Читать книгу Magnetfeld der Tauben - Bettina Gugger - Страница 8

Arvenfee

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Sarah schreitet die Felder ab, als würde sie sie vermessen. Das letzte Heu wurde erst vor ein paar Tagen eingebracht. Die Lärchen leuchten gelb.

Ihr Gang hat etwas Gebieterisches. Ihre Kraft hat Pascal vom ersten Augenblick an gefesselt. In gleichem Masse wie sie ihn anzog, ängstigte sie ihn. Sarah weiss das aber nicht. Dass er sich insgeheim vor ihr fürchtet. Sie sucht in den Feldern nach Käfern, Grillen und Gräsern, die sie von zu Hause kennt. Rumänische Geziefersuche, wie Pascal es nennt. Sarah mag das Wort «Geziefer», es klingt irgendwie nach einem wohligen Seufzen, nach Behaglichkeit und nicht nach «Schädling». Die Videoaufnahmen der Käfer schneidet sie zusammen und unterlegt sie mit einer Tonspur aus lokalen Gedichten, vorgetragen von Bauern, Lehrern oder Kindern. Er hingegen fotografiert Turnhallen und Lagerräume bei Nacht. Pascal verabscheut Neonlicht, und dennoch flattert er mit seiner Linse wie eine Motte um die Leuchtkörper herum, nicht wissend, was er eigentlich sucht.

«Was suchst du denn bloss in deinen Nachtlagern?», hatte sie ihn anfangs gefragt.

Damals dachte sie noch, dass er vielleicht irgendwelche geheimen Praktiken pflegte, dass ihn diese Orte irgendwie sexuell erregten. Man weiss ja nie. Manchmal stellt sich dieses seltsame Gefühl bei ihr wieder ein, wenn er nachts seinen Rucksack packt und mit seiner hautengen Trainingshose auf sein Rad steigt. Sarah fragt sich, ob es irgendein Mittel gibt, das einen davor bewahrt, die ewig gleichen Gewohnheiten des Partners irgendwann zu verurteilen. Selber kommt man natürlich nie auf den Gedanken, das eigene Schnäuzen oder Niessen als lästig zu empfinden. Also muss es eine Art Schutzmechanismus geben, der einen vor der Verschmelzung mit dem Partner warnt. Befremden als fortgeschrittene Liebe.

In solchen Phasen versucht sie sich für Pascals Arbeit zu interessieren. Meist hilft das, und ein Barren oder ein Pferd wecken auch in ihr Kindheitserinnerungen, wenn auch nicht sehr romantische, da sie ein rundliches, ungeschicktes Kind war, das auf Gymnastikgeräten keine gute Figur machte.

Nun geniessen sie nach siebenjähriger Beziehung zusammen einen Stipendienaufenthalt in den Schweizer Bergen, «am Arsch von Nirgendwo», wie es Sarah ausdrückt.

«Im Engadin, da wo Segantini das Licht neu erfunden hat und der Armut Anmut verlieh», pflegte hingegen Pascal zu Hause ihren amerikanischen Freunden zu erklären.

Jedenfalls erfährt ihre Beziehung gerade eine neue Feuerprobe.

«Eine Feuerprobe erfährt man nicht», sagt Pascal genervt, «man durchläuft sie.»

Es ist nicht leicht, Tag und Nacht zusammen zu sein. Zu Hause hat wenigstens jeder sein Zimmer, seine Verpflichtungen, seine Freunde. Dazu kommt, dass ihre Beziehung hier plötzlich im Fokus steht, ausgeleuchtet von den anderen Künstlern.

«Das bildest du dir nur ein!», sagt Pascal.

«Natürlich bilde ich mir das nicht nur ein!», protestiert Sarah. «Sie beobachten uns. Wir beobachten sie ja auch.»

«Ja und?», fragt Pascal genervt.

Jetzt könnte sie einen Streit vom Zaun brechen. Dass es sehr wohl einen Unterschied macht, ob er sie zu Hause anschnauzt oder vor Publikum. Dass er sich durch sein Verhalten selber in ein schlechtes Licht rückt und dass sie das belastet, seine Gereiztheit. Sie überlegt.

«Ich habe den Eindruck, dir geht’s nicht so gut hier.» Jetzt hat sie sich wieder missverständlich ausgedrückt. Es klang vorwurfsvoll.

Pascal lacht überspannt. «Mach dir um mich mal keine Sorgen». – «Wir sollten uns mehr in der Gruppe einbringen», sagt Sarah. «Wir kommen immer zu spät zum Essen und helfen nicht gerade oft beim Abwasch. Das kommt bei den anderen nicht gut an. Ausserdem haben wir schon lange nicht mehr gekocht.» – «Wenn der Kochplan voll ist, kann man sich ja nicht mehr eintragen. Sollen die kochen, die’s gerne machen. Ich bin genügend ausgelastet mit meiner Arbeit», sagt Pascal.

Die Hausordnung des Künstlerhauses, das zehn Atelierplätze Künstlern aus aller Welt zur Verfügung stellt, sieht vor, dass sich die Gruppe zum allabendlichen Essen trifft, um sich auszutauschen. Gekocht wird abwechselnd, wobei mittlerweile ein richtiger Wettbewerb um den besten Koch entbrannt ist.

