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Café Cacao

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In den nächsten Tagen wird man einen Regenschirm brauchen, in einigen Regionen, besonders im Norden des Landes, wird sogar ein Sturmschirm notwendig sein. Die Temperaturen werden sinken, dazu sollen heftige Gewitter aufkommen, verbunden mit einer starken Bora. Danach sind wieder heiße Tage angesagt, mit Temperaturen über vierzig Grad. Soweit die Wetterprognosen. Ich blättere weiter, zum Chronikteil, dort laufen seit einigen Wochen auf der Autobahn Wildpferde frei herum. Die Autofahrer protestieren, die Bezirksverwaltung ist gerade dabei, dieses Problem zu lösen. Die Polizei ist auch sehr beschäftigt, neulich wurden nachts hundertzwanzig Kubikmeter Erde von einem Feld gestohlen und am nächsten Tag hundertzwanzig Kilo Erdbeeren aus einem Lagerhaus im Stadtzentrum entwendet. Am Wochenende gab es im Stadtbereich insgesamt dreihunderteinundfünfzig Gesetzesbrüche im Straßenverkehr, davon einhunderteinundvierzig Geschwindigkeitsübertretungen, eine davon von einem Mercedes mit Zagreber Autokennzeichen, welcher auf einem mit siebzig km/h beschränkten Straßenabschnitt um fünfzehn Uhr neunzehn mit hunderteinundneunzig km/h fuhr. Dazu kommen fünfundfünfzig Alkoholsünder, einer davon um Mitternacht mit zwei Komma dreiundzwanzig Promille (einunddreißig Jahre, männlich) in einem Renault Clio mit Rijeker Kennzeichen, und vierzehn am Handy telefonierende Autofahrer (acht davon weiblich, Alter unbekannt), zwölf davon mit nicht zugelassenem Auto.

Diese Informationen entnehme ich der kroatischen Tageszeitung Novi list. Die Printausgabe erscheint täglich im Berliner Format, was bedeutet, dass sie in aufgeschlagenem Zustand über einen halben Quadratmeter groß ist. Das Umblättern der Seiten muss sorgfältig geplant und ausgeführt werden, sonst droht ein papierenes Tohuwabohu. Verglichen mit allen anderen Zeitungen bietet sie das ansprechendste Outfit. Ein prachtvolles Blau leuchtet am Titelblatt, in sorgfältiger Abstimmung mit der Farbe des Meeres, welches von den stolzen Mauern der Stadt Rijeka, in der diese Zeitung erscheint, in seine Grenzen gewiesen wird. Jeden Morgen angle ich mir an einem Kiosk ein frisch gedrucktes und glatt gebügeltes Exemplar, überfliege die Schlagzeilen, spaziere nach Hause und versinke hingebungsvoll in den Tiefen der Spalten.

Ich lese Seite für Seite, jede Rubrik, jeden Artikel, jede Kolumne und jeden Todesfall. Ich lese die Schlagzeilen, die Berichte, die Interviews, die Porträts, die Kriminalstatistik, den Wetterbericht, die Literaturkritiken, die Fußballergebnisse, das Kinoprogramm, die Inserate, die Horoskope, die Cartoons und die Ankündigungen für Strom- und Wasserausfälle. Manchmal schaffe ich es nicht, alles vor dem Einschlafen zu lesen, dann hebe ich die Reste für den nächsten Tag auf. In meiner Wohnung liegt überall zerdrücktes Zeitungspapier herum, das ich noch lesen muss. Jede Woche trage ich gewaltige Papierberge zum Abfallcontainer, der glücklicherweise direkt vor dem Haus steht. Besonders genau lese ich den Inseratenteil. Jeden Mittwoch steckt in der Novi list, einer ideologischen Mischung aus Pfarrmitteilung, Schülerzeitung, Regenbogenpresse und Amtsblatt, eine umfangreiche Beilage mit Anzeigen. In der Rubrik „Immobilien“ wird ein Apartment zum Kauf angeboten, inklusive einer Gruft in unmittelbarer Nähe des Friedhofs am Hügel von Trsat. Eine Ziege wird gegen zwei Schweine getauscht, der katholische Kirchenchor sucht dringend Sänger und Sängerinnen. Ich telefoniere mit dem Chorleiter, verschweige aber, dass ich vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten bin und meine Stimme gelegentlich zum Krächzen neigt. Die Zusage kommt prompt und ich werde vom Korrepetitor und von den Mitgliedern des gemischten Chors Cantores Sancti Viti mit offenen Armen und Herzen aufgenommen. Jeden Montagabend marschiere ich zur Gesangsprobe. Ein liebenswürdiger, dicklicher junger Mann begleitet die altslawischen Gesänge am Klavier, der Chor singt nach Leibeskräften, auch wenn der etwas cholerische Chordirigent, bekleidet mit gestreifter Pyjamahose und geripptem, ärmellosen Unterhemd, seinen Taktstock in Richtung der Soprane schleudert, welche seiner Meinung nach nicht den richtigen Ton treffen. Um die widerspenstigen Tenöre zu zähmen, greift er nach dem Notenpult und droht, es ihnen an den Kopf zu werfen. Manchmal kommt ein Murren auf, das aber gewöhnlich rasch in ein melodisches Halleluja verklingt.

