Читать книгу Denn ich darf dich nicht lieben - Bettina Reiter - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеParis, 1739
Der Schnee knirschte unter Henriettes Schuhen, als sie durch das Labyrinth schlenderte. Von ihren Brüdern war weit und breit nichts zu sehen, die sie herbegleitet hatten. Eigentlich hatte ihnen Großtante Françoise verboten, im königlichen Park herumzustreunen. Früher setzte es dafür sogar eine Tracht Prügel, doch das war zumindest Luc und ihr den Spaß wert gewesen, denn die Ohrfeigen hatten längst nicht so wehgetan wie das ständige Stillsitzen. Nicht einmal laut reden durften sie, geschweige denn lachen. Henriette seufzte. Sie war froh über den Umzug ins ´Palais Bourbonˋ, das voraussichtlich Mitte des nächsten Jahres fertig sein würde. Ihre Großmutter Lotti ließ es erbauen. Dort würde das Leben hoffentlich nicht mehr so vielen Regeln unterliegen wie hier auf Versailles.
Hinter einem Busch bewegte sich etwas. Im selben Augenblick rutschte Schnee von den Ästen. „Seid ihr das, Luc und Louis?“, fragte Henriette.
„Da bist du ja“, hörte sie ihren älteren Bruder Luc. Sekunden später standen beide vor ihr. „Wir haben dich schon überall gesucht. Es wird bald dunkel und wir sollten schleunigst zusehen, dass wir ins Schloss kommen, bevor man uns vermisst.“
„Was sicher längst geschehen ist“, murrte Louis, der korpulenter war als Luc. Sein Kopf war einbandagiert, wodurch von den schwarzen Haaren kaum etwas zu sehen war. Vor einigen Tagen war er vom Pferd gefallen. Dabei hatte er sich nicht nur am Kopf verletzt, sondern auch einen Teil seines Eckzahnes verloren. „Ich habe dir gleich gesagt, dass es Stunden dauern wird, bis wir Henriette finden.“
„Nun übertreib mal nicht“, verteidigte Luc seine Schwester und fuhr sich durch das braune schulterlange Haar. „Oder hätten wir sie ihrem Schicksal überlassen sollen?“
„Du tust gerade so, als wüsste sich die Kleine nicht zu helfen.“ Louis zog sich die dunkle Jacke enger um die Brust. Seine Wangen waren gerötet. „Euretwegen riskiere ich wieder Großmutter Lottis Unmut. Von Françoise ganz zu schweigen.“
„Wovor hast du Angst?“, erkundigte sich Luc mit leisem Spott, der seinen Bruder um einen Kopf überragte. Er war zwanzig Jahre alt und seine ehemals schmächtige Statur war um einiges männlicher geworden, seitdem er Unterricht im Schwertkampf bekam. „Man muss sich nicht alles gefallen lassen, Louis.“
„Wenn man etwas erreichen möchte, sollte man aber im richtigen Moment die Klappe halten. Vielleicht beherzigst du das in Zukunft.“ Louis stapfte los. Henriette und Luc folgten ihm. „Unser Großonkel war Regent von Frankreich. Davon profitieren auch wir. Außerdem kennt ihr Mutters Pläne. Ich soll Diana heiraten, aber Großtante Françoise hat mehr als einmal damit gedroht, dass ich das vergessen kann, wenn ich weiterhin bei ihr in Ungnade falle. Dabei wäre das Einheiraten in das mächtige Haus Orléans ein Segen für unsere Familie.“
„Du hast wohl nur deine Karriere im Kopf“, schimpfte Luc mit seinem achtzehnjährigen Bruder. „Davon abgesehen hat dich keiner von uns dazu gezwungen, mitzukommen.“
„Auch ich brauche dann und wann frische Luft.“
Henriette und Luc schauten sich grinsend an. Louis und seine Wut. Das kam häufig vor und meistens bekamen sie alles ab. Vor allem Luc. Es verging kein Tag, an dem sich die beiden nicht stritten. Doch das war kein Wunder. Henriettes Brüder waren so verschieden wie Tag und Nacht.
„Wieso sind dir Macht und Ansehen eigentlich so wichtig?“, ergründete Luc.
„Weil ich es im Leben weiter bringen will als du.“
„Aha.“
„Aha“, äffte Louis ihn nach. „Von euch lasse ich mir nichts kaputt machen. Deswegen war es heute das letzte Mal, dass ich mit euch gegangen bin. Fragt mich nie wieder, verstanden?“ Er sprach in einem Ton mit ihnen, als hätten sie ihn tatsächlich gegen seinen Willen zum Labyrinth mitgeschliffen.
„Langsam regst du mich auf, Louis. Du musst endlich lernen, zu den Dingen zu stehen, die du machst. Anderen dafür die Schuld zu geben ist unfair. Ansonsten lass lieber die Finger davon.“
„Luc hat recht“, sagte Henriette und schloss die obersten Knöpfe ihres Mantels. Erst jetzt spürte sie die Kälte. Ihre Hände und Füße fühlten sich taub an. Über ihnen verdunkelte sich der Himmel. Vereinzelt wirbelten Schneeflocken auf sie herab.
„Das musste ja jetzt kommen.“ Louis beschleunigte seine Schritte. „Ihr beide seid sowieso immer einer Meinung.“
„Was dir zu denken geben sollte“, konterte Luc. „Jedenfalls müssen wir nicht zu Intrigen greifen, um uns vor anderen zu profilieren.“
„Jeder muss sehen, wo er bleibt. Meine Zukunft ist mir eben wichtig.“
„Du bist jünger als ich“, wurde Luc ungehalten. „Also mäßige deinen Ton!“
„Vor dir habe ich keinen Respekt“, zeigte sich Louis ungerührt.
Henriette konnte mit ihrem jüngeren Bruder kaum Schritt halten, was Luc sicher leichter fiel. Doch er blieb wie üblich an ihrer Seite. Was war sie froh, wenigstens einen Bruder zu haben, auf den Verlass war. Der sie nicht auslachte, wenn sie sich wehtat. Oder verriet, wenn es zum eigenen Nutzen war. Natürlich, sie mochte Louis, aber er war kalt, engstirnig und ziemlich schroff. Luc hingegen war voller Wärme und wann immer sie ein Problem hatte, konnte sie damit zu ihm kommen. Er hörte ihr geduldig zu, tröstete sie oder nahm sie einfach in die Arme. Deshalb war er nicht nur ihr Bruder, sondern auch ihr allerbester Freund.
„Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“ Wie aus dem Nichts stand plötzlich Großmutter Lotti vor ihnen, stemmte die Hände in die Hüften und zog die rechte Augenbraue hoch. Eine Geste, die niemand besser beherrschte.
Alle drei waren abrupt stehengeblieben. Louis mit gesenktem Kopf.
„Tut mir leid, Großmutter“, erwiderte er mit weinerlichem Ton und zeigte mit dem Daumen hinter sich. „Die zwei sind schuld. Sie haben auf mich eingeredet, bis ich mit ihnen hergekommen bin. Du kennst ja Luc. Außerdem hat er mir Schläge angedroht.“
„Hör auf zu lügen, Louis!“, ergriff Henriette Partei für Luc.
„Lüge hin oder her, ihr dürftet gar nicht hier sein!“ Lottis strafender Blick wechselte zwischen Henriette und Luc hin und her. Gleichzeitig zog sie Louis zu sich. Ihr erklärter Liebling, der auch noch schadenfroh grinste! Aber wie üblich entging der Großmutter diese Gehässigkeit oder sie übersah sie geflissentlich. „Ihr beiden macht mich langsam wahnsinnig“, polterte sie los und war so laut, dass man sie bestimmt bis zum Schloss hören konnte. „Meine Schwester hat genaue Anweisungen gegeben und ich finde es äußerst undankbar von euch, dass ihr dem nicht Folge leistet. Immerhin dürfen wir auf Versailles wohnen.“
„Das ist nicht Françoises Verdienst“, entgegnete Luc gleichbleibend freundlich. „Auch du bist eine legitimierte Tochter des verstorbenen Königs und hast genauso viele Rechte wie sie, hier zu sein, was uns miteinschließt. Bloß, weil dein Schwager ein paar Jahre Frankreich regiert hat, lasse ich mir von Françoise noch lange nichts sagen. Sie ist weder Königin noch bekleidet sie sonst ein hohes Amt. Deshalb gibt es nur einen, der mir etwas verbieten oder erlauben kann und das ist mein Cousin Ludwig.“
„Mit König Ludwig hast du so wenig zu tun wie …“ Lotti unterbrach sich. „Außerdem: Wie sprichst du eigentlich mit mir?“
„Ja, wie sprichst du mit unserer Großmutter?“, mischte sich Louis ein und erntete dafür Lottis wohlwollendes Lächeln. Manchmal war er an Falschheit nicht zu überbieten!
