Читать книгу Kiana - Zukunft beginnt jetzt - Bettina Bäumert - Страница 8
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Sebastian und Leona erinnern sich
Nachdem sich die Kinder verabschiedet hatten, setzte sich Sebastian wieder in seinen Sessel. Leona stellte nachdenklich Teller und Tassen auf ihr Tablett. Mit einem Seufzer ließ auch sie sich wieder auf das Sofa sinken.
„Erinnerst du dich noch daran, Sebastian, als unser Haus größer wurde und ...?“
Ihr Mann hatte sich nicht verändert. Noch immer war er groß und schlank. Und wie schon vor Jahren, band er seinen dunklen, halblangen Zopf im Nacken zusammen.
Sebastian stopfte seine Pfeife. Erst als er Rauchkringel in die Luft geblasen hatte, nickte er.
„Natürlich erinnere ich mich, Leona. Damals waren es nur kleine Umbauten und technische Erneuerungen, die das Leben leichter machten. Du hattest Angst davor.“
Leona nickte. Es stimmte. Sie konnte sich nur schwer mit Neuem abfinden.
„Damals ... Das ist schon so lange her, und doch kann ich mich noch immer ganz deutlich an alles erinnern. Kiana hasste diese Familienessen. Ich stand am Fenster und habe auf sie gewartet. Und mit einem Male tauchten Bilder aus längst vergangenen Tagen auf. Geschehnisse, von denen ich dachte, ich hätte sie endlich vergessen.“
***
2.1
Leona am Fenster
Leona Mureni, eine kleine Frau mit braunem, halblangem, leicht gewelltem Haar und wasserblauen Augen, stand am Fenster ihrer gemütlich eingerichteten Wohnküche. Von hier hatte sie einen guten Blick in ihren kleinen Vorgarten und zur Haustür. Sie seufzte tief, wobei sie ihre Hände in die weiten Ärmel ihres bis zu den Knöcheln reichenden, blumigen Kleides steckte. Es regnete in Strömen. Und es war windig geworden.
Sie sah besorgt zur Uhr.
Seit dem langen Winter hatte sich vieles verändert. Nicht nur das Wetter war anders. Auch die Menschen und das Leben selbst hatten sich gewandelt. Was in Leonas Augen nicht unbedingt von Vorteil war. Immer häufiger sehnte sie sich nach der alten Zeit. Einer Epoche, in der alles normal und besser war.
Sie war nervös.
Und das nicht ohne Grund. Leona hatte gesehen, wie sich ihre Enkelin, Kiana, leise aus dem Haus geschlichen hatte. Schon da hatte es geregnet. Es war nicht der Regen, der Leona beunruhigte. Ihre Enkeltochter hatte keine Angst davor, ein bisschen nass zu werden. Sie gehörte keineswegs zu den Frauen, die äußerst besorgt um ihre Frisur und um ihr Aussehen waren. Wind und Wetter machten Kiana nichts aus. Was Leona Sorgen bereitete, waren die dunklen Wolken, die sich am Horizont auftürmten. Sie war sich sicher, dass auch Kiana diese unheilvollen Vorboten eines nahenden Sturms gesehen hatte. Und ihr war zudem die strikte Anweisung bekannt, die Ausflüge ins verbotene und ungeschützte Land strengstens untersagten. Und doch ignorierte Kiana immer wieder aufs Neue, all diese Befehle und Anordnungen.
Trotz ihrer Sorge um Kiana konnte Leona ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
Sie war stolz auf ihre Enkelin. In Leonas Augen war ihre Enkeltochter etwas Besonderes. Kiana war von Anfang an nie wie andere Kinder ihres Alters gewesen. Sobald sie reden und selbstständig denken konnte, hatte sie Fragen gestellt. Was sie noch immer tat. Und wie schon als Kind, beharrte sie auch jetzt auf Antworten.
Leona seufzte leise.
Kiana wollte wissen, wie das Leben vor ihrer Geburt und vor dem langen Winter war. Leona musste zugegen, dass sie liebend gerne in alten Erinnerungen schwelgte. Weshalb sie auch bereitwillig eine Epoche schilderte, die es schon lange nicht mehr gab. Leona erzählte von einer Zeit, in der es Jeromes Gesetz nicht gegeben hatte. Sie redete von einem Zeitalter, in dem die Menschen eine Religion hatten. Kiana wäre nicht sie selbst, hätte sie nicht auch ihren Vater, Jerome Mureni, nach dieser Zeit gefragt. Und sie erwartete Antworten, die er ihr nicht gab. Woraufhin Kiana etwas tat, was sich nicht einmal Leona, Jeromes Mutter traute. Sie übte Kritik. Und sie äußerte offen Zweifel an der heutigen Form des Lebens. Kein Wunder, dass ihr Vater überaus wütend reagierte. Sein Wort, nein, er selbst war die bestehende Rechtsordnung. Was er sagte, wurde nicht angezweifelt, ihm wurden keine Fragen gestellt. So lautete das Gesetz.
Jerome Mureni verbot seiner eigenen Mutter, weiter mit Kiana über die Zeit vor dem langen Winter zu sprechen. Über eine Vergangenheit, die er ablehnte und ins Vergessen drängte. Und Kiana wurde untersagt, weitere Fragen zu stellen. Aber genau damit, mit Jeromes abstruser Anweisung, weckte er Kianas Neugierde und ihren Widerstand. Sie rebellierte gegen seine unsinnigen Gebote und Verbote. Was auch der Grund für ihre Exkursionen in die unerlaubten Gebiete war. Dass Kiana ihren Erkundungsradius immer weiter ausdehnte, war Leona durchaus bekannt. Ihr war klar, dass Kiana in den Wäldern nach Zeichen einer längst erloschenen Welt suchte. Der heilen Welt, von der ihre Großeltern erzählten. Und sie wollte wissen, warum diese Zeit von Jerome totgeschwiegen und missbilligt wurde.
Leona stöhnte leise.
„Kiana, Kind, du solltest dich beeilen. Das Unwetter kommt immer näher und ...“, murmelte sie, wobei sie ihre Stirn gegen die kalte Scheibe des Fensters drückte. „Die alte Zeit“, flüsterte sie. „Nach dem langen Winter veränderte sich ihr gesamtes Leben. Nichts war von dem geblieben, wie es einmal war.“
***
Sebastian war mit Leib und Seele Architekt und Erfinder. Leona musste zugeben, dass alles, was er für sie gebaut hatte, wirklich gut war. Trotz allem war sie überzeugt, dass die Modernisierung zum einen viel zu schnell ging. Und zum anderen wurde vieles nicht wirklich benötigt.
Ihr gemeinsamer und einziger Sohn glich Sebastian nicht nur äußerlich. Er war hochbegabt und seinem Vater in vieler Hinsicht ähnlich. Jerome trat, was handwerkliches Geschick und Erfindungsgeist betraf, in Sebastians Fußstapfen. Ein Steckenpferd, das er liebend gerne mit seinem Vater teilte.
Seine wirkliche Leidenschaft galt allerdings der Medizin. Mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren war er ein erfolgreicher und beliebter Arzt. In dieser Zeit lernte er Sana, eine dunkelhaarige Krankenschwester mit warmen, braunen Augen kennen. Es dauerte nicht lange und Jerome heiratete die engagierte und mitfühlende Frau. Eine Frau, die ihn ermutigte, sich zudem in der Gentechnologie einen Namen zu machen.
„Jerome“, hatte Sana einmal liebevoll und voller Überzeugung gesagt, „wenn jemand fähig ist, Medikamente zu finden, die Krankheiten heilen, die bisher nicht heilbar sind, dann bist es mit Sicherheit du.“
Nach ihrer Hochzeit blieb Jerome mit Sana in seinem Elternhaus. Einem gemütlichen Landhaus, das Leona von ihrem Vater geerbt hatte. Hier auf dem Gut ihrer Eltern war Leona aufgewachsen. Und hier hatte sie ihren Sohn zur Welt gebracht. In diesem Haus steckten so viele, schöne Erinnerungen. Weshalb sie dem geplanten Anbau ihres Sohnes nur zustimmte, beließ er die Ansicht und den Baustil ihres Heimes. Damals hatte Sana ihre Schwiegermutter liebevoll in den Arm genommen.
„Leona, das Haus bleibt so. Hier bei dir wird nicht viel verändert. In unserem Anbau gibt es viele technische Neuheiten. Leona, du wirst es nicht für möglich halten, was es heutzutage schon alles gibt. Da bietet es sich doch an, auch in eurem Wohnbereich zumindest Kleinigkeiten zu verbessern.“
Leona am Fenster
Leona schloss gequält die Augen. Nein, sie war nicht bereit für diese Erneuerungen gewesen. Im Grunde war sie das noch heute nicht. Und doch wurde mit der Zeit auch ihr Wohnbereich mit immer mehr technischen Neuerungen ausgestattet.
Der erste große Um- und Anbau wurde noch vor Einbruch des Winters beendet. Wie versprochen blieb die Ansicht des Hauses, wie auch der Zauber des ganzen Landsitzes erhalten. Zumindest damals. In den vergangenen Jahren hatte sich auf dem gesamten Gutshof einiges verändert.
Nicht aber ihr eigener Teil des Hauses. Leona hatte sich durchgesetzt, hier alles so zu belassen, wie sie es wollte. Anders verhielt es sich mit dem Anbau Jeromes. Mit den Jahren wurde dieses Haus nicht nur größer, es strotzte vor Technik, sodass kaum mehr Personal nötig war. Und seit Jerome mit seiner jetzigen Frau dort lebte, war es unpersönlich und steril geworden.
Leona atmete tief durch.
Der Winter ... Wäre dieser Winter nicht gewesen ...
Ohne wirklich etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen, starrte Leona aus dem Fenster. Sie sah andere Bilder, nicht, was draußen war. Sie hatte den Winter von damals vor Augen. Einen Winter, der ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellte. Mit der eisigen Kälte hielt der Hunger im Land Einzug. Damals ...
***
Leona Mureni deckte müde den Tisch. Auch heute fiel das Abendessen spärlich aus. Wieder einmal gab es nur heißen Tee und Brot. Für eine größere Auswahl reichte es schon lange nicht mehr.
Sie hatte nicht bemerkt, dass Sebastian leise in die Küche gekommen war. Als er sie jetzt von hinten umarmte, lächelte sie glücklich.
„Du hast Brot gebacken“, sagte er dankbar. „Ich habe es schon auf dem Flur gerochen. Was für ein leckeres Abendessen.“
Leona drehte sich um und küsste ihn zärtlich auf den Mund.
„Sebastian, du neigst zu Übertreibungen. ... Du bist ja eiskalt. Setz dich, und trinke eine Tasse heißen Tee. Ein warmes Getränk wärmt von innen.“ Sie lächelte angespannt. „Wo bleiben denn Jerome und Sana?“
Sebastian nahm am großen Küchentisch Platz. Erst nachdem er von seinem Tee getrunken hatte, antwortete er.
„Ach Leona, du kennst doch deinen Sohn. Er will weiter arbeiten bis ...“ Sebastian lächelte gequält. „Jerome ist im Labor. Er ist überzeugt, dass er kurz vor dem Durchbruch steht. Ich soll ihm dann etwas Brot und heißen Tee bringen. Und Sana kommt später. Sie hat in der Klinik noch alle Hände voll zu tun.“
Sebastian sah sorgenvoll zum Fenster. Es schneite noch immer. Und das bereits seit Wochen. Ein Ende war noch lange nicht in Sicht.
Leona setzte sich zu ihm auf die Bank.
„Sebastian ... Dieser Winter macht mir Angst. Seit fast einem Jahr nur Eis und Schnee. Die Vorräte ... Wir haben kaum mehr etwas. Und ... sei ehrlich, du glaubst genauso wenig wie ich daran, dass Jerome künstliche Nahrungsmittel wachsen lassen kann, die den Hunger nicht nur stillen, sondern das Leben erhalten.“
Sebastian schluckte.
