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In der Restaurierung

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Endlich hatte er Urlaub! Das neue Sicherheitssystem hatte Daniel den letzten Nerv gekostet. Gestern piepste der Dürer, heute ging der Alarm bei Van Gogh los, als ob die Gemälde untereinander Morsebotschaften austauschten. Angesichts dieses Desasters könnte dem dümmsten aller Kleinkriminellen der Kunstraub des Jahrhunderts gelingen. Zumal auch die Frau an der Kasse nicht die Aufmerksamkeit in Person war. Lara war ihres Zeichens selbst Künstlerin. Sie war mit einer Verpeiltheit gesegnet, die hundert Meter weit ausstrahlte, gleich einem Störsender, der die allgemeine Ordnung durcheinander brachte. Eine kolossale Verwirrtheit, die anscheinend heutzutage an Kunsthochschulen zum Lehrplan gehörte. Lara, Lara, Lara. Sprach er ihren Namen ein paar Mal hintereinander aus, machte sie ihn besoffen. Lara Lala, die ihr verschwenderisches Dekolleté mit einem Hauch zu viel Zitronenduft besprenkelte.

Selber roch sie das wahrscheinlich gar nicht, weil sie viel rauchte. Schaute er sie länger als zwei Sekunden an, wurde ihm überall ein bisschen enger. Wurde ihm sehr eng, machte er sie auf Mängel im Kassenbereich aufmerksam, um sich etwas Raum zu verschaffen. Sie kniff dann jeweils das linke Auge zusammen und sagte: «Yes, Sir!», wodurch sie seine ganze Anstrengung zunichtemachte.

Nun würde er also zehn Tage Ruhe haben, mochte der Richter zu spät von der Restaurierung kommen, das war ihm gerade herzlich egal. Eine ältere Dame hatte aufgrund der mörderischen Hitze in diesem Sommer einen Kreislaufkollaps erlitten und war dabei gegen das Gemälde geknallt, wodurch sich Fünfliber-gross die Farbschicht vom Bild gelöst hatte.

Die Dame hatte natürlich viel zu wenig getrunken, wie sich später herausstellte, was für die Versicherung relevant war, um einen Vorsatz auszuschliessen.

«Bitte schön, die Dame war achtzig. Welche achtzigjährige Dame demoliert vorsätzlich einen Richter?», hatte er zu Lara Lala gesagt, da das Museum Unsummen für die Versicherung ausgab, diese aber beim winzigsten Kratzer Anstalten machte.

«Stell dir vor, die Dame war eine ehemalige Kollegin aus Studienzeiten», sagte Lara schulterzuckend. «Richter hat ihr diese eine Idee geklaut, mit der seine Karriere ins Laufen kam: ‹Abendmahl mit Picasso›, hingepinselt in der Mensa der Dresdner Akademie, und da hatte er noch nicht mal sein Vordiplom.» Daniel schaute Lara verwirrt an. «Ein Jahr darauf hat er ein Wandbild im Dresdner Hygienemuseum gemalt. Das mit der Kollegin habe ich spontan hinzugedichtet. Was ich damit sagen will: Ältere Damen treten immer nur als liebe Omas in Erscheinung. Das ist doch komisch. Die Männer aber bleiben immer Herren.»

Daniel konnte Laras Logik nicht ganz folgen. Aber er ahnte, dass sich Lara regelmässig in ihren Fantasien verlor, da sie nicht bereit war, Tatsachen unhinterfragt hinzunehmen.

Sie suchte ständig nach der Ausnahme, nach dem Regelverstoss und den wahren Gründen dahinter. Sie erinnerte ihn an seine Tochter, die ihn als Kind mit ihrer endlosen Fragerei oft an seine Grenzen gebracht hatte.

«Schönen Urlaub!», rief ihm Lara hinterher.

Ihre blonden strähnigen Haare fielen ihr ins Gesicht. Sie war ungeschminkt und ihre Nasenspitze braun gebrannt.

Daniel packte seinen kleinen Reisekoffer, dazu trank er ein Bier. Immer wenn er dachte, an alles gedacht zu haben, kam ihm noch etwas in den Sinn. Badehose. Handtuch. Besser zwei Handtücher. Eines zum Duschen, eines für den Strand. Also noch besser drei Handtücher. Nämlich ein zweites, um sich am Strand abzutrocknen. Er ertappte sich beim Gedanken, die Sonnencreme nicht mitzunehmen, da seine Noch-Ehefrau ja bestimmt auch Sonnencreme einpacken würde. Seine lag nämlich auf dem obersten Regal seines Wandschranks, das er ohne Leiter nicht erreichen konnte.