„Luc hat nur die Wahrheit gesagt.“ Henriette ergriff Lucs Hand. Lottis Gesicht verfinsterte sich. „Im Übrigen magst du deine Schwester Françoise genauso wenig wie wir, Großmutter.“ Eigentlich war das harmlos ausgedrückt. Zwischen den beiden Töchtern des Sonnenkönigs und seiner Mätresse Madame de Montespan herrschte regelrecht Krieg. „Das hast du oft genug betont. Wieso stellst du dich plötzlich vor sie?“
„Weil ich mich Louis zuliebe zusammenreiße und wenn das heißt, dass ich mich nach ihren Wünschen richten muss, beiße ich eben in den sauren Apfel. Soll Françoise meinetwegen glauben, die Oberhand zu haben. Immerhin ist die Hochzeit mit Diana eine große Chance für deinen Bruder und spült ordentlich Geld in die Familienkasse. Bis alles über die Bühne ist, werde ich also gute Miene zum bösen Spiel machen. Dasselbe erwarte ich von euch.“ Die Großmutter trat vor Luc und Henriette. Mit einer groben Bewegung trennte sie ihre Hände. „Müsst ihr euch eigentlich bei jeder Gelegenheit an den Händen halten? Ihr seid doch keine kleinen Kinder mehr. Vor allem du nicht, Luc.“
Seine Augen funkelten zornig. „Henriette ist meine Schwester und ich …“
„Schweig!“ Sie runzelte die Stirn. „Du wirst immer rebellischer und das gefällt mir gar nicht, denn es hat Einfluss auf deine … auf Henriette und Louis. Ich will nicht, dass du die beiden verdirbst.“
Verletzt schaute Luc zu ihr auf. „Verderben? Was mache ich denn?“
„Das ist mir zu blöd. Ich gehe ins Schloss“, ließ Louis verlauten und eilte los.
„Louis hat recht. Lasst uns ins Schloss gehen, mir ist ohnehin kalt.“ Die Großmutter zog sich das Tuch enger um die schmalen Schultern.
„Warum tust du das?“, fragte Luc leise.
„Was denn?“ Die Großmutter wandte sich zum Gehen.
„Mich behandeln, als würde ich nicht zur Familie gehören. Schon Vater hat mich kaum eines Blickes gewürdigt. Mutter scheint die Einzige zu sein, die mich aufrichtig liebt.“
„Nun, das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit. Sie kümmert sich mehr um dich und ich mache dasselbe mit Henriette und Louis.“
„Du weißt genau, dass Mutter keinen von uns bevorzugt. Das hat sie nie getan. Im Gegensatz zu dir und Vater. Hat das einen Grund, Großmutter? Oder magst du mich einfach nicht?“
Ihre Stirnfalten glätteten sich. Für einen kurzen Moment wirkte sie, als hätte sie Mitleid. Doch dann straffte sie die Schultern und schob Henriette an, als wäre sie eine Kuh, die man gewaltsam auf die Weide treiben müsste. „Es ist Zeit für das Abendessen und du, junger Mann, hörst auf so daherzureden. Dir geht es gut. Sehr gut sogar. Glaub mir, du hättest es tausendmal schlechter erwischen können.“
Als Henriette Stunden später im Bett lag, musste sie immer wieder an die harten Worte der Großmutter denken. Ihr Umgang mit Luc war alles andere als nett. Ständig nörgelte sie an ihm herum, von ihrer Kälte ganz zu schweigen. Umso mehr litt Henriette mit Luc. Zwar wirkte er nach außen hin gelassen, aber sie wusste, dass ihm die Situation zusetzte.
Einem inneren Impuls folgend verließ sie ihr Bett und tapste in den Gang hinaus, der im Dunkeln lag. Lucs Zimmer befand sich direkt neben ihrem. Leise drückte sie die Klinke herunter und schlich sich in sein Zimmer, in dem das übliche Chaos herrschte. Überall lagen seine Sachen herum, sogar auf dem Boden. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch.
„Henriette, was tust du denn hier?“ Luc richtete sich auf, während sie ans Bett trat. Wie es aussah, hatte auch er kein Auge zugetan. „Es muss weit nach Mitternacht sein.“
„Keine Ahnung, wie spät es ist. Ich wollte nach dir sehen, weil ich mir Sorgen mache.“
Er rückte zur Seite. „Das ist unnötig. Ich bin Großmutters Schikanen längst gewöhnt.“
Henriette setzte sich auf die Bettkante. „Dass du sofort darauf zu sprechen kommst, zeigt mir, dass es dich sehr wohl beschäftigt.“
Luc grinste. „Du kennst mich gut, Schwesterherz. Manchmal ist das beinahe unheimlich.“
Sie lachte leise. „Wir sind eben Geschwister“, erwiderte sie und wurde ernst. „Ich fühle, wenn es dir nicht gutgeht. Darf ich mich zu dir legen?“
„Natürlich.“
Wenige Augenblicke später streckte sie sich neben ihm aus und seufzte, weil er den Arm um sie legte und an sich zog. In seiner Nähe fühlte sie sich unendlich geborgen. Schon als kleines Mädchen war sie oft in sein Zimmer gekommen. Vor allem wenn sie von Albträumen geplagt wurde. Niemandem gelang es besser, sie zu trösten. „Manchmal vermisse ich unseren Vater. Aber wenigstens habe ich dich, Luc.“
„Nun ja, als Vater fühle ich mich zu jung.“
„Du weißt, wie ich das meine. Wie war Vater denn so?“
„Habe ich dir das nicht schon oft genug erzählt?“, reagierte er beinahe vorwurfsvoll.
„Wenn du über ihn sprichst, habe ich wenigstens das Gefühl, dass er existent war. Im Gegensatz zu dir durfte ich ihn nie kennenlernen und mir ein eigenes Bild über ihn machen.“
„Du hast nicht viel versäumt.“ Wie hart er klang! Zutiefst verletzt.
„Aber alles kann doch nicht schlecht gewesen sein.“
„Für mich schon“, fuhr Luc fort.
„Und wie war er Mutter gegenüber? Glaubst du, dass sie sich geliebt haben?“ Schon einige Male hatte sie die Mutter danach gefragt, doch sie war ihr immer ausgewichen. Als würde auch sie die Zeit am liebsten totschweigen.
Luc lächelte. „Sieh an, du interessierst dich für die Liebe und das in deinem Alter.“
„Ich bin schon sechzehn“, verteidigte sich Henriette und gähnte. „Aber weißt du, was mich wirklich froh macht?“ Sie wandte ihm den Kopf zu.
„Nein.“
„Dass ich dich habe.“
Luc küsste sie liebevoll auf die Stirn. „Ich bin auch froh, dass du meine Schwester bist. Was würde ich bloß ohne dich tun, du kleine Nervensäge?“
Sie lächelte. „Tja, irgendwann werden sich unsere Wege trennen.“ Ein bitterer Geschmack lag auf ihrer Zunge, als sie weitersprach: „Spätestens dann, wenn ich heiraten muss.“
„Hat Mutter dahingehend bereits etwas angedeutet?“ Er klang genauso wenig begeistert wie sie sich fühlte.
„Sie erwähnte kürzlich den Herzog von Penthiévre.“ Der Gedanke an diesen Mann behagte ihr ganz und gar nicht. „Aber ich kenne ihn überhaupt nicht.“
Luc drückte sie enger an sich. „Da ist das letzte Wort sicher nicht gesprochen. Ich hoffe jedenfalls, dass dir Mutter einen Mann sucht, der dich glücklich macht. Bisher hat sie immer auf unser Wohl geschaut. Das wird sich bestimmt nicht ändern. Also Kopf hoch, das wird schon.“
„Wieso gibt es dich nicht als Bruder und als Mann?“, scherzte Henriette, doch plötzlich hatte sie Tränen in den Augen und konnte nichts dagegen tun. „Du weißt so gut wie ich, dass Ehen in dieser Familie wie Geschäfte geschlossen werden, die möglichst gewinnbringend sein müssen. Louis und Diana sind das beste Beispiel dafür. Mir wird es nicht anders ergehen.“
„Du solltest Mutter in dieser Sache vertrauen“, beruhigte Luc sie. „Und mir. Ich schwöre dir hiermit, dass ich deinen Zukünftigen auf Herz und Nieren prüfen werde.“
„Gefallen sollte er mir aber auch und er muss nett sein. Zuvorkommend, aufrichtig, vor allem treu. Unternehmungslustig, fröhlich, humorvoll …“
Luc lächelte, was jedoch aufgesetzt wirkte. „Wunderbar! Da habe ich wohl den Mund zu voll genommen. So ein Mann muss erst gebacken werden … oder du musst ihn dir schöntrinken. Vielleicht mit Whiskey?“
Sie lachte leise. „Du erinnerst dich noch daran?“ Mit elf Jahren hatte sie davon gekostet und sich nur langsam von dem Hustenanfall erholt, was Luc damals amüsiert zur Kenntnis genommen hatte.