„Nicht wachsen, Leona“, sagte er leise. „Jerome ist sicher, dass es ihm gelingt, künstliche Nahrung herzustellen. Im Labor.“ Er nippte gedankenverloren von seinem Tee. „Überall verhungern die Menschen. Ich war heute mit Jerome in der Stadt. Es ist ...“
Er redete nicht weiter. So lange er lebte, hatte er so einen Winter noch nie erlebt. Die Tage waren von den Nächten kaum mehr zu unterscheiden. Es gab entweder ein helles oder ein dunkles Grau. Richtig Tag wurde es schon lange nicht mehr. Und an den Scheiben der Fenster bildeten sich immer mehr Eiskristalle. Seit Monaten schon lagen die Felder unter einer dicken Schneeschicht. Und noch immer gab es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass endlich Tauwetter einsetzten würde. Die Bauern hatten sich von ihren Notbeständen getrennt. Es wurde geteilt. Heute hatte Sebastian mit seinem Sohn die letzte Ration an Obst, Gemüse, Getreide und Brot unter der noch lebenden Bevölkerung verteilt. Die Menschen hungerten. Und sie verhungerten. Deshalb bemühte sich Jerome, künstliche Nahrungsmittel herzustellen. Deshalb arbeitete er unter Hochdruck. Worüber Leona zweifelnd mit dem Kopf schüttelte. Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas möglich war. Sie verstand nicht, dass für Jeromes Versuche ihre sowieso schon geringen Bestände vergeudet wurden. In letzter Zeit war auch Sebastian skeptisch geworden. Dennoch stand er seinem Sohn weiterhin tatkräftig zur Seite.
Leona am Fenster
Leona stöhnte. Ihre Enkelin war noch immer nicht zurück. Und jetzt prasselten auch noch dicke Regentropfen gegen die Fensterscheibe.
„Damals“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild in der Scheibe. „Da hatte niemand, wirklich niemand daran geglaubt oder es für möglich gehalten, dass Jerome tatsächlich künstliche Nahrung herstellen würde. Aber er hat es geschafft. Mein Sohn hat Unmögliches vollbracht. Er hat die Menschheit vor dem Hungertod bewahrt.“
Damals hatten die Überlebenden das erste Mal nach langer Zeit wieder Hoffnung. ...
***
Niemand war mehr gezwungen, zu verhungern. Leona war stolz auf ihren Sohn. Gegen allen Erwartungen war es ihm gelungen, künstliche Nahrungsmittel herzustellen. Sogar das Aussehen seiner Produkte glich den bisher gewohnten natürlichen Lebensmitteln. Und wesentlich wichtiger, seine Erzeugnisse machten satt. Die Menschen hatten wieder Hoffnung und Lebenswillen. Nach langer Zeit lernten sie endlich wieder, zu lächeln. Und das, obgleich der strenge Winter noch immer kein Ende nahm. Seit über einem Jahr blieb das Land unverändert unter einer dicken Schicht aus Eis und Schnee begraben. Landwirtschaft war weiterhin undenkbar. Die Tage blieben kalt und grau. Mit dieser Monotonie ließ das nächste Problem nicht lange auf sich warten. Die Eintönigkeit und das fehlende Sonnenlicht legten sich auf die Gemüter der Menschen. Die Bevölkerung versank in Traurigkeit und Lethargie.
„Die Sonne fehlt“, jammerte Leona. „Geht das so weiter, rottet sich die Menschheit selbst aus.“
Sebastian schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Auch ihm war bekannt, dass die Selbstmordrate ins Unermessliche stieg, und dass die herkömmlichen Antidepressiva versagten. Menschen, die den Hunger überlebt hatten, wurden jetzt Opfer ihrer abgrundtiefen Traurigkeit. Sie nahmen sich das Leben. Es fehlte Licht und Sonne. Ohne Sonnenlicht war Leben nicht möglich.
Und wieder war es Jerome Mureni, der nach Abhilfe suchte. Er entwickelte ein Medikament, Happipiru, das die Menschen aus ihrer Mutlosigkeit und Depression holte. Damit fanden sie zwar aus ihrem Trübsinn, allerdings waren sie gezwungen, Happipiru ständig zu nehmen. Ansonsten fielen sie wieder in ihre tiefe Traurigkeit zurück. Und da der Winter die Welt weiterhin in frostiger Umarmung hielt, war die Bevölkerung ein weiteres Mal auf Jerome Mureni angewiesen.
Sie benötigten Nahrung und Happipiru. Und beides stellte Jerome her.
„Das ist nicht gut“, murmelte Sana. „Die Bevölkerung braucht Jerome immer mehr, um zu überleben. Das ist nicht gut. Diese Last sollte nicht von einer Person getragen werden.“
Leona nickte. Auch ihre Schwiegertochter hatte bemerkt, dass sich Jerome veränderte. Nein, diese Abhängigkeit der Bevölkerung von einem einzigen Mann, von Jerome Mureni, war nicht gut.
2.2
So etwas hatte es noch nie gegeben. Noch nie hatte ein Winter so lange angehalten. Es gab nur Grau und Schwarz. Nur Frost und Unbehagen. Auf dem Land spitzte sich die Lage mehr und mehr zu. Einzig in der Stadt ging es den Menschen besser. Hier gab es Nahrung, Medikamente und Wärme. Dass Jerome Mureni künstliche Nahrungsmittel herstellte und unter der Bevölkerung verteilte, sprach sich schnell herum. Kein Wunder, dass die Landbevölkerung von Kälte und Hunger getrieben in die Stadt pilgerte. Ein Umstand, der Bürgermeister Ägidius Baum immer mehr Kopfschmerzen bereitete. Weshalb der dünne, kahlköpfige Mann, der stets Anzug und Krawatte trug, grübelnd hinter seinem Schreibtisch saß. Kein Wunder, dass er dermaßen in Gedanken, beim Klingeln des Telefons erschrocken zusammenzuckte. Nach einem kurzen Gespräch legte Ägidius Baum verwirrt auf. Sein alter Schulfreund Jerome, den er schon seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte, lud ihn zu einem Treffen auf das Gut seiner Eltern ein. Einen Grund gab er nicht an. Ägidius sah gedankenverloren auf das Telefon. Er konnte sich kaum mehr erinnern, wann er das letzte Mal auf dem Landsitz der Murenis war. Schon alleine deshalb, aus lauter Neugierde, nahm er die überraschende Einladung Jeromes an.
Jetzt betrachtete er staunend das um einiges vergrößerte Haus. Im riesigen Anbau setzte sich die ihm vertraute und stets bewunderte Fassade des alten Landhauses fort. Er war noch in seiner Betrachtung vertieft, als ihm von Leona lächelnd die Tür geöffnet wurde.
„Ägidius, ich freue mich, dass du den Weg zu uns gefunden hast. Ist schon lange her, seit du das letzte Mal bei uns warst.“
Der Bürgermeister klopfte verlegen den Schnee von den Schuhen und trat ein.
„War nicht böse gemeint, Leona“, entschuldigte er sich. „Erst das Studium und dann ...“
Er sprach nicht weiter. Jerome kam in diesem Moment durch die große, mit weißem Marmor ausgelegte Eingangshalle.
„Ägidius, alter Freund. Schön, dass du hier bist“, begrüßte Jerome seinen alten Schulfreund herzlich. „Schon lange nicht mehr gesehen. Ich muss sagen, du hast dich verändert. Wo sind deine Haare geblieben?“, lachte er gut gelaunt.
Ägidius strich verunsichert über seinen kahlen Kopf.
„Tja, die Glatze habe ich schon lange. Wir haben uns nur so selten gesehen. Ich bin in der Stadt und du lebst und arbeitest hier draußen“, rechtfertigte er sich verlegen.
Ihnen war beiden klar, dass das so nicht stimmte. Ägidius hatte sich zurückgezogen. Er litt darunter, dass Jerome bereits in jungen Jahren Erfolg hatte und er in allem hinterherhinkte. Erst jetzt, da er Bürgermeister war, fühlte er sich in Jeromes Gegenwart nicht mehr ganz so bedeutungslos.
„Ägidius, hat mich gefreut. Ich hoffe, wir sehen dich jetzt öfter“, verabschiedete sich Leona lächelnd.
Auf dem Weg durch die weiten Flure des Hauses, kam Ägidius aus dem Staunen nicht heraus. Das Anwesen war riesig und in zwei Gebäudeteile unterteilt, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Während der Wohnbereich, in dem Jeromes Eltern lebten, mit seinen Erinnerungen übereinstimmte, gestaltete sich der neue Teil groß und weitläufig. Im Wohnzimmer Jeromes wartete sein Vater. Auch von Sebastian wurde Ägidius herzlich begrüßt. In dem Moment, in dem er in einem der ledernen Sessel neben den Vater seines Freundes Platz nahm, wurde Ägidius klar, dass dieses Treffen nicht der alten Zeiten wegen stattfand. Um seine Beklemmung zu überspielen, erinnerte sich Ägidius daran, dass er der Bürgermeister war.
„Die Bevölkerung wächst ins Unermessliche. Hunger und Kälte treiben immer mehr Menschen in die Stadt. Und da du dich schon seit einigen Jahren um das Wohlergehen der Bewohner sorgst, denke ich, du hast mich deshalb hergebeten. Wir brauchen mehr Wohnungen. Darüber wolltest du und dein Vater doch sicher mit mir sprechen, nicht wahr, Jerome.“
Jerome setzte sich seinem Freund gegenüber in einen Sessel.
„Richtig, Ägidius, die steigende Bevölkerungszahl. Das ist der Grund, weshalb ich dich eingeladen habe“, bestätigte Jerome.
Der Bürgermeister sah seinen Schulfreund erfreut an.
„Ja, ich wusste, dass du dir darüber Gedanken machst. Ich freue mich, dass du mir bei diesem Problem helfen willst. Wie ich euch beide kenne, habt ihr sicher schon Baupläne für mich.“
Er lachte leutselig. Jerome lächelte. Und Sebastian, der neben Ägidius auf der Couch Platz genommen hatte, schmunzelte.
„Nicht ganz, Ägidius. Du kennst meinen Vater. Und du kennst mich. Wir lassen uns immer etwas Neues einfallen. Und genau deshalb, als Architekt und Erfinder, sage ich dir, dass diese Stadt nicht nur weitere Wohnungen und Häuser braucht. In erster Linie ist etwas anderes von Nöten. Ein ausgeklügeltes System, mit dem die Stadt leichter zu kontrollieren und vor allen Dingen überschaubarer wird.“
Mit einem Male fühlte sich Ägidius Baum nicht mehr wohl. In Jeromes Stimme lag etwas, das ihn aufhorchen ließ. Als ihm schlagartig bewusst wurde, auf was sein ehemaliger Schulfreund jeden Moment zu sprechen kommen würde, schwitzte er. Weshalb er sich nervös in eine Ecke der Couch drückte. Mit den vielen Zuwanderern blühte der Schwarzmarkt. Künstliche Lebensmittel wurden zu horrenden Preisen gehandelt. Vorwürfe vonseiten Jeromes, waren durchaus berechtigt. In der Zeit der Hungersnot verteilte er diese Nahrungsmittel kostenlos. Und jetzt, da niemand mehr Hunger leiden musste, jeder seiner Arbeit nachgehen konnte, verlangte er für die Herstellung seiner Produkte einen geringen Betrag. Was wiederum in den Augen des Bürgermeisters nur recht und billig war. Und doch ...
„Nein! Nein, Jerome“, warf Ägidius aufgeregt ein. „Ich denke, das siehst du falsch. Die Menschen benötigen ein Dach über den Kopf. Sie brauchen Wärme und etwas zum Essen. Dieser Winter ... Er ist der Schlimmste, den es je gegeben hat. Die Felder können noch immer nicht bestellt werden. Und ...“
Jeromes mildes Lächeln und die Art, wie er ihn musterte, ließ Ägidius verstummen.
„Vollkommen richtig, Ägidius. Die Menschen, die in unsere Stadt kommen, brauchen dringend Nahrung und eine Behausung. Nur ... Wie soll ich sagen, Ägidius? Du weißt genauso gut wie ich, dass der Schwarzmarkt seit dem immensen Bevölkerungswachstum überhandnimmt. Mit den von mir hergestellten Nahrungsmitteln, die ich, wie dir bekannt ist, günstig anbiete, verdienen sich andere eine goldene Nase. Meine Produkte werden billig eingekauft und völlig überteuert weiterverkauft. Und das vorzugsweise an Menschen, die kaum etwas haben. Das, Ägidius, ist nicht Sinn der Sache.“
Der Bürgermeister strich verlegen über sein glatt rasiertes Kinn.
