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Unter der Schneedecke

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Nathalie war immer schon da gewesen. Sie war die Freundin der Schwester seines besten Freundes. Mikesch konnte sich nicht daran erinnern, wie sie ihm aufgefallen war oder warum sie ihm nicht auf Anhieb gefallen hatte. In der Erinnerung verschwamm ohnehin alles zu einem Nebel aus Sätzen und Bildern, aus dem nur schwerlich eine Geschichte herauszukristallisieren war.

Irgendwann lag Nathalie einfach neben ihm.

Vermutlich hatten sie getrunken wie unzählige Abende zuvor, Wochenende für Wochenende. Sie hatten alle das dreissigste Lebensjahr hinter sich gelassen. Dennoch lebten sie weiterhin einfach in den Tag hinein.

Alles drehte sich um Musik, um Feiern, um Sex. Tranken sie keinen Gin Tonic, dann rauchten sie Gras, warfen sich Ecstasy ein oder taten alles davon gleichzeitig.

Nathalie hatte immer noch etwas Mädchenhaftes in ihrem Wesen. Das Manko, nicht mehr zwanzig zu sein, wurde dadurch noch unterstrichen. Auch die Beiläufigkeit, mit der sie regelmässig bei Mikesch landete, verwies sie mehr auf dieses Manko als auf ihre Mädchenhaftigkeit.

Heimlich kämpfte sie um Mikeschs volle Aufmerksamkeit. Mikesch wusste nicht, wie Nathalie empfand. Dass sie eigentlich gerne frühstückte, obwohl sie sich nie hungrig zeigte, um ihm keine Umstände zu machen. Er konnte nicht ahnen, wie viel Kraft es sie kostete, so wenig zu beanstanden. Er mochte ihre blasse, feste Haut. Er verfing sich gerne in ihren Gliedern, die er ganz ohne Scheu bog und bettete, als ob sie ganz ihm gehörten. Er liebte diesen Zustand der mühelosen Liebe. Mit Nathalie war alles leicht. Ihre Bemerkungen schienen manchmal wie aus einer anderen Welt zu kommen und hatten mit ihm auf eine herrliche Art nichts zu tun.

Ihre seltsame Gestik unterstrich die Spontanität ihrer Gedankengänge. Sie sagte beispielsweise: «Wenn jemand anfinge, die Form der Schneeflocken zu verändern, wem würde das als Erstes auffallen?» Auf solche Fragen antwortete er nonchalant: «Na sag schon, meine kleine Philosophin! Mir würde es jedenfalls nicht auffallen, da ich immer nur auf deine Titten schaue.»

Nathalie und er unternahmen nie etwas zu zweit, da sie im eigentlichen Sinne kein Paar waren. Keiner von ihnen sprach diesen Zustand an, und so verwandte Mikesch keinen Gedanken daran, dass sich Nathalie genau das wünschen könnte.

Mikesch war meilenweit davon entfernt, eine Beziehung eingehen zu wollen. Dafür liebte er zu sehr die Möglichkeiten, die sich ihm überall darboten. Er pflückte Frauen wie Blumen, erinnerte sich eher an Blütenkelche, die er mit ihnen assoziierte, als an ihre Haarfarbe.

Eines Nachmittags, es war Samstag, klingelte sie bei ihm, daran erinnert er sich noch genau. Es schneite, die Sonne drang seit Tagen nicht durch die Wolkendecke hindurch. Er hatte sich wegen seiner miserablen Stimmung Johanniskraut verschreiben lassen und dachte daran, seinen Job bei der Haftpflichtversicherung zu kündigen. Die Schadensfälle zogen sich immer häufiger in die Länge, da sie als Schadensberater angehalten waren, immer detaillierte Belege einzufordern, was wiederum verärgerte Versicherte zur Folge hatte. Ihm selbst missfiel die Praxis, den Versicherungsnehmern im Schadensfall gleich einen Betrugsversuch zu unterstellen, zumal die Versicherung Gewinne in Millionenhöhe erzielte.

Er wollte gerade einkaufen gehen und war ärgerlich, dass Nathalie unangemeldet aufkreuzte. Er hatte jetzt keine Lust auf Sex und noch weniger Lust, ihr zu erklären, warum er keine Lust hatte. Ausserdem konnte er mit enttäuschten Gesichtern nicht umgehen.

Er sagte: «Nat, später, ich muss gleich los, ich bin verabredet und spät dran.»

Und Nathalie sagte: «Ich bin schwanger.»

Der Satz breitete sich in seiner Magengrube aus. Fast hätte er gefragt: «Von wem?»