„Natürlich, diesen Anblick werde ich nie vergessen.“ Endlich sah er etwas gelöster aus. „Du hast förmlich mit dem Tod gerungen.“ Ihr gemeinsames Lachen verklang im Raum, dann kuschelte sich Henriette an ihren Bruder und schlief ein.
Luc saß nahe beim Fenster auf der Chaiselongue und beobachtete die Mutter, wie sie mit Henriette und ihrer Bediensteten Benedikta die Kuchentafel deckte. Die fünfunddreißigjährige Dienstbotin hatte moosgrüne Augen, war ziemlich dürr, wirkte stets eingeschüchtert und hatte ihr brünettes Haar wie üblich unter einer weißen Haube versteckt. Benedikta fiel jedoch nicht nur durch Fleiß auf, sondern hatte eine Schwäche für schöne Kleider, was sich auch jetzt bemerkbar machte. Ständig schielte sie auf die Robe seiner Schwester. Von Henriette wusste er, dass Benedikta regelrecht für den Schneider Laffay schwärmte. Er war der beste in ganz Paris.
„Ist dieser Tag nicht großartig?“, freute sich Lucs Mutter.
Heute war der siebzehnte Dezember – sein Geburtstag. Wie üblich machte sie ein Aufheben darum, obwohl er am liebsten seine Ruhe gehabt hätte, denn an Geburtstagen lag ihm nicht viel. Andererseits hätte es die Mutter verletzt, wenn er nicht wenigstens so getan hätte als ob. Die Jubelfeste ihrer Kinder waren für sie seit jeher immer wichtig gewesen und insgeheim musste er zugeben, dass es gut tat, sich im selben Maße geliebt zu fühlen wie die anderen. Insofern war die Mutter neben Henriette der wichtigste Mensch in seinem Leben.
„Ich freue mich schon auf den Apfelkuchen“, ließ Henriette verlauten und legte die Gabeln neben die Teller. Luc grinste, weil sie aussah, als würde sie sich am liebsten sofort auf den Kuchen stürzen. Henriette hatte eine große Schwäche für Süßes, besonders wenn sie aufgeregt war.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, blickte sie hoch und lächelte. In ihrem blauen Damast–Kleid sah sie hinreißend aus. Ihr langes schwarzes Lockenhaar hatte sie heute gezopft und mit Silberspangen kreisförmig am Hinterkopf befestigt. Sie war der Mutter sehr ähnlich, die früher eine Schönheit gewesen war, bis sie die Pocken bekommen hatte. Seitdem war sie durch Narben entstellt. Im Gesicht wie am Körper. Auf einem Auge war die Mutter sogar blind, weswegen sie auch nicht mehr stickte, obwohl sie das immer gerne getan hatte. Doch das war längst nicht alles, worauf sie verzichtete. Sie, die einst auf keinem Ball fehlte, hatte sich ganz und gar von der höfischen Bühne zurückgezogen. Nur am Maskenball in Versailles nahm sie teil und notgedrungen am jährlichen Sommerball auf Schloss Ussé, den die Großmutter zu geben pflegte.
„Wieso starrst du deine Schwester so an, Luc?“, erkundigte sich Großmutter Lotti spitz, die sich an den Tisch setzte. Luc fühlte sich ertappt.
„Lass ihn doch.“ Seine Mutter schnitt den Kuchen in kleine Stücke.
„Deine Gelassenheit möchte ich haben“, erwiderte die Großmutter mit gerümpfter Nase.
Ein mahnender Blick der Mutter traf sie, doch Lotti zuckte mit den Schultern und schob den Teller zurück, als wäre ihr der Hunger vergangen.
Es machte Luc traurig, dass die Großmutter so kalt zu ihm war. Jahrelang hatte er versucht, das zu ändern und ihr näherzukommen. Erfolglos. Als wäre er das ungeliebte schwarze Schaf der Familie. Für Lotti war er das vermutlich auch.
„Glaubt ihr, dass Ludwig kommt?“, fragte Henriette und setzte sich neben die Großmutter.
„Er ist ein guter Freund von Luc und hat in den letzten Jahren keinen seiner Geburtstage versäumt“, ließ die Mutter verlauten. „Diesmal wird es nicht anders sein.“
„Schön, dass sich die beiden so gut verstehen“, kam es sauertöpfisch von Louis, der mit verschränkten Armen vor den großen Rundbogenfenstern stand und in die Winterlandschaft hinausstarrte. Tauwetter hatte eingesetzt. „Mir hat unser Cousin noch nie gratuliert.“
„Mach dir nichts daraus“, tröstete die Großmutter ihn. „Ludwig wird schon noch merken, was er an dir hat. Immerhin engagierst du dich bereits jetzt politisch. Etwas, das Luc ja nicht im Geringsten interessiert. Er kämpft lieber mit dem Schwert.“
„Der eine glänzt in Diplomatie, der andere auf dem Schlachtfeld.“ Luc setzte sich gerade hin. „Jedem das Seine.“
„Nun ja, du hattest schon immer ein Faible für grobe Dinge.“ Der Blick seiner Großmutter war nicht zu deuten. „Louis hingegen ist feinfühlig und sprachgewandt, pflegt Freundschaften zu vielen Künstlern unseres Landes und ist unter den Prinzen bereits jetzt äußerst angesehen. Es ist erstaunlich, wie viel er von seinem Vater hat.“
„Was auch für Luc gilt, und ein wenig haben meine Söhne auch von mir“, warf die Mutter ein und zog mit gespanntem Lächeln ein kleines Holzkästchen aus der Seitentasche ihres Kleides. Der grimmige Blick der Großmutter folgte ihr, als sie auf Luc zuging, der sich erhob. „Das ist für dich, mein Junge.“
„Was ist das?“
„Öffne es, dann wirst du es sehen.“
Er nahm die Schatulle und hob den Deckel an. Henriette trat an seine Seite und stieg nervös von einem Fuß auf den anderen. „Das ist“, stammelte er dann, „Vaters Siegelring.“ Ehrfürchtig nahm er ihn heraus und drehte ihn nach allen Seiten. Das Gold glänzte und der dunkelblaue Stein mit dem Familienwappen schimmerte regelrecht. Stolz erfüllte ihn, obwohl er ahnte, dass der Vater ihm den Ring vermutlich nur zähneknirschend überreicht hätte. Doch unzählige Ahnen hatten ihn getragen. Dieses Wissen war es, das ihm sehr nahe ging.
„Ich habe ihn auf Hochglanz poliert“, teilte Henriette lächelnd mit. „Steck ihn an.“
Die Mutter strich seiner Schwester liebevoll über die Wange. „Wie du dir sicher vorstellen kannst, hätte dir das kleine Plappermäulchen am liebsten schon vor Wochen vom Ring erzählt.“
„Schön, dass sogar unser Nesthäkchen in alles eingeweiht war“, echauffierte sich Louis, der sich keinen Schritt bewegt hatte.
„Willst du dir den Ring nicht ansehen?“, fragte Henriette.
„Wozu?“, fauchte Louis. „Ich weiß, wie er aussieht.“
Luc fing den Blick seiner Großmutter auf, die mühsam beherrscht wirkte, als er den Erbring über seinen Ringfinger streifte.
„Seit zweihundert Jahren ist er in Familienbesitz“, erklärte die Mutter. „Es ist eine uralte Tradition, dass er am einundzwanzigsten Geburtstag an den Ältesten weitergegeben wird, der ihn wiederum seinem Erstgeborenen überreicht. Hüte ihn wie deinen Augapfel.“ Sie zog Luc in ihre Arme. „Ich bin unsagbar stolz auf dich.“
„Danke, Mutter.“ Er löste sich von ihr. „Damit hast du mir eine große Freude gemacht.“
„Amen.“ Die Großmutter hievte ein Stück Kuchen auf ihren Teller. „Können wir jetzt endlich anfangen? Mir ist das zu viel Gefühlsduselei.“
Kurz danach saßen alle am Tisch. Wenig später gesellte sich auch Ludwig dazu. Luc und er hatten sich schon immer gut verstanden, was sich mit dem Älterwerden vertiefte. Der König vertraute ihm viel an, dessen Kindheit nicht einfach gewesen war. Seine Eltern und der Bruder verstarben kurz hintereinander an Masern. Da war Ludwig erst fünf Jahre alt gewesen. Zu seiner Trauer kam die Bürde der Thronfolge hinzu, die durch den Tod seiner Familie an ihn übergegangen war. Eine Situation, die seinen Cousin völlig überforderte, da er bis dahin eine liberale Erziehung genossen hatte. Zwar kümmerten sich anfangs noch die Gouvernante Madame de Ventadour und Lucs Mutter um ihn, doch mit sieben nahm ihn der Herzog von Villeroy unter seine Fittiche, um ihn auf sein Amt vorzubereiten. Ein Mann, den Ludwig regelrecht gehasst hatte. Jahre später schickte er ihn deshalb ins Exil und der damalige Bischof Fleury übernahm die Aufgaben des Herzogs. Er wurde Ludwigs engster Vertrauter und hatte enormen Einfluss auf ihn, was nicht immer gut war. Obwohl man Fleury nicht absprechen konnte, dass er für Frankreich viel Gutes getan hatte, versuchte er auch für sich selbst einen großen Nutzen aus seiner Stellung bei Hofe zu ziehen. Das hatte Luc seinem Cousin gegenüber oft kritisiert, doch für Ludwig war Fleury immer mehr zur Vaterfigur geworden. Deswegen wischte er sämtliche Bedenken beiseite. Luc musste seinem Cousin allerdings zugutehalten, dass er ihm zu keiner Zeit die offenen Worte nachgetragen hatte. Mehr noch, nach Fleurys Tod gab er zum ersten Mal zu, dass er sich tatsächlich von ihm hatte leiten lassen. Auch wegen der eigenen Unsicherheit.