„Ich weiß, Jerome. Ich weiß. Und, wirklich, uns allen ist klar, dass du fair bist. Deine Lebensmittel sind für jeden erschwinglich. Ich ... Wir tun alles Menschenmögliche, um diese unseriösen Geschäfte zu unterbinden. Nur ... Im Moment, Jerome, können wir nicht mehr tun. Ich habe überall Kontrollen aufstellen lassen. Und ...“
Er redete erneut nicht zu Ende. Unter Jerome Murenis prüfenden Blick fand er nicht die richtigen Worte, fühlte er sich wieder in ihre Schulzeit zurückversetzt. Ägidius kam sich klein und nichtig vor.
Sebastian, der bisher schweigend zugehört hatte, lehnte sich in seinem Sessel vor.
„Ägidius“, beschwichtigte er. „Niemand macht dir Vorwürfe. Wir wissen, dass du alles tust, um diese unsauberen Geschäfte zu unterbinden. Jerome und mir ist vollkommen klar, dass dein Job nicht leicht ist. Ich bitte dich nur, dir anzuhören, was Jerome zu sagen hat. Dein Freund hat recht. Dieser unseriöse Handel, diese schmutzigen Geschäfte nehmen beängstigende Formen an. Je mehr Menschen vom Land in die Stadt kommen, umso schlimmer wird es. So kann das nicht weitergehen. Noch dazu niemand sagen kann, wie lange dieser verdammte Winter noch anhalten wird. Jerome hat sich etwas Geniales einfallen lassen. Du kannst mir glauben, das ist keine schlechte Idee, die er da hat.“
Der Bürgermeister nickte.
„Ist besser“, lächelte Jerome, „ich zeige es dir. Glaube mir, ist leichter, als dass ich dir etwas erkläre, von dem du keine Vorstellung haben kannst.“
Nein, davon hatte Ägidius Baum wirklich keine Ahnung. Jetzt kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nicht nur, dass das Mureni-Haus riesig und hypermodern eingerichtet war, verfügte es zudem über ausgeklügelte technische Raffinessen, von deren Existenz er nicht einmal wusste.
„Du kennst meine Mutter, Ägidius, und du weißt, dass sie eine leidenschaftliche Köchin ist. Ich muss zugeben, selbst aus synthetischen Produkten versteht sie es, ein geschmackvolles Essen zuzubereiten. Ich denke, es gibt nur wenige, die das können“, erklärte Jerome, als er den Bürgermeister in seine Küche führte.
„Deine Mutter war schon immer eine exzellente Köchin“, sagte Ägidius leutselig. „Sie schafft es, aus diesem Imitat ein Essen zu kochen, das nach etwas schmeckt? Meine Frau ... Ich will dir nicht zu nahe treten, Jerome, meine Frau ... Wir sind froh, dass niemand verhungert. Was wir alleine dir zu verdanken haben, aber geschmacklich ...“
Ägidius kam ins Stottern und Jerome lachte.
„Ich weiß. Deshalb zeige ich dir meine Küche.“
Der Bürgermeister sah sich suchend um.
„Ich ... Eine Küche ohne ... Das ist nur ein Schrank ... Es fehlt ... der Herd und ...“, stotterte er verwundert.
„Dafür gibt es das hier, mein Freund“, schmunzelte Jerome, wobei er auf den Kasten zeigte. „Gut, auf was hättest du denn Appetit? Oh, warte, wenn ich mich recht erinnere, kenne ich dein Leibgericht.“
Ägidius Baum sah Jerome perplex an.
„Schnitzel mit Bratkartoffeln“, sagte Jerome laut.
Dabei sah es so aus, als hätte er mit diesem Möbelstück gesprochen. Ägidius erstarrte, als sich gleich darauf eine Tür öffnete und wie von Zauberhand das Menü serviert wurde.
„Probiere, bevor es kalt wird“, forderte Jerome seinen Freund auf.
Der Bürgermeister war begeistert.
Jerome lächelte selbstbewusst.
„Mit dieser Vorrichtung erhält deine Frau je nach Wunsch die Zutaten, um selbst kochen zu können. Oder sie ordert bereits fertige Menüs. Und das alles mittels Sprachbefehl.“
Ägidius Baum sah Jerome völlig hingerissen an.
„Und wie wird bezahlt, Jerome? Wie soll das funktionieren?“
Sebastian lachte leise.
„Dafür, mein Junge, ist etwas nötig, wobei wir deine Unterstützung brauchen. Aber lass dir das alles in Ruhe von Jerome erklären. Ich bin überzeugt, du wirst begeistert sein.“
Leona am Fenster
Leona stand noch immer am Fenster. Solange ihre Enkelin nicht zurück war, würde sie diesen Platz nicht verlassen.
Gedankenverloren strich sie mit einem Finger der linken Hand über die Innenseite ihres rechten Unterarms. Was wäre gewesen, fragte sie sich, hätte Ägidius Baum den Plänen ihres Sohnes nicht zugestimmt?
Sie seufzte leise.
Zu jener Zeit war nicht nur der Bürgermeister von Jerome abhängig. Sie alle waren auf ihren Sohn angewiesen. Was sich auch bis heute nicht geändert hatte.
Seinerzeit hatte Ägidius Baum nur dem zugestimmt und in die Wege geleitet, was Jerome geplant und gewollt hatte. Auf seinen Rat hin, führte der Bürgermeister eine neue Währung ein, für die weder eine Karte noch Geld gebraucht wurde. Jedem Bewohner der Stadt wurde ein Chip unter die Haut seines rechten Unterarms implantiert. Um zu bezahlen, eine Bestellung aufzugeben oder Lohn zu erhalten, musste dieser Arm an ein dafür konzipiertes Gerät gehalten werden.
Sebastian war von dieser neuen Errungenschaft angetan. Und er konnte auch Ägidius Baum dafür begeistern. Anders Leona. Sie hatte Angst. Und es dauerte nicht lange, da machten sich auch bei Sebastian die ersten Zweifel bemerkbar. Aber da war es schon zu spät. Ab diesem Zeitpunkt konnte nichts mehr aufgehalten oder verändert werden.
Und doch hatte Leona kurze Zeit nach dieser Erneuerung das Gefühl, es würde sich endlich wieder alles zum Guten wenden. Damals, als der Winter ... Sie lachte bitter.
„Welch trügerische Hoffnung.“
***
2.3
Tauwetter.
Nach genau einem Jahr und fünf Monaten Winter setzte endlich Tauwetter ein. Die Sonne kämpfte sich durch die dicke Wolkendecke und ließ nach undenklichen Zeiten den Schnee schmelzen. Je wärmer es wurde, umso mehr ging ein erleichtertes Aufatmen durch das Land. Und genau, wie die Natur zu neuem Leben erblühte, lebten auch die Menschen wieder auf. Die Bauern bestellten ihre Felder und es stand erneut prächtiges Vieh in den Ställen. Geradeso, als ob es nie anders gewesen wäre. Die Bäckereien verkauften wie gewohnt Brot und süße Leckereien. Und mit einem Schlag herrschte wieder das altgewohnte, geschäftige Treiben in der Stadt. Es wurden Läden entstaubt und neu eröffnet. Bars und Gastwirtschaften öffneten ihre Türen und hießen ihre Gäste aufs herzlichste Willkommen. Die Menschen lebten wieder. Und mit einem Schlag war niemand mehr auf Jerome Mureni und seine künstlichen Lebensmittel und auf sein Happipiru angewiesen. Mit dem Winter schwand auch seine Macht.
Das, zumindest, glaubten die Menschen. Bis sie eines Besseren belehrt wurden. Der lange Winter hatte die Jahreszeiten verändert. Im Frühling und im Sommer fegten nicht selten heftige Stürme durchs Land. Auf trockene, heiße Tage folgte oft wochenlanger Regen. Von diesen Unwettern wurde die Ernte schon vernichtet, noch bevor sie eingebracht werden konnte. Und die Wintermonate hielten länger an, als es in früheren Zeiten der Fall war. Zu allem Überfluss dauerte ein Winter in jedem dritten Jahr ganze zwölf Monate.
In dieser harten Zeit kannte Jeromes Erfindungsreichtum keine Grenzen. Er ließ spezielle Gewächshäuser bauen, die Wind und Wetter standhielten. Die Kosten dafür waren dermaßen immens, dass sich kaum einer aus der Bevölkerung ein Treibhaus leisten konnte. Weshalb schon bald die meisten Landwirte für Jerome arbeiteten. Trotz allem reichten die Erträge nicht für die gesamte Einwohnerschaft. Womit die Menschen weiterhin auf Jerome Murenis künstliche Nahrungsmittel und auf sein Wohlwollen angewiesen waren.
Um den steigenden Bedarf an Lebensmitteln zu decken, ließ Jerome weitere Fabriken bauen. In einigen dieser Betriebe wurden billige, in anderen, kostspielige Nahrungsmittel hergestellt. Am schnellsten in der Produktion, und für jedermann erschwinglich, waren bunte Pillen. In Wasser aufgelöst ersetzten sie eine komplette Mahlzeit. Selbstverständlich gab es auch weiterhin die Lebensmittel der ersten Generation. Jerome hatte diese Produktion dafür jedoch verbessert. Gemüse, Getreide, Brot, Fleisch und Obst waren von natürlichen Lebensmitteln kaum mehr zu unterscheiden. Sie schmeichelten nicht nur dem Auge, sondern auch dem Gaumen.
Mit dieser neuen Entwicklung war Leona nicht einverstanden. Denn mit einem Male waren die Menschen erneut von ihrem Sohn abhängig. Mit der Herstellung von Nahrungsmittel hatte Jerome schon von jeher eine gefährliche Monopolstellung eingenommen. Mit den Treibhäusern und seiner Ernte von Naturprodukten, verstärkte sich seine Macht. Er wurde immer reicher und angesehener. Und mit ihm die Menschen, die seine Gunst erwarben und ihre Credits in seine Vorhaben investierten. Die sozialen Unterschiede in der Bevölkerung wurden größer. Die Kluft zwischen Arm und Reich dehnte sich mehr und mehr aus.
„Warum tust du das? Jerome, warum bringst du vor allem die Armen um den Genuss eines annähernd richtigen Essens?“, erkundigte sich Leona besorgt.
Jerome sah seine Mutter verwundert an.
„Die Hungersnot, Mutter, war vor fünf Jahren. Wenn du dich erinnerst, war ich es, der dafür sorgte, dass die Menschheit überlebte. Seinerzeit waren wir alle gezwungen, uns an das veränderte Wetter und die dadurch bedingten anderen Lebensumstände anzupassen. Verstehst du? Wir alle mussten damit leben und zurechtkommen.“ Er lächelte schief. „Seit einigen Jahren ist das schon Normalität. Die Menschen arbeiten. Und jeder, der arbeiten und Credits verdienen will, kann das tun. Schon alleine in den Fabriken gibt es mehr als genug Arbeitsplätze. Also, Mutter, erkläre mir, warum ich die Faulheit mancher Existenzen unterstützen soll? Willst du all diese Nichtsnutze durchfüttern? Das Leben geht weiter. Anders als gewohnt. Jeder war gezwungen, sich der neuen Situation anzupassen. Und nichts ist umsonst. Waren das nicht schon von jeher deine Worte?“ Er grinste breit. „Sei ehrlich zu dir selbst, Mutter, möchtest du auf deinen gewohnten Lebensstandard verzichten, den du dank mir genießt? Ich bin mir sicher, dass du nicht in einer Hütte in den Straßen der Stadt leben möchtest. Mache mir also keine Vorhaltungen, Mutter:“
Leona schwieg betroffen. Sie schämte sich. Jerome hatte nur Wahres ausgesprochen.
Und dann ...
Leona am Fenster
Dann kam eine Krankheit, eine Seuche, die sich rasend schnell ausbreitete. Wer sich infizierte, starb innerhalb von nur wenigen Wochen.
