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3. Kapitel
Оглавление15. Juli, Schloss Ussé
Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster des Salons im Ostflügel und hob die imposanten Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand ins Licht. Kleine Staubpartikel flirrten durch den Raum und sanken auf den Boden. Die roten Brokatvorhänge blähten sich, als würde die hereinströmende Luft mit ihnen spielen.
Henriette ließ das Schriftstück auf ihren Schoß sinken, nachdem sie es gelesen hatte. Dabei schaute sie zum großen Mahagonitisch, der mit Fingerabdrücken übersät war, und um den sich ihre Familie scharte. Das Papier raschelte. Ihr Bruder Louis blickte hoch. Sein rabenschwarzes Haar tauchte in die Lichtflut ein. In seinen grün–braunen Augen stand Neugierde. Henriette hob das Blatt in die Höhe und tat so, als würde sie es zerreißen. Enttäuscht sanken Louis’ Mundwinkel herab, dann zuckte er mit den Achseln und wandte sich wieder dem geliebten Familienspiel zu.
„Henriette, lenk deinen Bruder nicht ab!“, befahl Großmutter Lotti, die neben Louis saß. „Du weißt doch, das Whist verlangt absolute Konzentration. Geh hinaus, vertritt dir die Füße oder mach dich anderweitig nützlich.“ Erwartungsvoll rieb sie die von Adern durchfurchten Hände aneinander. „Ich spüre meine Glückssträhne förmlich.“
Henriette legte das Schreiben auf den Beistelltisch.
„Wenn du dich da mal nicht täuschst“, neckte Diana die Großmutter und zwinkerte Louis zu.
„Wie lange willst du die Karten mischen, Babette? Bis mich der Schlag trifft?“, regte sich Lotti auf, die Diana nicht weiter beachtete. So entging ihr auch deren nachdenklicher Blick. Zwar hatte sich ihr Verhältnis gebessert, aber es war eher Akzeptanz als Sympathie von Lottis Seite aus. Allerdings war es ein großes Zugeständnis, dass Diana seit kurzem beim Whist mitspielen durfte.
Henriette stützte sich mit den Unterarmen auf die Stuhllehne auf. Das Knarren veranlasste die Großmutter erneut zu einem finsteren Blick, während Henriettes Mutter halbmondförmig die Karten auf dem Tisch ausbreitete. Das fröhliche Zwitschern der Vögel im Park belebte den Raum, in dem ansonsten nur gespanntes Atmen zu hören war.
„Wir lassen dir den Vortritt, Lotti“, gewährte Henriettes Mutter, die in letzter Zeit müde aussah. Die Großmutter nickte und zog eine Karte. Die anderen taten es ihr nach, drehten ihre jeweiligen Karten um und verglichen sie.
„Superb“, frohlockte Lotti und hielt ihr Spielblatt in die Höhe. „Ich habe das niedrigste Blatt, also bin ich erster Geber. Und du, junger Mann, alliierst dich mit mir.“ Wohlwollend blickte sie zu Louis, der offenbar das zweitniedrigste Blatt hatte. Im nächsten Moment wurden Stühle gerückt, sodass sich die Verbündeten gegenübersaßen.
„Ich gehe hinaus“, verkündete Henriette, erhob sich und haschte nach dem Schreiben.
„Bleib auf dem Schlossgelände!“, mahnte Lotti.
Henriette nickte, bevor sie die Tür hinter sich zuzog und das Schreiben zusammenknüllte. Im Foyer blickte sie in den großen Spiegel neben der Eingangspforte und fuhr sich ordnend über das offene Haar, das sie an den Seiten mit weißen Bändern zurückgebunden hatte. Dann ging sie aus dem Schloss. Trotz Hochsommer war das Wetter in den vergangenen Wochen trist gewesen, von der Kälte ganz zu schweigen. Doch heute schien endlich die Sonne.
Der Kies knirschte unter ihren Füssen, als sie am Schloss entlangschritt und zu den Zedern blickte. Wehmut erfasste sie. Seufzend verlor sie sich einen Augenblick in ihrer Betrachtung, bevor sie auf den Bergfried zumarschierte. Nach wie vor befand sich ihre Schatztruhe im Hauptturm, die der Stallbursche hochgeschleppt hatte. Perraults Märchenbuch nahm sie jedoch nur noch selten zur Hand. Mit einer Ausnahme: Ihre Lieblingsgeschichte – ´Die schlafende Schöne am Waldˋ – las sie immer wieder. Besonders wenn sie hier waren, da die Erzählung angeblich während eines längeren Aufenthalts Perraults just im Schloss Ussé entstanden war. Ob Ammenmärchen oder nicht, nur die Vorstellung, dass es genauso gewesen sein könnte, hatte etwas Magisches.
