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Café Choco
ОглавлениеDie Polizei hat einen Mopedfahrer aufgehalten, der zu schnell unterwegs war. Das steht heute in der Novi list. Es handelte sich um einen Pizzaboten. In der Folge fand die Polizei heraus, dass dieser grundsätzlich auf Pizza spezialisierte Zustelldienst auch Marihuana zustellt. Auf Bestellung werden auch Koks oder Ecstasy geliefert, versteckt in den Pizzakartons. Das entdeckten die Polizisten, nachdem sie den Mopedfahrer aufgefordert hatten, abzusteigen und die Pizzakartons auf den Boden zu stellen. Während der Pizzabote dieser Aufforderung nachkam, wunderten sich die Beamten über das Gewicht der Schachteln. Nach genauerer Untersuchung derselben fanden sie unter den Pizzen achtzehn Kilo Kokain. Der Pizzabote musste sein Gefährt stehen lassen und wurde festgenommen. Wo das Koks geblieben ist, steht nicht in der Zeitung.
Das Titelblatt der Novi list, der meistgelesenen Zeitung der Region, bietet täglich eine frische Schlagzeile, garniert mit einem dekorativen Bild. Entweder handelt es sich um eine Jubelmeldung („Kürbiskopf aus Rijeka gewann Schönheitswettbewerb“) oder um einen brandaktuellen Skandal („Bürgermeister baut die teuerste Seilbahn der Welt“). Skandale, die die Novi list selbst betreffen, stehen nicht in dieser Zeitung. Diese sind auf Netflix zu sehen, und zwar in der Serie The Paper, der bislang einzigen kroatischen Serie auf diesem amerikanischen Streaming-Portal. Ein ehemaliger Novi list-Journalist musste sich beruflich verändern und schrieb mit Hilfe seines reichen Erfahrungsschatzes ein spannendes Drehbuch. Die wichtigsten Rollen sind besetzt von korrupten Politikern, zuvorkommenden Chefredakteuren, liederlichen Journalisten, oligarchischen Eigentümern und gerissenen Kirchenmännern, die sich untereinander zerfleischen, was von den Zuschauern begeistert verfolgt wird. Auch ich bin von der Filmstory, die augenscheinlich nur haarscharf an der Realität vorbeischrammt, sehr beeindruckt.
Die Novi list wurde vor zehn Jahren vom Medienmogul Alberto F. gekauft. Er kaufte auch die Jutarnji list (das Morgenblatt), die Večernji list (das Abendblatt, erscheint aber auch am Morgen), La voce di popolo (Die Stimme des Volkes in italienischer Sprache) und Glas istre (Die Stimme Istriens in kroatischer Sprache). Eines Tages explodierte unter seinem Auto eine Bombe, die Ermittlungen der Polizei hatten offenbar nicht das Auffinden der Verursacher zum Ziel, was vor allem in der internationalen Medienszene und unter kritischen Beobachtern ein starkes Kopfschütteln auslöste. Herr F. saß zum Zeitpunkt, als die Bombe hochging, im Kaffeehaus.
Zufälligerweise saß auch ich dort (allerdings zu einem viel späteren Zeitpunkt), nämlich im Sitzgarten des Café Choco, genau dort, wo sich die Prachtpromenade des Korzo mit dem Platz der 128. Kroatischen Armeebrigade kreuzt. Als Dritter im Bunde befand sich am selben Ort ein Heuhaufen. Dieser brannte gerade lichterloh. Es handelte sich dabei nicht um einen ganz gewöhnlichen Heuhaufen, sondern um ein Kunstwerk des berühmten kroatischen Bildhauers Ivan Kožari´c. Sofort tauchten eine Menge ebenso brennender Fragen auf: Gehört der Brand zur Kunstinstallation dazu? Hat sich der Haufen selbst entzündet oder hat jemand eine Zigarette fallen gelassen? Unabsichtlich? Absichtlich? Die ganze Stadt war aus dem Häuschen. Schon am nächsten Morgen konnte man alle Antworten in der Zeitung lesen. Die Polizei begann eine akribische Untersuchung und der Bürgermeister versprach, umgehend für einen Ersatzheuhaufen zu sorgen. Im Hinblick auf die Gefahr, dass er wieder brennen könnte, wurde die Wiederaufbereitung auf den Spätherbst verschoben. In dieser Jahreszeit herrscht bekanntlich Dauerregen.