„Wie geht es Karolina?“, erkundigte sich Luc, als er mit Ludwig am Abend vor dem Kamin saß. Einige Scheite knackten. Draußen war es bereits stockdunkel. Umso gemütlicher war es im Salon des großzügigen Appartements, das sie bewohnten. Es gehörte der Großmutter, die es von ihrem Vater als Geschenk erhalten hatte.
„Die Königin ist wieder schwanger.“ Ludwig sah aus, als würde er vor Stolz gleich platzen. Mit fünfzehn hatte er die um acht Jahre ältere polnische Prinzessin Maria Karolina Zofia Felicja Leszczyńska geheiratet. Jetzt als Fünfundzwanzigjähriger war er bereits achtfacher Vater, der abgöttisch an seinen Kindern hing. Besonders an den Zwillingen Anna und Marie, seinen zwei Erstgeborenen. „Allerdings ist das Verhältnis zu Karolina noch immer sehr unterkühlt.“
„Tja, auch in dieser Hinsicht hat Fleury ziemliche Macht auf dich ausgeübt.“ Luc trank einen Schluck vom Likör, den Ludwig mitgebracht hatte, und stellte das Glas auf den Tisch mit den Goldschnörkeln. Der Salon war mit edlen Walnuss–Möbeln eingerichtet, Tapeten, Teppiche und Vorhänge in einem schillernden Blau gehalten. An den Wänden hingen viele Familienportraits.
„Mag sein, aber meine Frau hätte sich nicht in die Politik einmischen sollen.“ Sein Cousin saß mit dem Rücken zum aufwändig bemalten Kamin und überkreuzte die Beine. „Das hat viel kaputt gemacht. Vor allem meine Liebe zu ihr. Vermutlich ist es umgekehrt genauso, denn sie hat sich völlig zurückgezogen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass nur ihre Hülle anwesend ist. Geistig ist sie jedenfalls weit weg. Weiter geht es gar nicht mehr.“
„Immerhin scheint ihr euch in gewissen Dingen noch zu verstehen.“ Luc zwinkerte ihm zu.
„Reine Pflichterfüllung“, wiegelte Ludwig ab und runzelte die Stirn. Er hatte ein markantes Gesicht, dunkles gewelltes Haar und dunkle Augen. „Wir haben bisher nur einen Thronfolger gezeugt. Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, ist das zu wenig. Ein, zwei Söhne wären deshalb wünschenswert.“
„Man kann nichts erzwingen.“
„Das ist mir klar.“ Abwesend starrte Ludwig auf das halbvolle Glas, das er in seiner Hand hielt. „Nun ja“, er blickte hoch, „ich will mich nicht beklagen. Immerhin habe ich eine Mätresse an meiner Seite, die alles tut, um mich glücklich zu machen.“
„Zwei Mätressen, um genau zu sein“, stellte Luc richtig. „Noch dazu sind sie Schwestern. Das könnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Entweder liebe ich die eine oder keine.“ Ohne sein Zutun hatte Luc plötzlich Henriettes Gesicht vor seinem geistigen Auge. Wie so oft in letzter Zeit. Vermutlich, weil sie immer häufiger über die Liebe sprach, womit sie ihn scheinbar angesteckt hatte.
„Ich hätte auch nie gedacht, dass es so kommen würde, aber es ist wie es ist.“ Ludwig trank einen Schluck und schaute zum Fenster hinaus. Blitze zuckten über den dunklen Nachthimmel. In der Ferne grollte es. Wind fuhr heulend um die Mauern.
Luc musterte seinen Cousin, der in sich gekehrt wirkte. Das Leben als König fiel ihm schwer, denn er war kein Mann für öffentliche Auftritte und hasste Menschenansammlungen. Wie anders war Ludwig jedoch, sobald es zur Jagd ging. Mutig, selbstbewusst, mit sich und der Welt im Reinen. Was ihn jedoch auszeichnete, war seine unabdingbare Treue. Wenn Ludwig jemanden mochte, konnte man sich hundertprozentig auf seine Loyalität verlassen. Das galt anscheinend auch für seine Mätressen. Louise Julie de Mailly–Nesle, Comtesse de Mailly, war seine erste Mätresse gewesen. Ein unscheinbares und zurückhaltendes Mädchen, das aus einer verarmten Adelsfamilie stammte und verheiratet war. Allerdings hatte ihr Ehegatte mittlerweile zugestimmt, dass sie Ludwigs Mätresse sein durfte. Vor einigen Monaten hatte sie jedoch ihre jüngere Schwester Pauline–Félicité nach Versailles eingeladen, die Ludwigs Herz im Sturm erobert hatte. „Die jüngere der Mailly Schwestern soll ziemlich ehrgeizig sein“, riss Luc seinen Cousin aus den Gedanken, der sich ihm zuwandte. „Pass bloß auf, dass du dir nicht die Finger verbrennst.“
„Es stimmt, dass sie völlig anders ist als Julie, aber ich habe mich Hals über Kopf in sie verliebt“, gab Ludwig mit verlegenem Grinsen zu und warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr, deren Ticken einige Momente den Raum beherrschte. „Vor einigen Wochen habe ich ihr das Schloss Choisy gekauft und freue mich darauf, mit den Schwestern und einigen Freunden dort Zeit zu verbringen.“
„Hast du nicht gerade eine Lustreise hinter dir?“, wunderte sich Luc.
„In dieser Hinsicht bin ich unverbesserlich.“ Jetzt grinste Ludwig. „Frauen sind mein Leben.“
„Mir schwant Böses“, scherzte Luc. „Die beiden haben noch drei Schwestern!“
„Gute Nacht, Maman.“ Henriette beugte sich herab und gab Babette einen Kuss auf die Wange.
„Schlaf schön, mein Kind.“ Sie lächelte. „Ich schaue später noch einmal nach dir.“
„Mach das.“ Ihre Tochter zeigte auf die Briefe, die sich auf dem Tisch stapelten. „Schreibst du wieder deinen Geschwistern?“
„Es ist lange her seit dem letzten Mal.“
Henriette zog den Gürtel ihres braunen Morgenmantels enger. „Und? Hat sich einer von ihnen jemals bei dir gemeldet?“
„Deine Tante Alexandrine.“
„Sie ist seit Jahren die Einzige. Ich an deiner Stelle würde niemandem mehr schreiben.“
„Es sind meine Geschwister und im Gegensatz zu mir haben sie viel zu tun.“
„Sicher, Maman. Du bist einfach viel zu gut für diese Welt.“
„Ja, ja“, sie tätschelte ihre Tochter am Arm. „Sieh zu, dass du ins Bett kommst. Es ist schon neun Uhr.“ Kaum ausgesprochen, war Henriette bereits aus der Tür des Blauen Salons.
Babette wandte sich wieder dem leeren Bogen Papier zu, der vor ihr lag, und nahm die Schreibfeder zur Hand. Doch im nächsten Augenblick legte sie sie ab, verließ ihren Platz und stellte sich vor das Fenster.
Dichter Schneefall herrschte vor. Einige der beleuchteten Schlossfenster waren beschlagen. Dahinter bewegten sich Schatten. Es war kaum zu glauben, wie viele Menschen hier Tür an Tür mit ihnen wohnten und trotzdem kannte sie kaum die Hälfte. Aber eigentlich war ihr das egal. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die förmlich Kontakt zu anderen suchte, das Leben in vollen Zügen genoss und jeden Ball besuchte, der sich ihr bot.