Als Leona jetzt daran dachte, schüttelte sie mit dem Kopf. Sie hatten die Hungersnot überlebt. Und sie und Sebastian hatten sich mit der Veränderung ihres Sohnes abgefunden. So langsam waren die Tage wieder annähernd normal. Dann kam diese Seuche. Corana. Und wie damals, als das Volk hungerte, war es Jerome, der die Initiative ergriff und seine Hände nicht in den Schoß legte. Er erinnerte sich, dass er in erster Linie Arzt war. Und wie schon einmal stand ihm auch in dieser schweren Zeit sein Vater hilfreich zur Seite.
***
Niemand wusste, woher diese schwere Krankheit kam. Wo sie ihren Ursprung hatte und durch was sie verursacht wurde. Sie wütete in den Straßen der Stadt und breitete sich rasend schnell aus. Niemand war vor dieser Seuche, vor Corana sicher.
Leonas Sohn war wieder der, den sie kannte, den sie großgezogen hatte. Jerome besann sich darauf, dass er in erster Linie Arzt und Forscher war. Die Gesundheit, das Überleben der Menschen lag im am Herzen. Weshalb er zusammen mit seinem Vater nach einem Heilmittel suchte.
Sana, Jeromes Ehefrau, konnte nicht länger tatenlos auf ein Wunder warten. Sie konnte nicht mit ansehen, wie Menschen ohne ein Dach über dem Kopf und ohne Schutz einsam in den Straßen der Stadt starben, nur weil die Krankenhäuser überfüllt waren. Sana gehörte nicht zu der Art Frauen, die nichts taten und betend auf ein Wunder warteten. Sie wusste, Wunder konnten nur aus Taten heraus geschehen.
‚Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott‘. Das war ihr Leitspruch. Und genau danach handelte sie.
Während ihr Mann fieberhaft nach einem Heilmittel suchte, wollte sie für die Kranken in den Straßen da sein. Wenn diese armen Menschen schon sterben mussten, dann an einem Platz, der ihnen zumindest einen Hauch von Geborgenheit gab. Aus diesem Grunde richtete sie in den Stallungen des Mureni-Anwesens und gegen den Protest ihres Mannes ein kleines Lazarett ein.
„Jerome! Ich bitte dich!“, rief sie aufgebracht. „Ich bin Krankenschwester. Das weißt du. Und du bist Arzt. Du suchst nach einem Mittel, mit dem du die Krankheit bekämpfen kannst. Und so, wie du deinen Teil zum Heil der Menschheit beisteuerst, will auch ich meinen Teil dazu beitragen.“
Jerome sah seine Frau einen Moment schweigend an. Dann nahm er sie liebevoll in die Arme.
„Sana, pass auf dich auf. Sei vorsichtig und verspreche mir, dass du dich nicht ansteckst. Versprich mir das, Liebes.“
Sana nickte.
„Versprochen.“
Leona hatte Angst. Aber auch sie wollte nicht tatenlos bleiben. Sie wollte ebenfalls helfen. Was Sana nicht in der Art zuließ, wie es sich ihre Schwiegermutter vorgestellt hatte.
„Sei vernünftig, Leona“, sagte sie sanft. „Jemand muss doch für das leibliche Wohl sorgen. Du weißt selbst, dass ein Mensch nur dann gesund werden kann, hat er auch etwas Anständiges zum Essen, das ihm Kraft gibt. Du bist die beste Köchin, die ich kenne. Koche Suppe aus dem Gemüse der Treibhäuser. Gemeinsam schaffen wir das, Leona. Wir bleiben alle am Leben, bis Jerome ein Heilmittel gefunden hat. Ich weiß, dass er ein Medikament gegen diese Seuche findet.“
Leona kochte. Und das mehrmals am Tag. Sie war stolz auf ihren Sohn und auf ihre Schwiegertochter. Und doch waren in all diesen Wochen, in denen jeder von ihnen bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten und Kräfte ging, viel zu viele Menschen gestorben. Die Seuche, Corana, war unberechenbar. Und es fielen ihr immer mehr Menschen zum Opfer.
Leona nahm seufzend einen großen Topf mit Suppe vom Herd.
„Ich bin erst siebenundfünfzig Jahre alt und fühle mich wie eine Hundertjährige“, murmelte sie.
Sebastian stellte seinen leeren Teller ins Spülbecken. Er drückte Leona lächelnd an sich.
„Das liegt sicher nur daran, dass du schlecht geschlafen hast. Schaffst du das mit der Suppe? Oder soll ich dir helfen, bevor ich wieder ins Labor gehe?“
Leona schüttelte lächelnd mit dem Kopf.
„Geh nur. Wie gesagt, ich bin erst siebenundfünfzig.“
Sebastian warf ihr unter der Tür eine Kusshand zu.
„Wenn du die Suppe abgeliefert hast, dann ruh dich erst ein bisschen aus.“
Leona nickte. Sie hatte wirklich schlecht geschlafen. Selbst im Traum hatte sie die Schreie der Sterbenden und Trauernden gehört. Sie schüttelte die schweren Gedanken ab und brachte den Topf über den Hof zum Lazarett. Wie besprochen stellte sie ihn auf die Stufen und klopfte drei Mal kurz an die Tür. Simon, ein bulliger, gutmütiger Pfleger, der Sana schon von Anfang an hilfreich zur Seite stand, würde erst öffnen, war Leona in sicherer Entfernung.
„Leona!“, rief er überraschenderweise, kaum dass sie sich nur wenige Schritte entfernt hatte.
Sie drehte sich lächelnd um.
„Ich weiß, Simon, es sind viele Neuzugänge gekommen. Ich koche gleich noch einmal Suppe.“
Der Pfleger schüttelte mit dem Kopf. Erst jetzt sah Leona, dass er weinte. Und mit einem Male fühlte sie einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust.
„Leona“, begann Simon erneut. „Sana ... Sie war schon länger krank. Ich habe es dir nur nicht sagen dürfen. Niemanden. Sie wollte es so. Sie wollte keinem zur Last fallen. Ich ... Leona, sag Jerome, dass sie ihn liebt, und dass ... Sag ihm, sie ist friedlich einge...“
Er brach schluchzend ab und schloss die Tür.
Leona blieb erstarrt stehen. Es dauerte, bis sie die Bedeutung seiner Worte verstand und wie in Trance zurück in ihre Küche ging. Urplötzlich hatte sie keine Kraft mehr. Sie hatte soeben den Menschen verloren, der ihr in dieser schweren Zeit Zuversicht, Hoffnung und eine Aufgabe gegeben hatte. Sana, ihre Schwiegertochter, war tot. Leona setzte sich zitternd an den Küchentisch. Erst jetzt kamen Tränen.
„Alles gut, Liebes?“, rief Sebastian besorgt. „Du hast dich überarbeitet. Du solltest dich wirklich etwas ausruhen. Deshalb bin ich hier. Ich bringe die nächste Suppe ins Hospital. Du legst dich hin.“
Leona hatte ihn nicht kommen gehört. Jetzt sah sie ihn weinend an.
„Sana“, schluchzte sie. „Sie hat sich angesteckt und ...“
Leona am Fenster
Leona wischte Tränen aus ihrem Gesicht. Ihre Enkelin war noch immer nicht zurück.
Sana.
Nein, sie hätte sich keine bessere Schwiegertochter wünschen können. Sana war etwas Besonderes gewesen. Sie hatte stets ein freundliches Wort und ein Lächeln für jeden übrig. Dabei musste sie schon mit so vielem in ihrem Leben fertig werden. Sie hatte darunter gelitten, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Kurz vor Ausbruch der Seuche hatten sie und Jerome sich dazu entschlossen, ein Kind zu adoptieren. Und dann?
Sana starb mit gerade einmal siebenunddreißig Jahren. Den Schrei, als ihr Sohn seine tote Frau in Armen hielt, würde Leona nie vergessen können. Nach dem Tod seiner großen Liebe veränderte sich Jerome. Er wurde hart und rücksichtslos. Jetzt galt nur mehr, was er sagte. Jetzt gab es nur noch eines, das wichtig für ihn war. Macht.
Leona schüttelte müde mit dem Kopf. Wenn Kiana nur endlich kommen würde. Sie kannte doch die Wutausbrüche ihres Vaters.
Wäre Sana nicht gestorben ...
***
Nach Sanas Beisetzung verbarrikadierte sich Jerome im Labor. Er wollte alleine sein, wollte nicht reden müssen. Weshalb er auch seinen Vater nicht zu sich ließ. Leona wusste, ihr Sohn wollte nicht, dass ihn irgendjemand weinen sah. Sie konnte seine Trauer und seinen Schmerz fühlen. Tief in ihrem Herzen. Er war ihr Sohn.
Kurze Zeit später kam Corana auch ins Mureni-Haus. Sebastian und Leona hatten sich angesteckt.
„Leona, Liebes“, flüsterte Sebastian. „Du weißt, ich liebe dich für immer und ewig. Und über den Tod hinaus. Ich danke dir, dass du mich zu deinem Mann genommen hast.“ Er lächelte. „Und dafür, dass du es all die Jahre mit mir ausgehalten hast.“
Sie überlebten. Beide. Jerome hatte ein Heilmittel gefunden. Für Sana und für viele andere kam diese wundersame Rettung zu spät. Unter den unzähligen Opfern war auch Jeromes Schulfreund, Bürgermeister Ägidius Baum. Und ohne, dass es die stark dezimierte und geschockte Bevölkerung realisierte, wurde Jerome Mureni zum mächtigsten Mann der Stadt. Er war es, der für Nahrung, Medikamente und für die Sicherheit der Bewohner sorgte. Durch ihn hatten sie überleben können. Jetzt zählte sein Wort. Und da er überzeugt war, dass diese Seuche aus dem Umland eingeschleppt wurde, erhob auch niemand Einwand, als er die Stadt und das angrenzende Land abschirmen ließ. Ab diesem Zeitpunkt gestattete Jerome niemanden, sich außerhalb der Stadt aufzuhalten. Und um zu verdeutlichen, dass er das Sagen hatte, nannte er die Stadt mitsamt dem abgeschirmten Bereich Bezirk.
Leona am Fenster
Leona atmete tief durch.
Hätten Sebastian und sie Jerome aufhalten können? Nein. Ihr Sohn war nicht mehr aufzuhalten. Nicht damals ...
***
2.4
Die Jahre vergingen und Corana geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Die Menschen passten sich der neuen Lebenssituation an. Sie nahmen die langen Winter genauso hin, wie die heißen Sommer mit ihren heftigen Stürmen und Regenfällen. Und sie lernten, sich über die wenigen warmen Tage und über die kurze Sommerzeit zu freuen. Alles wurde Normalität.
Auch in der Familie Mureni herrschte wieder Friede. Jerome war mittlerweile vierzig Jahre alt. Und Leona war überzeugt, dass ihr Sohn den Tod seiner Frau Sana nie überwinden würde. Umso überraschter war sie, als er eines Tages verkündete, er würde heiraten. Seine Auserwählte, Sybill Kinor, war eine kleine, zierliche Frau, die gerne lachte. Sie ähnelte im Aussehen und Wesen Sana. Und sie zeigte ihre Liebe zu Jerome offen. Womit sie das Herz Leonas im Sturm eroberte. Mit Sybill veränderte sich Jerome. Endlich wurde er wieder zu dem Mann, zu dem Sohn, den Leona so lange vermisst hatte.
Dieses Wunder war nur leider nicht von Dauer.
In ihrer Ehe mit Jerome verlor Sybill plötzlich ihre gewohnte Fröhlichkeit. Die junge Frau wurde ungewöhnlich ernst. Sie war häufig tief in Gedanken versunken und war mehr und mehr in sich gekehrt. Besorgten Fragen vonseiten Leonas wich sie aus. Leona war nicht blind. Sie kannte ihren Sohn, und sie bemerkte die erneute Veränderung in seinem Wesen. Jerome verkroch sich in seine Arbeit. Sybill bekam ihren Mann kaum mehr zu Gesicht.
Leona sorgte sich.
„Sebastian“, begann sie, als sie gemeinsam am Abendbrottisch saßen.