«Siehst du, das mein ich. Du bist nicht der Einzige, der konzentriert seine Arbeit verfolgt. Wir sollten der Gruppe mehr Interesse entgegenbringen. Mich belastet es, wenn uns die anderen mit Schweigen abstrafen. Irgendwann hat man einfach keine Lust mehr, auf jemanden zuzugehen, der einem die kalte Schulter zeigt.»

Pascal streicht Sarah über die Wange.

«Nun gut, dann wollen wir morgen Abend das Kochen übernehmen. Wollen wir Fleisch kaufen?»

Sarah überlegt. «Die Hälfte der Gruppe isst doch vegetarisch», wendet sie ein.

«Ich habe trotzdem Lust auf Fleisch», sagt Pascal.

«Fünf Kalbsfilet-Stücke dürften drin liegen. Ich kümmere mich drum», sagt Sarah. «Und was gibt’s dazu? Polenta?»

«Risotto», schlägt Pascal vor, «dann brauchen wir nicht noch eine zusätzliche Beilage.»

«Minimalist!», stöhnt Sarah.

«Ach komm! Ich rühr dafür den Risotto! Du kannst ja noch einen Salat machen.»

So schlafen sie aneinander gekuschelt ein, das heisst, sie schläft. Er versucht gedanklich dem lauten Rauschen des Flusses zu entfliehen. Es dringt in ihn ein. In jede seiner Zellen. Sein ganzer Körper rauscht. Am nächsten Morgen hat er das Gefühl, dass seine Hirnmasse zur Hälfte geschrumpft ist, weggespült vom zielstrebigen Fluss, der den Südtirolern die besten Marillen Europas beschert. Der Ort erlangte Anfang des 20. Jahrhunderts wegen seiner über zwanzig Mineralquellen den Status des vornehmen Kurortes, bekannt für seine Trinkkuren, mit denen sogar die Syphilis bekämpft wurde. Und heute logieren sie als Künstler im ehemaligen Badehaus neben der verwitterten Trinkhalle, aus der immer noch die drei Quellen Lucius, Bonifacius und Emerita sprudeln.

Die Frauen des Ortes gehen gerne zum Metzger. Er ist grossgewachsen. Sein rotblondes, kräftiges Haar trägt er nach hinten gekämmt. Ein gepflegter Dreitagebart unterstreicht seinen breiten Unterkiefer, und in seinen Mund sind strahlendweisse Zähne gebettet. Wenn er lächelt, meint man für einen Moment, den Moderator einer Talkshow vor sich zu haben, einer, der nicht nur charmant ist, sondern auch immer das Richtige sagt, und vor allem weiss, was das Richtige ist. Seit seiner Scheidung vor zehn Jahren ist er alleine geblieben, was niemand so recht verstehen kann. Offerten bekommt er genügend. Nicht mal seine drei erwachsenen Kinder können seine Zurückhaltung verstehen.

In seinem Laden präsentiert er das Fleisch wie Kosmetikprodukte. Der dreieckige Speck und die zylinderförmige Salami sind kunstvoll in Plastik verschweisst, so als seien sie nicht dazu da, gegessen zu werden, sondern um sie zu Hause auf dem Kaminsims zu präsentieren. An den blütenweissen Wänden hängen Ölbilder von blutigen Entrecôtes und knusprigen Hähnchenkeulen. Die beiden Lehrlinge tragen weisse Hemden, bis oben zugeknöpft, darüber eine schwarze Schürze. Auch sie sind hübsch anzuschauen.

Sarah kommt sich in diesem Ambiente ein bisschen schmuddelig vor. Sie sollte ihren Damenbart rasieren. Aber während Stipendienaufenthalten leidet manchmal das äussere Erscheinungsbild. Sie kann nicht gleichzeitig Kunst machen und dabei schön aussehen. Wenn sie Kunst macht, fliesst der ganze Sinn für Ästhetik in diesen einen Kanal. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern, ob sie Pascal in einer Kunstphase oder während einer Kunstpause kennengelernt hat. Na ja, egal. Sie bestellt fünf Kalbsfilet-Stücke. Der Metzger lächelt. «Eine gute Wahl! Mit Kalbsfilet liegen Sie nie falsch!»

«Ab und zu braucht der Mensch einfach ein Stück zartes Fleisch zwischen die Zähne», lacht Sarah.

«Die Kälber kamen erst gestern von der Alp.»

Sarah verzieht das Gesicht.

«Das Fleisch könnte frischer und lokaler nicht sein», fährt der Metzger seriös fort. «Am besten braten Sie es nur ganz kurz an. Es darf ruhig noch ein bisschen bluten.» Dabei schaut er ihr in die Augen.

Sie ist verwirrt. Das Funkeln in seinen grünen Augen macht sie neugierig. Nicht, dass solche Maschen bei ihr noch ziehen würden, immerhin ist sie dieses Jahr vierzig geworden, mag sie auch jünger aussehen. Die Erfahrung schleckt keine Geiss weg.

