Читать книгу Der Zimmermannsvogel - Bianca Maria Gutmann - Страница 8
Jetzt oder nie
ОглавлениеAn einem lauen Septemberabend saß Santiago bei einem Glas Wein auf der Terrasse vor dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Der Blick ins Tal und auf die dahinterliegenden Berge war ihm vertraut wie alles um ihn herum.
Das Dorf, das unter ihm lag, der Fluss, an dem er als kleiner Junge geangelt hatte, der kleinbürgerliche Garten mit Tomaten, Zwiebeln, Bohnen und Zucchini. Von weitem hörte man schwach das Geräusch der Eisenbahn, welches sich mit dem Zirpen der Grillen mischte. Die wärmenden Sonnenstrahlen empfand er als sehr angenehm und er ließ seinen Gedanken freien Lauf.
Die Zeit verging und er hatte ganz vergessen, auf die Uhr zu schauen. Erschrocken sprang er auf, griff seinen bereits gepackten, grün marmorierten Koffer und warf ihn in den Kofferraum, seinen Panamahut auf den Nebensitz und brauste los. Santiago hatte Glück, fand sofort einen Parkplatz, stürmte quer durch die Bahnhofshalle, rannte den Bahnsteig entlang, der mit der Pfeife pfiff bereits, und im allerletzten Moment sprang er in den wartenden Zug.
Er öffnete die Waggontür und ein netter Steward fragte ihn nach Namen und Personalausweis und führte ihn zu seiner Suite. Suite? Ja, denn er befand sich nicht in einem normalen Zug, sondern in dem luxuriösen 5-Sterne-Hotelzug Transcantábrico, einem Zug aus dem letzten Jahrhundert, der an der Nordküste Spaniens entlangfährt.
Nachdem er mit großen Augen seine geräumige Suite bestaunt hatte, hängte er seinen einzigen Anzug auf einen Bügel und stellte Rasierzeug und Zahnbürste in das komfortabel eingerichtete Bad. Danach ging er in den Salon-Wagen, wo ihn ein höflicher Kellner begrüßte, ihm einen Platz anwies und ihn nach seinen Wünschen fragte. Er bestellte, lehnte sich zurück und genoss die schöne Aussicht, die vorbeiziehende Landschaft und vor allem das Ambiente um ihn herum. Von irgendwoher drang sogar Musik an sein Ohr, die ihm sehr bekannt vorkam, ein Stück von Andrea Bocelli. Sie wurde mit der Zeit allerdings immer lauter und eindringlicher, schien immer näher zu kommen, sie fing an, ihn zu belästigen bis Santiago bemerkte, dass er nicht Reisender im Transcantábrico war, sondern immer noch auf der Terrasse vor seinem Elternhaus saß, sein Mobiltelefon sich in fein vibrierender Weise an den Rand des kleinen Gartentischchens manövriert hatte. Er schmunzelte über sich selbst und rettete gerade noch sein Telefon vorm Herunterfallen:
»Dígame?«, meldete er sich auf die in Spanien übliche Art, um zu erfahren, wer der unbekannte Anrufer war, der ihn aus dem Transcantábrico herausgeholt hatte.
»Du musst mir helfen … du musst sofort kommen, große Katastrophe!«
Santiago war solche Notrufe gewohnt. Nein, er war kein Arzt, kein Tierarzt, kein Klempner und kein Zimmermann, aber als einziger in der Lage, dem armen Mann am anderen Ende zu helfen, den er sofort an der Stimme erkannt hatte.
Schnell ging er ins Haus, nahm seinen Autoschlüssel vom Schlüsselhalter in Form einer dekorativen Keramikkachel mit dem Bildnis der Madonna von Covadonga. Mit zwei Sätzen war er in der Garage – zum Glück hatte er nur ein paar wenige Schlückchen Wein getrunken – ließ das Auto an und fuhr den Hügel hinab ins Dorf.
Bosque war ein kleines Dorf, eigentlich war es gar kein richtiges Dorf, und ein schönes schon gar nicht, sondern eine Ansammlung verstreut liegender Häuser, einem großen Kreisverkehr, um den herum sich eine Bank, eine Versicherungsagentur, ein Autohändler und eine Kneipe angelagert hatten.