«Herrgott», sagte er schliesslich zu sich selber: «Du bist Museumstechniker, dann kannst du jetzt auch die Sonnencreme vom obersten Regal deines drei Meter hohen Wandschranks holen.» Die Decke war wirklich zu hoch, um ihm auf den Kopf zu fallen! Seine Frau wartete doch nur auf solch kleine Unachtsamkeiten, um ihre Augenbraue hochzuziehen, und sich gespielt enerviert zu beschweren.

Kürzlich hatte sie zu ihm gesagt: «Jetzt bist du schon seit acht Jahren alleine und fragst mich immer noch nach Haushaltskram, den du ganz einfach im Internet nachschlagen kannst. Ich glaube, du wirst nie selbständig sein, weil du vorher an Alzheimer erkrankst.»

Kein Wunder, dass sie sich getrennt hatten. Anfangs hatten sie der Tochter zuliebe zusammen Urlaub gemacht. Die Tochter war mittlerweile auch schon zwanzig, aber die Tradition hatten sie beibehalten.

Für Cynthia war es wie ein spätes Kinderglück, dass sich ihre Eltern doch noch irgendwie verstanden, und zwar viel besser als damals, als sie noch alle unter einem Dach gelebt hatten. Carmen war davon überzeugt, dass dadurch das Beziehungsverhalten ihrer Tochter ganz bestimmt positiv beeinflusst wurde. Er hingegen war ziemlich skeptisch, was die Beeinflussung der Beeinflussung anging. Hätte sein Beispiel unrühmlicher Lebensführung uneingeschränkt auf das kleine Mädchen und später auf den Teenager abgefärbt, dann gute Nacht. Cynthia hatte zwar von seinen Alkohol- und Drogenexzessen nie direkt etwas mitbekommen, aber die Konsequenzen waren nicht zu leugnen gewesen. Tage, an denen er in den Seilen hing, überdrehte Gäste, die teilweise so wirres und grössenwahnsinniges Zeugs von sich gaben, dass sich Carmen gezwungen sah, ihre Tochter von den tollen Künstlern und Schriftstellern abzuschirmen, Versprechungen, die er nicht immer einhalten konnte, und schliesslich seine Frau selbst, die er vernachlässigte. Irgendwann sagte sie, er müsse sich entscheiden, wie er leben wolle. Ob er mit seinen Freunden weitermachen wolle oder mit ihr und dem Kind. Ob er sich selbst zerstören oder kämpfen wolle. Sie machte ihm keine Vorwürfe. Sie war Psychoanalytikerin, liess aber in den eigenen vier Wänden ihren Beruf weitgehend draussen. Manchmal sprachen sie über das eine oder andere «Müsterli», das schon. Für diesen Ausdruck hätte er sie jeweils ohrfeigen können. Ihr zuliebe las er Bücher wie «Wege zu sich selbst», um ihr abends den Inhalt vorzutanzen. Hätte Carmen ihre Methoden aber auf ihn anwenden wollen, wäre sie gescheitert, also entschied sie sich für die Intuition und das Ergründen ihres eigenen Schattens; warum sie sich einen Mann ausgesucht hatte, der sie immer wieder von sich wegstiess. Er gestand sich schliesslich ein, dass er nur darauf wartete, bis sie etwas sagen würde.

Schliesslich sah er keinen anderen Weg, als in eine andere Stadt zu ziehen. Er hätte nicht neu anfangen können, wenn jedes Wochenende wieder einer seiner Freunde auf der Matte gestanden hätte. Er hätte nicht die Kraft gehabt, zu erklären, dass er nun beabsichtigte, ein anderer Mensch zu werden. Und so wurde er vom beliebten Konzert- und Eventveranstalter, der jeden kannte und der überall ein gern gesehener Gast war, zum Museumstechniker. Er war fünfzig und nirgends recht verankert.

Die Wellen schlugen hoch. Es war ein kühler Abend, und Cynthia hatte sich bereits schlafen gelegt. Wahrscheinlich skypte sie aber noch mit ihrem neuen Freund. So sass er mit Carmen bei einem Glas Rotwein auf der Terrasse des Restaurants, das zehn Bungalows miteinander verband. Er stellte sich ihr Leben vor, das erfüllt war, das strahlte sie jedenfalls aus, während er verzweifelt nach Worten suchte, wie er seine Lage hätte schildern können, um nicht ganz und gar hoffnungslos zu klingen. Die Wahrheit von desolaten Lagen war aber, dass sie sich schlecht verbergen liessen. Die Grammatik des Leids war eine andere als die Grammatik des Glücks. War man unglücklich, sagte man entweder viel zu viel oder viel zu wenig. Das passierte keinem, der zufrieden war.