Es dauerte nicht lange, da brannte ein fünfzackiger, roter Stern am Dach eines prominenten Hochhauses im Stadtzentrum. Dieser Brand löste eine ganze Reihe von Skandalen aus. Der erste entzündete sich nicht am Feuer, die empörende Ursache war der Stern selbst. In der Novi list wurde nun die Frage aufgeworfen, ob dieser rote Stern überhaupt auf das Dach des Hochhauses hätte gestellt werden sollen. Und ob man grundsätzlich etwas Kunst nennen sollte, dessen Zweck die reine Provokation ist. Wieso Kunst? Wieso Provokation? Dem Bürgermeister, der die Installation dieses Sterns höchstpersönlich genehmigt hat, schwillt der Kragen, das Kolorit seines Kopfes nähert sich der Farbe des Sterns, von nun an spricht er nicht mehr mit der Journaille. Diese lässt sich wiederum auch nicht lumpen und verbreitert den ohnehin nicht ganz schlanken Bürgermeister auf der Titelseite optisch auf ungünstige Weise. Was das für die Zukunft des Bürgermeisters bedeutet, kann man noch gar nicht abschätzen.
Der nächste Skandal war, dass der Stern, der aufgrund des nicht brennbaren Materials fast unversehrt geblieben war, in der Nacht klammheimlich wieder abmontiert wurde. Von dieser geheimen Entfernungsaktion hatte die Novi list rechtzeitig Wind bekommen und exklusiv ein Reporterteam zum mutmaßlichen Tatort geschickt. Heimlich war es dem Künstler, der mit ein paar Kollegen auf das Dach geklettert war, um den Stern herunterzuholen, nachgestiegen. Als beide Mannschaften sich in luftiger Höhe plötzlich gegenüberstanden, entstand ein kleiner, nicht ganz ungefährlicher Tumult, im Zuge dessen der Künstler den Journalisten dringend empfahl, sofort zu verschwinden und alle bereits gemachten Fotos zu löschen, andernfalls sie sich selbst ins Unglück stürzen würden. Dies berichtete am nächsten Tag die Zeitung.
Da mein Bewerbungsschreiben nicht ganz der Realität entsprochen hat (ich bin keine Journalistin, habe diesbezüglich auch keine Erfahrung und schon gar nicht mit dem Schreiben von Kolumnen), durchstöbere ich das Internet nach einem Online-Studium für Kolumnistik. Da aber weder dieser Begriff noch das Studium dafür existiert, entscheide ich mich für eine autodidaktische Ausbildung. Nach ein paar Recherche-Klicks habe ich mir rasch ein vielversprechendes Hausrezept für Kolumnen zusammengebastelt: Man nehme irgendein beliebiges Thema und mache es zu einer wichtigen Sache, am besten zu einem dringenden Problem. Dazu wiegt man ein paar Gramm Einleitung ab, welche die Angelegenheit kurz beschreibt, gibt einen Schuss Hintergrundinformation dazu, lässt dann eine Prise von seiner soeben gefassten, aber bereits fixen Meinung hineinrieseln, würzt mit etwas Provokation, rührt kräftig um, dann schneidet man von den Argumenten, die man rasch zu einem logisch erscheinenden Gedankengerüst zusammengeknetet hat, ein paar ordentliche Stücke ab, mischt sie darunter, verfeinert mit Spott oder Witz, lässt das Ganze an einem kühlen Ort ein bisschen rasten und setzt als Abschluss eine Pointe oben drauf. Fertig ist der Kolumnen-Eintopf! Jetzt brauche ich nur noch jemanden, der ihn stilgerecht servieren kann.
Was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Stern da oben, frage ich Nela, um das Gespräch hurtig auf hohem Niveau in Gang zu bringen. Nela ist die erste Anruferin. Sie hat mein Inserat gelesen und sofort zum Telefon gegriffen. Wir haben uns für den nächsten Tag verabredet und nun sitzen wir im Gastgarten des Café Choco, direkt gegenüber dem verbrannten Heuhaufen, von welchem jetzt nur noch eine rostige Eisenstange bekümmert in den Himmel starrt. Nela, eine kleine Frau mit rundem Gesicht und schlohweißen Haaren, hat mit Kartenspielen nichts am Hut, ist aber politisch sehr versiert und beginnt auf meine Frage wie eine wütende Wespe zu brummen und zu surren. Ich erschrecke ein bisschen, denn ich kenne sie ja erst seit zehn Minuten. „Das ist nicht irgendein Stern, sondern der Partisanenstern! Ein kommunistisch-jugoslawisches Symbol!“, zischt sie und wedelt eine Fliege vom Tisch. Aha, denke ich, damit will sie verständlicherweise nichts mehr zu tun haben. „Ich verstehe“, signalisiere ich, „und deshalb hat man ihn wohl wieder abmontiert?“ Ihre Antwort ist nicht ganz so, wie ich es erwartet habe. „Ja, das ist ja die große Frechheit! Der Partisanenstern soll gefälligst da oben bleiben!“ Eine Frage noch: „Aber warum …“ – weiter komme ich nicht. „Dieser Stern ist unsere Vergangenheit, ein Symbol für die Erfolgsgeschichte der sozialistischen föderativen Republik Jugoslawien. Es war eine wunderbare Zeit, viel besser als die heutige.“ Das war der Anfang einer langen und durchaus prickelnden Freundschaft.