Das war nicht alles, selbstverständlich musste man eine Kirche im Dorf lassen, selbst wenn deren Besucher immer weniger wurden. Die Bewohner von Bosque konnten außer beten und arbeiten auch essen, denn der kleine Lebensmittelladen kämpfte weiter tapfer um sein Überleben und der Bäcker am Ort war ein Segen. Ohne täglich frisches Weißbrot leben zu müssen, das am nächsten Tag strohig und fast ungenießbar war, einfach unvorstellbar.
Hätte sich Santiago an diesem Sonntagabend nicht sofort auf den Weg gemacht, hätte es am Montag kein frisches Brot gegeben, da der Ofen des Bäckers wieder einmal den Geist aufgegeben hatte und nur ein guter Elektriker wie Santiago konnte das uralte Teil zum Leben erwecken.
Die Reparatur ging zügig voran, nach knapp zwei Stunden lief der Ofen erneut. Der Bäcker war sichtlich erleichtert, denn er hätte sich weder teure Ersatzteile noch einen neuen Ofen leisten können. Santiago war zufrieden, weil er wieder einmal improvisiert und eine Lösung gefunden hatte; auf Neudeutsch würde man das einen Workaround nennen. Er strahlte übers ganze Gesicht, machte Witze über verbrannte Brötchen und Brot und beide lachten herzhaft.
Es war unmöglich, Santiago in schlechter Laune anzutreffen, er lachte gern, war grundsätzlich positiv gestimmt, freundlich zu jedermann und auf dem kurzen Stück zurück zu seinem Haus hielt er mehrfach an, ließ die Autoscheibe herunter, hatte ein nettes Wort für den einen oder anderen, grüßte und winkte jedem zu – die Leute im Dorf kannten und liebten ihn.
Wenn ihn nicht der Pfarrer rief, um die Kirchenglocke zu reparieren, so war es ein Nachbar, in dessen Keller es zu einem Kurzschluss gekommen war oder ein Bekannter, der gerade ein Haus baute und Santiago mit der Elektroinstallation beauftragte.
Als er zu Hause ankam und die Haustür aufschloss, roch es schon nach Empanada, die seine Mutter für das Abendessen zubereitet hatte. Sie hatte die mit Tomaten, Zwiebeln, Paprika und Thunfisch gefüllte Teigpastete kunstvoll dekoriert und der Tisch war schon seit neun Uhr gedeckt. Inzwischen war es fast zehn, immer noch eine normale Abendessenszeit in Spanien. Santiago sprang schnell unter die Dusche und setzte sich mit noch nassen Haaren zum Essen, um seine Eltern nicht warten zu lassen und ihnen lebhaft von seiner erfolgreichen Reparaturarbeit zu erzählen, denn in der Zwischenzeit hatte ihm sein Vater schon fünf Fragen dazu gestellt. Er war stolz auf seinen Sohn, obwohl er das nie zugegeben hätte. Seine Mutter aber war wirklich von Herzen stolz auf ihren Jungen, sie lebte für ihren Sohn und versuchte ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
Santiago war ein Mu(s)ttersohn und lebte mit seinen 35 Jahren immer noch im Elternhaus, während seine ältere Schwester bereits vor Jahren ausgezogen war, geheiratet hatte und mit ihrem Mann in einer kleinen Eigentumswohnung unten in Bosque lebte.
Das Verhältnis zu ihr war weder gut noch schlecht, es war im Grunde überhaupt kein Verhältnis, denn es war, als ob sie verschiedene Sprachen sprächen. Im Gegensatz zu ihm gebrauchte die Schwester nur den regionalen Dialekt, aber daran lag es nicht, dass sie sich einfach nicht verstanden. Sie redete ohne Luft zu holen, überfuhr die Leute regelrecht und dies ununterbrochen mit überlauter Stimme, ohne anderen Gesprächsteilnehmern zuzuhören; er hingegen wusste zuzuhören und konnte die Leute durch Gestik, Mimik und Melodie seiner Sätze in seinen Bann ziehen, nur ab und zu rutschte ihm ein dialektisch gefärbtes Wort dazwischen.