Babettes Blick glitt zum Marmorhof hinunter, der wie leergefegt war. Nur eine Kutsche stand einsam und verlassen da. Dort in der Ecke, versteckt hinter der großen Herkulesstatue, hatte sie vor vielen Jahren Marschall Philippe Charles de la Fare geküsst. Er galt als einer der schönsten Männer bei Hofe, und das war er auch gewesen. Seinen Tod hatte sie bis heute nicht verwunden. Den ihres Mannes hingegen schon längst vergessen, denn das Leben an der Seite des Prinzen de Conti war schwierig gewesen, obwohl sie versuchte, sich mit ihm und den Gegebenheiten zu arrangieren. Zu allem Übel war sie jedoch vor und sogar während ihrer Ehe verspottet worden und musste zugeben, dass auch sie selbst zutiefst erschrocken war, als sie ihren Mann zum ersten Mal gesehen hatte. Bereits in jungen Jahren hatte er einen Buckel gehabt. Noch dazu war sein Gesicht stark behaart gewesen, was beinahe animalisch wirkte. Man konnte es nicht anders sagen: Er sah aus wie ein Werwolf. Aber nach ihrer Erkrankung durfte sie als Letzte über Äußerlichkeiten richten.
Mit zwanzig Jahren hatte sie ihren siebzehnjährigen Cousin 1. Grades geheiratet. Einen Mann mit mehreren Gesichtern, der ständig zwischen Himmel und Erde jonglierte. Mal war er blendend gelaunt, mal zu Tode betrübt oder er hatte einen Wutausbruch. Hinzu kam die Kinderlosigkeit. Mehr und mehr setzte ihm dieser Umstand zu, weil er sich nicht wie ein ganzer Mann fühlte. Also beschlossen sie, so zu tun, als wäre sie schwanger. In diesen neun Monaten hatte sie ihn zum ersten Mal glücklich erlebt, weil ihn viele plötzlich wahrnahmen. Zumindest in seiner Welt. In ihrer Realität wurde hinter vorgehaltener Hand darüber getuschelt, welches Monster sie im Bauch tragen würde.
Anfang Dezember fuhren sie dann offiziell für einige Wochen zum Château ihres Mannes, suchten jedoch bei Nacht und Nebel die stadtbekannte Hurenmutter Gourdan auf. Eine berechnende und kalte Frau. Am liebsten wäre sie sofort wieder gefahren. Doch als ihnen die Gourdan den drei Tage alten Säugling gezeigt hatte, war für einen Moment die Welt stehen geblieben und am Morgen danach war alles anders gewesen. Luc wurde zu ihrem Sohn. Die nächsten zwei Jahre ging alles gut und es hatte den Anschein gehabt, als wäre ihr Mann mit der Situation zufrieden. Bis zu ihrer Schwangerschaft, die sie förmlich überrollt hatte. Ab da änderte sich ihr Mann. Luc und auch ihr gegenüber. Er wurde abweisend und musterte sie manchmal, als wäre sie eine der Huren, die auf dem Landsitz der Gourdan ihre Kinder zur Welt brachten, die dann gewinnbringend verkauft wurden.
Als ihr Mann schließlich an Pocken erkrankte, hatte sie ihn trotz allem rund um die Uhr gepflegt und sich wirklich Sorgen gemacht. Danach war sie krank geworden, doch er hatte nicht einmal den Leibarzt rufen lassen. Das musste sie selbst veranlassen. Im Grunde war das der Anfang vom Ende gewesen, denn nach ihrer Genesung fing er an, sie zu schlagen. Immer wieder war sie zu ihrer Mutter geflüchtet. Einmal blieb sie sogar wochenlang mit den Kindern in einem Kloster in Paris. Aber letztendlich war sie seine Ehefrau und musste zu ihm zurückkehren.
Dann trat der schöne Marschall in ihr Leben. Zu diesem Zeitpunkt war sie innerlich so gebrochen gewesen, dass sie keinen Selbstwert mehr hatte und sich alles andere als attraktiv fühlte. Deshalb wollte sie nicht am Sommerball auf Schloss Ussé teilnehmen, doch ihre Mutter kannte kein Pardon. Im Nachhinein sollte es wohl so sein, denn mitten unter den Gästen sah sie ihn. Ein Blick in seine braunen Augen hatte genügt, um sich unsterblich zu verlieben. Und das, obwohl sie bereits mit Henriette schwanger gewesen war. Umso weniger hatte sie damit gerechnet, dass ihre Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruhen würde und doch war es genauso gewesen. Er, der schöne Marschall und sie, die von einer Krankheit gezeichnete Prinzessin, begannen eine Affäre, die sie auch nach Henriettes Geburt weiterführten. Seine Nähe, Liebe und Fürsorge hatten ihr unsagbar gutgetan. Endlich war sie jemandem wichtig. Jemandem, der als oberflächlich diffamiert wurde, aber das genaue Gegenteil war. Er liebte sie um ihrer Selbstwillen und hatte ihr Worte zugeflüstert, die sie bis heute tief in ihrem Herzen bewahrte. Von seiner Zärtlichkeit ganz zu schweigen. Doch leider sollte ihr Glück nicht von langer Dauer sein.
Babette bekam eine Gänsehaut und rieb sich die Arme.
Eines Abends kam sie nichtsahnend nach Hause. Ihr Mann schlug sie sofort mit der Faust ins Gesicht, kaum dass sie die Tür ihres Stadtpalais hinter sich zugezogen hatte. Diesem Übergriff folgte eine Brutalität, die Todesangst in ihr ausgelöst hatte. Nur mit letzter Kraft hatte sie es zu einem Arzt geschafft, nachdem er endlich von ihr abließ. Wohlweislich hatte ihr Mann dem Hausmädchen Benedikta sowie dem restlichen Dienstpersonal freigegeben.
Sie war blutüberströmt gewesen und brauchte Wochen, um sich zu erholen. Hinzu kam, dass sie um das Leben ihres Geliebten bangte. Schweren Herzens sagte sie sich deswegen von ihm los und weihte ihre Mutter in alles ein, auch was Luc betraf. Denn sie wusste nicht, ob sie überleben würde und wollte für den Fall der Fälle reinen Tisch machen. Ihre Mutter, die während ihrer Bettlägerigkeit die Kinder zu sich nach Versailles geholt hatte, brachte daraufhin Luc zurück …
Hätte ich ihr bloß nie unser Geheimnis anvertraut, dachte Babette und seufzte. Lotti war außer sich gewesen und ließ Luc seitdem bei jeder Gelegenheit spüren, dass er nicht zur Familie gehörte –zumindest in ihren Augen. Dabei konnte der arme Junge am allerwenigsten für die Umstände.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Erschrocken drehte sich Babette um.
Ihre Mutter rauschte in den Salon herein, als hätte sie gespürt, dass sie gerade an sie gedacht hatte. Sie trug ein grünes Atlaskleid und ein Pelzcape. Das Haar hatte sie über eine Fontange aufgetürmt. Das Familiendiadem mit den lupenreinen Diamanten glitzerte an ihrem faltigen Hals.
„Was schaust du so verschreckt? Ich bin es nur“, meinte sie leichthin. „Nicht der Leibhaftige.“ Sie rümpfte die Nase. „Oder unsere allseits verhasste Françoise. Na ja, kommt beides auf das Gleiche heraus. Sogar ihr Mann nannte sie liebevoll Madame Luzifer.“ Mit Schwung warf sie das Cape neben die Briefe – die sich heillos über den Tisch verteilten – und ließ sich auf den Stuhl plumpsen, auf dem Babette zuvor gesessen hatte. Die Mutter wirkte erschöpft, gleichzeitig aufgekratzt.
„Warst du wieder beim Kartenspiel?“, forschte Babette alarmiert nach.
„Blödsinn! Ich habe euch ja versprochen, dass ich meine Hände davon lasse. Zumindest außerhalb unserer Familie.“ Lotti hatte im Laufe der Jahre eine Spielleidenschaft entwickelt, die völlig aus dem Ruder gelaufen war. Immens hohe Schulden waren die Folge gewesen, an die hundertsiebzigtausend Livres keine Seltenheit. Früher hatte der König alles beglichen. Doch seit seinem Tod konnte sie nicht mehr aus dem Vollen schöpfen.
„Wo warst du dann?“
„Bin ich dir etwa Rechenschaft schuldig?“
Babette trat zum Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ebenfalls. „Warst du beim Marquis de Lassy?“, platzte sie mit ihrem Wissen heraus und sammelte die Briefe zusammen.
„Wieso sollte ich mich mit diesem Mann treffen?“
„Weil ihr eine Affäre habt?“
„Wer sagt das? Du?“
„Komm schon, Mutter. Die Spatzen pfeifen es längst vom Dach. Außerdem brauche ich dich nur anzusehen. Wieso streitest du es ab? Stehst du etwa nicht dazu?“
Lotti beugte sich über den Tisch. „Ich rede ungern darüber“, ließ sie endlich die Katze aus dem Sack. Babette unterbrach ihr Tun. „Weil es niemanden etwas angeht, außer Léon und mich. Davon abgesehen habe ich keine Lust, dass sich meine Schwester wieder wie eine Hyäne auf etwas stürzt, das mir wichtig ist. Du kennst sie ja. Françoise nutzt jede Möglichkeit, um solche Dinge in den Dreck zu ziehen.“
„Der Marquis ist dir also wichtig?“, erkundigte sich Babette.