«Was soll denn dazu serviert werden?», fragt der Metzger.

«Risotto», antwortet Sarah.

«Mach zu den Filets eine Balsamico-Sauce, etwas Raffiniertes», sagt er.

Es klingt wie ein Befehl, was nicht nur am plötzlichen Du liegt, mit dem er sie anspricht. Aber anscheinend duzt man sich im Dorf. Wieder schaut er sie eine Spur zu lange an.

«Und wie bereite ich die Sauce zu?», fragt Sarah, um einen neutralen Tonfall bemüht.

«Ich schreib‘s dir auf», zwinkert er ihr zu.

«Sie haben wirklich eine sehr schöne Metzgerei», sagt Sarah.

«Dankeschön!», lächelt er. «Egal was man macht, man sollte es gut machen, das ist meine Devise.»

Sie bezahlt ein halbes Vermögen für das Fleisch. Wieder auf der Strasse, versucht sie Ordnung in ihren Kopf zu bringen. Aus dem Kartontäschchen, das an einen Designerladen erinnert, zieht sie sein Rezept heraus. Sie benötigt also noch Rotwein und Stangensellerie. Sie wendet die Karte. Auf der Rückseite steht seine Nummer.

«Sag mir, wie‘s geschmeckt hat. ;-)Cla.»

Was für ein frecher Kerl! Was sagt man auf Deutsch: «Frechdachs» oder «Lustmolch?»

Beschwingten Schrittes marschiert sie zur Kreativstätte zurück. Sie fühlt sich, als ob etwas, das lange in ihr geschlummert hat, endlich wiedererwachen würde. Sie betrachtet die bunten Blätter der Buchen und Ahornbäume, die in der Schlucht pinkfarben leuchten. Das Wasser des Flusses ist glasklar. Sie stimmt ein rumänisches Volkslied an. Gibt es etwas Schöneres, als auf verführerische Weise in eine fremde Welt gelockt zu werden? Das Aufflackern einer möglichen gemeinsamen Zukunft, die vielleicht auch nur in einer weiteren gemeinsam geteilten Sekunde liegt, kann urplötzlich eine Kraft entfalten, die mächtiger ist als eine jahrelange Analyse der eigenen Lebensdaten. Ein einziger Blick kann mehr Wahrheit enthalten als hundert Bücher oder zehn gelebte Jahre …

Für die Vegetarier brät Sarah Sellerieplätzchen, die vorzüglich zur Balsamico-Sauce passen, während Pascal im Risotto rührt. In Windeseile zaubert sie ausserdem einen Salat herbei. Dazu hören sie Nouvelle Vague, eine französische Band, die Klassiker der 80er Jahre covert.

Das Essen wird zum vollen Erfolg, sodass alle noch länger sitzen bleiben und, unterstützt vom Rotwein, lachen und scherzen. Da ist Emily, die gesteht, dass ihr die meiste Zeit die Kunst überhaupt keinen Spass macht. Tamara versucht sich an einer Analyse, warum die einen Künstler etwas vertiefen, während andere von einer Blüte zur nächsten springen. Sie sieht darin ein geschlechtsspezifisches Verhalten, dass Männer eher tief in die Materie eindringen, während Frauen dazu neigen, viele Dinge gleichzeitig zu tun, was vom Stillen herrühre. Sogar Pascal hat auf einmal nicht das Gefühl, Zeit zu verlieren. Verstohlen beobachtet er Sarah, und eine Welle der Liebe durchströmt ihn. Er ist stolz auf sie, geniesst ihre Tatkraft, mit der sie immer wieder das Ruder rumreisst, wenn Situationen eng zu werden drohen. Sie ist seine Wundertüte, seine Tischbombe, sein grosses Los. Sie kann pampig sein wie er, zuweilen überheblich und rechthaberisch, aber wenn’s drauf ankommt, ihr Herz öffnen.

Sie wendet die Karte zwischen ihren Fingern. Cla heisst er also. Soll sie ihn anrufen? Es gibt kein vernünftiges Argument, den Freund zu hintergehen. Jemanden zu hintergehen, ist per definitionem moralisch verwerflich. Aber was ist mit ihr? Wer sagt denn, dass sie Pascal gehört und er den alleinigen Anspruch auf sie hat?

Sie tippt Clas Nummer in ihr steinzeitliches Samsung, das zwar deutlich kleiner ist als ein Funkgerät, aber immer noch daran erinnert. Ihr Herz schlägt heftig, als sie seine geschäftige Stimme hört. Am Telefon fühlt sie sich stets wie ein sechzehnjähriges Mädchen, das den Tonfall der Erwachsenen noch üben muss. Vermutlich ruft sie in einem total unpassenden Moment an. Sie überlegt kurz, wieder aufzuhängen. Stattdessen stammelt sie: «Die Sauce war sehr lecker.»

«Entschuldigung, ich verstehe Sie schlecht. Wer ist am Apparat?»

Sarah verhaspelt sich. «Ich habe gestern bei Ihnen Fleisch gekauft und wollte mich für das Balsamico-Rezept bedanken.» Puh, hat sie sich noch einmal retten können.