Als er an diesem Abend, es war inzwischen schon Mitternacht, im Bett lag und versuchte einzuschlafen, verfolgten ihn die Gespräche mit seiner Schwester vom Nachmittag. Sie und ihr Mann kamen fast jeden Sonntag zum Essen und wie fast jeden Sonntag diskutierten sie.
Beide arbeiteten als Hausangestellte in dem nahegelegenen Landpalast eines Millionärs aus Madrid, von dem sie nicht gut behandelt wurden. Santiago fühlte sich für seine Schwester verantwortlich und weil es seine Eltern nicht taten, versuchte er, sie zu überzeugen, doch einen Schulabschluss nachzuholen und an den Auswahlverfahren für eine öffentliche Stelle teilzunehmen, aber es fehlte ihr an Initiative, Mut und wohl auch an Intelligenz.
Immer wieder kam das Thema auf den Tisch. Als er so nachdachte, fragte er sich, warum er ihr so viele gute Ratschläge gab; was war mit ihm? Was hatte er selbst aus seinem Leben gemacht? Hatte er es zu etwas gebracht? War es das, was er sich für sein Leben vorgestellt hatte? Er war der beliebte Dorfelektriker, was nicht das Schlechteste war, aber richtig zufrieden war er damit nicht, denn er wusste, dass mehr in ihm steckte, dass er nicht ewig bei Papi und Mami leben konnte und wollte. Eigentlich träumte er von einer eigenen Wohnung, einem schicken Auto, von einer guten Position mit gesichertem Einkommen, von Kollegen, Anerkennung, Aufstieg, Stabilität, Sicherheit und besonders von Reisen. Er wollte mehr sehen, als nur sein Dorf und die fünfzehn Kilometer entfernte Kleinstadt – und vor allem träumte er von jemandem, der an seiner Seite war, mit dem er sein Leben teilen konnte.
Er war es leid, als selbständiger Elektriker sein Auskommen zu verdienen und von den Eltern abhängig zu sein. Finanziell war er es nicht, denn er hatte in all den Jahren Geld auf die Seite legen können, da er zu Hause keine großen Ausgaben hatte. Emotional und moralisch fühlte er sich allerdings verpflichtet und abhängig: Er konnte nicht kommen und gehen wann er wollte, ohne Erklärungen abzugeben, konnte niemanden einladen, konnte nicht die Musik hören, die er gerne hören wollte, hatte zwar sein eigenes Zimmer und eine Garage für seinen inzwischen zehn Jahre alten Fiat – mehr aber nicht.
Die Hälfte seines Lebens war bereits vorbei, oder gar über die Hälfte? Wer wusste das schon und es war gut, es nicht zu wissen.
Immer mehr kam er zu der Überzeugung: Jetzt oder nie und mit diesem Gedanken schlief er ein.
Die Tage und Wochen vergingen, doch der Gedanke an eine Veränderung, einen Neuanfang grub sich immer tiefer bei ihm ein und man konnte ihn immer öfter mit in Falten gezogener Stirn äußerst nachdenklich, ja manchmal sogar völlig geistesabwesend sehen.
»Santi!«, rief Amador, ein befreundeter Elektriker, mit dem er gemeinsam die Installation eines alten renovierten Bauernhauses im Nachbardorf übernommen hatte.
»Santiagooo!«, rief er ein zweites Mal, aber jener arbeitete mechanisch vor sich hin und reagierte nicht.
»Was ist mit dir los? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja, alles O. K. – obwohl … nicht alles, oder doch, vergiss es, alles perfekt.«
»Mach mir nichts vor, ich kenne dich gut genug, irgendwas hast du auf dem Herzen, ich beobachte dich schon seit Tagen – los, wir machen eine Pause und du erzählst mir endlich, was mit dir los ist.«
Sie packten ihre Brotzeit aus und setzen sich auf eine alte wacklige Bank vor dem Haus, die noch aus der Zeit vor der Renovierung übrig geblieben war.