„Warte auf mich, Henriette!“
Sie drehte sich um und hielt sich die Hand über die Augen, da sie von der Sonne geblendet wurde. Louis kam mit ausladenden Schritten auf sie zu. „Habt du und Großmutter etwa schon aufgegeben?“
„Wo denkst du hin?“ Louis grinste breit. Seine Zähne blitzten weiß auf und reihten sich in gerader Linie aneinander. Nur der Eckzahn durchbrach die Ordnung. „Ich muss fort.“
„So plötzlich?“, wunderte sie sich. Louis setzte sich den braunen Dreispitz auf und bot ihr seinen Arm. Henriette hakte sich unter. Gemeinsam gingen sie weiter. „Wo musst du hin?“
„Voltaire und Diderot erwarten mich in Paris. Dringend.“ Er ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, wirkte jedoch alles andere als entspannt.
„Wem willst du etwas vormachen? Du lügst, das sehe ich dir an der Nasenspitze an“, unterstellte Henriette ihm und dachte an den bevorstehenden Sommerball. „Kann es sein, dass du Françoise nicht begegnen willst?“
„Erraten“, platzte es aus ihm heraus. „Ich war zwar nie ein Freund von ihr, aber inzwischen verabscheue ich unsere Großtante zutiefst. Diana beginnt förmlich zu zittern, wenn die Sprache auf sie kommt. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was für eine Mutter sie gewesen ist. Noch dazu muss ich oft an die vielen Gerüchte denken, die sich um Dianas Vater ranken. Zwar erzählt sie nichts, aber ihre Albträume sprechen für sich. Nur Gott weiß, was meine Frau mit ihren Eltern mitgemacht hat.“
Dass die Zuneigung des Vaters angeblich tiefer gegangen war als erlaubt, löste auch in Henriette regelmäßig Ekel aus. „Desto mehr braucht dich Diana jetzt. Du solltest hierbleiben.“
„Für eine Absage ist es zu spät. Außerdem ist es lange her, dass ich meine Freunde getroffen habe und bei der Gelegenheit möchte ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Ich kann eben nicht faul herumsitzen wie ihr, sondern muss mich um die Geschäfte und politische Belange kümmern.“
Sie gingen an den akkurat geschnittenen Buchsbaumhecken vorbei. Die obersten waren im Kreis gepflanzt. In der Mitte blühten mohnrote Blumen. Danach öffnete sich eine freie Grünfläche, die von Hecken begrenzt war. Vor dem Hügel mit der Traubeneiche dehnte sich ein künstlicher Teich nahe dem Rosenpavillon aus, der von einigen Orangenbäumen flankiert war.
„Welche politischen Belange? Die Auseinandersetzung mit Österreich?“ Henriette spürte den sanften Druck, mit dem Louis sie zur Aussichtsplattform dirigierte.
„Kümmere dich nicht um Politik. Das ist Männersache. Bereite dich stattdessen lieber geistig auf deine Rolle als künftige Ehefrau vor. Immerhin bist du schon achtzehn und jetzt ist die Zeit gekommen, um dir einen adäquaten Ehemann zu suchen.“
Henriette rollte mit den Augen. „Alles ist besser, als sich darüber Gedanken zu machen. Sogar die Gesellschaft unserer Großtante ist mir willkommener als irgendein Bräutigam.“
„Wie hast du eigentlich meine Satire gefunden?“, überging er ihre Aussage.
Sie hielten vor der Balustrade ein. Henriette blickte auf den Indre hinunter, der träge vor sich hinfloss. An beiden Uferseiten reihten sich üppige Bäume aneinander. Ihre tiefhängenden Zweige ragten in den Fluss, das kräftige Grün ihres samten wirkenden Blätterdaches leuchtete zu ihnen herüber. Durchbrochen von tiefgrünen hohen Kiefern und Schilfpflanzen, die sich im lauen Wind wiegten. Die malerische Kulisse schien in den Indre zu versinken wie sie sich gleichzeitig auf seiner schimmernden Oberfläche widerspiegelte.
„Ich denke, das sagt alles.“ Henriette öffnete ihre Hand.
„Stimmt.“ Er starrte auf das Knäuel.
„Du wirst es überleben.“
„Und du solltest dringend an deinem Charme arbeiten.“ Louis nahm ihr das zerknüllte Blatt aus der Hand und warf es in hohem Bogen über die Balustrade.