„Mittlerweile schon.“
„Schade, dass du so wenig Vertrauen zu mir hast. Oder glaubst du, dass ich postwendend zu Françoise gegangen wäre, um es ihr zu erzählen?“
„Das nicht, aber auch aus anderen Gründen wollte ich es für mich behalten. Ein Geheimnis kann nämlich äußerst prickelnd sein. Sogar in meinem Alter.“ Ihre Mutter nahm das Cape und legte es sich auf den Schoß. Abwesend strich sie darüber. „Allerdings war es ohnehin nur eine Frage der Zeit, wann die Sache auffliegt.“
Babette versuchte die Bilder vor ihrem geistigen Auge zu verdrängen, wie sich ihre sechzigjährige Mutter mit ihrem Liebhaber im Bett wälzte! „Wieso? Hat man euch zusammen … erwischt?“
„Nicht doch, wir sind keine zwanzig mehr und wissen uns zu zügeln.“ Sie lächelte in sich hinein. Plötzlich war Babette neidisch auf die Mutter, denn in ihrem Leben gab es weit und breit keinen Mann, der ihre Augen so glänzen ließ wie es bei Lotti der Fall war. Dabei hätte sie der Liebe gern eine weitere Chance gegeben. „Beim nächsten Mal musst du mich wieder begleiten. Pré–du–clercs ist ein beschaulicher Ort, an dem man sich vortrefflich erholen kann.“ Wie auch immer ihre Erholung aussah, denn dass sie nur bei ihrem Palais nach dem Rechten geschaut hatte, war sicher einer der letzten Gründe dafür. „Ich bin Léon noch jetzt dankbar, dass er mir einst dazu geraten hat, dort ein Grundstück zu erwerben.“
„Einst?“, wurde Babette hellhörig. „Der Kauf ist ewig her. Wie lange seid ihr denn schon ein Paar?“
„Lass mich überlegen …“, Lotti schwieg kurz, „ich war ein Jahr Witwe, als ich ihn kennenlernte.“
Babette musste schlucken. „Weißt du, wie viele Jahre das sind?“ Du liebe Zeit, und sie hatte nichts mitbekommen! „Von wegen, die Sache würde über kurz oder lang ans Licht kommen. Vaters Tod ist annähernd dreißig Jahre her. Sag mal, hast du weitere Geheimnisse, die du bisher so erfolgreich vor mir verborgen hast?“ Dass die Mutter ihrem Blick auswich, wollte ihr gar nicht gefallen. Auch das gleichgültige Gesicht wirkte gespielt.
„Was du immer denkst“, sagte sie mit schiefem Lächeln, „außerdem kann man eine Affäre gut verheimlichen, wenn man sich selten sieht. Léon hat zwischendurch immer wieder geheiratet und meine Wenigkeit verbringt jeden Sommer auf Schloss Ussé. Unsere gemeinsame Zeit war somit ziemlich begrenzt. Erst seitdem ich mit dem Bau des Palais begonnen habe, treffen wir uns häufiger.“
Babette musste aufstehen, weil sie nicht mehr sitzen konnte. „Eins muss man dir lassen: Du kannst ein Geheimnis für dich behalten.“ Wieder musterte sie Lotti, die sich das Cape umlegte, als würde sie eine Beschäftigung brauchen. Noch dazu zitterten ihre Hände.
„Schlafen die Kinder schon?“, fragte Lotti wie nebenbei.
„Louis ist bei Diana.“ Babettes Sinne waren endgültig geschärft. Offensichtlich wollte sie das Thema wechseln. Aber sie kannte die Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie nicht reden würde, wenn sie nicht wollte. Trotzdem musste sie zukünftig wachsamer sein. Nicht auszudenken, würde sie wieder in alte Gewohnheiten verfallen. Ihre Mutter wäre imstande, das gesamte Familienvermögen zu verspielen. „Luc und Henriette sind vorhin zu Bett gegangen.“
„Jeder für sich?“, hakte die Mutter mit galligem Ton nach. „Oder schlafen sie wieder in einem Bett?“ Sie erhob sich ebenfalls und schlenderte zum Fenster. „Schau nur, wie es schneit.“
„Kannst du diese ewigen Spitzen gegen Luc nicht endlich lassen?“ Babette stellte sich neben sie. Hinter einigen Fenstern war das Licht bereits verloschen.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
„Oh doch, die hast du sehr wohl!“
Abrupt wandte sich Lotti zu ihr. „Gut, wie du willst“, wurde sie mürrisch. „Dieser Junge hat es nicht anders verdient. Fakt ist, dass er nicht zu unserer Familie gehört und trotzdem musstest du ihm den Siegelring deines Mannes geben. Er steht aber Louis zu, niemandem sonst. Schon gar nicht dem Sohn einer Hure!“
„Wie kannst du nur?“ Babettes Atem ging heftig. „Luc hat dir nie etwas getan und ist eine Bereicherung für unsere Familie.“
„Eine Bereicherung?“ Sie lachte kurz und bitter. „Luc wird unser Untergang sein. Ich höre Françoise schon jetzt lästern. Dir ist hoffentlich klar, dass wir unser ganzes Ansehen verlieren, sollte die Angelegenheit jemals nach außen dringen.“
„Wer sollte es herumerzählen?“
„Dazu braucht es keinen von uns. Das erledigt Luc schon selber. Jeden Tag ein bisschen mehr.“
Nun war Babette verwirrt. „Wie soll ich das verstehen?“
Hart umfasste die Mutter ihre Schultern, als würde sie sie am liebsten schütteln. „Hast du denn keine Augen im Kopf, Tochter? Siehst du nicht, wie er Henriette anschaut?“
„Das … willst du damit sagen, dass er … er …“ Babette wurde übel bei dem Gedanken. „Niemals! Das wäre mir aufgefallen.“
Als hätte sie sich verbrannt, ließ Lotti sie los. „Wie könnte es dir auffallen? Du hängst mit einer Affenliebe an diesem Bastard.“ Babette war fassungslos. Nie zuvor hatte die Mutter Luc auf diese Weise bezeichnet. „Ich habe dich schon damals gewarnt, dass uns das alles eines Tages auf den Kopf fallen wird. Und nun rächt sich dein überstürztes Handeln. Hättest du nicht warten können mit einem Kind? Dann wäre alles in Ordnung.“
„Es ist alles in Ordnung, Mutter. Davon abgesehen waren mein Mann und ich uns einig. Also hör endlich damit auf, mich alleine dafür verantwortlich zu machen. Und was deinen Wahn betrifft, dass Luc in Henriette …“, sie konnte es nicht aussprechen. Zu fern lag dieser Gedanke. „Egal, was du dir einbildest, er ist Henriettes Bruder. Damit ist er aufgewachsen. Glaubst du im Ernst, dass er diese Grenze je überschreiten würde? Ich habe meinen Sohn zu einem anständigen Jungen erzogen. Deswegen lege ich für ihn die Hand ins Feuer.“
Das mitleidige Lächeln der Mutter jagte ihr Angst ein. „Du und ich, Babette, wir wissen um die Leidenschaft. Davon, wie sie von einem Besitz nehmen kann. Meine große Liebe war der Bruder deines Vaters. Ja, sieh mich nur überrascht an und freue dich, ich vertraue dir ein weiteres Geheimnis an. Das Geheimnis meiner großen Liebe. Nie zuvor und nie danach habe ich je wieder so viel für einen Mann empfunden. Doch wir mussten uns trennen, weil dein Onkel den polnischen Thron bestieg, wie du weißt.“ Leiser fuhr sie fort und auf einmal war ihr Zorn wie weggeblasen: „Obwohl er mittlerweile viele Jahre tot ist, vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke. Damals hätte ich alles für ihn getan. Alles! Und würde man mir sagen, dass ich für einen einzigen Tag mit ihm meine Familie aufgeben müsste, würde ich es tun. So sehr habe ich ihn geliebt und ich tue es bis heute.“
Babette war geschockt über dieses Geständnis. Über die Qual, die aus ihren Worten sprach. Vor allem über die Aussage. „Egal wie sehr ich lieben würde, meine Familie steht immer an erster Stelle.“
„Das sagst du jetzt. Aber vielleicht kommt der Tag, an dem du dich entscheiden musst. So wie ich, denn mittlerweile muss ich zugeben, dass mir Léon immer wichtiger wird.“
„Was soll das heißen? Dass du auch ihn dem Wohl deiner Familie vorziehen würdest?“
„Wenn es nötig ist, ja. Liebe ist nicht selbstverständlich.“
Babette konnte es nicht glauben. „In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns gänzlich, Mutter. Einerlei, welcher Mann in mein Leben treten würde, meine Meinung wird sich nie ändern. Doch was hat das Ganze mit Luc zu tun?“
„Ich wollte dir nur veranschaulichen, wie kopflos einen die Liebe machen kann. Vor allem wird sie stärker und stärker, wenn sie aussichtslos scheint. Kein Charakterzug eines Menschen ist ausgeprägter als der, genau das haben zu wollen, das man nicht haben darf.“
„Du denkst tatsächlich, dass Luc …“
Plötzlich klatschte jemand hinter ihnen. „Bravo!“
Entsetzt fuhren Babette und ihre Mutter herum. „Was tust du hier, Françoise?“, entfuhr es Lotti, die sich an die Brust griff.