»Ach, gestern Abend, mein Vater, mit ihm ist nicht zu reden. Wir saßen beim Fernsehen und ich wollte mir in Ruhe einen interessanten Beitrag auf Kanal Historia anschauen und da ging es wieder los. Er meint, er wisse alles über Franco und das Regime des Generalísimo und hat für alles eine Begründung. Er will immer Recht behalten, nur seine Meinung zählt und ich soll meinen Mund halten. Aber es war einfach nicht alles gut unter Franco. Hey, weißt du eigentlich, dass ich als kleiner Junge in Bosque mit einem Fähnchen am Straßenrand stand und ihn direkt im Wagen an mir habe vorbeifahren sehen … und ich habe ihm zugewunken, so was Absurdes.«
»Echt? Das wusste ich nicht, du hast also den berühmten Franco live gesehen? Hast du mir noch nie erzählt.«
»Ja, ich kann mich genau daran erinnern.«
»Warum fängst du denn an, mit deinem Vater über den alten Käse zu diskutieren, du weißt doch wie er ist.«
»Das ist kein alter Käse! Geschichte ist hochinteressant! Nur kenne ich mich besser aus, denn ich habe ich weiß nicht wie viele Bücher gelesen und mich damit intensiv beschäftigt, nicht oberflächlich wie mein Vater, der nur nachbetet, was andere ihm vorgesagt haben und sofort laut wird, wenn man nicht seiner Meinung ist. Mich interessiert Geschichte wirklich mit all ihren Hintergründen.«
»Aber es lohnt sich doch nicht mit ihm darüber zu diskutieren.«
»Du hast Recht, aber es ist nun mal eines meiner Lieblingsthemen, nicht nur die Geschichte rund um Franco, sondern überhaupt interessiert mich die spanische Geschichte, angefangen von der Herrschaft der Römer über die Besetzung Spaniens durch die Mauren bis zur Neuzeit. Ich kenne mich wirklich aus und es begeistert mich einfach.«
»Geschickt abgelenkt, bravo! Du wirst mir doch nicht erzählen, dass dein Problem nur damit zu tun hat, dass du mit deinem Vater nicht über Geschichte reden kannst? Das glaube ich dir nicht, da ist doch noch was Anderes? Also raus mit der Sprache!«
»Naja, stimmt schon, eigentlich hatte ich mir für gestern vorgenommen, mit ihm über etwas ganz anderes zu reden, nämlich darüber, dass ich ab nächsten Monat studieren werde, ich habe mich bereits immatrikuliert. Ich kann nicht mehr so weiter vor mich hindümpeln; die Zeit vergeht und ich werde immer älter. Jetzt oder nie!«
»Was? Das glaube ich nicht! Du willst aufhören zu arbeiten und stattdessen studieren und was wird aus unserem gemeinsamen Projekt hier?«
»Wir werden weiterarbeiten, ich lass dich doch nicht hängen, aber ich habe nur noch an den Wochenenden Zeit.«
»O. K., hört sich gut an. Das nenne ich entschlossen und mutig, Glückwunsch! Wann willst du es denn nun deinen Eltern mitteilen? Ich denke, sie können wirklich stolz auf dich sein – ich würde mir das in unserem Alter nicht mehr zutrauen, du wirst der Oldie unter den Studenten sein.«
»Jetzt mach mal langsam, ich werde ja nicht aus der Welt sein, was sind schon fünfzig Kilometer? Ich werde weiter zu Hause wohnen, denn ein Zimmer in der Stadt zu mieten würde viel teurer, aber ich weiß, dass sie dagegen sind. Sie denken anders und verstehen mich nicht.«
»Du machst das schon Santiago, es ist dein Leben und du bist alt genug; ich weiß, dass du dich durchkämpfst und dieses schwierige Studium durchziehen wirst. Sie werden sich schon mit deiner Entscheidung abfinden und bald stolz auf ihren Herrn Ingenieur sein.«
»Recht hat Amador«, dachte er sich. Es war sein Leben und seine Entscheidung und so erzählte er ohne Umschweife am gleichen Abend den Eltern von seinen Plänen: Schweigen. Sie schauten ihn verständnislos an und murmelten etwas von »aber warum denn, es geht dir doch gut?«
Ja, es ging ihm gut, aber das war nicht die Frage. Es fehlte ihm etwas, er lebte nicht richtig, sondern existierte einfach nur, arbeitete, aß, schlief. Stets der gleiche Tagesablauf. Das sollte sein Berufsleben nicht auf Dauer sein.
Ganz so eintönig und geprägt von der täglichen Routine war sein Leben jedoch auch wieder nicht, denn er hatte neben seiner Arbeit, die er gern machte, noch viele andere Interessen.