«Ah, ich erinnere mich! Das freut mich, dass das Rezept gelungen ist! Hör mal, ich fahr gleich zum Gestüt hoch. Warst du schon mal in San Palü oben? Du bist ja nicht von hier, richtig? Vielleicht hast du Lust mitzukommen?»

«Gleich jetzt?»

«In einer Stunde fahre ich los. Ich kann dich in der Fundaziun abholen.»

«Woher weisst du, dass ich zur Fundaziun gehöre?», fragt Sarah.

«Geraten», lacht er.

Clas lässige Zielstrebigkeit fasziniert sie.

«Der Ort ist ziemlich klein, und Ihr Künstler bewegt euch halt etwas anders als die anderen.» Er lacht.

«Also gerne! Ich bin dabei!» Sarah legt auf.

Pascal ist vor einer Stunde aus dem Haus gegangen. Hoffentlich kommt er nicht mittags zurück, um sich was zu kochen. Sie könnte immer noch sagen, Cla spreche für sie ein Gedicht ein. In der Regel sind ihre Sprecher aber keine gutaussehenden Männer. Und schon gar keine Metzger. Man sagt doch den Metzgern eine gewisse Grobschlächtigkeit nach?

«Ich habe ein paar Pferde in San Palü», erklärt Cla, während er die Kupplung drückt. «Das ist mein Ausgleich, die esse ich dann auch nicht», lacht er.

«Deine Reitpferde», hakt Sarah nach.

«Genau, mit dem Domenico reit‘ ich Turniere, die anderen drei sind gemütliche Wanderstuten. Pferdefleisch zu verkaufen, ist schwierig, fast schon eine religiöse Frage. Und wir Metzger sind ja keine Tierhasser, auch wenn mancher Vegetarier das vielleicht so sieht.»

«Ich mag Pferde», lächelt Sarah. «Aber ich hatte bis anhin nicht das Glück, Pferdefreunde zu haben. Das Pferd ist heute ja beinahe etwas Elitäres.»

«Das stimmt. Ein Normalverdiener kann sich kaum ein Pferd leisten. Alleine die Stallmiete verschlingt Summen, hinzu kommen Tierarztrechnungen, Impfungen, alle acht Wochen der Hufschmid, Futter, ein schöner Sattel und die Zeit, die man benötigt, das Tier zu reiten.»

«Komme ich in den Genuss einer Reitstunde?», fragt Sarah.

«Klar», antwortet Cla. «Wenn dich das Pferd nicht gleich abwirft.» Er lacht.

Was für ein Glückspilz bin ich doch, denkt Sarah. Feldabmessung zu Pferd! Warum bin ich nicht früher draufgekommen. Der Geländewagen schlängelt sich die kurvige Strasse hoch, geschickt dem Postauto ausweichend, das sich durch sein lautes Tatütato ankündigt.

Sie geniesst den Stallduft. Warum gibt es eigentlich keinen Pferderaumspray, wenn dieser Geruch die Menschen so sehr besänftigt? Cla zeigt ihr, wie sie das Pferd striegeln muss. Seraina hat er ihr anvertraut, «ein Apfelschimmel», erklärt Cla. Sarah streichelt das Tier, das zutraulich an ihr schnuppert. Sogar das Hufe-Auskratzen meistert sie mit Bravour, sodass Cla sie lobt: «Dich kann man gebrauchen!» Er zeigt ihr, wie sie das Zaumzeug anlegen muss, gefolgt vom Sattel, und schon schreitet sie mit dem ausreitfreudigen Pferd aus dem Stall hinaus.

Cla hilft ihr in den Sattel. Das Pferd setzt sich in Bewegung, seinem Herrn folgend. Tautropfen glänzen auf den bunten Blättern am Boden. Sie reiten über eine Koppel, die gelben Lärchen wiegen sich sanft im Wind. Das Licht ist mild. So reiten sie schweigend nebeneinander her. Ab und zu gibt Cla ihr kurze Anweisungen: «Halt deinen Rücken gerade!» oder «Atme in den Bauch, entspann‘ dein Becken.»

Bei einer Feuerstelle kommen sie schliesslich zum Stehen. Er hilft ihr vom Pferd herunter. Dabei macht er einen Ausfallschritt nach hinten und stolpert. Sarah greift nach seinem Arm und er packt ihre Schulter, um nicht hinzufallen. Ihre Gesichter sind sich ganz nah.

«Ich will dich nicht anbaggern, aber du hast einfach etwas, das mir gefällt», sagt er.

Ihre Augen leuchten.

«Und was ist dieses Etwas?», will sie wissen.

«Einen Willen», sagt er nachdenklich. «Und Feuer im Bauch.» Er zeichnet mit seinen kräftigen Fingern ihre Lippen nach. «Die meisten können nicht begehrt werden, weil sie es schlicht nicht geniessen. Man muss jemanden locken können, sich auf den Sattel schwingen und tragen lassen, darauf vertrauen, dass der andere folgt.» Er wendet sich ab, um die Pferde festzubinden.