Der Applaus endete. „Deine Frage sollte eher lauten: Wie viel hast du gehört?“ Françoise schob die Tür zur Gänze auf und grinste falsch. „Solche Gespräche sollte man nicht bei halbgeschlossener Tür führen, seid ihr nicht auch meiner Meinung? Nicht auszudenken, kämen Geheimnisse zutage, die eine Familie gesellschaftlich ruinieren könnten.“ Mit Nachdruck schloss sie die Tür. „Übrigens bin ich in euer Gespräch geplatzt, als ihr über den Marquis geplaudert habt.“ Sie hob mahnend den Zeigefinger. „Du hast es ja faustdick hinter den Ohren, Poupette.“
„Du weißt genau, dass ich diesen Spitznamen hasse!“, zischte Babettes Mutter.
„Die Höflinge haben ihn dir verpasst. Kein Grund, auf mich böse zu sein, Püppchen.“
„Was willst du von mir?“, stieß Lotti aus und tastete sich mit fahrigen Fingern über das Haar.
Françoise hielt dicht vor Babettes Mutter ein. Ihr fettleibiger Körper war förmlich in das rote Kleid gepresst. In den Achselhöhlen zeigten sich Schweißflecken. „Von dir will ich nichts, Schwester.“
„Von wem dann?“ Babette hielt die zitternden Hände eng an den Körper gedrückt.
„Von deiner Tochter.“
„Henriette?“
„Ja, ich glaube, so heißt das vorlaute Ding“, machte sich Françoise lustig. „Weißt du, ich suche händeringend eine Braut für meinen Neffen Philippe. Keine will ihn, was du sicher am besten verstehen kannst, Babette. Immerhin sieht er deinem verstorbenen Mann verdammt ähnlich und ist hässlich wie die Nacht.“ Sie warf Lotti einen höhnischen Seitenblick zu. „Das sind die Gene. Der eine hat sie, der andere nicht.“
„Meine Tochter hat die Schule nicht beendet und außerdem ist sie erst sechzehn“, wehrte sich Babette gegen das Unvermeidliche.
„Also im besten Alter, um zu heiraten.“
„Der Herzog von Penthiévre bemüht sich bereits um sie. Henriette weiß darüber Bescheid. Wie soll ich ihr unseren Sinneswandel erklären?“
„Der Herzog ist einer von vielen Anwärtern und bestimmt nicht deine erste Wahl. So schlau ist deine Tochter vermutlich auch. Insofern kann bis zum Ende ihrer Schule viel geschehen. Manch einer ändert seine Meinung sogar von heute auf morgen. Wollt du und Léon eigentlich heiraten?“, wandte sie sich jäh an Lotti, die ihre Lippen zu einem schmalen Strich zog. „Dann eben nicht. Allerdings solltest du ihn weiterhin versteckt halten. Allerorts nennt man den Marquis einen ´Don Juanˋ. Sich diesen Mann ins Bett zu holen, ist ziemlich wagemutig. Wer weiß, welche Krankheiten man sich bei dem holt. Nicht, dass du Henriettes Hochzeit versäumst.“
Babette hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Jeder bei Hofe und weit darüber hinaus hatte schon von Philippe I. de Bourbon, dem Herzog von Chartres, gehört. Vor allem, da sich sein Vater oft über ihn beklagte. Umso schlechter war Philippes Ruf. Er galt als äußerst jähzornig und war für seine schlagenden Argumente bekannt. Besonders den Frauen gegenüber. Sie hatte am eigenen Leib erlebt, was das hieß. So etwas konnte sie ihrer Tochter unmöglich antun!
„Ich sehe Widerwillen in deinem Gesicht, Babette. Nun, dann zeig mir den Weg zu Lucs Zimmer.“ Françoise runzelte die Stirn. „Er sollte wissen, dass seine Mutter eine Hure ist.“ Sie zog einen Schmollmund. „Oder lebt die Arme nicht mehr? Wie heißt eigentlich die Mutter des – wie sagtest du vorhin so schön, Lotti – Bastards?“
„Wir werden sehen, was wir tun können“, kam Lotti Babette zuvor, die ohnehin kein Wort herausgebracht hätte.
Françoise setzte ein triumphierendes Lächeln auf. „Ich wusste, dass wir uns einig werden, liebste Schwester. Natürlich wieder zu meinem Vorteil, doch daran wirst du dich inzwischen gewöhnt haben.“ Sie hob ihr Kleid an. „Meine Damen, ich darf mich empfehlen. Wir werden alles Weitere besprechen sobald Henriette gelernt hat, wie man zur willigen Gattin und Hausfrau wird.“
Bis zum Winterende im Mai fegten Schneestürme über ganz Europa, aber auch Wellen der Empörung durch Frankreich. Ludwig hatte damit begonnen, den amerikanischen Siedlern in den ehemaligen französischen Kolonien dabei zu helfen, sich gegen die Engländer zu wehren und ließ viele Waffen dorthin verschiffen. Einst hatte Frankreich in Nordamerika ein riesiges Territorium besessen, aber nach Ludwigs erfolgloser Teilnahme am Siebenjährigen Krieg war davon kaum etwas übriggeblieben wie auch in Indien, wo lediglich ein paar Bauten an die französische Vorherrschaft erinnerten sowie einige Handelsabkommen. Henriettes Cousin war vielen Unkenrufen ausgesetzt. Noch dazu hatten die Wenigsten vergessen, dass er Fleury viel zu viel Einfluss gewährt hatte und nach dessen Tod war Ludwig angreifbarer denn je. Das rief vor allem die Prinzen auf den Plan, die zu einer immer stärker werdenden Opposition wurden. Ludwig hatte alle Hände voll damit zu tun, sie in Schach zu halten.
„Ich bin fertig, Mademoiselle de Conti“, sagte Benedikta und blickte auf das viele Gepäck. Morgen würden sie endlich zum Schloss Ussé aufbrechen. Nach den harten Wochen in der Klosterschule freute sich Henriette sehr darauf. „Braucht Ihr noch etwas?“
„Nein, du kannst gehen, Benedikta. Es ist ohnehin schon spät.“
„Habt Dank.“
Henriette blickte ihr nach, bis sich die Tür schloss. Etwas unschlüssig griff sie dann zu ihrem Morgenmantel und streifte ihn nachlässig über. Darunter trug sie ein zartes Nachthemd mit Brüsseler Spitze am Ausschnitt. „Und was jetzt?“, fragte sie sich laut, nahm die Kerze vom Fenstersims und stellte sie auf den Nachttisch. An Schlaf war kaum zu denken. In ihrem Bauch kribbelte es, als würden hundert Schmetterlinge mit ihren Flügeln schlagen. Ob sie etwas lesen sollte?
Es klopfte.
„Ja?“
Die Tür öffnete sich einen Spalt. „Schläfst du schon?“ Lächelnd trat ihre Mutter ein.