So ging er an den Wochenenden oder wenn er an einem Tag mal früher mit der Arbeit Schluss machte, in den nahe gelegenen Wald. Er liebte die Natur, ja man könnte sagen, er war ein richtiger Naturbursche. Er genoss die Streifzüge durch die heimatlichen Gefilde, bei denen er vollkommen vom Alltag abschalten und neue Kraft tanken konnte.
Nach der Enttäuschung, die er über die Reaktion seiner Eltern und deren fehlende moralische Unterstützung verspürt hatte, beschloss er, am Wochenende in den Wald zu gehen, denn das Wetter war um diese Jahreszeit ideal für Spaziergänge und Wanderungen, obwohl er immer sagte, es gäbe kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung und er liebte sogar den manchmal Tage und Wochen andauernden Regen Nordspaniens.
Er zog seine Trekkingschuhe und seine Outdoorhose an, bepackte seinen kleineren Rucksack mit einer leichten Jacke, zwei Bocadillos 1, einem Fläschchen Wasser, einer quadratisch guten Schokolade und vergaß natürlich nicht, das Etui mit seiner Kompaktkamera am Gürtel zu befestigen. Er fotografierte gerne, doch die große Spiegelreflex war ihm einfach zu viel Ballast; er wollte nachdenken und sich innerlich auf die bevorstehende Zeit mit veränderten Lebensbedingungen vorbereiten.
»Ja«, dachte er, als er ungefähr zwanzig Minuten in den Wald hineingelaufen war, »mein Lebensrhythmus wird sich völlig ändern – und das ist gut so«. Er war weder beunruhigt, noch hatte er Angst vor dem, was auf ihn in der neuen Situation zukommen würde; er freute sich einfach, war voller Erwartung und gespannt, wie sich die Dinge entwickeln würde. Er lernte gern Neues hinzu und neue Menschen kennen.
»Toc – toc – toc«, machte es unerwartet schräg hinter ihm und noch einmal:
»Toc – toctoc – toc – toctoc«; überrascht, fast fasziniert von den ungewohnten Tönen blieb er stehen und ließ seinen Blick schweifen, konnte jedoch den Verursacher nicht ausmachen. Und erneut hörte er das rhythmische Klopfen: ein Specht! Er wüsste zu gerne, um welche Art von Specht es sich handelte, ein Schwarzspecht, ein Buntspecht, ein Grünspecht – egal. Santiago hatte vieles in Büchern und im Internet über die Gattungen und Arten gelesen und war im Moment ganz außer sich vor Freude, denn so oft passiert es nicht, dass man Spechte zu Gesicht bekommt, auch wenn man ihr Klopfen von weit her schon hört. Er maß vielen Dingen, die ihm begegneten oder passierten, eine Bedeutung bei und sah im Klopfen des Spechts ein Zeichen des Schicksals, eine Art Nachricht, er glaubte an Maktub – was im Arabischen soviel heißt wie: alles steht geschrieben und ist schon vorherbestimmt.
Santiago hatte gelesen, dass der Specht dem römischen Kriegsgott Mars zugeordnet war, der den Specht auf seinem Schild als Emblem verwendete, damit er seinem Träger Gefahren rechtzeitig ankündigte und ihn davor schützte.
Das rhythmische Klopfen, was sich eher wie ein Trommeln anhörte, verband Santiago sofort mit dem neuen Rhythmus seines Lebens, der ihm bevorstand, einem Rhythmus von Neuerungen, Wachstum, Wissen, Imagination, Liebe … der Specht wollte ihm sagen, dass es Zeit war, seinem eigenen Weg zu folgen, er wollte ihn wachtrommeln, ihm alle eventuellen Zweifel wegtrommeln.
Er ging vorsichtig ein paar Schritte weiter und setzte sich auf einen etwas erhöhten Baumstumpf und lauschte, wartete und ließ weiter seinen Blick schweifen, während er ganz vorsichtig die Kamera aus dem Etui zog. Er hatte zwar keine große Hoffnung, dass er den Trommler entdecken oder gar ein Foto machen könne, aber da er ein optimistischer Mensch war, machte er sich bereit, nur Geduld.