In ihren Augen lag etwas Entschuldigendes, etwas Verzagtes. Wie ein nasser Vogel, dachte er. Und dann bemerkte er noch etwas: heimliche Freude. Er dachte: Warum fällt sie mir nicht um den Hals? Er sagte: «Aber du hast doch gesagt, dass du die Pille nimmst.»

Sie biss sich auf die Unterlippe. Warum beisst sie sich auf die Unterlippe, dachte er. Lernen Frauen das in Vorabendserien? Er wusste nicht mehr, was sagen; alles erinnerte ihn an die Szenerie einer blöden Seifenoper. Er wollte fragen: «Und, was willst du jetzt machen?» Stattdessen sagte er: «O.K., ich muss das erst mal sacken lassen. Bitte lass mich jetzt alleine. Wir können uns am Abend treffen.»

Sie flüsterte: «O.K.»

Er schloss die Haustüre, noch bevor sie sich zum Gehen abgewandt hatte. Er fühlte sich, als ob gerade eine Welt zusammenbrach. Er wollte fluchen, etwas gegen die Wand werfen. Schliesslich überkam ihn ein Lachanfall. Das konnte doch nicht wahr sein. Das durfte doch nicht wahr sein. Warum er? Und bei diesem Gedanken musste er noch mehr lachen, er sagte sich: «Mikesch, du bist nicht der Erste, dem das passiert. Gäbe es keine Väter, gäbe es auch dich nicht. So ist die Welt nun mal organisiert.» Und er hörte seine Schwester sagen: «Dazu gehören immer zwei.»

Das Verb «organisieren» gewann fortan an Bedeutung. Und durch das Organisieren vergass er auch das Johanniskraut, und er sah davon ab, seinen sicheren Job zu kündigen.

Er traf sich noch regelmässig mit seinen Kumpels in ihrer Stammkneipe, aber zunehmend stimmten ihn ihre Gespräche über Fussball, Musik und Weiber melancholisch. Seit Jahren führten sie dieselben Diskussionen, wie eine Band, die nur eine Hand voll Songs in ihrem Repertoire hatte und sich immer noch darüber stritt, ob der Schlagzeuger zu schnell und die Gitarre zu leise war. Ab und zu tauchte wieder eine neue Frau auf, aber je verrückter diese war, desto weniger unterschied sie sich von ihren Vorgängerinnen.

Nathalie und er hatten beschlossen, sich zusammenzutun, so wie es das Schicksal wollte. Nathalie wurde mit jeder Schwangerschaftswoche anhänglicher. Mikesch dachte, sobald sie bei ihm eingezogen wäre, würde sich das legen, man würde zusammenleben, unaufgeregt und wie zwei Planeten umeinander und später um die neue Sonne kreisen.

Nathalies Bedürfnis nach Kuscheleinheiten überforderte ihn aber schon bald. Wenn er Lust hatte, mit ihr zu schlafen, wollte sie bloss umarmt werden. Legte er daraufhin ihre Hand auf seinen Penis, damit sie ihn wenigstens streichelte und sanft wichste, wie sie das früher oft getan hatte, morgens im Halbschlaf, zog sie ihre Hand weg. Nathalie wurde schweigsam. Erkundigte er sich nach ihrem Befinden, zuckte sie bloss mit den Schultern. Andererseits reagierte sie auf kleine Fehlleistungen, wie eine geöffnete Zahnpastatube, äusserst gereizt. Dann begannen die Fragen, und Mike musste wieder an die Vorabendserien denken. «Wo warst du?», «Mit wem?», «Warum hast du nicht?», «Kannst du nicht mal?», «Denkst du auch an mich?», «Wann kommst du nach Hause?».

Dann sagte er ihr eines Abends in aller Deutlichkeit: «Hör zu, wenn wir schon vorher kein symbiotisches Paar waren, dann kannst du auch nicht von mir verlangen, von heute auf morgen alle Freiheiten aufzugeben, um ausschliesslich um dein Wohl besorgt zu sein.»

Sie schaute ihn mit funkelnden Augen an: «Vögelst du eine andere?»

Ihre flegelhafte Ausdrucksweise liess ihn innerlich aufhorchen. Er erinnerte sich an ihren Ausraster vor Jahren, als sie auf Ecstasy gewesen war und zu viel getrunken hatte. Damals war sie auf ihren Bruder losgegangen. Zu viert hatten sie sie festhalten müssen. «Darum geht es doch gar nicht», stöhnte er. Er hätte im Moment gar nicht die Kraft gehabt, mit einer anderen Frau zu schlafen.