«Wie kommt es, dass du so poetisch bist?», lacht Sarah.

«Ich lese viel», sagt Cla. «Und ich glaube, dass der Mensch immer nur nach dem einen sucht, nach der Verbindung zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen. Diese Verschmelzung drückt sich in der Poesie aus, in der Musik, und ja, auch in der Jagd. Ich töte nicht gerne, und doch kenne ich keinen feierlicheren Moment als den, wenn das Tier seinen letzten Atemzug ausstösst. In diesem Augenblick liegt die vollkommene Ruhe, die Versöhnung mit dem Tod. Das Tier kämpft nicht mehr, es gibt sich vollkommen dem Sterben hin.» Sarah läuft ein leichter Schauer den Rücken hinunter. Ein Reh verschwindet kaum hundert Meter von ihnen entfernt im Wald.

Zurück in der Fundaziun kann sie nur mit Mühe ihre Verwirrung verbergen. Warum hat er sie nicht geküsst? Pascal ist bereits zurück in ihrem Atelier. Er sitzt am Schreibtisch und blickt flüchtig zu ihr hoch.

«Du riechst nach Pferdestall», sagt er.

«Ja, ich war reiten. Ein Bauer, der mir mit einem Gedicht geholfen hat, hat mich spontan zu einem Ausritt eingeladen.» Pascal legt seinen Stift hin und betrachtet Sarah.

«Das nächste Mal will ich aber mitkommen, wenn reiten so glücklich macht!»

«Ja», lächelt Sarah gezwungen.

Dann verabschiedet sie sich schnell unter die Dusche.

Im Badezimmer kramt sie ihr Handy hervor. Sie schreibt eine SMS: «Herzlichen Dank für den schönen Nachmittag! Warum hast du mich nicht geküsst?»

Mit klopfendem Herzen drückt sie auf Senden. Ein paar Sekunden später erreicht sie die Antwort: «Ich wollte, dass du danach fragst.»

«Ich möchte dich wiedersehen», tippt sie in ihr Handy.

«Morgen gleiche Uhrzeit? Es ist der letzte schöne Tag – nutzen wir ihn ;-).«

Sarahs Herz hüpft.

Der Mond scheint ins Zimmer. Das Atelier hat keine Vorhänge, was Pascal anfangs irritiert hat, nachts ausgeleuchtet zu sein, wenn Sarah und er nach dem Essen noch ein bisschen arbeiten oder später in den Schlafanzug schlüpfen. «Da draussen ist doch keiner, der uns beobachten könnte!», hatte Sarah gelacht. «Nur wilde Tiere, und denen sind wir weiss Gott egal.» Ihm sind die natürlichen Bewegungen einer Person, die sich unbeobachtet fühlt, unangenehm. Der Gedanke, jemand könnte seinen unbewussten Schritten und Gesten folgen, graut ihm. Pascal schmiegt sich an Sarahs runden Körper. Sie seufzt.

«Ich bin müde», raunt sie, lässt ihn aber gewähren.

Nach ein paar Minuten gibt ihr Körper nach, räkelt und streckt sich, um sich ihm zu öffnen.

Die Nacht ist hell und im Halbschlaf sieht sie Elfen im Zimmer tanzen. Kleine fragile Wesen, die türkis-violett leuchten. Sie lauscht ihrem Kichern, den verführerischen Stimmen, die sie wohlig einhüllen. Dann wiederum dringt das Rauschen des Flusses überdeutlich an ihr Ohr. «Pass auf! Pass auf!», sagt er. «Das Glück ist fragil. Alles fliesst. Nichts bleibt.»

Warum weiss ich die Sicherheit nicht zu schätzen?, fragt sie sich. Welcher dunkle Fleck in meiner Seele sucht das Unbekannte? Pass, denkt sie. Ist das nicht ein seltsames Wort? Es steht für aufpassen, für den gangbaren Punkt zweier Bergketten und schliesslich für ein Dokument, welches die eigene Identität beweist, ein Papier, das darüber entscheidet, ob man sich in einem Land aufhalten darf oder nicht. Manche Menschen haben Glück und verfügen über Pässe, mit denen sie sich überall aufhalten dürfen. Andere müssen ihre Pässe verbrennen, da sie eine niedere Herkunft bezeugen, wirtschaftlich gesprochen, geografisch den unteren Teil der Weltkarte markieren. Andere Organisationen wie Geheimdienste wiederum produzieren Pässe, um Menschen mit mehreren Identitäten auszustatten, damit sie ungestraft böse Dinge tun können. Für die Reichen wiederum spielen die geografische Herkunft und die Farbe ihres Passes keine Rolle, die können auch aus einem Land unterhalb des Äquators kommen, wenn sie Geld mitbringen und ihr Land weit öffnen, um die Bodenschätze den Fremden anzubieten, die dafür Kredite verteilen.

Irgendwann schläft sie ein. Vor ihrem inneren Auge flackert Clas Antlitz auf, in dem Moment, als er ihre Lippen nachzeichnet und sagt: «Du hast einen Willen.» Was für einen Willen?, denkt sie noch.