„Bitte Leona“, wehrte Sebastian ab. „Ich kann mir schon denken, was du auf dem Herzen hast. Ich bin schließlich nicht blind. Aber glaube mir, du musst die beiden einfach lassen. Nicht jede Ehe ist wie die unsere. In vielen Beziehungen gibt es hin und wieder Streit und Missverständnisse. Die beiden schaffen das schon. Auch ohne, dass wir uns einmischen. Ist nur eine Krise. Glaube mir.“
Er nahm eine weitere Scheibe Brot und zwinkerte Leona leutselig zu.
„Wir, Leona, haben das Wunder der wahren Liebe.“
Dann wurde Sybill schwanger. Die Ehekrise war überstanden, Sybill blühte auf und Jerome trug seine Frau auf Händen. Er freute sich darauf, Vater zu werden. Leona atmete erleichtert auf. Ihr erster Enkel.
„Sebastian! Bald sind wir Großeltern. Dabei sehen wir nicht aus wie Oma und Opa. Ich dachte immer ...“ Sie lachte glücklich. „Na ja, du weißt schon. Runzeln, Falten und so.“
Sebastian nahm seine Frau schmunzelnd in die Arme.
„Leona, du bist wunderschön. Und du wirst mit Abstand die schönste und liebevollste Großmutter der Welt sein.“
Leona sah ihren Mann prüfend an. Trotz seiner lieben Worte lag etwas in seiner Stimme, das sie nicht einordnen konnte.
„Sebastian“, sagte sie leise.
„Ach, Leona, mein Herz, du kennst mich besser, als ich mich kenne“, versuchte er zu scherzen. „Du hörst Zwischentöne, die ...“ Er seufzte tief. „Ich habe nur so ein komisches Gefühl in der Magengegend. Womöglich ist das nur die Angst eines werdenden Großvaters, bei der Geburt könnte etwas ... So eine Geburt ist für beide Seiten nicht leicht. Weder für die Mutter, noch für das Kind. Jeromes Geburt war nicht einfach, Leona.“ Er drückte seine Frau fest an sich. „Damals ...“
Er sprach nicht weiter. Aber das war auch nicht nötig. Als ihr Sohn geboren wurde, wäre Leona fast gestorben. Der Grund, weshalb sie keine weiteren Kinder hatten.
Wenige Wochen später war alle Angst und Sorge vergessen. Jerome wurde Vater. Und das mit zweiundvierzig Jahren. Sebastian lachte über sein mulmiges Gefühl von damals. Ihr Enkel Tikon war da. Jeromes und Sybills Sohn kam kerngesund zur Welt. Und Sybill hatte die Geburt gut überstanden. Die junge Frau plante bereits gut gelaunt und neckend die nächste Schwangerschaft.
„Jerome“, lachte sie, „nicht sofort, aber doch sobald Tikon zwei oder drei Jahre alt ist.“
Jerome schmunzelte. Ohne Frage, auch er wollte weitere Kinder.
Leona am Fenster
Leona lächelte gedankenverloren. Damals war die Welt in Ordnung. Sie waren glücklich. Noch heute sah sie ihren Enkel Tikon, wie er in ihre Küche kam und Kekse naschte. Sie sah Sybill, wie sie ihrem kleinen Sohn liebevoll die Nase putzte. Sie sah Jerome, einen verständnisvollen Vater. Und sie sah Sebastian, der in seiner Großvaterrolle zu wachsen schien. Sie sah so viele kostbare Momente, die viel zu schnell verflogen waren. Sie stöhnte laut.
Glück war ein seltsames Ding. Glück war nie von Dauer. Glück war ein Gast, der kurz hereinschaute und zeigte, wie schön das Leben sein könnte, wenn ...
Nein, Glück war nicht von Dauer.
***
„Tikon“, lachte Leona, „ich denke doch, du hast schon genügend Kekse gegessen. Wenn du noch mehr isst, bekommst du Bauchschmerzen. Und was glaubst du, was deine Mutter dann mit mir macht?“
Leona stellte die Keksdose lachend zurück ins Regal.
„Mutter.“
Sie hatte Jerome nicht kommen gehört. Als sie sich umdrehte, zuckte sie erschrocken zusammen. Er hatte nicht nur traurig geklungen. Ihr Sohn weinte. Und weinend nahm er seinen Sohn Tikon in die Arme.
„Ich habe Ärzte kommen lassen. Sybill geht es nicht gut. Sie ... Ich glaube ...“
Er sprach nicht weiter.
Leona und Sebastian eilten zu ihrer Schwiegertochter. Sybill lag schwach und erschreckend blass im Bett. Trotz ihrer deutlich sichtbaren Schmerzen versuchte sie zu lächeln.
Jerome zog weitere Ärzte hinzu. Nicht einer konnte helfen. Sybill wurde schwächer und sie magerte ab. Von Krankheit und Schmerzen gezeichnet sah sie uralt aus.
In dieser Zeit wurde Jerome wortkarg. Er zog sich zurück. Und er schirmte seine kleine Familie ab. Er sperrte nicht nur Freunde und Bekannte aus, auch seine Eltern. Für Tikon stellte er, trotz Protest seiner Mutter, ein Kindermädchen ein. Ab diesem Tag sahen Leona und Sebastian ihren Enkel nur mehr sehr selten.
Den vierten Geburtstag ihres Sohnes konnte Sybill nicht mitfeiern. Dazu war sie zu schwach. Aber sie hielt durch. Sie starb erst eine Woche nach der kleinen Feier, zu der Jerome überraschenderweise auch seine Eltern eingeladen hatte.
An der Beerdigung regnete es in Strömen. Jerome stand ohne Schirm und mit versteinerter Miene am Grab. Tikon hatte er in der Obhut des Kindermädchens gelassen. Leona mochte diese große, dunkelhaarige Frau nicht besonders. Nach dem Tod Sybills blieb sie im Haushalt Jeromes.
„Sebastian“, sagte Leona eines Tages. Sie saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln.
Ihr gegenüber am Tisch hatte sich ihr Mann in eines seiner uralten Bücher vertieft.
„Sebastian“, wiederholte sie etwas lauter.
Sebastian legte den Zeigefinger auf die Zeile im Buch, die er gerade gelesen hatte. Seufzend sah er seine Frau an.
„Ida ... Sie ist jetzt schon ein Jahr in unserem Haus. Diese Frau vereinnahmt unseren Enkel. Sie tut so, als sei Tikon ihr Sohn. Wir sehen ihn nur noch selten. Und wenn, dann ist er vollkommen auf Ida fixiert. Diese Frau entfremdet ihn uns, Sebastian“, klagte Leona, wobei sie die Kartoffeln bearbeitete, als seine die Knollen an diesem Dilemma schuld.
Sebastian nickte. Weiter kam er nicht. Leona redete bereits.
„Weißt du, was ich denke?“
Sie machte eine Pause und sah Sebastian fragend an. Er wusste, eine Antwort war nicht nötig. Leonas Frage war rein rhetorisch.
„Ich für meinen Teil denke, dass Ida liebend gerne eine Mureni werden möchte. So auffällig wie sie sich um Tikon kümmert und um Jerome herumschwänzelt.“ Sie warf eine geschälte Kartoffel in den Topf. „Sebastian, glaubst du ... Ich meine ... Denkst du, dass Jerome und Ida ...?“
Trotz der Tragik, die in Leonas holperigen Worten mitschwang, musste Sebastian laut lachen.
„Oh ja, Leona, das denke ich nicht nur. Das weiß ich. Die beiden schlafen miteinander.“
Leona sah ihren Mann entsetzt an.
„Das hättest du ruhig etwas umschreiben können“, tadelte sie.
Sebastian schmunzelte.
„Und? Was wäre dann anders? Wozu um den heißen Brei herumreden? Das ist nun mal so, Leona. Menschlich würde ich sagen. Ida ist keine hässliche Frau.“
Leona blieb dabei, Ida wollte unbedingt eine Mureni werden. Sie wollte, dass Jerome um ihre Hand anhielt. Was nie geschah. Sie blieb Jeromes Bettgespielin. Und ... er schwängerte sie. Zwei Jahre nach Sybills Tod, schenkte sie ihm einen weiteren Sohn.
Mit der Geburt ihres zweiten Enkels, Jarin, hoffte Leona, dass sich alles bessern würde. Sie glaubte fest daran, dass Jerome die Mutter seines Kindes heiraten würde. Nichts dergleichen geschah. Es war nicht zu übersehen. Jerome liebte Ida nicht. Für ihn war sie einzig die Mutter seines zweiten Sohnes und Ersatzmutter für seinen Erstgeborenen. Und sie blieb seine Bettgenossin, die er sich in sein Bett holte, wann immer er wollte.
Leona am Fenster
Leona wischte Tränen aus ihrem Gesicht. Sie hatte das alles verdrängt. Und jetzt kam alles wieder hoch.
Ida Rosala sah ihren Sohn genauso wenig aufwachsen, wie Sybill. Sie starb, als Jarin vier Jahre alt war.
Und Jerome?
Nein. Er trauerte nicht. Er wirkte kalt und gefühllos. Und ... nachdenklich. Bis er Mother Sarem, eine junge Frau aus den Upper Hoobs kennenlernte. Sie stammte aus gutem Hause. Was für Jerome bedeutete, dass sie Manieren hatte, gut aussah und ihre Eltern betucht waren. Zur Frau nahm er Mother seinerzeit nicht. Noch nicht. Er engagierte sie als Kindermädchen für seine Söhne.
Jetzt, da sich Leona an diese Zeit erinnerte, wurde ihr immer klarer, dass ihr Sohn bereits damals einen Verdacht hatte, den er geheim gehalten hatte. Zumindest vor seinen Eltern und vor der gesamten Bevölkerung. Nicht aber vor Mother. Da war sich Leona heute sicher. Jerome kehrte alles, das geschah, unter den Tisch. Bis Leona eines Tages bemerkte, dass ...
„Kiana, Kind, wo bleibst du nur? Die Zeit rennt“, flüsterte Leona mit besorgtem Blick zur Uhr.
***
2.5
Leona betrachtete kritisch ihr Spiegelbild.
„Sebastian“, sagte sie nach einer Weile angespannt. „Guckst du auch ab und zu in den Spiegel?“
Sebastian zog sein Hemd an. Überrascht sah er seine Frau an. Gleich darauf grinste er.
„Liebes, wenn du hören willst, dass du eine bezaubernde, jung gebliebene Frau bist, ich dagegen ein alter Narr, dann ...“
Leonas vorwurfsvoller Blick im Spiegel ließ ihn seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Er seufzte.
„Nein, Leona, ich schaue selten in den Spiegel. Und schon gar nicht in der Art, wie du das tust. Ich überprüfe nur, ob ich mich schon rasieren muss, oder ob ich doch noch ein, vielleicht auch zwei Tage Zeit habe.“
Er lachte schallend. Leonas Blick ließ ihn allerdings augenblicklich verstummen.
„Also gut, Leona, was ist los? Was bekümmert dich so sehr, dass du keinen Spaß mehr verstehst?“, erkundigte er sich leicht genervt.
Leona kramte in der Schublade ihres Frisiertisches und zog ein Foto heraus.
„Oh“, sagte Sebastian überrascht. „Das ist ein wunderbares Foto mit uns und Sana. Wir sollten es einrahmen und aufhängen.“
Leona strich sanft mit dem Finger über die Aufnahme.
„Erinnerst du dich noch daran, Sebastian? Das Bild entstand kurz vor Sanas Tod.“
Sebastian setzte sich neben seine Frau.
„Was denkst du denn? Natürlich erinnere ich mich. Das war kurz vor dieser Seuche. Ach, ich kann es noch heute nicht verstehen, warum Sana so bald sterben musste. Sie hat immer an Jerome geglaubt, und daran, dass er ein Gegenmittel finden würde. Warum hat sie das nur nicht mehr miterleben dürfen? Wenn ich Sana jetzt so ansehe ... Unser Sohn hatte nie Glück mit seinen Frauen. Sie starben alle.“
Leona sagte nichts. Sie zog ein weiteres Bild aus ihrer Schublade. Auf diesem Foto waren sie, Sebastian und ihr Enkel Tikon.
