksam liest, dem begegnen immer wieder ähnliche Szenen – Menschen, die in Züge steigen, in Zügen sitzen, die an Bahnsteigen warten, winken, weinen. D-Zug dritter Klasse von Irmgard Keun ist das einzige Buch, das komplett in einem Eisenbahnabteil spielt, ansonsten ist es vor allem ein großes Kommen und Gehen, ein dauerndes Abschiednehmen und Wiedersehen, das die Exilschriftsteller zwangsweise selbst erlebt haben und das sie in ihren Büchern beschreiben. So erzählt in Kind aller Länder, einem Roman ebenfalls von Irmgard Keun, das zehnjährige Mädchen Kully von den Reisen mit ihrer Mutter quer durch Europa. Ständig fahren die beiden dem Vater nach oder dem Vater voraus, der als rastloser schreibender Emigrant unterwegs ist. Nach Brüssel verschlägt es sie, nach Paris, nach Italien und auch nach Amsterdam, wo – nicht ganz zufällig – der Verleger von Kullys Vater lebt, ein gewisser Herr Krabbe. »Alles ging sehr schnell, wir sind in einem Ruck nach Amsterdam gefahren, weil wir keine Zeit hatten und kein Geld, um die Reise zu unterbrechen. Abends kamen wir in Amsterdam an und wurden von Herrn Krabbe abgeholt. Mein Vater hat sich noch auf dem Bahnsteig alles Geld von ihm geben lassen, das er bei sich hatte.«

In Lion Feuchtwangers Roman Exil aus dem Jahr 1940 kreisen die Geschehnisse um die Pariser Nachrichten und das Schicksal des Journalisten Friedrich Benjamin. Auch er nimmt den Nachtzug von Paris nach Basel, um dort einen Informanten zu treffen: »Er zieht die Beine hoch. Da liegt er wie ein Embryo im Mutterschoß. ›Gute Nacht‹, wünscht er sich und schläft ein, jenes weise, resignierte, selbstkennerische, verschönende Lächeln um die Lippen. Der Zug schaukelt ihn, er schläft sanft und tief, ein wenig schnarcht er. So also fährt er dahin, durch die Nacht, der Südostgrenze zu, der vermeintlichen Sicherheit entgegen, in sein Schicksal.« Ein fatales Schicksal: Friedrich Benjamin wird in der Schweiz von Nazis entführt und nach Deutschland verschleppt, wo er in einem Konzentrationslager landet.

In der Wirklichkeit dagegen ergeben sich hoffnungsvolle Möglichkeiten. Fritz Landshoff durchschreitet die Bahnhofshalle der Centraal Station – wir unterstellen ihm, dass er keine Muße hat, den imposanten roten Backsteinbau näher zu betrachten – und hat nun die Wahl. Er kann in die Tram steigen, zum Spui fahren, dem quirligen kleinen Platz im Süden der Innenstadt, und die letzten Meter zum Verlaghaus an der Keizersgracht laufen. Oder er geht den ganzen Weg zu Fuß, nutzt die Chance, nach der langen nächtlichen Reise die Glieder zu strecken und sich der erwachenden Stadt hinzugeben. Weit ist es nicht, fünfzehn Minuten, höchstens zwanzig, wenn man sich Zeit lässt. Verglichen mit Berlin ist in dieser Stadt gar nichts weit, das wird Landshoff schnell merken. Auch dass die Luft hier anders ist, feuchter und kühler, besonders im April. Es lässt sich freier atmen, im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Nehmen wir also an, Fritz Landshoff entscheidet sich zu laufen, dann geht er zunächst den Damrak hinunter. Heute eine Meile mit Geschäften, die Touristen zum Verzehr von Burgern, Dönern und Patat – Pommes frites – oder zum Kauf von Amsterdam-Mützen und Schoko-Penissen überreden wollen, ist der Damrak in den 1930er Jahren noch der »rote Teppich« zur Stadt, mit teuren Hotels, Geschäften und der Amsterdamer Börse.

Doch Fritz Landshoff nimmt von all dem keine Notiz, denn Querido wartet. Beherzten Schrittes geht er weiter, über den Dam, ignoriert Het Paleis, den Palast, der einst als Rathaus gebaut wurde und nun vom Königshaus für repräsentative Zwecke genutzt wird, ebenso wie das Warenhaus Bijenkorf, das erste Haus am Platz für die wohlhabenden Bürger der Stadt. Lassen wir Fritz Landshoff nun rechts abbiegen, dann kommt er zur Singel, dem inneren und kürzesten Kanal im Halbrund des Grachtengürtels, der sich um den ältesten Teil der Stadt legt. Von der Singel über die Herengracht hinaus stadtauswärts und dann nach links sind es nur noch ein paar hundert Meter, auf denen Amsterdam allerdings seine ganze Postkartenschönheit entfaltet. In den Grachten spiegeln sich die prächtigen Bürgerhäuser mit ihren Giebeln und großen Fenstern, die Einblick gewähren in wohldekorierte Wohn- und Arbeitszimmer. Über das Wasser gleiten Boote. Auf den Straßen und über die steilen Brücken radeln die Leute zu ihren Werkstätten und Büros, so souverän und schnell, dass man als Fußgänger besser gleich Platz macht. Fritz Landshoff muss Amsterdam sehr aufgeräumt und übersichtlich vorkommen, fast idyllisch, und mit ein bisschen Phantasie kann man es sich heute noch gut vorstellen, denn die Kulisse ist immer noch dieselbe, nur die Autos sollte man sich wegdenken, die vielen Touristen, Reklame- und Straßenschilder. Doch nun steht unser Mann endlich vor der Keizersgracht 333. Die Glocken der nahen Westerkerk schlagen zehn Mal. Fritz Landshoff ist pünktlich.

Hölle und Paradies

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