„Du wolltest eine ehrliche Meinung.“ Sie blickte dem Knäuel nach, das auf dem Fluss landete und von den Wellen mit sich getragen wurde. Es gab wenig, das ihr Bruder nicht beherrschte, aber sein Schreibtalent war dürftig bis gar nicht vorhanden. „Dein Freund Voltaire würde dir vermutlich dasselbe sagen. Dein Text war ein Sammelsurium an Ideen, keine ist zu Ende gedacht. Du hüpfst von einem Gedanken zum anderen und die Sätze wirken …“ Nun überkam sie das schlechte Gewissen, weil Louis die Enttäuschung deutlich anzusehen war. „Nicht jeder muss alles können“, beeilte sie sich ihn zu trösten. „Du glänzt in vielen anderen Dingen, die weder ein Diderot noch ein Voltaire bewerkstelligen könnten.“
„Na bitte, es geht doch.“ Er lächelte. „Trotzdem schade. Ich habe gehofft, mit Satiren noch mehr Ansehen zu erlangen. Aber mir bleibt ja immer noch deine Hochzeit.“
„Und schon wieder springst du von einem Thema zum nächsten.“
„So bin ich eben.“ Er wurde ernst. „Du kannst dich nicht ewig vor der Heirat drücken. Der Herzog hat sich angekündigt und in seiner Depesche um ein vertrauliches Gespräch mit Mutter gebeten.“
„Ich gehe lieber ins Kloster als zu heiraten.“ Henriette verschränkte die Arme vor der Brust.
„Aber wir müssen an die Zukunft denken, denn um ehrlich zu sein … wir sind in erheblichen Schwierigkeiten, Henriette.“ Überrascht schaute sie zu ihm hoch. „Großmutter macht ständig neue Schulden, die ich tilgen muss, seitdem auch Mutters Reserven aufgebraucht sind. Doch allmählich gehen mir ebenfalls die finanziellen Mittel aus.“
„Davon hat Mutter nichts erzählt. Und von wegen Schulden. Lotti beteuert ständig, dass sie nicht mehr um Geld spielt.“
„Nicht einmal dahingehend bin ich mir sicher. In einer Sache allerdings schon: Unsere Großmutter hat das Palais ihres Geliebten finanziert, der seinen feudalen Wohnsitz vor kurzem bezogen hat. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Die Gebäude sollen durch einen geheimen Korridor miteinander verbunden sein.“
„Lotti hat einen Geliebten?“, rief Henriette aus. Das wurde ja immer besser, aber immerhin erklärte sich damit die verschlossene Tür! „Ausgerechnet Lotti, die sich ständig als Heilige darstellt, hat selbst einige Leichen im Keller. Noch dazu verjubelt sie das Familienimperium wegen einem Mann. Du musst ihr ins Gewissen reden.“
„Was glaubst du, was ich in den letzten Wochen getan habe? Ohne Erfolg. Lotti gibt ihr Vermögen mit vollen Händen aus. Sie hat sogar einen Teil des Familienschmuckes verkauft.“
„Das gibt es doch nicht.“
„Es kommt noch besser. Weißt du, wie sie ihr Handeln rechtfertigt?“ Henriette schüttelte den Kopf. „Wenn ich liebe, dann liebe ich“, zitierte er die Großmutter mit säuerlichem Ton, „sogar über meine Familie hinaus.“ Er lachte verächtlich. „Nun weißt du also, wie es um unsere Finanzen steht. Der Ball reißt ein weiteres Loch in die Haushaltskasse und ich darf zusehen, wie ich das löse, damit wir nicht alle in absehbarer Zeit am Hungertuch nagen.“
„Soll Lotti doch selbst zusehen, wie sie das wieder in Ordnung bringt.“
„Du sprichst mir aus der Seele, aber ihr rücksichtsloses Verhalten hat uns bereits mit in die Tiefe gerissen. Vor allem Mutter, die ihr sofort beigestanden hat. Du kennst sie ja. Sogar ihr letztes Hemd würde sie für die Familie opfern. Nun ist es eben an mir, ihr dabei zu helfen, wieder auf die Füße zu kommen und Schlimmeres zu verhindern.“