„Sybill und Ida haben uns Enkelkinder geschenkt. Tikon und Jarin“, sagte sie leise. „Sie sind beide gestorben und haben ihre Kinder nicht aufwachsen sehen. Guck uns an, Sebastian. Wir haben uns seit Sanas Tod nicht ein bisschen verändert. Damals waren wir noch keine sechzig. Und jetzt? Sebastian! Wir sind über neunzig Jahre alt! Wir ...“
Sie brach ab und sah ihren Mann betroffen an. Sebastian starrte schweigend von den Fotos auf sein Spiegelbild. Er brauchte einige Zeit, bis er Leonas Blick im Spiegel suchte.
„Willst du damit sagen, dass ...“
Er redete nicht weiter. Leona nickte.
„Ich weiß es nicht, Sebastian, aber ... Weder Jerome noch wir haben uns seit Corana verändert. Damals hat uns Jerome sein Medikament, Ippuku, gegeben. Erinnerst du dich? Ohne dieses Mittel wären wir und mit uns die gesamte Menschheit gestorben. Und jetzt, Sebastian? Guck seine Söhne an. Sie sind erwachsen und ihr Aussehen hat sich normal verändert. Verstehst du, was ich damit sagen will? Tikon ist jetzt dreißig Jahre alt. Und Jarin ist vor Kurzem vierundzwanzig geworden.“
Sebastian drückte sein Frau sanft an sich.
„Unsere Enkel haben nie Ippuku genommen. Du denkst ...“, murmelte er.
Leona hatte schon wiederholt geäußert, dass etwas mit ihrem Aussehen nicht stimmen würde. Ihre Bemerkungen hatte Sebastian nie ernst genommen. Jetzt gab er ihr recht. Sie hatten sich nicht verändert. Im Gegenteil, Sebastian hatte gar den Eindruck, sie würden rüstiger und gesünder denn je aussehen. Und so fühlte er sich auch. Weit besser als noch vor Corana. Er schüttelte verwirrt mit dem Kopf.
„Leona ... Unsere Freunde? Nicht jeder von ihnen sieht so ... Ich meine, es gibt viele, die ...“
Mit einem Male wurde ihm bewusst, dass viele ihrer Freunde nicht mehr unter den Lebenden weilten. Damals, als die Seuche wütete, waren nur ganz wenige Menschen von ihr verschont geblieben. Diese Leute hatten Jeromes Heilmittel nie gebraucht. Und all diese Menschen waren jetzt alt oder lebten nicht mehr. Sebastian sah seine Frau erschrocken an.
„Leona? Warum ist uns das nicht schon früher aufgefallen? Ich meine ... Wir hätten doch bemerken müssen, dass Freunde und Bekannte alt aussehen und sterben“, sagte er gequält.
„Nicht alle. Manche sind genau wie wir alterslos geblieben. Und andere ... Ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Ich denke, guckt man täglich in den Spiegel, wird alles zur Routine. Genauso verhält es sich mit Menschen, die man ständig sieht. Man verliert die nötige Aufmerksamkeit. Ich denke, da vergisst man, wie man selbst oder ein Freund oder Verwandter gestern oder vorgestern ausgesehen hat. Man übersieht Veränderungen“, murmelte Leona.
Sebastian schüttelte wild mit dem Kopf. Mit dieser Erklärung konnte er sich nicht zufriedengeben.
„Leona! Viele unserer Freunde sind verstorben. Haben wir ehrlich geglaubt, wir würden alle unsere Bekannten und Freunde überleben? Und was ist mit ihren Kindern? Im Vergleich zu uns wirken viele ... alt. Warum ist uns das nie aufgefallen? Warum ist es Jerome nicht aufgefallen?“
Sebastian war laut geworden. Er war aufgebracht. Leona tätschelte sanft seine Hand.
„Der Mensch ist eitel. Jeder will jünger und schöner sein, als der andere. Auch wenn es niemand zugibt, so steckt doch in jedem von uns das Bedürfnis, besser und erfolgreicher als andere zu sein. ... Jerome ... Unser Sohn ...“ Leona seufzte. „Er hat sich verändert. Er ist schon lange nicht mehr so, wie wir ihn kannten. Wie wir ihn aufgezogen haben. Im Grunde ist er uns fremd geworden. Ich denke, nein, ich bin mir sicher, dass er seine Mitmenschen nicht wirklich sieht. Uns auch nicht, Sebastian. Und Sybill und Ida ... ich denke, er hat sie nie wirklich geliebt. Auch Sybill nicht. Aber ...“
Leona sah nachdenklich in den Spiegel.
„Du denkst, es liegt an Ippuku, nicht wahr, Leona?“, sagte Sebastian bedrückt. „Ich meine, dass wir nicht altern? Aber wir haben es nur einmal genommen. Dann waren wir geheilt.“
Leona sah ihn einen Moment schweigend an.
„Mother“, sagte sie leise, wobei sie an ihr ‚Aber‘ anknüpfte, ohne auf Sebastian einzugehen. „Sie sieht noch immer wie ein junges Mädchen aus. Als sie zu uns ins Haus kam, war sie achtundzwanzig. Sebastian, ich denke, Jerome weiß, dass man mit Ippuku nicht so schnell oder gar nicht altert. Und das, da bin ich überzeugt, weiß er nicht erst seit Kurzem. Er hatte schon vor langer Zeit einen Verdacht. Und ich denke, Mother ist darüber im Bilde.“
Am nächsten Tag sprach Leona ihren Sohn auf das Phänomen ihrer ewigen Jugend an. Jerome schwieg eine lange Zeit.
„Womöglich hast du recht, Mutter. Ich wollte sowieso ein paar Tests durchführen. Warum also nicht jetzt? Dafür benötige ich Testpersonen, die noch nie Ippuku genommen haben.“
Leona am Fenster
Leona war nervös. Ihre Enkelin war noch immer nicht zurück. Die Zeit raste.
Sie seufzte tief.
Die Tests, die Jerome seinerzeit durchführte, hatten viel Zeit in Anspruch genommen. Noch heute war Leona überzeugt, dass ihn das Ergebnis nicht überraschte.
***
Nach fünf langen Jahren hatte Jerome Mureni endlich Ergebnisse. Und wie von Leona befürchtet, beeindruckten ihn die Resultate nicht. Im Grunde hatte ihr Sohn genau mit diesem Ergebnis gerechnet.
Jetzt stand Jerome selbstsicher, mit beiden Armen auf dem Rücken, wobei er das Handgelenk der einen mit der anderen Hand fest umschloss am Fenster seines Büros. Hier, in sein Reich, war es niemanden gestattet zu kommen. Jerome genoss die Ruhe und die Abgeschiedenheit in seinem Büro. Während er beobachtete, wie seine Probanden das Gelände verließen, kostete er das damit verbundene Gefühl seiner neuen Macht genussvoll aus. Ihm war vollkommen klar, dass einige von ihnen nicht mehr lange zu leben hatten. Was ihm sicherlich keine schlaflose Nacht bereiten würde. Zum einen hatte jeder von den Versuchspersonen gewusst, auf was sie sich einließen. Und zum anderen hatten sie und ihre Angehörigen für ihre Dienste eine nicht zu verachtende Summe an Credits erhalten.
Jerome lächelte selbstbewusst.
Es hatte nur wenige Menschen gegeben, die Ippuku nur einmal in ihrem Leben genommen hatten. Von diesem kleinen Personenkreis hatte er vor Beginn der Testreihe Gewebeprobe entnommen. Genau, wie von sich selbst und von seinen Eltern. In diesen Proben konnte er keinerlei Anzeichen von Alterung finden. Es hatte den Anschein, als ob diese Menschen für immer gesund und jung bleiben würden. Nicht anders erging es der Gruppe an Probanden, die regelmäßig, und zwar einmal im Monat, mit Ippuku versorgt wurden. Für Jerome keine Überraschung. Zu diesem Ergebnis war er schon durch private, heimliche Tests gelangt.
Einen weiteren Teil der Testpersonen ließ Jerome nur eine gewisse Zeit Ippuku verabreichen. Danach wurde es durch ein Placebo ersetzt. Was zur Folge hatte, dass der Alterungsprozess sofort einsetzte. Obendrein wesentlich schneller, als es normal der Fall war. Und sehr viel rascher, als bei Menschen, die noch nie in ihrem Leben Ippuku genommen hatten.
Da jeder Mensch ewig leben, jung und schön bleiben wollte, wurde Ippuku zu Jerome Murenis Fundament seiner neuen Macht. Damit wurde er endgültig zum mächtigsten Mann des gesamten Bezirks. Denn nur er kannte die Rezeptur. Von jetzt an bestimmte er, wem das Privileg der ewigen Jugend und andauernden Lebens zustand. Er bestimmte, wie oft und in welchen Mengen sein Mittel genommen werden durfte.
Leona war entsetzt. Beim gemeinsamen Abendessen in ihrer Küche, zu dem Jerome seit einiger Zeit immer seltener kam, flehte sie ihn an, seine neue Machtstellung nicht zu missbrauchen.
„Bitte, Jerome, bestimme nicht, wer lange leben darf und wer nicht. Pfusche der Schöpfung nicht ins Handwerk. Du bist nicht Gott!“
Jerome funkelte seine Mutter wütend an.
„Was sagst du da!? Ich!? Ich soll der Schöpfung nicht ins Handwerk pfuschen!? Wo war denn euer Gott, Mutter, als diese Seuche fast die gesamte Menschheit ausrottete? Wo war dein Gott, als Sana starb? Hat sich dein Gott gekümmert, als ihr euch infiziert hattet? Erinnerst du dich, Mutter? Hat dein Gott Corana besiegt, oder war es doch ich, der nicht nur dein Leben gerettet hat?“
Leona zuckte erschrocken zusammen. Sebastian legte sein Besteck bestürzt auf den Tisch.
„Du hast dich verändert, Sohn. Und du veränderst dich immer mehr. Nicht zum Guten. Nicht zum Guten“, murmelte er betroffen.
Leona am Fenster
Leona sah bedrückt aus dem Fenster. Regen prasselte in dicken Tropfen gegen die Scheibe. Sie machte sich Sorgen um ihre Enkelin. Kiana war noch immer unterwegs.
Ippuku.
Fluch und Segen.
Leona holte tief Luft.
Bevor die Welt eine Hungersnot und diese Seuche erlebte, hatten sie ein geruhsames und angenehmes Leben. Seinerzeit war sie stolz auf ihr kleines Landhaus inmitten riesiger Ländereien. In den Ställen gedieh gesundes, normales Vieh. Mit Tränen in den Augen erinnerte sich Leona an die vielen Äcker, Felder und an die reichen Ernten. Und sie dachte mit Wehmut an ihren schönen Vorgarten, direkt vor ihrem Küchenfenster, dessen Grenzen ein saftig, grüner Wald war. Von dieser Pracht war schon lange nichts mehr da. Unter dem veränderten Klima und den unberechenbaren Jahreszeiten hatten beide gelitten. Natur wie Menschen. Alles, wirklich alles war anders geworden. Leona konnte sich nicht mehr erinnern, wann ihr Sohn die Stadt und den gesamten Bezirk in Klassen und Kreise unterteilte. Sie hatte vergessen, wann Jerome festlegte, dass die Shonin, die einfachen Menschen, die ärmsten Bewohner des Bezirks, kein Ippuku bekamen und im innersten Kreis zu leben hatten. Etwas besser gestellt waren die Menschen in den Upper Hoobs, der sich an den innersten Kreis anschloss. Diese Zeit hatte Leona aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Und jetzt, da die Erinnerung kam, schüttelte sie angewidert mit dem Kopf.
Zu jener Zeit rief Jerome die Clans ins Leben. Er gab ihnen Land und sie bauten in die angrenzenden Wälder weitere Manufakturen. In diesen Fabriken verdienten die Shonin ihr karges Brot. Nein, Leona konnte sich nicht mehr erinnern, wann Jerome das bereits weitläufige Land der Murenis weiter vergrößerte und ...
Leona weinte still und lautlos.