„Ach Maman, du stellst Fragen.“ Auch Henriette lächelte. Sie konnte sich an keine Nacht erinnern, in der ihre Mutter nicht zu ihr gekommen war, um ihr vor dem Schlafengehen einen Gutenachtkuss zu geben. Manchmal plauderten sie sogar bis in die tiefe Nacht hinein. Manchmal schlief sie schon. Doch die Mutter weckte sie immer kurz, weil Henriette sie darum gebeten hatte. Eine Nacht wäre keine gute Nacht, wenn sie das tägliche Ritual versäumen würde. „Bist du auch so aufgeregt wie ich?“
Die Mutter ließ sich auf das breite Himmelbett sinken. „Ich war zu oft auf dem Schloss. Aber als ich so jung war wie du, ist es mir ähnlich ergangen.“ Kurz strahlten ihre Augen und sie lächelte, als würden ihr angenehme Gedanken durch den Kopf gehen. Doch so schnell die Regung kam, verschwand sie wieder. Umso sorgenvoller betrachtete Henriette ihre Mutter, die seit einiger Zeit wirkte, als würde sie eine schwere Last auf den Schultern tragen. „Du siehst schon wieder so bekümmert aus. Ist etwas mit dir?“
„Nein, nein“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Ich bin nur müde. Die letzten Monate waren hektisch. Eine Hochzeit plant sich eben nicht von selbst und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich irgendetwas vergessen habe. Dabei gehe ich die Liste beinahe jeden Tag durch.“
Henriette setzte sich zu ihr. „Du machst dir wie immer viel zu viele Gedanken.“
„Kann sein. Aber nun erzähl. Du bist seit zwei Tagen zurück und ich hatte keine Gelegenheit, dich nach deiner Zeit im Kloster zu fragen. War es schön?“
„Na ja, langweilig würde es besser beschreiben. Tagein, tagaus diese Gehorsamkeit, die man auch seinem zukünftigen Mann gegenüber an den Tag legen soll. Mir will einfach nicht in den Kopf, wieso Frauen wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Wir sind doch genauso Geschöpfe Gottes. Trotzdem haben wir kein Stimmrecht, sollen uns nicht weiterbilden und müssen unsere Ansichten für uns behalten, um nicht negativ aufzufallen. Als wären wir reine Gebärmaschinen ohne jegliche Intelligenz.“
„Du liebe Zeit“, rief die Mutter aus, „was ist denn mit dir passiert? Du sprichst wie eine dieser neuen Frauenrechtlerinnen.“
„Stimmst du dem etwa nicht zu?“
„Recht haben und recht bekommen sind zwei Paar Schuhe, Henriette. Leider gelten wir Frauen als das schwächere Geschlecht und das wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern. Aber sag, wem habe ich diesen Floh zu verdanken, den man dir ins Ohr gesetzt hat?“
„Eine junge Frau hat mit ihrem Verlobten die Mutter Oberin besucht. Sie ist die Tante des Mannes und stell dir vor, zum ersten Mal habe ich unsere Mutter Oberin lächeln gesehen.“ Henriette grinste kurz. „Da ich für die Gäste eingeteilt war, kam ich mit dem Pärchen ins Gespräch. Vor allem mit der Frau. Sie heißt Jeanne Antoinette Poisson.“
„Ist sie aus Paris?“
„Ja. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrem Bruder bei einem reichen Bankier namens Charles François Paul Le Normant de Tournehem.“
„Ach du liebes bisschen, jetzt weiß ich, wer sie ist. Ihr Vater soll über zweihunderttausend Livres veruntreut haben. Allerdings entging er seiner Strafe, indem er geflüchtet ist. Ganz Paris hat davon gesprochen.“
„Davon hat Jeanne gar nichts erzählt.“
„Das denke ich mir. Ich an ihrer Stelle würde das auch verschweigen, obwohl er angeblich unschuldig war. Zumindest wurde das kurz vor seinem Tod erzählt. Dennoch blieben seine Hinterbliebenen das Gespött der Leute.“
Henriette starrte zu ihrer Schatztruhe unter dem Fenster. Darin befand sich alles, was ihr lieb und teuer war. Da sich im Laufe der Jahre jede Menge angesammelt hatte, war die Kiste beinahe so groß wie die Kleidertruhen. „Ich mochte Jeanne auf Anhieb.“ Henriette suchte den Blick der Mutter. „Für die Umstände kann sie nichts und sollte nicht darunter leiden müssen.“
Ihre Mutter strich sich glättend über das weinrote Seidenkleid. „Menschen neigen leider dazu, alles in einen Topf zu werfen. Aber ich pflichte dir bei. Jeder hat eine Chance verdient. Wie ist sie denn so?“
„Wunderschön“, geriet Henriette ins Schwärmen, „nett, gebildet, fröhlich und sehr direkt. Ich glaube, dass ich eine neue Freundin habe.“
„Nach so kurzer Zeit?“
„Sie hat ihren Verlobten gebeten, die Mutter Oberin zu überreden, dass sie mich während des Aufenthaltes von den anderen Diensten entbindet, damit ich nur für sie da sein kann. Die beiden blieben fast eine Woche. Genug Zeit, um sich kennenzulernen und anzufreunden.“
„Von wegen langweilig“, stellte die Mutter schmunzelnd fest.
„Das war es ja auch, ausgenommen die Woche mit Jeanne.“
„Also hast du die neuen Ansichten von ihr?“
„Sozusagen. Allerdings habe ich mir ähnliche Gedanken gemacht. Es war wirklich seltsam. Ich hatte das Gefühl, als würden wir uns schon ewig kennen.“
„Du kannst sie ja zum Sommerball auf Ussé einladen, wenn du möchtest.“
„Das habe ich schon getan“, antwortete Henriette kleinlaut. „Leider sind die beiden verplant. Aber vielleicht klappt es im nächsten Jahr.“
„Was klappt im nächsten Jahr?“ Luc kam mit zwei dampfenden Tassen herein und trug noch seine Uniform. Er wirkte sehr männlich.
„Wir sprechen gerade über Henriettes neue Freundin Jeanne Antoinette Poisson.“
„Aha.“ Luc hielt ihnen die Tassen hin. „Ich dachte, ihr würdet gerne Tee zum Plauderstündchen haben. Man hört euch bis in den Salon.“
„Oh, tut mir leid. Hast du gearbeitet?“ Die Mutter und Henriette nahmen ihm jeweils eine Tasse aus der Hand.
„Gearbeitet wäre zu viel gesagt“, erwiderte Luc. „Aber ich habe endlich den Brief an Marschall Hermann Moritz von Sachsen verfasst.“
„Also wird es ernst?“, erkundigte sich die Mutter, hob die Tasse zum Mund und blies hinein. „Hast du dir das auch gut überlegt?“
„Wovon redet ihr?“ Henriette blickte von der Mutter zu Luc, der sich auf ihre Schatztruhe setzte und geheimnisvoll lächelte.
„Richtig. Du weißt ja noch nichts davon.“ Die Mutter nippte an der Tasse. „Erzähl du es ihr, Luc.“
„Ich möchte in das Regiment des Marschalls“, platzte er mit der Neuigkeit sofort heraus, als hätte er nur darauf gewartet, sie endlich loszuwerden.
„Wer immer dieser Hermann Moritz soundso ist, ich mag ihn schon jetzt nicht“, maulte Henriette. „Regiment klingt nach Krieg, und Krieg nach Tod.“
„Das wird das Schicksal entscheiden.“ Luc öffnete die zwei obersten Knöpfe der Uniformjacke. „Wenigstens sterbe ich einen heldenhaften Tod.“ Sein Grinsen regte Henriette auf. Fand er das etwa lustig? „Außerdem war es schon länger mein Traum, diesen Mann kennenzulernen. Bis heute hat er jede Schlacht siegreich für sich entschieden und ist bereits zu Lebzeiten ein Mythos. Seine ´Volontaires de Saxeˋ sind in aller Munde und legendär.“
„Und wenn schon. Die Kuchen der Köchin sind auch legendär. Trotzdem möchte ich ihr nicht beim Backen helfen.“ Henriette beugte sich nach hinten und stellte die Tasse auf den Nachttisch. Als sie sich wieder umdrehte, merkte sie, dass Lucs Blick kurz über ihren Körper glitt. Verlegen zog sie den Morgenmantel enger. In den vergangenen Monaten waren ihre Brüste gewachsen und sie musste sich selbst erst damit anfreunden, dass sie langsam zur Frau reifte.
„Der Vergleich hinkt“, warf die Mutter zögernd ein und musterte Luc. „Backen ist nicht lebensgefährlich und mir geht es wie Henriette. Ich habe Angst um dich, Luc. Zu viele Männer sind schon auf den Schlachtfeldern dieser Welt gestorben.“
„Ich verspreche euch, gut auf mich aufzupassen.“ Luc lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Wie er strahlte! Als könnte er sich tatsächlich nichts Besseres vorstellen, als in den Krieg zu ziehen. „Aber um darauf zurückzukommen: Wer ist diese Jeanne?“
„Meine neue Freundin“, antwortete Henriette, der die Freude auf die Reise vergangen war. Luc war all die Jahre mitgefahren. Würde es diesmal auch so sein? Vermutlich nicht, wenn sie sich den Blödsinn anhörte, der aus seinem Mund kam. „Sie ist das Mündel von Charles François Paul Le Normant de Tournehem und die Verlobte von seinem …“
„Neffen Charles“, führte Luc grinsend ihren Satz zu Ende. „Sieh an, die Welt ist wirklich klein. Er und ich sind alte Schulfreunde. Vor einigen Wochen habe ich ihn getroffen und ihn kaum wiedererkannt. Charles schnappte fast über vor lauter Glück und hat pausenlos über seine atemberaubende Verlobte gesprochen.“
„Wirst du uns morgen begleiten?“, fragte Henriette, weil alles andere nebensächlich war.
„Natürlich.“ Sein Grinsen verschwand, während ihr Herz einen Freudensprung machte. „So schnell werde ich kaum eine Antwort erhalten. Deswegen sehe ich keinen Grund, nicht mitzufahren. Vor allem in Anbetracht dessen, dass es auf lange Sicht vermutlich zum letzten Mal sein wird.“
Daran wollte Henriette nicht denken. Nicht jetzt. Denn der Gedanke, dass Luc in absehbarer Zeit weit fort sein würde, schnürte ihr die Kehle zu. Ein Leben ohne ihn war kaum vorstellbar!