Louis’ Veränderung in Ehren, doch das selbstlose Verhalten nahm sie ihm nicht ganz ab. Außerdem besaß die Mutter immerhin noch zwei Châteaus und einige Ländereien. Ihr Bruder übertrieb vermutlich wie in seinen besten Zeiten. „Dich würde es vor allem gesellschaftlich treffen, wenn wir zum verarmten Adel gehören würden, nicht wahr?“
Er machte eine beleidigte Miene. „Was spricht dagegen, wenn ich mich auch um meinen guten Ruf sorge? Und du? Welche Zukunft hättest du denn? Von meinen Kindern ganz zu schweigen. Ich möchte, dass sie vom Erbe und Ansehen unserer Ahnen profitieren können und sich um Geld zuletzt Sorgen machen müssen.“
„Na ja, da ist immer noch Ludwigs Jahresapanage.“
„Die gegen Lottis Schulden nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist.“
„Unser Cousin könnte die Apanage erhöhen, du müsstest ihn lediglich darum bitten.“
„Niemals, Henriette!“ Sobald Louis mit Nachdruck ihren Namen aussprach, war Vorsicht geboten. „Es würde mich meinen Stolz kosten, ihn um Geld anzubetteln. Davon abgesehen hat sich meine Meinung über ihn nicht wesentlich geändert. Er ist der Falsche für den französischen Thron.“ Sie musste an Lucs Worte denken. „Vor allem die absolute Monarchie ist mir ein Dorn im Auge.“
„Ludwig ist dir in den letzten Monaten sehr entgegengekommen. Ich dachte, ihr hättet euch angefreundet.“
Louis fuhr sich über das ausgeprägte Kinn. „Ich möchte es zu Macht und Ruhm bringen. Ludwig könnte mir den Weg dorthin ebnen. Also brauche ich ihn. Umso weniger gefällt mir jedoch die Sache mit Lotti, weil sie mit ihrem Handeln meine Pläne erheblich in Gefahr bringt.“
Jetzt zeigte er endlich seine wahren Beweggründe. „Deine Einstellung zu Ludwig ist egoistisch“, stellte Henriette fest und musste sich innerlich eingestehen, dass er sich in manchen Dingen ganz und gar nicht geändert hatte. „Du benutzt ihn.“
„Na und? Eine Hand wäscht die andere. Dafür halte ich ihm die Prinzen vom Hals.“ Er machte ein verdrossenes Gesicht. „Also verlang nicht von mir, dass ich mich lächerlich mache und Ludwig um Hilfe bitte. Ich komme mir ohnehin wie ein Almosenempfänger vor, weil er uns dieses Schloss zur Verfügung stellt. Und das, nachdem Mutter vor kurzem sogar unsere Châteaus ´Louveciennesˋ und ´Voisinsˋ an die Krone zurückgeben musste, um einige Gläubiger zufriedenzustellen“, offenbarte er eine weitere Neuigkeit. „Unser Cousin hätte das Angebot ja ausschlagen können. Hat er aber nicht. So selbstlos wie du meinst ist Ludwig bei Weitem nicht.“
„Mutter hat die Châteaus verloren?“, entfuhr es Henriette. Für die Mutter, die sehr an den Besitztümern gehangen hatte, musste es ein schwerer Schlag sein. „Die Lage scheint doch ernster zu sein als ich angenommen habe.“
„Endlich hast du es begriffen und da wir eine Familie sind, zähle ich auf deine Mithilfe.“
„Wie selbstgerecht du bist“, begehrte sie trotz der neuen Erkenntnisse auf. „Da beschaffe ich lieber auf irgendeine andere Art Geld, als mich von euch zu einer Heirat zwingen zu lassen.“
„Ach ja? Dann mach einen Vorschlag, wie du sonst an Geld kommen willst.“ Auffordernd schaute er sie an.