«Wusste ich‘s doch!», fauchte Nathalie. «Was ist mit dieser Eva, mit der du jeden Morgen auf den Bus gehst?» Er sagte, ihm wäre das jetzt zu blöd, er ginge ein Bier trinken.

Sein Freund Tom meinte, sie würde sich bestimmt beruhigen, sobald das Kind da wäre. Schwangere wären halt öfter mal gereizt. Jede Frau in anderen Umständen würde unter Eifersucht leiden, da der Mann rein biologisch gesehen zu anderen Frauen tendieren müsste, um seinen Samen möglichst breit zu verstreuen, das wäre nun wirklich kein Geheimnis. «Ausserdem kannst du weiter saufen und sie nicht. Viele Frauen fühlen sich in der Schwangerschaft einsam, wenn sie ihr Glück nicht teilen können, und das können sie eigentlich nur mit anderen Schwangeren.»

«Tom», sagte Mikesch, «warum arbeitest du eigentlich nicht bei der Dargebotenen Hand?»

«Das ist Freiwilligenarbeit, und die behalt ich mir für Dich vor.»

Mikesch versuchte Nathalies Launen durch klassische Musik und Massagen zuvorzukommen. Er umsorgte fortan nicht mehr die Geliebte, sondern die Mutter seines Kindes.

Wenn er sonntags Brötchen vom Bäcker holte und Rührei brutzelte, bedauerte er es, nicht schon eher damit angefangen zu haben. Sein früheres Leben kam ihm nun doch etwas schal vor im Vergleich zur Gegenwart, die rasend schnell voranschritt, wie die Ultraschallbilder bewiesen. Die hochschwangere Nathalie ächzte und stöhnte, und er lachte vergnügt, wenn er ihr die Schuhbändel schnürte. Noch vor einem Jahr hätte er jedem den Vogel gezeigt, der ihm gesagt hätte, dass er einmal einer Frau die Schuhe schnüren würde. Nur manchmal schaute Nathalie mit glasigen Augen in eine Ecke, ein Blick, der ihn leicht schaudern liess.

«Zu welchen Namen tendierst du denn heute?», fragte er, um ihr Spiel wiederaufzunehmen.

Die Kunst bestand darin, besondere, aber nicht allzu besondere Namen, die das Ungeborene hätten lächerlich machen können, zu finden. Wahrscheinlich würden sie aber dann im entsprechenden Moment intuitiv zu Marta, Maria und im Fall eines Buben zu Lukas oder Noah greifen.

«Was hast du bloss immer mit diesen biblischen Namen?», fragte Nathalie, was auch schon den nächsten Konflikt heraufbeschwor. Sie wollte das Kind nicht taufen lassen, er schon. Er fand, Traditionen sollten weitergegeben werden, das Kind müsse ja irgendeine Reibungsfläche haben. Ausserdem mochte er Kirchen, hatte aber bis dahin keinen Anlass gefunden, sich in eine Kirche zu setzen. Das Studium der östlichen Religionen hatte er dem Bibelstudium bisher deutlich vorgezogen. Er würde seinen Buben heimlich Stanislaus nennen, dachte er. Und er überlegte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Nathalie herausfinden würde, dass ihr Kind vom Vater heimlich Stanislaus genannt wurde. Dieser Gedanke belustigte ihn, und er dachte: Das arme Kind. Ich sollte mit meinen Spässen vielleicht etwas warten, sonst wird aus Stanislaus ein Narr.

Nathalies Gedanken hingegen reichten nicht in die Zukunft. Frass das Kind ihre Fantasie weg? Wenn sie sich mit Freundinnen traf, die von ihren Liebhabern erzählten, von Städtetrips und Fitnessplänen, von ätzenden Chefs und Gehaltserhöhungen, überkam sie ein Neid, den sie sich kaum wagte einzugestehen. All diese Dinge waren in den nächsten Jahren für sie gestrichen. Die Karriereleiter hinaufzuklettern hatte sie ohnehin bereits versäumt. Sie würde nie mehr als eine einfache kaufmännische Angestellte sein, die Sekretärin, ein Beruf, der ihr nie Freude, sondern immer nur Verdruss bereitet hatte. Aber anstatt ihre Kraft auf eine neue Ausbildung zu verwenden, hatte sie ihre Freizeit mit der Verdrängung ihrer Situation verbracht. Jetzt war sie zum ersten Mal, seit sie zwanzig gewesen war, neun Monate am Stück nüchtern. Eine Tatsache, die sie selbst kaum zu denken wagte, zu erbärmlich schien sie ihr. Sie hatte geglaubt, eine Schwangerschaft würde alles verändern. Sie hatte sich das wie eine Erleuchtung vorgestellt.