Ich hingegen bemühe mich, ein bisschen nachsichtiger mit den Einheimischen umzugehen. Viele Jahrhunderte hindurch wurden sie von allen möglichen Seiten in die Zange genommen. Zuerst von den Türken und Venezianern, dann zwickten die Ungarn und die Österreicher, nicht zu vergessen die Italiener, die Deutschen, die Serben und letztendlich kam auch noch der Schlendrian. Der hat die Kroaten gerade jetzt im Würgegriff. Das kann man ganz leicht in den Cafés, Bars, Bistros, Pubs und Tavernen erkennen, wo bereits um sieben Uhr morgens reger Kundenbesuch herrscht. Diese geschäftige Kaffeehaus-Betriebsamkeit, die den ganzen Tag über bis in die späten Nachtstunden andauert, durchsprudelt die Stadt wie das ungestüme Flüsschen Rjeˇcina, welches, im Gleichklang mit dem vom Norden kommenden Touristenstrom, in den Süden strebt. Meiner persönlichen Statistik nach sitzt die Hälfte der Einwohner vierundzwanzig Stunden lang im Kaffeehaus. Die andere Hälfte ist gerade auf dem Weg dorthin.

Ich wohne in einem Haus im Stadtzentrum. Gestern ist der Hauseingang mit dicken Brettern zugenagelt worden. Gut, es gibt ja auch noch einen schmalen Nebeneingang. Über eine breite Marmortreppe gelangt man in den ersten Stock, wo die erste Tür links zu einem französischen Sprachinstitut führt, die nächste zu einer Werkstatt für Handarbeiten. Außen klebt ein Zettel mit Terminen für Häkel-, Strick- und Stickerei-Workshops. Eine Tür auf der rechten Seite ist vollkommen nackt, nichts deutet auf einen Bewohner oder einen Betrieb hin. Im darüberliegenden Stock ist die Eingangstür mit dem Wappen der Ustascha verziert. Das bedeutet, dass sich hier das örtliche Büro der HSP, der rechtsradikalen Partei Kroatiens, befindet. Auf der anderen Seite des Flurs ist an der Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift Motiva angebracht, es ist der Firmenname einer Neurolinguistischen Programmierungs-Gesellschaft. Im Stock darüber residieren – wenig aufregend – eine Steuerberatungskanzlei, der Pferdeklub, ein Verein für Amateurfotografen, ein Architekturbüro und das Forstamt. Im vierten Stock wird die Decke niedriger, das Licht schummriger, die Türen verbeulter und die Namensschilder unlesbarer. Dort wohnen ein paar Familien und ich.

Am Ende der Eingangshalle im Erdgeschoß befindet sich ein mit einem Gittertor abgeschlossener Raum, aus dem es nicht gut riecht. Spätnachts ist er geöffnet. Zu diesem Zeitpunkt kann man orange gekleidete Männchen beobachten, die Container und Säcke herausschleppen und auf einen LKW verladen. Vermutlich handelt es sich dabei um den Müllraum des Café Cacao. Dieses Café, dessen Gasträume sich im südlichen Teil des Hauses erstrecken, ist wegen der üppigen Haustorten, der vielfärbigen Eissorten und des klebrigen Kinderspielzeugs im Inneren des Lokals berühmt und bei vielen Bevölkerungsschichten sehr beliebt. Um nicht noch mehr Altpapier in meiner Wohnung zu bunkern, trinke ich hier täglich einen Kaffee, lese gratis sieben weitere Tageszeitungen und Zeitschriften und bin dann über alle wichtigen und unwichtigen Vorfälle, die sich in dieser Stadt, in diesem Land und auf dem Rest der Welt am Vortag ereignet haben, vollständig im Bilde. Auf den Seiten der „Schwarzen Chronik“ informiere ich mich über Verkehrsunfälle, Taschendiebe, Rauschgifthandel, Raubmorde, Gleitschirmabstürze, Wespenstiche und verbotenes Fotografieren am Nacktbadestrand. In der Anzeigen-Rubrik „Bekanntschaften“ fällt mir ein interessantes Inserat auf: „Suche Personen als Begleitung für Kaffeehaus-Besuche und für nette Gespräche. Spiele auch gerne Karten.“ Ich bin neugierig, ob sich jemand meldet. Als Kontaktadresse steht nämlich meine Telefonnummer! Das erstaunt mich überhaupt nicht, denn ich selbst war es ja, die dieses Inserat aufgegeben hat. Unter Berücksichtigung des hier sehr populären Ausdauersports „Kaffeetratsch“, rechne ich damit, dass sich nahezu die gesamte Einwohnerschaft von Rijeka bei mir melden wird.