Henriette zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung, aber mir wird schon etwas einfallen statt dass ich mir von euch einen Bräutigam aussuchen lassen muss. Zweifellos werdet ihr keine Rücksicht darauf nehmen, ob er mir gefällt oder nicht.“
„Schlaues Mädchen. Er sollte in jedem Fall vermögend sein. Sehr vermögend. Mittellos sind wir bald selbst, wenn kein Wunder geschieht. Du musst also keineswegs jeden nehmen.“
„Lieber falle ich in einen hundertjährigen Schlaf, als dass ich wegen Lottis Lebenswandel büßen muss.“
„Die Geschichte schon wieder“, mokierte sich Louis und kratzte sich an der glattrasierten Wange. „Vergiss endlich diese Luftschlösser. Das Leben ist zu hart für Märchen, erst recht für die Liebe.“
„Das ausgerechnet aus deinem Mund? Was ist mit Diana? Liebst du sie plötzlich nicht mehr?“
Seine Züge wurden weich. „Das ist etwas völlig anderes.“
„Ist es nicht! Darf ich nicht an die Liebe glauben?“
„Worüber reden wir eigentlich?“, wand sich Louis aus ihrer Schlinge. „Du wirst heiraten und damit basta. Ob es der Herzog ist … oder ein anderer.“
„Sogar Ludwigs Töchter sträuben sich gegen eine Ehe und immer mehr Frauen lehnen sich auf. Wir sollen für unsere Rechte kämpfen, heißt es, statt uns ständig von euch Männern gängeln zu lassen.“
Louis hob seinen Hut vom Kopf und strich sich über das Haar. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Die ungewohnte Hitze schien ihm zuzusetzen. Oder waren es ihre Worte? „Ludwigs Affinität zu seinen Kindern ist fürchterlich“, schimpfte er. „Sie schadet Frankreich mehr als uns lieb sein kann.“ Bedächtig setzte er den Hut wieder auf. „Unser Cousin ist auf jeden potentiellen Bräutigam eifersüchtig und denkt nicht im Traum daran, einem von ihnen die Hand seiner Töchter zu geben. Als wären diese jungen Gänse ein Staatsschatz, den man bis auf das Blut verteidigen muss. Und was diese Frauen mit ihren komischen Ansichten betrifft, die kannst du getrost vergessen. Die Damen werden schneller in der Versenkung verschwinden, als dass sie bis drei zählen können, sofern sie dazu fähig sind. Allen voran deine Freundin Jeanne–Antoinette.“ Louis legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich. Die Geste fühlte sich grob an. „Wir sollten zurückgehen. Ich muss abreisen.“
Unwillig machte sich Henriette von ihm los und stapfte Richtung Schloss. „Ich mag es nicht, dass du Jeanne ständig beleidigst. Du kennst sie ja nicht einmal.“
„Amen.“ Louis rülpste, während sie an den Busketten vorbeigingen. „Diese gewöhnliche Bürgerin ist nicht der richtige Umgang für dich und mir fehlt jeglicher Respekt vor ihr in Anbetracht dessen, dass sie von einem halben Heer bestiegen wurde.“
„Louis!“
„So denke ich nun mal.“
Resigniert verlangsamte sie ihre Schritte. „Das sind nur Gerüchte.“
„Ein Körnchen Wahrheit ist immer dabei.“
„Ach so? Und was ist mit den Gerüchten über dich und andere Frauen?“
„Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“
„Du klingst, als würde Ehebruch zum guten Ton gehören. Aber wehe, sobald sich eine Frau wie Jeanne dieselben Freiheiten herausnimmt. Ich möchte mir deine Reaktion gar nicht ausmalen, wenn Diana mit anderen Männern ins Bett steigen würde.“
Sein Gesicht wurde rot vor Zorn. „Ein absurder Gedanke.“
„Siehst du, nur der Gedanke daran genügt, um dich wütend zu machen. Ist nur zu hoffen, dass Diana nichts davon erfährt, denn ich sorge mich um sie. Die Schwangerschaft macht ihr zu schaffen. Sie braucht dich mehr denn je.“
„Darüber kannst du dich gerne mit Luc austauschen“, wurde er frostig, „wenn er Ende des Monats aus Ungarn zurückkommt.“
Henriette griff sich an den Hals und blieb stehen. „Luc kommt nach Hause?“.
Auch Louis war stehengeblieben. „Leider. Zumindest hat er das in seinem Brief angekündigt, den er Mutter geschrieben hat.“
„Scheinbar bin ich im Augenblick die Letzte, die irgendetwas erfährt“, stieß sie bitter aus und starrte mit klopfendem Herzen zu den Zedern hinüber.
„Willkommen in meiner früheren Welt. Aber vielleicht denkt Mutter inzwischen gleich wie ich. Luc ist nicht so wichtig, wie er sich selbst nimmt.“
„So ist Luc nie gewesen.“ Woher kam die plötzliche Heiserkeit?
„Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, weiter über den verlorenen Sohn zu sprechen.“ Wie viel Abscheu aus seinen Worten sprach.
„Kommt … kommt er allein zurück? Oder ist sie bei ihm?“ Louis schaute sie an, als wüsste er nichts mit ihrer Aussage anzufangen. Im selben Moment formte sich ein Gedanke in Henriette. „Großmutter hat gelogen, nicht wahr? Es gab nie eine Frau, derentwegen Luc bei Nacht und Nebel fort ist. Was ist der wahre Grund gewesen?“
„Lass uns ein anderes Mal weiterreden. Ich muss aufbrechen. Adieu, Henriette. “ Er eilte an ihr vorbei zu den Stallungen. Wütend blickte sie ihm nach. Im Wissen, dass ihre Familie ein Geheimnis hütete. Doch sie würde dahinterkommen. Früher oder später.