Livia erzählte gerade von ihrer Nacht mit dem Eishockeyspieler Fabien Eggenschwiler, dessen breite Statur sie komplett unterschätzt hätte, und sie wäre ja nun auch nicht gerade ein Spränzeli und würde schon was wegstecken können, aber so ein Hockeyeler wäre nun wirklich des Guten zu viel, definitiv nur etwas fürs Grobe, fürs Vaginale, feinmotorisch würde da gar nichts gehen. Nathalie fröstelte, ihr Blick verfing sich im bunten Laub der Bäume. Katharina, die, seit sie wieder studierte, nie auf Perlenschmuck verzichtete und stets so aufrecht ging, dass auch wirklich jeder sehen konnte, dass sie eine Ballettausbildung genossen hatte, verdrehte leicht die Augen. «Knapp verfehlt ist auch daneben. Im Oberland sind die guten Männer. Nächstes Wochenende gehen wir zusammen zum Chästeilet ins Rosenlaui!»

Dann setzten die Wehen ein. Livia kreischte: «Das Kind kommt, das Kind kommt!» Katharina schrie unsinnigerweise nach Wasser. Eine Dame mit grauem Pagenschnitt und dem weichen Gesicht einer Ärztin erhob sich vom Nebentisch, packte Nathalie am Arm und sagte: «Kommen Sie, ich bring Sie ins Krankenhaus, mein Auto steht gleich dort drüben.» Ihre zwei Freundinnen blieben wie angewurzelt stehen, bis Katharina schliesslich schrie: «Ich rufe Mike an!», und Livia unsicher fragte: «Sollen wir mitkommen?» Aber die Dame schüttelte bloss den Kopf. Nathalie liess sich in den silbernen Peugeot fallen. Im Wagen roch es nach einem Duftbäumchen.

Die Tortur begann. Nach zwanzig Stunden war sie völlig erschöpft und bekam erstmals eine PDA. Dann ging nichts mehr voran, bis schliesslich die Hebamme die Fruchtblase öffnete. Die Schmerzen kamen mit voller Wucht zurück. Ihr war, als ob der Schmerz sich immer weiter ins ganze Universum ausdehnte, um dann wieder auf sie zurückzufallen. Der Schmerz verschlang sie, zerriss sie, vernichtete sie. Sie wurde hinabgestossen, ins Feuer, in die Hölle. Dort wurde sie in einem grossen, schweren Messingtopf immer und immer wieder aufgekocht.

Aber der Muttermund ging nicht auf. Der Scheissmuttermund ging nicht auf. «Erschiesst mich doch endlich!», wollte sie schreien, aber sie hatte keine Kraft mehr dazu. Die Herztöne des Kleinen fielen ab. Das Köpfchen lag quer im Becken. Dann wurde sie in den OP gerollt. Die Ärzte zerrten und drückten, und Wellen der Panik fluteten Nathalies Körper, der längst nicht mehr ihr Körper war. Sie bekam ein Beruhigungsmittel gespritzt. Schliesslich war das Kind da. Aber nicht für lange. Gleich wurde es von der Schwester mitgenommen.

Mikesch hatte die ganze Zeit über draussen gewartet. Er hatte sich in einem merkwürdig schlafwandlerischen Zustand befunden. Vollgepumpt mit Automatenkaffee, eine Zigarette nach der nächsten rauchend.

Als Mikesch schliesslich bei ihr war und den Bub auf ihren Bauch legte, schüttelte sie den Kopf. Warum sollte das ihr Kind sein? Sie versuchte das Kind zu stillen, musste der Hebamme aber bald mitteilen, dass sie das nicht könne. Es würde sie wütend machen. Sie schaute das Kind an und war fest davon überzeugt, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste. Sonst würde sie doch etwas empfinden für dieses Baby, für ihren Sohn. Aber sie fühlte nichts. Nichts. Ausserdem: Wut. Wut, dass ihr diese unglaublichen Schmerzen angetan wurden. Dann hatte sie noch zu viel Blut in der Gebärmutter, und erneut wurde an ihr rumgedrückt. Als sie aufstehen durfte, floss das Blut nur so an ihr hinunter. Sie fühlte sich vernichtet, jeglicher Würde beraubt.

Mikesch streichelte ihr Gesicht, sagte: «Du hast es hinter dir, du warst so tapfer!»

