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Im Windschatten

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Sie sitzt gerne auf einer Bank, obwohl das heutzutage niemand mehr tut, der nicht seinen Überfluss an Zeit zur Schau stellen will. Es wäre ja auch etwas unverschämt, über zu viel Zeit zu verfügen. Henriette sinniert gerne. Was das Parkbanksitzen in New York vom Parkbanksitzen in Rucol unterscheidet. Abgesehen von der Natur, um die man im Engadin schlecht herumkommt, es sei denn, man fände einen Reduiteingang, verbrächte die Tage im Stollen, und ignorierte fortan die Tatsache, im Berg zu wohnen, wie die Höhlenmenschen in Platons Gleichnis. In New York geniesst man die Natur im Park und verwechselt den Park mit der Natur. Die Pischana, der stattliche Hausberg Rucols, das ist Natur, aber so ein Central Park? Werden da nicht regelmässig Bomben deponiert?

Henriette besitzt die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Nicht dass sie sich in Luft auflösen könnte, nein, nein. Vielmehr scheint sie alle von ihr ausgehenden Signale ausschalten zu können, um so chamäleongleich mit der Umgebung zu verschmelzen.

Als sie nach und nach ihrem Rätsel auf die Spur kam, dass die Menschen sie nicht ignorierten, sondern sie oft schlichtweg nicht wahrnahmen, begann sie mit ihrer Gabe zu arbeiten. Sie verschaffte sich Zutritt in Regierungsgebäude und drang immer weiter in sensible Bereiche vor. Wurde sie aufgehalten, raunte sie dem Sicherheitspersonal «Passt schon» zu. So war sie jedes Jahr unsichtbarer Gast am Weltwirtschaftsvotum in Savon, wo sie Regierungs- und Konzernchefs bei der Völlerei beobachtete. Ihr Material verkaufte sie an Journalisten, bis sie irgendwann dazu überging, ihre Recherchen selber auf Youtube zu verbreiten. So wurde sie Journalistin wider Willen, da ihre Kollegen sie als Informantin schlecht bezahlten und obendrauf ihr Material als eigenes ausgaben. Alles muss man sich ja auch als Unsichtbare nicht gefallen lassen!

Henriette entwickelte sich über die Jahre hinweg allmählich zum Vollprofi und bietet heute Kurse in Unsichtbarwerdung an.

Die meisten wollen unsichtbar werden, weil sie sich dadurch erhoffen, der Realität entfliehen zu können. Diesen Kandidaten erteilt Henriette eine Absage. Unsichtbar zu sein, erfordert ein Höchstmass an Konzentration und ein reines Herz, um die Macht nicht zu missbrauchen. Bis heute weiss sie nicht, wie viele Agenten fremder Dienste sie ausgebildet hat, sie hofft natürlich keine, aber eine hundertprozentige Garantie hat sie schliesslich nie. Deshalb arbeitet sie am liebsten mit Kindern und Jugendlichen.

Ihre beste Auszubildende ist Louisa. Sie besucht die Sekunda am Hochalpinen Institut in Rtan. Kennengelernt haben sie sich auf der Parkbank beim Schwimmbad Badras. Es scheint einen Code zu geben, der Parkbanksitzende miteinander verbindet.

In der Garage, die Henriette als Seminarraum dient, üben sie heute das Teetrinken; wie man Kekse isst, um die Aufmerksamkeit des Gegenübers ganz auf den Keks zu lenken. Louisa versteht es, den Gesprächspartner alleine durch ihr Fingerspiel zu hypnotisieren.

In wohldosierten Abständen hält Henriette Louisa Bücher zu: «Schuld und Sühne», «Anna Karenina», «Der Postmeister» und andere Schätze der Weltliteratur oder «antiquarische Zen-Übungen», wie Louisa meint. Die altmodische Sprache bereitet ihr noch Mühe. Oft notiert sie sich Ausdrücke in ein Notizheft, um ihre Bedeutung später zu ergoogeln.

Noch ist Louisa nicht klar, dass Lesen den Geist weitet. Um in der Kunst des Unsichtbarseins zu brillieren, benötigt man ein waches Bewusstsein, was die Voraussetzung für die Bewusstseinserweiterung ist. Es genügt nicht, in Phantasie- und Parallelwelten einzutauchen und sie beschreiben zu können. Man muss sie auch miteinander in Verbindung setzen. Seinen Nutzen daraus ziehen. Sich seine eigene Hirnstruktur erschaffen, so wie ein Architekt ein Haus plant. «Und wir wollen ja nicht nur ein Haus, wir wollen einen Palazzo! Stell dir vor, du kommst als reiche Zuckerbäckerin von Italien zurück nach Rucol. Was für einen Tempel errichtest du dir? Du willst doch deine alten Schulfreunde beeindrucken!», lacht Henriette.