Die morgendliche Frische breitet sich angenehm im Zimmer aus. Pascal ist bereits dabei, seinen Rucksack zu packen, während Sarah sich noch wohlig in die Decke kuschelt.

«Wohin gehst du heute?», fragt sie.

«Ich hab’ da einen Bunker entdeckt. Eine militärische Anlage mit Notfallbetten. Die kann ich heute fotografieren.»

«Hmm», macht sie. «Was fasziniert dich daran?»

Pascal überlegt.

«Die Abwesenheit des Menschlichen. Das rein Funktionale, das auf Menschliches wartet. Ein System, welches das Leben selbst verleugnet oder, anders ausgedrückt, erst im Überlebenskampf zum Leben erweckt wird. Ein Paradox.» Er küsst sie zum Abschied.

«Die Menschen sind schon sehr seltsam», sagt sie noch.

In schlafwandlerischem Zustand steht sie auf, stellt sich unter die Dusche, betrachtet schliesslich ihren Körper vor dem Spiegel, diese rätselhafte Verknüpfung von Körperhaben und Körpersein. Schon seltsam, denkt sie, dass man nie weiss, wie sich der andere in seinem Körper fühlt, dass man möglicherweise eine ganz und gar gegenteilige Körpererfahrung macht. Ellie beispielsweise ist sehr filigran. Sie düst wie ein aufziehbares Kinderspielzeug im Haus herum. Nichts scheint sie auf der Erde zu halten, und wenn man mit ihr spricht, ist man nie sicher, ob sie einen überhaupt wahrnimmt. Ihre Gefühle scheint sie in jeder Sekunde materialisieren zu müssen, da sie in ihrem zierlichen Körper keinen Platz haben. Dies führt auch in ihrem Gehirn manchmal zu einem Stau, und eine plötzliche Migräne befällt sie.

Auch Pascal muss sich immerzu bewegen, als ob er seine Gefühle abschütteln müsste. Dabei liebt sie gerade sein Staunen, seine Versenkung, seine Überraschung, wenn es ihm eben nicht gelingt, seine Gefühle wegzudrücken.

Und Cla. Er ist eins mit seinem Körper, füllt ihn mit seinen Gedanken und Gefühlen aus. Da gibt es nichts Verborgenes, was er zurückhält. Ein perfekter Organismus, der ständig neue Bilder kreiert, in Harmonie mit seiner Umwelt, obwohl er vom Tod lebt. Das versteht sie nicht.

Wieder fahren sie die enge Strasse hoch ins Val Inez. Das Tal wurde vor ein paar Wochen von schweren Erdrutschen heimgesucht. «Das Tal ist schön, aber wenn es wüst kommt, dann richtig», hatte der Postautochauffeur ihr bei ihrem ersten Besuch erklärt. Noch immer türmt sich der Schutt zwanzig Meter hoch. Bagger sind damit beschäftigt, das Geröll abzutragen. Sie fühlt die Energie, die von den Gesteinsmassen ausgeht. Das Tal ist wie elektrisiert von der Naturgewalt. Ihr ist, als ob hier andere Naturgesetze gelten. Sie betrachtet Cla von der Seite. «Wir leben hier mit der Unberechenbarkeit der Natur», sagt er. «Es klingt nach einem Klischee, aber das prägt einen. Man gibt nicht so viel Wert auf die flüchtigen Dinge wie Reichtum und Ansehen. Ich habe ein florierendes Geschäft, natürlich geniess ich das. Aber das entstand hauptsächlich aus der Verbundenheit mit der Familiengeschichte und Tradition, bereits mein Urgrossvater war Metzger, und nicht aus der Motivation heraus, viel Geld zu verdienen.» «Das spürt man», sagt Sarah und ist sich nicht ganz sicher, ob sie Cla seine Bescheidenheit wirklich abnimmt.

Wenn die Menschen erst etwas haben, geben sie es nicht mehr so gerne wieder her.

«Erzähl mir von deiner Kunst», fordert Cla sie auf.

Sarah lacht.

«Das Schlimmste an der eigenen Kunst ist, über sie zu reden. Man fragt sich ständig, ob das überhaupt Kunst ist, was man macht. Man macht etwas, wonach niemand fragt. Es ist wie eine Manie, die einen antreibt, und ständig schwankt man zwischen Euphorie, wenn einem etwas gelingt, und Rechtfertigungsdruck. Zuweilen schäme ich mich für meine Kunst. Gerade Phasen, in denen man keine Ausstellung hat und nichts verkauft, zerren an den Nerven. Wie kann man etwas offensichtlich Sinnloses machen? Was ist der Sinn hinter der Sinnlosigkeit? Andere machen eine Psychotherapie.»

«Es braucht immer Menschen, die Gewohnheiten hinterfragen», lacht Cla.

«Ich sollte Pfeiler haben, auf denen ich meine Kunst errichte, Werte, eine Botschaft. Aber irgendwie suche ich noch danach.»

«Du bist ehrlich», sagt Cla. «Das ist doch schon mal ein ziemlich guter Anfang.»

In Inez angekommen, marschieren sie los Richtung Arvenwald.

«Ich gehe mit einem fremden Mann spazieren», sagt Sarah.