Die Nacht brachte Regen mit sich, der monoton gegen die Fensterscheiben prasselte. Manchmal erhellte sich die Dunkelheit, weil sich in der Ferne ein Gewitter entlud. Dann und wann war ein leises Beben zu hören. Dafür schrie ein Kauz umso lauter. Sein Ruf klang nahe, als würde er in einem der Bäume vor dem Schlafzimmerfenster sitzen, deren Äste gegen die Scheiben klopften.
Doch nicht nur deswegen konnte Henriette nicht schlafen. Luc ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Seit dem Gespräch mit Louis hatte sie pausenlos an ihn gedacht und sich ihr Wiedersehen ausgemalt. Ob er sich sehr verändert hatte? Und wie würde er sich ihr gegenüber verhalten? Wie ein Fremder? Oder würden sie wieder zueinanderfinden?
Sie zog das Laken höher und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Es war klein, nur mit dem Notdürftigsten ausgestattet. Bewusst hatte sie diesen Raum gewählt, der eher einer Abstellkammer glich. Es gab weder ein Nachtkästchen noch große Schränke, um ihr Gepäck zu verstauen. Darum lebte sie aus Truhen. Es wirkte, als wäre sie auf der Durchreise. Trotzdem fand sie es gemütlich, weil sie kleine Räume lieber mochte als große. Allerdings war es seit heute Morgen etwas beengter, da die Mutter eine hüfthohe Kommode hereinstellen lassen hatte. Sie stand an der gegenüberliegenden Wandseite und sollte für etwas mehr Ordnung in dem Chaos sorgen, weil sogar die Waschschüssel bisher auf dem Boden gestanden hatte. Nun reihten sich wahllos Kämme, Seifen, die Schüssel und anderes Behelf auf der Kommode. Mitsamt dem Parfüm, das sie aus der Schatztruhe genommen hatte. Ewig konnte sie den buntschillernden Flakon nicht aufbewahren und benutzte ihn daher seit einigen Tagen. Der Duft war leicht und frisch, mit einer süßen Note. Wie eine blühende Sommerwiese, in der Wildrosen wuchsen.
Henriette gähnte und drehte sich mit dem Rücken zur Wand. Sie schlief niemals umgekehrt, da ihr die Vorstellung, jemand könnte hinter ihr stehen, den Schlaf raubte. So viel dazu, dass sie erwachsen war! Louis hatte sich immer prächtig darüber amüsiert, aber sie konnte eben nicht aus ihrer Haut. Luc hingegen war da anders gewesen …
Nein, sie wollte nicht schon wieder an ihn denken und lauschte auf die Geräusche im Haus. Kleine Schritte tapsten an ihrem Zimmer vorbei, gefolgt von festeren. Dianas gedämpfte Stimme drang mahnend durch die Tür. Antoine war ein fröhlicher und aufgeweckter Junge, über dessen Schuhe man ständig stolperte, weil er sie überall liegen ließ. In letzter Zeit stand er oft mitten in der Nacht auf und lief durch das Haus. Es kostete Diana viel Geduld, ihn wieder ins Bett zu bringen. Auch jetzt hörte man ihr Schimpfen und sein Weinen, bis es irgendwann ruhig wurde.
Grübelnd starrte sie zur milchig–weißen Kerze auf dem Fenstersims und nagte an ihrer Unterlippe. Dabei dachte sie an den Herzog. Daran, wie ihre Zukunft aussehen würde. Natürlich fühlte sie sich der Familie gegenüber verpflichtet. Immerhin hatte sie bisher ein sorgloses Leben geführt. Doch das war nicht Lottis Verdienst, sondern der ihres Vaters, der mit Aktien ein Vermögen gemacht hatte. Wieso sollte sie deshalb auslöffeln, was ihnen die Großmutter eingebrockt hatte und das auch noch zu einem Preis, der nicht höher sein konnte?
Neuerlich näherten sich Schritte. Henriette drehte sich auf den Rücken und schaute zur Tür. Leise klopfte es. „Komm herein, Maman.“
Wie erwartet trat sie ein. „Du solltest längst schlafen, Kind. Es ist schon spät.“
Henriette rückte ein Stück nach hinten, um der Mutter Platz zu machen. „Das Gleiche könnte ich zu dir sagen. Du siehst in letzter Zeit ohnehin ständig müde aus. Schläfst du schlecht?“ Ob sie das Thema wegen den Schulden anschneiden sollte? Oder über Lucs Rückkehr?