Bis jetzt habe ich von den knapp zweihunderttausend Menschenseelen, welche die Stadt und die Umgebung bevölkern, leider nur einen sehr geringen Teil kennengelernt. Dazu gehören die dicke Wurstverkäuferin im Konzum-Markt, der elegante Kellner vom Café Cacao und der bosnische Hausmeister im ehemaligen Palais des Erzherzogs Joseph, in welchem das staatliche Archiv untergebracht ist. Diesem Ort verdanke ich sehr unterhaltsame Gespräche auf Bosnisch und eine anstrengende Suche nach einem Dokument, nämlich der Geburtsurkunde meiner Urgroßtante. Man hat mir erzählt, dass sie in Rijeka geboren wurde und die erste und bis heute älteste Café-Bar der Stadt betrieben hat. Ich wollte gerne mehr über ihr Leben erfahren und hatte gehofft, im Archiv Informationen über sie zu finden. Wochenlang war ich dort ständiger Gast, durchsuchte Schachteln und Mappen, entzifferte Namenslisten, atmete mehr Staub ein als Sauerstoff und traf auf einige bemerkenswerte Gattungen von Papierwürmern und weiterem von Zellulose und eingetrockneter Tinte sich ernährendem Getier – aber meine Urgroßtante fand ich nicht.

Daraufhin habe ich mich bei meiner Lieblingstageszeitung Novi list als Mitarbeiterin beworben. Vielleicht dachte ich, dass ich auf diese Weise mehr Glück haben könnte. Ich bin Journalistin, so lautet mein Bewerbungsschreiben, kann eine langjährige Erfahrung vorweisen und würde mich freuen, wenn die von mir überaus geschätzte Zeitung Interesse hätte, mich in ihr Team aufzunehmen. Mein spezielles Aufgabengebiet bisher war das Verfassen von regelmäßigen Kolumnen. Ich verblieb mit freundlichen Grüßen und schickte das Mail an die Chefredaktion. Eine Antwort darauf ist bis jetzt noch nicht eingetroffen. Etwas später lese ich in derselben Zeitung, dass sie demnächst ihren hundertzwanzigsten Geburtstag feiert. Über die ganze Breite einer Großformatseite steht in riesigen Buchstaben: „Schreiben Sie uns Ihre Meinung, Ihre Wünsche, Ideen, Erinnerungen. Lassen Sie uns wissen, was Sie mit unserer Zeitung verbindet.“ Also schreibe ich ein zweites E-Mail mit ähnlichem Inhalt wie das erste, auf welches ich prompt eine Antwort bekomme. Der Redakteur, zuständig für außergewöhnliche Projekte, schreibt mir, er habe mein Schreiben weitergeleitet. Wohin genau, hat er nicht geschrieben, aber sicherheitshalber fange ich schon einmal mit dem Produzieren von Kolumnen an.

Das Thema liegt schon in meiner Hand. Es ist eine Geldmünze. Ihr Durchmesser beträgt einen Zentimeter, ihr Gewicht fünf Gramm, der Wert beläuft sich auf eine kroatische Kuna. Das sind nach dem heutigen Stand Daumen mal Pi vierzehn EU-Cent. Dieses dünne und etwas abgewetzte Geldstück wird bald verschrottet werden, denn in absehbarer Zeit tritt Kroatien der Eurozone bei. Auf der einen Seite ist diese Kuna quasi ein Pappenstiel, auf der anderen Seite aber der Grund für eine hochpolitische Tragikomödie. Die Hauptrollen spielen die Staatspräsidenten zweier benachbarter, im verwandtschaftlichen Dauerclinch befindlichen Länder (Kroatien versus Serbien). Das stolze Oberhaupt des zukünftigen Eurozonen-Landes verteidigt die Entscheidung, auf die frischgebackene kroatische 1-Euro-Münze das Porträt eines berühmten kroatischen Mannes (mit serbischen Wurzeln) zu prägen, das beleidigte Oberhaupt des Nachbarlandes, unabsehbar weit entfernt von den Segnungen einer eigenen Euro-Münze, wird darob sichtlich etwas melancholisch. Und wie es auch in den besten Familien vorkommt, werden nun ein paar unelegante Wortmeldungen ausgetauscht, der eine stolpert über seine Eitelkeit, der andere schupft schadenfroh noch ein bisschen nach. Das Publikum klatscht, das Sommertheater ist perfekt. Ich freue mich auch, die Story läuft gut an, ich muss nur noch auf die Pointe warten.

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