«Gibt es denn keine Frau in deinem Leben?», fragte Carmen.

Und er schüttelte langsam den Kopf.

«Keine einzige, die dir gefällt?»

Er dachte, dass sie bestimmt jemand Neues hatte, wenn sie so fragte.

«Na ja», sagte er. «Aber sie ist viel zu jung.»

«Wie jung?», wollte Carmen wissen.

«Dreissig.»

Sie lachte schallend. «Das ist doch nicht jung. Dreissig! Da hat man schon mal eine leichte Ahnung vom Schrecken der Welt bekommen.»

«Ich kenne sie noch gar nicht richtig», winkte er ab.

«Eine Arbeitskollegin?», fragte sie.

«Hmm», machte er, wobei er darüber nachdachte, dass man sich so eigentlich nur in Arbeitskolleginnen verlieben konnte. Wäre sie die Nachbarin, hätten sie schon lange ein Bier zusammen getrunken und dabei eine bestimmte Gewissheit erhalten.

Normalerweise verschaffte er sich schnell Gewissheit.

«Warum zögerst Du?», fragte Carmen. «Das Bett ist doch die Voraussetzung für lange Träume.»

«Sie ist Künstlerin», sagte er.

«Oh-ooo!», machte Carmen. «Du lässt dir eine knackige Dreissigjährige entgehen, weil sie Künstlerin ist?»

Er zuckte mit den Schultern.

«Oder ist sie etwa nicht knackig?»

Ihm wurde das Verhör langsam ein bisschen lästig. Eine Mücke summte um seinen Kopf herum. Trotz der Trennung, die nun auch schon länger zurück lag, fand er es immer noch unnatürlich, mit seiner Frau über andere Frauen zu reden. Sie hatten in zwanzig Jahren Ehe fast alle Arten der Kommunikation ausprobiert: Etwas sagen. Nichts sagen. Lügen. Die Eifersucht interessierte sich aber herzlich wenig für Gesprächskulturen. Sie war einfach da.

«Säuft sie?»

«Hast du deine Praxis aufgegeben?», stöhnte er.

«Warum rückst du mir so auf die Pelle?»

«Warum nicht? Wir waren immer viel zu nett miteinander.» Sie winkte mit einer souveränen Geste den Kellner herbei:

«On prend encore une bouteille de ce jolie vin, Monsieur – je vous en prie!» Carmen schaffte es tatsächlich, dem strengen Franzosen ein Lächeln abzuringen. «Bien sûre, Madame! Avec plaisir!»

«Was ist mit Dir? Du bist so anders. So frisch. Hast du jemanden?»

«Ja», lächelte sie, «27».

Er hätte beinahe seinen Wein hinausgespuckt. «Du meinst, so alt wie die Jungs, mit denen Cynthia ausgeht?»

«Ich verstehe den Zusammenhang jetzt nicht. Cynthia kann genauso gut mit einem Vierzigjährigen ausgehen. Ich könnte auch mit einem Siebzigjährigen liiert sein.»

«Ja, aber dann erklärst du ihm doch die Welt oder nicht?», versetzte er.

«Nein, warum? Schliesslich ist es das erste Mal, dass ich einen so viel jüngeren Freund habe. Also warum sollte ich ihm die Welt erklären, wenn ich diese Erfahrung zum ersten Mal mache? Vielmehr erklärt er mir die Welt. Was weiss ich von Smartphones, von aktuellen Musiktrends, von Autoren, die ihre Bücher nur online als E-Book verbreiten. Natürlich erzähle ich ihm auch von meiner gescheiterten Ehe, aber das ist ja keine Erklärung. Zwischenmenschliche Dinge sind nicht wirklich erklärbar. Sie sind fühlbar, wir gewinnen daraus Erkenntnisse, Kraft und Heilung, aber niemals eine Sicherheit.» Er schaute Carmen fasziniert an, gleichzeitig wollte etwas in ihm ihr Glück in Abrede stellen. «Das Leben ist nicht sicher. Nichts ist sicher. Das ist alles, was ich in zwanzig Jahren Psychoanalyse gelernt habe. Gewisse Strukturen wiederholen sich, die Theorie trifft oft den Nagel auf den Kopf. Aber der Einzelne verhält sich nie nach dem Lehrbuch.»