«Sieh es mal so, wir teilen gerade einen Traum. Wir assistieren einander.»

«Was fehlt dir?», fragt Sarah.

«Für die Diagnose scheine ich dich zu brauchen», sagt er.

«Was soll ich tun?», fragt sie.

«Mich ohne Geschichte wahrnehmen. So wie ich jetzt bin.»

«Ok», sagt sie.

«Weisst du denn, was du brauchst?», fragt er.

«Nein», sagt sie. «Ich dachte, ich wüsste es. Bis vorgestern wusste ich es noch.»

«Ich soll dich also vom Weg abbringen?», grinst Cla.

«Ja, bitte», lacht Sarah.

Sie gehen schweigend nebeneinander her.

Er sagt: «Es tut mir leid, aber wenn wir vom Weg abgehen, landen wir höchstens bei den weidenden Kälbern.»

Sie lachen.

Nach einer Stunde erreichen sie die Alp, die schon eingewintert wurde. Hinter einem geschlossenen Fensterladen kramt Cla einen Schlüssel hervor.

«Kaffee ist immer da», sagt er. «Instantkaffee, aber immerhin!» Sie betreten die dunkle Stube. Cla betätigt rechts von der Türe den Sicherungskasten, um die Hütte wieder mit Strom zu versorgen.

«Lass die Läden geschlossen, wenn du keine Lust hast, Leute zu bewirten», scherzt er. «Ich bin öfters hier im Herbst, und wenn du nicht aufpasst, hast du plötzlich zehn Wanderer vor der Türe, die einen Aufstand machen, wenn sie keinen Kaffee bekommen. Wir Jäger haben uns untereinander arrangiert, aber der Alpbesitzer ist etwas kompliziert, ein Arzt aus St. Moritz. Er verpachtet die Alp, will aber stets über alles auf dem Laufenden gehalten werden.»

«Mit anderen Worten ausgedrückt, begehen wir sozusagen gerade Hausfriedensbruch», sagt Sarah.

«Na, so drastisch würde ich das jetzt nicht ausdrücken», schmunzelt Cla.

Er holt Wasser vom Brunnen, steckt das Kabel vom Wasserkocher ein und stellt zwei Tassen auf den Tisch, der in der Mitte des Raumes steht. Er gibt Kaffeepulver in die Tassen. Das Wasser kocht. «Ich möchte dich anschauen», sagt er mit veränderter Stimme.

Sie zieht sich wortlos aus und schaut ihn dabei an, angetrieben von einem unerklärlichen Impuls. Seine Augen funkeln wie die eines Raubtiers. Sie weiss nicht, was sie denken, was sie sagen soll. Sie fühlt sich wie mit zwölf Jahren zum ersten Mal auf dem 10-Meter-Sprungturm. Sie versucht regelmässig zu atmen und verschluckt sich dabei. «Das Wasser kocht», sagt sie.

Sie geniesst plötzlich die eigene Überraschung, nicht zu wissen, was zu tun ist, nackt zu sein. Zu warten. Er giesst das Wasser in die Tassen.

«Es ist seltsam», sagt er. «Ich möchte dich berühren, die Lust ist schon fast schmerzhaft, und gleichzeitig fühle ich bereits die Traurigkeit, dich wieder gehen lassen zu müssen.»

«Wir können uns in den Brunnen legen», schlägt Sarah vor.

«Das ist eine vernünftige Idee», lacht Cla.

Auch er zieht sich aus. Sie betrachten einander schweigend. Clas Körper ist muskulös und kräftig, kein Alter verratend. Dann springen sie hinaus und steigen in den Brunnentrog. Sie kreischen. Das Herbstlicht versprüht eine milchige Wärme. Auf den Zweitausendern liegt über der Baumgrenze bereits der erste Schnee. Grillen zirpen, gedämpftes Vogelgezwitscher dringt an ihr Ohr. Die Luft riecht nach überreifen Zwetschgen. Es gärt in den Speichern des Sommergedächtnisses. Die Erinnerungen warten darauf, getrunken zu werden, und dieser Tag soll den süssen Saft vergolden. Die Wolken erinnern an chinesische Schriftzeichen. «Noch nicht» und «Nichts» steht am Himmel. Sie kreischen und prusten. Der Kälteschock jagt Adrenalin durch ihre Körper. Jauchzend springen sie vor der Hütte auf und ab. Cla holt von drinnen eine Decke. So lassen sie sich Seite an Seite von der Sonne trocknen. Eine Libelle tanzt in der Luft.

«Du hast gefragt, worin der Sinn besteht, etwas Sinnloses zu tun», sagt Cla. «Was, wenn es gar nicht um den Sinn geht, sondern einzig um die Schönheit?»

Sie lächelt.

«Du meinst, wir können stets nur das Schöne erkennen, nicht aber den Sinn?»

«Das Schöne ist vielleicht der Sinn», lächelt Cla.

«Es ist manchmal so schwer zu ertragen!», stöhnt Sarah.

Cla greift nach ihrer Hand. Sein Pulsschlag geht über in ihren.