Wenn Louisa schlechte Laune hat, gelingt es Henriette oft, ihre Schülerin mit ihren schlichten Anweisungen aus dem Schneckenhaus hervorzulocken. «Wo befindest du dich gerade? Im Keller oder in der Abstellkammer? Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Nimm den Staubsauger aus der Abstellkammer und saug mal dein Kellerabteil. Ich bin sicher, wir werden dabei den einen oder anderen Juwel entdecken.» Wenn Louisa lacht, folgt meist eine Quintessenz wie: «Merk dir eins, meine Liebe: Egal wie schlecht es dir geht, sei aufmerksam.»

In der zweiten Lektion betrachten sie jeweils grosse Werke der Kunstgeschichte, um zu verstehen, wie grosse Geister beobachten, auf was sie den Fokus legen und wie sie den Blick des Betrachters lenken. Die Übung dient dem Erkennen grosser Geister. Aber dafür besitzen sensible Menschen wie Louisa bereits in ganz jungen Jahren ein Gespür. «Du musst die blinden Flecken des Gegenübers kennen», erklärt Henriette. «In diesem Windschatten kannst du dich ohne grosse Anstrengung gut aufhalten. Es gibt aber eine einfache Grundregel: Um unsichtbar zu sein, muss deine Energie höher schwingen als die Energie des Gegenübers, das dich nicht entdecken soll.»

Louisa macht sich während solcher Sitzungen jeweils fleissig Notizen, um dann wieder bei null anzufangen, so kommt es ihr oft vor. «Wie erhöhe ich denn meine Schwingung?», fragt sie leicht genervt.

«Zum Beispiel mit Dostojewski», lacht Henriette. «Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe das alles mit siebzehn auch noch nicht verstanden. Ich habe versucht, meine Jugend zu geniessen, und dabei viele Dummheiten gemacht. Nun bin ich zur Auffassung gelangt, dass nicht jede Dummheit zur Entwicklung gereicht. Also mögen meine Unterweisungen dazu dienen, deine Entwicklung auf dem einen oder anderen Gebiet ein bisschen zu beschleunigen. Aber die Schwingungserhöhung erfolgt ganz natürlich, wenn du das machst, was dir Spass macht, und die nötige Disziplin aufbringst, Hindernisse zu überwinden.»

Louisa schaut Henriette neugierig an. «Was war denn deine grösste Dummheit?»

Henriette überlegt lange.

«Ich habe zu wenig gelesen», lacht Henriette. «Meine Zwanziger habe ich mit Alkohol und Männern verbracht.» Louisa schaut sie skeptisch an: «Wirklich?»

«Ja, so was Dummes hättest du nicht erwartet, oder? Aber das ist auch eine Binsenwahrheit: Oft ist die abwegigste Annahme die Zutreffendste.»

Louisa denkt nach. «Du meinst, dass beispielsweise meine Französischlehrerin eigentlich die französische Sprache hasst, so was?»

«Ja, genau!», sagt Henriette. «Alleine, dass dir spontan dieser Gedanke kommt, ist ein Hinweis auf eine Diskrepanz, welche deine Lehrerin offenbar ausstrahlt. Möglicherweise ist deine Schlussfolgerung nicht ganz richtig, und sie hat einfach keinen Spass mehr am Unterrichten.»

Louisa lacht: «Was ja auch durchaus nachvollziehbar ist.»

«Nein», protestiert Henriette, «weisst du, wir dürfen es nicht gutheissen, wenn Leute Dinge tun, die ihnen keinen Spass mehr machen. Damit akzeptieren wir die Kakophonie! Und wenn du einen Auftrag zu erfüllen hast, Louisa, dann ist es der, gegen die Kakophonie vorzugehen!»

Louisa notiert sich das Wort «Kakophonie.»

«Komm», sagt Henriette, «für heute wollen wir Schluss machen.» Louisa streckt sich erleichtert. «Das Museum der Liebe eröffnet heute seine Tore. Lass uns dort hingehen.»

«Super», klatscht Louisa begeistert. «Darf ich auch sichtbar sein?»

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