„Die Sorgen halten mich wach“, gab die Mutter zu und ließ sich auf die Bettkante nieder. „Und der Sommerball steht vor der Tür.“
„Weshalb tut ihr euch das Jahr für Jahr an, Maman? Besonders du? Françoise lässt keine Gelegenheit aus, um dich zu kränken. Sogar wegen den Narben diffamiert sie dich.“ In Gegenwart dieser Hexe rissen die Wunden ihrer Mutter buchstäblich neu auf.
„Ich mache es Lotti zuliebe. Unser Sommerball ist deiner Großmutter wichtig.“
Henriette setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Das mag sein, aber ihre Schwester ist es nicht. Sie muss Françoise nicht einladen.“
„Deine Großtante zu übergehen wäre ein Affront. Du kennst ihren Einfluss. Wir hätten das gesamte Haus Orléans gegen uns. Davon abgesehen hege ich nach wie vor die Hoffnung, dass sich die beiden doch versöhnen und damit aufhören, sich zu bekriegen.“ Ihre Mutter faltete die feingliedrigen Hände im Schoß. Auch auf den Handrücken war sie von Narben gezeichnet, die aussahen wie Schwellungen von Mückenstichen. „Ich dachte, dass die Heirat zwischen Louis und Diana der erste Schritt wäre, um unsere Häuser auszusöhnen. Ohne zu ahnen, dass dadurch alles noch schlimmer werden würde. Leider war mir nicht klar, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen Diana und ihrer Mutter ist.“
„Louis hat etwas Ähnliches angedeutet, aber mich wundert das nicht wirklich. Wer versteht sich schon mit Françoise? Und wenn ich an den Vater denke …“
„Ja, mir wird auch ganz anders, dass man ihn oft als liebevollen Vater schildert“, entschlüpfte es der Mutter, die aussah, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Aber was soll’s. Mein Bemühen um ein besseres Verhältnis zwischen den Familien mag fehlgeschlagen sein, dennoch bereue ich nichts. Diana war die beste Wahl für Louis, ich schätze sie sehr. Am meisten freut es mich jedoch, dass sich dein Bruder durch sie zu seinem Vorteil verändert hat.“
Henriette zog sich die Decke enger um den Körper. „Stimmt“, tat sie überzeugter als sie war. „Früher hätte er sich vermutlich wenig um Lottis Schulden geschert.“
„Du weißt davon?“ Sie runzelte die Stirn.
„Louis war so frei.“ Groll kam wieder in ihr hoch. Ja, verdammt, sie bemitleidete sich selbst, weil ihr die Aufgabe zugedacht wurde, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
„Ich bin froh, dass ich auf deinen Bruder zählen kann. Es gibt sicher einen Ausweg aus der Misere.“
„Habt ihr den nicht längst gefunden? Insofern musst du nicht um den heißen Brei herumreden. Ich soll heiraten und zwar möglichst reich“, verschaffte sich Henriette Luft. „Ist nur zu hoffen, dass Lotti danach nicht weitermacht wie zuvor. Eine Chance wie diese bietet sich nicht mehr. Es sei denn, Luc würde ebenfalls gewinnbringend heiraten. Was allerdings schwierig sein könnte, da er ja dieses Mädchen liebt, mit dem ihr nicht einverstanden seid. Ist sie euch zu arm?“
„Weder noch, aber dein Bruder ist hier nicht das Thema.“
Wie sie diese Geheimnisse satt hatte! „Richtig. Das bin ja ich.“
„Ich kann verstehen, dass dir nicht wohl ist, demnächst heiraten zu müssen. Aber jetzt sollten wir zusammenhalten, denn die Fehde zwischen Mutter und Françoise ist auch finanziell ein Desaster. Bei jeder Gelegenheit kommt uns Lottis Schwester zuvor und wir schauen durch die Finger. Wenn es uns gelingt, den Streit beizulegen, wird es erheblich einfacher für uns alle.“
„Du willst zwei der mächtigsten Herrscherhäuser unserer Zeit versöhnen, doch ich befürchte, dass das nie geschehen wird. Auch Luc meinte vor seinem Verschwinden, dass diese Sache nur der Tod beenden könnte.“ Henriette schaute sie abwartend an. Wieder hatte sie ihren Bruder erwähnt. Würde sie endlich über seinen Brief sprechen?