***
Nach seinem heftigen Wutausbruch vermied Jerome lange Zeit den Kontakt mit seinen Eltern. Erst seit Kurzem nahm er ab und an wieder die Einladungen seiner Mutter zu einem gemeinsamen Essen an. Trotzdem blieb ihr Verhältnis angespannt. Leona missbilligte, dass Jerome den Besitz der Murenis immer weiter ausdehnte. Ihm gehörte bereits das gesamte Land. Er war schon jetzt der reichste Mann im ganzen Bezirk. Er war der Mann, der Ippuku herstellte.
Während der Hungersnot ließ Jerome Mureni seine erste Fabrik außerhalb des Bezirks in den Mureni-Wald bauen. Hier stellte er künstliche Nahrungsmittel, Vitamine und Happipiru her. Da mit der steigenden Einwohnerzahl auch der Bedarf stieg, reichten seine eigenen Fabriken schon bald nicht mehr aus. Ein Umstand, der Jerome zu einem geschickten Geschäftsmann werden ließ.
Er verkaufte Land. Grundbesitz, was an das Mureni-Gebiet angrenzte, war unter der reichen Bevölkerung des Bezirks schon von jeher heiß begehrt. Dadurch stiegen Familien aus den Upper Hoobs auf. Dem Gebiet, was sich am innersten Kreis anschloss und in dem die bessergestellten Bewohner lebten. Grenzte ihr Land an dem der Murenis an, hoben sie sich von dem Rest der Bevölkerung der Upper Hoobs deutlich ab. Sein Land verkaufte Jerome nur an fünf namhafte, reiche Familien.
Für seinen Großmut, sich von Teilen seines Besitzes zu trennen, verlange Jerome nicht nur eine beachtliche Summe an Credits. Für den Aufstieg dieser Großfamilien, für ihr neu gewonnenes Prestige, waren die fünf Clans, wie Jerome diese Familien titulierte, verpflichtet, in seine Fabriken zu investieren. Und nicht nur das. Je nach Vermögen und Ansehen gab es auch unter den Clans eine Rangordnung.
Mit Abstand der führende und tonangebende Clan blieb die Familie Mureni. Womit Jerome Mureni zum König in seinem eigenen Königreich wurde. Sein Wort war Befehl. Was er sagte zählte und wurde gemacht. Und niemand wagte es, sich ihm zu widersetzen.
In der Hierarchie der Clans kam das Geschlecht der Sarem nach dem der Murenis. Diese hohe Stellung in der Clan-Ordnung hatte Jerome beileibe nicht wegen Kiron, den Familienoberhaupt, an die Sarem vergeben. Jedem im Bezirk war schließlich bekannt, dass Kiron nichts zu sagen hatte. Es war seine Frau Shanie, Mothers Mutter, die den Clan führte. Diese große, schlanke Frau mit dem langen, glatten, blonden Haar und den ausdrucksstarken wasserblauen Augen, hatte in dieser Familie die Fäden in der Hand. Niemand, nicht einmal ihr eigener Ehemann, wagte es, ihr Wort anzuzweifeln. Jerome wusste, dass Shanie für das Wohl ihrer Familie über Leichen ging und bereits gegangen war. Um zu erreichen, was sie wollte, war ihr kein Weg zu schade. Für ihren Ehemann, einen überraschend kleinen, übergewichtigen Mann mit spärlich dünnem Haar, empfand Jerome nur Verachtung. Für Shanie lag der Reiz ihres Ehemannes nicht in seinem Aussehen und Auftreten, sondern in seinem beachtlichen Vermögen.
Die schwächste Großfamilie in der Rangordnung der Clans waren die Lotana. Sie standen an fünfter und somit letzter Stelle in der Clan-Ordnung. Diese Familie hatte sich der Schneiderei verschrieben. Sie entwarfen und nähten aus kostbaren, edlen Stoffen extravagante Kleidung. Und da für Jerome Aussehen und Prestige wichtig waren, nahm er diese Familie in den auserwählten Kreis auf.
Da Jeromes Sohn Tikon aus seiner kurzen Ehe mit Sybill Kinor stammte, fühlte er sich verpflichtet, auch dieser Familie einen Platz im äußersten Kreis zu gewähren. Zudem würde ihn dieser Clan nie Probleme machen. Die Kinors gingen stets den einfachen und konfliktfreien Weg. Sie äußerten nur selten ihre Meinung und gingen Streit aus dem Weg. Diese Familie passte sich dem Stärkeren an, weshalb sich Jerome ihrer Stimme stets sicher sein konnte.
Ein Grund, warum Jerome die Familie Rosala mit in den Kreis der Clans aufnahm und sogar an dritte Stelle in der Hierarchie setzte, war nicht nur Jarin, sein Sohn aus seiner Affäre mit Ida. Auch das beachtliche Vermögen der Familie war dafür nicht ausschlaggebend. Es war vielmehr Chrow, das stämmige Oberhaupt der Rosalas. Dieser Mann glich mehr einem Wikinger aus alter Zeit, denn einem Menschen aus der modernen, heutigen Epoche. Chrow zweifelte an der Richtigkeit von Jerome Murenis alleiniger Macht. Und er äußerte seine Zweifel offen. Um dem entgegenzuwirken, rief Jerome kurzerhand einen Rat ins Leben, der über die Belange des Bezirks demokratisch entscheiden sollte. Mitglieder waren alle Anführer der fünf Clans. Im Grunde eine Farce, da bis auf die Rosalas niemand den Mut hatte, sich gegen Jerome Mureni zu stellen.
Leona am Fenster
Leona sah aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen.
Mother. Ihre Enkel Jarin und Tikon hatte sie in dem Moment verloren, in dem die Tochter von Shanie Sarem in ihr Haus kam. Und mit den Jahren waren sie ihr fremd geworden.
Jerome herrschte. Und er herrschte nicht nur über die Clans. Er herrschte auch über seine eigene Familie.
***
Jerome Mureni war ein strenger, unnahbarer Vater, der seinen Söhnen schon von klein auf alles abverlangte. Tikon und Jarin waren gezwungen, stets ihr Bestes zu geben und ständig an ihre Grenzen zu gehen. Versagen oder Aufgeben waren in Jeromes Augen Zeichen von Schwäche. Und schwach durfte keiner seiner Söhne sein. Für beide Jungen ein Segen, dass Mother, ihr Kindermädchen, ihnen stets zur Seite stand. Kein Wunder, dass sie für Tikon und Jarin still und heimlich zu ihrer Mutter wurde.
Jerome Mureni hatte eine Position eingenommen, die ihn viele Feinde und Neid einbrachte. Er wusste, dass es Leute gab, die ihn stürzen wollten. Weshalb er sich in erster Linie um die Automatisierung und um eine strenge Überwachung seines Hauses sowie seiner Fabriken kümmerte. Jarin und Tikon standen ihm dabei tatkräftig zur Seite.
Tikon, der Ältere seiner Söhne, hatte von seiner Mutter Sybill Kinor nur die helle Hautfarbe und das blonde Haar geerbt. Ansonsten glich er seinem Vater nicht nur vom Aussehen. Er war ein technisches Genie und Erfinder. Weshalb ihm die Umsetzung der Vorstellungen seines Vaters in Hinsicht auf Sicherheit und Komfort nicht schwerfielen. Vor allem die neue Art des Telefonierens hatte es Jerome angetan. Sein ältester Sohn hatte dazu ein Band entwickelt, das jeder Bürger um sein Handgelenk tragen musste. Wurde ein Anruf betätig, erschien die lebensechte Projektion des Teilnehmers.
Leona war nach wie vor gegen zu viele Erneuerungen in ihrem Wohnbereich. Was überraschenderweise von Jerome akzeptiert wurde. Einzig mit der Installation der Alarmanlage und der neuen Art der Kommunikation ließ er nicht mit sich reden.
Tikon, wie auch Jarin hatten den Erfindungsgeist ihres Großvaters und ihres Vaters geerbt. Wie Tikon, so suchte auch Jarin, dem vor allem die Landwirtschaft am Herzen lag, immer wieder nach Neuem. Er kümmerte sich darum, dass das Mureni-Land und seine Bewohner nicht von unbeständigen und unberechenbaren Wetter abhängig waren. Mittels eines künstlichen Himmels sorgte er für ein angenehmes Klima. Womit Jeromes Treibhäuser kaum mehr nötig waren. Diese wundersame Technik gestand Jerome dem übrigen Land nur bedingt zu. Er entschied, welches Wetter herrschte. Worüber Sebastian und Leona nur sprachlos und entsetzt mit dem Kopf schütteln konnten. Gegen ihren Sohn und dem, was er wollte und durchsetzte, waren sie machtlos.
Einzig den Clans gestattete Jerome Mureni mehr. Für den Luxus über Teile ihres Landes das Klima selbst zu bestimmen, um im Freien zu sitzen und im teuren Pool zu baden, während es in der wirklichen Welt regnete und stürmte, verlangte er eine Gegenleistung. Die Clans mussten auf den Vertrieb natürlicher Lebensmittel verzichten. Was bedeutete, dass Jerome Mureni auch hier marktführend blieb und zudem die Clans an der langen Leine halten konnte.
Jeromes Zweitgeborener Jarin hatte den künstlichen Himmel einzig aus seiner Leidenschaft zur Landwirtschaft heraus geschaffen. Sein eigentliches Steckenpferd blieb die Forschung und die Gentechnik. Für eine bessere Ernte, manipulierte er Getreide, Gemüse, Obst und in letzter Zeit auch Nutztiere.
Jerome Mureni würdigte weder die Arbeit des einen, noch die des anderen Sohnes. Mit der Zeit hegte er gegen Jarin eine immer größer werdende Abneigung. Jerome konnte an ihm nichts von sich selbst entdecken. Mit seinen dunklen Haaren sah der große, schlanke Mann mehr seiner verstorbenen Mutter ähnlich. Der Frau, mit der Jerome einzig eine Affäre hatte. Ida Rosala. Jerome hatte Bedenken, dass Jarin eines Tages unter dem Einfluss seines Großvaters Chrow stehen würde. Weshalb er Jarin von klein auf von ihm fernhielt. Dabei wurde er von Mother tatkräftig unterstützt. Zu Jeromes Beruhigung schien Jarin mehr in die Linie seiner unsicheren und depressiven Großmutter Salki Rosala zu gehen.
Leona am Fenster
Leona verschränkte ihre Arme schützend vor ihrer Brust. Sie hatte sich eisern und erfolgreich gegen diesen künstlichen Himmel direkt vor ihrer Haustür und ihrem Vorgarten gewehrt. Sie wollte wissen, was für ein Wetter wirklich war. Dafür nahm sie auch gerne in Kauf, dass ihr kleiner Garten vor dem Küchenfenster nie wieder in der Pracht wie vor dem langen Winter erblühte.
Sie stöhnte leise.
Im Moment wurde ein schon miserables Wetter noch katastrophaler. Und zu allem Überfluss war ihre Enkelin noch immer nicht in Sicht. Kam Kiana nicht rechtzeitig zum Abendessen, welche Entschuldigung sollte Leona dann vorbringen?
Leona seufzte.
Damals ...
Das war vor vielen, vielen Jahren. Im Grunde wollte sie nicht mehr daran denken. Und doch konnte sie all diese Erinnerungen heute nicht wie gewohnt in Schach halten. Immer und immer wieder glitten ihre Gedanken in die Vergangenheit. Sie erinnerte sich deutlich daran, als sie und Sebastian einen fürchterlichen Verdacht hatten und Jerome damit konfrontierten. Damals traf sie die plötzliche Einsicht, dass ihr Sohn davon schon lange gewusst und geschwiegen hatte, wie ein Faustschlag. Er reagierte nicht, bis ... sich alles zuspitzte und es immer mehr Tote gab. Und wieder war Leona sicher, dass Mother eingeweiht war.
***
„Jerome? Kann ich mit dir reden?“, erkundigte sich Sebastian leise, nachdem er angeklopft und die Tür zum Wohnzimmer seines Sohnes geöffnet hatte.
„Vater? Was für eine Überraschung. Ich denke, du warst das letzte Mal hier, als Ägidius Baum noch lebte“, sagte er, ohne wirklich ein Gefühl zu zeigen. „Komm, setz dich.“
Sebastian nickte und nahm Platz.
Jerome sah seinen Vater aufmerksam an. Etwas in seiner Haltung mahnte ihn zur Vorsicht.