Und sie stöhnte: «Gar nichts habe ich hinter mir. Ich habe Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen.»

Als sie endlich nach Hause durfte, hatte sie nur einen Wunsch: So schnell wie möglich zu vergessen. Sie goss sich in der Küche ein Glas Whiskey ein. Mikesch hielt das Kind auf dem Arm und schaute sie mit traurigen Augen an.

«Schau nicht so», sagte sie. «Kannst du dir vorstellen, was ich durchgemacht habe? Nein, kannst du nicht!»

In den darauffolgenden Tagen kümmerte sich Mikesch um das Kind und um Nathalie, die sich wegen der Narbe kaum bewegen durfte.

Sie wollte das Kind nicht an sich nehmen und meinte bloss: «Noch nicht.»

Mikesch bat seine Mutter um Hilfe. Diese meinte aber, sie könne auf die Schnelle nicht weg, ausserdem sei eine Reise vom Graubünden nach Bern für sie im Moment körperlich nicht machbar. Sie sagte bloss, dass niemand Kinder haben würde, wenn man im Voraus wüsste, was auf einen zukäme. Die erste Woche sei, mal ganz abgesehen von der Geburt, die schlimmste, «der reine Horror», sagte sie. Aber Gott sei Dank würde das Hirn schnell vergessen, sonst, wie gesagt, wäre die menschliche Spezies längst ausgestorben. Er solle Nathalie Zeit lassen. Sie hätte eine Wochenbettdepression, aber auch das ginge vorbei.

Mikesch telefonierte mit Nathalies Hebamme, um den Therapieverlauf zu besprechen. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Die Worte hallten in seinem Kopf nach: «Schweres Trauma.»

Einen Tag, nachdem Nathalie die Fäden der Operationsnarbe entfernt wurden, war sie weg. Mikesch war mit dem Kind nur kurz draussen gewesen, um Windeln zu kaufen. Als er die Tür der Wohnung öffnete, wusste er gleich, dass etwas anders war. Ihre Jacke war weg. Ihre Schuhe waren weg, und zwar nicht nur die Turnschuhe, die sie in den letzten Wochen getragen hatte. Auch die Dr.-Martens-Stiefel. Reflexartig ging er zur Kommode, worin sich ihre Unterwäsche befand. Sie war halb leer. Er ging weiter zum Schrank. Der Tramper war weg.

Panik stieg in ihm hoch. Hätte sie den Rollkoffer genommen, wäre sie sicherlich zu ihrer Mutter oder Schwester gefahren. Vielleicht zu einer ihrer Freundinnen. Die hatte ihm gesagt, dass er nun sehr viel Geduld bräuchte. Sobald sie aufnahmefähig sei, solle er eine Therapie thematisieren. Je eher, desto besser. Er hatte sich im Internet verschiedene Angebote angeschaut. Dabei war er auf eine Tiefenpsychologin gestossen, die einen spirituellen Ansatz verfolgte.

Nach drei Tagen gab er eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Der Beamte gab ihm jedoch gleich zu verstehen, dass er sich nicht zu viele Hoffnungen machen sollte.

«Wohin sie auch gegangen sein mag», sagte der Beamte, «sie scheint freiwillig gegangen zu sein.»

Absurderweise war es dieser Satz, der ihm in den darauffolgenden Wochen Kraft gab. Sie konnte das Kind nicht annehmen. Sie wollte auch mit ihm nicht mehr zusammen sein. Sie hatte ihn ganz einfach mit dem Kind sitzen gelassen.

Ein halbes Jahr verging, ohne dass Mikesch wusste, ob sich Nathalie etwas angetan hatte, ob sie überhaupt noch lebte. Schliesslich kam ein Brief. Dem Poststempel nach zu urteilen, aus Indien. Er fragte sich, ob sie ihre Flucht vielleicht schon vor der Entbindung geplant hatte. Mittlerweile traute er ihr alles zu. Aber das würde wohl auch nicht im Brief stehen, dachte er. Er erinnerte sich an ein Ritual, auf das er damals bei der Recherche nach geeigneten Therapien für Nathalie gestossen war.

Den Frauen wurde nahegelegt, ihren Schmerz niederzuschreiben, als Brief an sich selber gerichtet, und ihn anschliessend zu verbrennen, damit sich der Schmerz auflösen konnte.

Er zündete ein Streichholz an, um sie von ihren Qualen zu erlösen. Mit Stanislaus auf dem Arm schaute er zu, wie der Brief im Spülbecken Feuer fing.

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