Er dachte über ihre Worte nach und wunderte sich plötzlich, warum er immer zögerte. Während seine Frau mutig voranschritt, fühlte er sich nicht viel anders als am ersten Tag nach der Trennung. Natürlich gab es das eine oder andere Abenteuer. Es gab gute und schlechte Momente, aber er war nicht weiter, auch wenn er sich nicht mehr betrank. Es ging ihm dadurch nicht besser.

«Du kontrollierst!», sagte Carmen, als der Kellner die neue Flasche Wein an den Tisch brachte. Er liess sie probieren, sie schwenkte kurz das Glas, nahm einen Schluck, schaute auf die Etikette und sagte: «Parfait, Monsieur.» «Du hast Angst vor dem Mädel, da sie das Irrationale lebt. du denkst, dass das Irrationale immer mit Kontrollverlust zu tun hat. Dabei ist es andersrum. Du hast jahrelang die Sucht in deinen Dienst gestellt, damit sie die Kontrolle für Dich übernimmt. Jetzt bist du soweit suchtfrei, aber Dein Kontrollzwang ist stärker denn je.»

Er schaute sie verblüfft an. «Warum sagst du mir das erst jetzt? Du weisst seit über zwanzig Jahren, dass ich ein Kontrollfreak bin, während ich die ganze Zeit denke, ich hätte mich nicht im Griff.»

«Ja, eben!», lachte Carmen. «Deine Freunde waren nie das Problem. Gut, sie waren teils an der Grenze zum Wahnsinn, aber Wahnsinn ist nicht ansteckend. Schädlich war, dass du dir mit Alkohol und Drogen eine Mauer errichtet hast.»

«Unglaublich!», stöhnte er. «Da ist man jahrelang mit einem sprechenden Ratgeber verheiratet, der aber aus unerfindlichen Gründen schweigt.»

Carmen musste lachen. «Es ist nicht einfach, eine Situation einzuschätzen, wenn man selber involviert ist. Und es ist ja nicht so, dass ich deine Leichtigkeit nicht geschätzt hätte. Es war ja nie ein Drama mit dir. du hast für dich gelitten, du warst nicht immer für uns da, aber das hast du immer ausgeglichen mit der Präsenz, wenn du tatsächlich da warst.»

Daniel schockierte die Analyse seiner Noch-Ehefrau. Er dachte von sich ganz anders. Er hielt sich durchweg für anmassend, rechthaberisch und arrogant.

Daniel genoss das Rauschen der Wellen und fragte sich, was er eigentlich all die Jahre von seiner Frau wahrgenommen hatte. Durch den Schleier seiner Bedürftigkeit hatte Carmen nur für ihn existiert. Jetzt, wo er nicht mehr auf sie zählen konnte, sah er sie. Und seltsamerweise gab sie ihm in diesem Augenblick das, wonach er jahrelang gesucht hatte.

Aus dem Urlaub zurück, fragte ihn Lara, wie es gewesen war. Sie machten sich gerade zusammen an dem Richter zu schaffen, der endlich aus der Restaurierung zurück war.

«Ich bin fast ertrunken», sagte Daniel.

«Wirklich?», krächzte Lara. Der Duft ihres Parfums kitzelte seine Nase.

«Schliess mal kurz die Augen», sagte Daniel. Sie stellten das Bild auf den Boden.

«Hast du die Augen geschlossen? Und, was siehst du?», fragte Daniel.

«Nichts», sagte Lara.

«Falsch.»

«Wie, falsch?», entgegnete Lara genervt.

«Du siehst etwas. Beschreibe mir, was du siehst.»

«Schwarze Flecken sehe ich, darin gelbe Farbtupfer. Und deine Stimme, es ist, als könnte ich deine Stimme sehen.»

Daniel klatschte in die Hände. «So war es beim Surfen, während mich die Welle immer wieder unter Wasser drückte.»

Nun befahl er ihr, die Augen wieder zu öffnen, und er vollführte mit seinen kräftigen Händen die Wellenbewegung, während Lara mit halb offenem Mund in seinem Blick surfte.

«Was ist denn das für eine Erklärung?», wollte plötzlich eine Stimme wissen.

Sie blickten beide in das Gesicht eines gross gewachsenen schwarz gekleideten Mannes, der eine Krähe auf seiner Schulter trug. «Wellen», sagten sie beide wie aus einem Mund.

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