„Was führt dich zu mir? Du klingst besorgt. Wie kann ich dir helfen?“, erkundigte sich Jerome, da Sebastian keine Anstalten machte, die Unterhaltung zu beginnen.
„Nicht mir musst du helfen, Sohn. Die Clans, die von dir Privilegierten sind es, die dringend deine Hilfe benötigen.“
Jerome runzelte die Stirn.
„Ich denke ... Jerome, ich bin kein Arzt. Ich kenne mich mit handwerklichen Dingen aus. Ich bin Architekt und Erfinder. Aber ich bin kein Arzt“, fuhr Sebastian fort.
Jerome sah ihn unverwandt an.
„Das sagtest du bereits, Vater. Ich weiß, dass du kein Arzt bist.“
Sebastian nickte.
„Ich kenne mich nicht mit Medizin aus. Aber dein Ippuku ... Ich denke, Jerome ... Dieses Mittel bewirkt, dass wir alle sehr, sehr alt werden. Und das, ohne zu altern. Womöglich leben wir ewig.“
Jerome hob ungeduldig eine Hand. Er hasste weitschweifige Ausführungen.
„Vater! Das ist bekannt. Komme endlich auf den Punkt. Was willst du sagen?“
Sebastian sah seinen Sohn traurig an.
„Da ist etwas, Jerome, etwas das ... Die Frauen, Jerome. Es geht um die Frauen. Erinnerst du dich? Sybill starb knapp vier Jahre nach der Geburt eures Sohnes Tikon. Und Ida lebte auch nur vier Jahre, nachdem sie Jarin zur Welt gebracht hatte. War das alles ein tragischer, trauriger Zufall? War es Schicksal? Ich denke nicht. Und deine Mutter denkt das auch nicht.“
Jerome sah seinen Vater durchdringend an.
„Diese Frauen sind schon lange tot. Fast vierzig Jahre. Weshalb kommt es dir und Mutter jetzt in den Sinn, nach der Todesursache zu fragen? Und nicht nur das, ihr habt auch schon eine Erklärung parat“, sagte Jerome leise.
Es war nicht zu übersehen. Er war aufgebracht, und doch beherrschte er sich.
Sebastian blieb unbeeindruckt.
„Viele Töchter aus den Clans sind ein paar Jahre nach der Niederkunft ihrer Kinder gestorben.“
Jerome sah seinen Vater schweigend an.
„Sohn. Ich habe mich umgehört. Und es ist so, wie wir, Leona und ich vermuten. Die Shonin kennen diesen Schicksalsschlag nicht. Nicht in der Art, in der ihn die Clans und die Upper Hoobs ertragen müssen. Ich will damit sagen, dass es natürlich auch bei den Shonin Frauen gibt, die eine Geburt nicht überleben. Aber ...“ Sebastian schluckte. „Die Shonin haben nie Ippuku genommen. In den Upper Hoobs ist es anders. Dort können es sich die meisten Menschen leisten. Ihren Frauen, die dein Mittel genommen haben, ergeht es wie den Frauen in den Clans. Sobald sie ein Kind zur Welt bringen, sterben sie innerhalb von einem bis vier Jahren.“
Sebastian hatte alles gesagt, was er sagen wollte. Jetzt wartete er auf die Reaktion seines Sohnes.
Jerome sagte lange Zeit kein Wort. Seine Wunderdroge Ippuku hatte eine Schwachstelle. Das hatte er nicht nur geahnt, er hatte es gewusst. Er war schließlich Mediziner. Den ersten Verdacht hatte er, als Sybill starb. Im Sterben sah sie alt aus. Jerome wusste, dass sie Corana nur mithilfe von Ippuku überlebt hatte. Kurz vor ihrem Ende hatte er Gewebeproben entnommen. Weitere Proben an Blut und Gewebe, als sie tot war. Sie war rasend schnell gealtert. Genauso Ida. Das Resultat seiner Untersuchung war bei beiden Frauen identisch. Sybill und Ida hatten den Alterungsprozess innerhalb von nur wenigen Jahren nicht nur aufgeholt, sie hatten ihn überholt. Im Grunde hatte Jerome bereits da die Gewissheit, dass Frauen, die Ippuku nehmen, ihre Kinder nicht aufwachsen sehen. Trotzdem hatte er geschwiegen.
Leona am Fenster
Leona rieb müde ihre schmerzende Stirn. Sie dachte zu viel nach, deshalb hatte sie Kopfschmerzen. Und doch konnte sie ihr ständiges Abgleiten in die Vergangenheit nicht abstellen.
Sie hatte vergessen, was sie beide, Sebastian und sie, sich von diesem Gespräch mit Jerome erhofft hatten. Womöglich hatten sie darauf gehofft, dass sie sich getäuscht hätten. Nichts davon war wahr.
Sie schüttelte mit dem Kopf.
Nein, im Grunde hatten sie darauf vertraut, dass Jerome sofort nach einem Mittel suchen würde, das diese Nebenwirkung zunichtemachte. Nur mit dem, was Jerome tatsächlich unternahm, hatte keiner von ihnen gerechnet. Er hatte es nie zugegeben, und er hatte nie darüber gesprochen. Jetzt, als Leona daran dachte, war sie sich absolut sicher, dass ihr Sohn schon sehr lange von diesen Nebenwirkungen wusste. Und sie war überzeugt, dass er alles, was daraus resultierte und auf den Bezirk zukam, schon vor langer Zeit von ihm geplant wurde. Und dann war da ... Mother ...
***
Das Schweigen hielt schon sehr lange an. Sebastian wartete noch immer auf eine Reaktion seines Sohnes. Jerome stand lächelnd auf.
„Vater, ich denke, du siehst das alles viel zu Schwarz. Eine Geburt ist nie leicht. Aber gut, ich verspreche dir, ich werde mich darum kümmern. ... Lass uns jetzt von etwas anderem, etwas Erfreulichem reden. Ich wollte es euch demnächst sowieso sagen. Also, warum nicht jetzt. Ich werde mich wieder verbinden. Mit einer Frau aus dem Sarem-Clan. Der Termin für die Verbindungsfeier steht fest.“
Sebastian sah seinen Sohn perplex an.
„Verbinden? ... Willst du damit sagen, dass du hei...“
Jerome hob eine Hand.
„Ich sagte Verbindungsfeier. Du weißt, dass ich keiner Religion angehöre.“
Kurz darauf erging es auch Leona nicht anders. Sie starrte Sebastian ungläubig an.
„Was sagst du da? Verbindungsfeier? Kein Glaube? Eine Frau aus der Sarem-Familie?“, erkundigte sich Leona kläglich. Dabei hoffte sie inständig, sie hätte sich verhört. Schließlich war es ein offenes Geheimnis, dass ihr Sohn Shanie bewunderte.
„Langsam, Liebes“, beschwichtigte Sebastian. Er konnte sich gut vorstellen, was jetzt in Leonas Kopf vorging. „Ich hatte auch sofort an Shanie gedacht. Aber so dreist ist Jerome nun doch nicht. Ich habe ihn gefragt. Es ist ihre Tochter. Mother.“
Leona sah Sebastian verständnislos an.
„Mother? Das Kindermädchen? Er will das Kindermädchen heiraten?“, japste sie.
Leona hatte es im Grunde schon vor langer Zeit geahnt. Nur hatte sie gehofft, dass es nur ein Verhältnis bleiben würde. Mother war das Abbild ihrer Mutter. Hochgewachsen, schlank mit glatten, langen, blondem Haar und einer Figur, die jeden Mann zum Träumen brachte. Und genau wie ihre Mutter strahlte Mother Dominanz aus. Diese Frau duldete keinerlei Widerspruch. In ihren klaren, stahlblauen Augen lag das Feuer der Macht. Das Herrschen lag ihr im Blut. Ein Erbe ihrer Mutter Shanie.
Leona wurde übel. Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Und das, wie sich kurze Zeit später herausstellte, nicht zu Unrecht.
Leona am Fenster
Bei dem Gedanken an die pompöse Verbindungsfeier ihres Sohnes, wurde Leona auch jetzt noch übel. An diesem Tag hatten sich ihr Verdacht und ihr ungutes Gefühl bestätigt. Diese Frau war schon lange nicht nur Kindermädchen und Bettgenossin Jeromes. Leona war überzeugt, dass Mother auch schon lange diese traurige Nebenwirkung von Ippuku bekannt war. Womöglich hatte Jerome schon kurz nach dem Tod Idas mit ihr darüber gesprochen. Mother war anders. Sie war weder Sana, noch Sybill noch Ida. Sie war Jeromes Geliebte und Vertraute. Mother war wie er. Sie wollte Macht.
***
Mother
Mother aus der Familie der Sarem hatte eine sehr gute Lehrmeisterin. Ihre Mutter Shanie. Diese Frau verfolgte ihre Ziele eisern. Um zu erreichen, was sie wollte, warf sie schon früh ihre Netze und Fallstricke aus. Shani brauchte das Gefühl von Macht. Und sie wollte es für ihre Tochter Mother, ihrem Ebenbild. Ihre Tochter sollte zur mächtigsten Frau des Bezirks werden. Um ihren Plan aufgehen zu lassen, überzeugte sie, nach dem Tod Idas, Jerome, ihre Tochter als Kindermädchen für seine Jungs einzustellen. Die tonangebende Frau der Sarems ermahnte ihre Tochter, sich in Geduld zu üben.
„Jeder Mann braucht früher oder später eine Frau. Ziehe seine Kinder groß, bringe sie dazu, auf deiner Seite zu stehen. Zeige Interessen an allem, was Jerome tut und plant. Spiele mit deinen Reizen und setze sie bewusst und geplant ein. Der Rest ergibt sich dann von selbst“, wurde Mother von ihrer Mutter belehrt.
Mit Tikon und Jarin hatte Mother ein leichtes Spiel. Sie waren ihr noch heute untergeben. Und Jerome? Es war ein Kinderspiel, ihn in ihr Bett zu ziehen. Und nicht nur das. Sie wurde zu seiner Vertrauten.
Genau wie ihre Mutter hatte auch Mother einen messerscharfen Verstand. Und sie war eine sehr gute Beobachterin. Auch ihr war nicht entgangen, dass viele Frauen aus den höheren Kreisen nur wenige Jahre nach der Geburt eines Kindes verstarben. Genau wie Sebastian und Leona stellte sie Nachforschungen an. Sie ging in die Upper Hoobs und zu den Shonin. Die arme Bevölkerung hatte weniger Todesfälle nach Schwangerschaft und Geburt. Frauen aus dem innersten Kreis zogen ihren Nachwuchs auf und erlebten Schule und Beruf ihrer Kinder. Sie wurden Großeltern und starben, sobald sie das Alter dafür erreicht hatten. Mother schloss daraus, dass der Tod gebärender Frauen mit der Einnahme von Ippuku zu tun hatte.
Mit dieser Erkenntnis war sie schon vor langer Zeit zu Jerome gegangen. Seinerzeit hatte er nicht mehr nur das Bett mit ihr geteilt. Er hatte sich mit ihr beraten. Und er hörte auf ihren Rat. Durch diese Tragödie, durch die Nebenwirkung von Ippuku, hatte es Mother aus dem Sarem-Clan geschafft, offiziell in den Mureni-Clan aufgenommen zu werden.
Mother hielt zwar nicht wie ihre Mutter in ihrem Clan die Fäden in der Hand. Allerdings hatte sie eine gleichberechtigte Stellung neben Jerome eingenommen. Sie unterstützte das Clan-Oberhaupt, wo und wie immer sie konnte.
Ihr war klar, dass Chrow Rosala von Grund auf misstrauisch war. Da die regelmäßigen Zusammenkünfte der Ratsmitglieder stets auf dem Mureni-Anwesen stattfanden, bestärkte seinen Argwohn. Weshalb Mother Jerome überzeugte, für ihre Treffen ein imposantes Gebäude in den Upper Hoobs bauen zu lassen und Chrow zu seinem Stellvertreter zu benennen. Somit könnte er ab und an kleine, unbedeutende Beschlüsse auf sein Konto verbuchen. Wohingegen für Jerome Wichtiges weiterhin wie gewohnt mithilfe gekaufter Stimmen durchgesetzt wurde.