„Es gibt da etwas, das uns mit dem Haus Orléans versöhnen könnte.“
„Hast du einen Plan?“
„Einen, der dir kaum gefallen wird.“
„Das ist ja etwas ganz Neues.“ Henriette griff sich an die Stirn, hinter der es zu pochen begann.
Die Mutter erhob sich und schlenderte durch das Zimmer. Ihre Miene drückte Gelassenheit aus, aber die zitternden Hände verrieten Nervosität. Vor der Kommode blieb sie stehen und griff zur Seife, die sie abwechselnd von einer Hand in die andere nahm. Zögernd blickte sie Henriette in die Augen. „Sofern der Herzog tatsächlich um deine Hand bittet, werde ich ablehnen.“
Erleichtert atmete Henriette aus. „Und ich dachte schon ...“
„Stattdessen wirst du Philippe I. de Bourbon heiraten.“
Henriette schnellte aus ihrer bequemen Haltung hoch. „Françoises Enkel? Den Herzog von Chartres? Diesen dummen Jungen, dessen riesiger Kopf nicht zum kurzen Körper passt? Mit einer Gesichtsfarbe, die an einen Gallensüchtigen erinnert und schütterem Haar, obwohl er fast im selben Alter ist wie ich?“ Kurz versagte ihr die Stimme, weil sie gegen einen Würgereiz kämpfte. „Maman“, presste sie dann hervor, „sein Körper stinkt nach faulen Eiern, er ist ständig schlecht gelaunt und despotisch. Außerdem nennt man ihn bei Hofe den grünen Affen, zudem sagt man ihm nach, dass er …“
„Schluss damit. Ich will das nicht hören“, fiel die Mutter ihr ins Wort.
Henriette sank kraftlos an die Mauer zurück. „Wie könnt ihr mir das antun?“
„Man soll nicht immer zu viel auf andere hören. Bei Diana war es ähnlich. Wir waren alle nicht von ihr überzeugt und nun schau dir die beiden an. Wer weiß, vielleicht entpuppt sich Philippe auch anders als du denkst.“
„Bei der Glückssträhne, die ich zurzeit habe?“, spottete Henriette und zog die Hand zurück, als ihre Mutter darüber streicheln wollte. „Ihr verkauft mich regelrecht und du verpackst das Ganze in die faule Ausrede, zwischen unseren Häusern vermitteln zu wollen.“
„Das ist keine Ausrede.“
„Ich bin nicht dumm, Mutter“, stieß Henriette erzürnt aus. „Selbst eine Hochzeit mit Philippe wird nichts ändern.“
„Doch, das wird es. Deine Großtante hält viel von ihm und sucht eine Gemahlin für ihn.“
„Händeringend vermutlich“, frotzelte Henriette. „Kein Wunder, bei dem Aussehen.“
„Hinter jeder unscheinbaren Fassade kann sich ein wunderbarer Garten verbergen.“
„Glaubst du das ernsthaft?“ Henriette merkte, dass ihre Mutter feuchte Augen hatte. „Nein, du tust es ebenso wenig wie ich“, fuhr sie leise fort. „Ich weiß schon jetzt, dass mein Leben die Hölle wird.“
Abrupt erhob sich ihre Mutter. „Lass uns die Diskussion beenden“, forderte sie mit schneidendem Ton. „Lotti hat Philippe zu unserem Fest eingeladen. Er hat zugesagt. Du wirst dich beim Ball zuvorkommend um ihn kümmern und sobald sich die Gelegenheit ergibt, spreche ich mit ihm. Außerdem kannst du dich während seines Aufenthaltes selbst davon überzeugen, ob er tatsächlich so viel Spott verdient.“ Ohne ein weiteres Wort eilte ihre Mutter aus dem Zimmer.
Die Kerze flackerte und drohte zu verlöschen. Aber nach einigen Sekunden loderte sie wieder in die Höhe, verschwamm jedoch hinter Henriettes Tränenschleier, die sich wie versteinert fühlte. Angesichts der haarsträubenden Pläne ihrer Familie wäre der Herzog sicher die tausendmal bessere Wahl gewesen als Philippe. Dieser Unhold würde ihr Ende sein, das ahnte sie nicht nur, sie wusste es. Hoffentlich kamen ihre Brüder schnell zurück. Sogar Louis würde sie nicht mit offenen Augen ins Unglück rennen lassen. Niemals! Denn dass sie heiraten musste, damit würde sie sich abfinden müssen. Doch über den Bräutigam war noch lange nicht das letzte Wort gesprochen!