Sie spazieren durch den Arvenwald zurück. Viele Mythen kreisen um dieses Wäldchen. Hier wachsen die höchst gelegenen Arven, deren Holz die Seele besänftigt. «Nichts», denkt sie. Sarah fühlt sich frisch und gereinigt.

«Hier soll eine Waldfee wirken, welche den Spaziergängern ihre Lebensaufgabe offenbart. Man muss ganz still sein, damit sie sich mitteilen kann. Manchmal spricht sie in Sätzen, manchmal in Bildern. Es gibt Menschen, die sie sogar sehen können.»

«Und wie rufe ich sie?», fragt Sarah.

«Es reicht, wenn du gedanklich das Wort an sie richtest. Aber Vorsicht! Wer sich gegen seine Aufgabe stemmt, dem droht Ungemach. Man darf die Frage nicht vor dem dreissigsten Lebensjahr stellen, so der Volksglaube.»

«Lebensaufgabe», sinniert Sarah. «Während meiner Kindheit und Jugend in Rumänien war irgendwie klar, worin die Lebensaufgabe bestand: Den Kindern sollte es einmal besser gehen als den Eltern. Sie sollten eine gute Bildung bekommen, vielleicht ihr Glück im Ausland versuchen. Und jede Familie hatte ihre Mantren, welche die Grosseltern den Enkeln weitergaben, kleine Weisheiten, die einen durchs Leben brachten. Während meiner Studienzeit in Deutschland stürzte ich mich auf deutschsprachige Sinnsprüche. Ich lernte Goethe auswendig: ‹Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.› Ich war wahnsinnig stolz auf meine Fortschritte, auf mein Verständnis für die Tiefe der Seele. In der deutschen Sprache sah ich beides vereint, Logik und Seelentiefe. Dann merkte ich bald, dass diese Werte nichts mehr zählen sollten. Niemand sprach mehr über Goethe oder Hölderlin. An der Uni lasen wir sogenannte postdramatische Texte, die so viel besagten wie: Es gibt keine Geschichten mehr, keine Wahrheiten, nur noch Diskurse!»

Cla lacht.

«Und dann kommst du in die Natur, und sie beginnt dir unweigerlich Geschichten zu erzählen. Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht irgendwas lehrt.» Sie atmet den Duft des Waldes ein. «Heil den unbekannten höheren Wesen, die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch! Sein Beispiel lehr‘ uns jene glauben.» Zum ersten Mal versteht sie diese zweite Strophe von Goethes Gedicht «Das Göttliche». Der tugendhafte Mensch soll den anderen durch sein Vorbild das Göttliche näherbringen, denn das Göttliche wird erst durch den Menschen sichtbar. «Denn unfühlend ist die Natur: Es leuchtet die Sonne, über Bös‘ und Gute, und dem Verbrecher glänzen, wie dem Besten, der Mond und die Sterne.»

Die Sonne taucht die Berge in rosa Licht. Die rot-gelben Blätter rascheln im Wind. Sarah berührt sanft Clas Arm. «Ich danke dir für diesen herrlichen Tag!»

Das Restaurant Inez liegt bereits im Schatten, davor steht neben Clas Geländewagen ein roter Peugeot.

In dem Moment taucht in Sarahs Augenwinkel Pascal auf. Er steuert auf sie zu.

«Pascal!», ruft sie entgeistert.

Er blickt sie wütend an, so wie nur der Liebste blickt, wenn er verletzt wurde. Ein angeschossenes Tier.

«Das ist Cla», sagt sie. «Er hat mir mit den Gedichten geholfen.» – «Mein Freund», sagt sie zu Cla.

«Schön dich kennenzulernen», sagt dieser ruhig.

«Wir sehen uns unten!», sagt Pascal trocken.

«Ich hoffe, du bekommst jetzt keine Probleme wegen mir», sagt Cla.

«Wir haben nichts zu bereuen, oder?», fragt Sarah.

Keiner von ihnen spricht mehr ein Wort. Die Gesteinsmassen drücken. Pascals Eifersucht mischt sich mit ihrem schlechten Gewissen. Sie versucht, die Gefühle auseinanderzudröseln.

Cla streicht ihr ein letztes Mal über die Wange. «Du hast nicht gefragt», sagt er.

Sie lächelt traurig.

Mit hängenden Schultern betritt sie das Haus.

Sie geht die Stufen hoch in ihr Atelier. Wird Pascal gleich mit dem Rad heimkommen? Wird er draussen auf die Nacht warten oder irgendwo ein Bier trinken? Auf dem Schreibtisch liegen Abzüge von Pascals neuster Arbeit. Daneben eine Lupe. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, betrachtet die Bilder des Geräteraumes der Sekundarschule und den Maschinenraum der Bergbahnen. Sie nimmt die Lupe zur Hand. Sie erkennt auf dem Gymnastikpferd ein eingeritztes Herz, darin eingraviert ein Schriftzug: «Sarah». Sie untersucht den Maschinenraum. Dort ist auf einer Schneekanone zu entziffern «I love Sarah».

Sie freut sich auf den ersten Schnee.

Magnetfeld der Tauben

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