Und da entdeckte er an dem circa fünfzehn Meter entfernten Baumstamm ein schwarzes Etwas, sein Herz hüpfte beim Anblick von dem seltenen Vogel, er nahm die Kamera und zoomte bis zum Anschlag. Unglaublich, was er da sah! Ein wunderschönes schwarzes Tier mit rotem Scheitel. Groß war es, das musste er festhalten, denn das war ein Zeichen, das war sein Zeichen und er drückte ab, einmal, zweimal, dreimal, zur Sicherheit.
Schade, dass er nicht die große Kamera dabei hatte, aber es war besser als nichts, die Fotos waren scharf und man sah jedes Detail des Vogels. Der sollte für Santiago nun eine Art Maskottchen werden, sein Glücksbringer, er würde das Foto als Hintergrund auf seinem Telefon speichern und mit sich herumtragen.
»Toc – toc – toc«, Santiago grinste, denn es war, als ob sich Herr Specht für die Fotosession bei ihm bedankte und er setzte seine Wanderung fort.
Es war ein wunderschöner Tag, die Bocadillos schmeckten nochmal so gut in der freien Natur und er war mit sich und seiner Welt zufrieden.
Als er am späten Nachmittag zu Hause ankam, setzte er sich sogleich an seinen Computer und lud die Fotos ab. Genial! Er rief seine Mutter herbei, die sich hinter ihn stellte, ihre Hände auf seine Schultern legte und überrascht auf dem Bildschirm die Großaufnahme des Schwarzspechts betrachtete. Sie schlug die Hände vor Erstaunen über dem Kopf zusammen und rief »Santiago Mauricio, du bist ein Künstler!«
Ein Künstler war er nicht und wollte er gar nicht sein, doch hatte er ein Auge fürs Detail und sah sich schon seit Kindheit mit großen Augen in der Welt um, damit ihm ja nichts entginge. Er wusste oft von Details zu berichten, die andere gar nicht bemerkt hatten, obwohl sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren.
Überhaupt waren seine Augen wohl das bezeichnende Merkmal, das zuerst auffiel, wenn man Santiago kennen lernte. Er hatte auffällig große dunkle Augen, die von ebenfalls markanten, leicht buschigen Augenbrauen überdacht waren. Er hatte keinen langsamen Blick, sondern seine Augäpfel bewegten sich flink von einem Augenwinkel in den anderen, sodass ihm nichts entgehen konnte, ja er schien mit seinen Augen ständig in Bewegung zu sein. Auch wenn er sprach, unterstrich er seine Worte mit einer ausdrucksvollen Augenmimik, verstärkte diesen Effekt noch, indem er die Stirn nach oben in Falten schob, was allen, die ihn kannten im Gedächtnis blieb. Hätte man 100 Leute nach einer Personenbeschreibung über Santiago befragt, hätten 90 zuerst seine Augen erwähnt.
Für den nächsten Tag, wieder ein Sonntag, hatte sich wieder die Schwester mit dem gleichen wiederkehrenden Diskussionsstoff angesagt und so beschloss er, sich lieber mit ein paar Freunden seiner Clique in der nahegelegenen Kleinstadt zum Vermú zu verabreden, was in Spanien nicht bedeutet, wirklich einen Wermut trinken zu müssen, sondern man nimmt irgendeinen Aperitif vor dem Essen zu sich. Er hatte momentan keinen Kopf für die langwierigen, lautstarken Ausführungen seiner Schwester, und so fuhr er gegen Mittag los, bevor sie eintraf.
Es war nach zwölf als er in der Stadt aus dem Auto stieg, genau zur richtigen Zeit, denn gegessen wird in Spanien meist erst gegen halb drei. Er hatte sich mit den Freunden in einer Bar in der Nähe des Rathausplatzes verabredet, die teilweise schon eingetroffen waren und auf der Terrasse Platz genommen hatten. Sie begrüßten sich, einige Mädels waren auch dabei, aber bis auf ein Paar waren die übrigen nur miteinander befreundet. Santiago war sehr beliebt und man hätte sich fragen können, warum er mit seinen 35 Jahren keine Freundin hatte.
Erstens arbeitete er viel zu viel, zweitens war er ein tiefgründiger, ernsthafter Mensch, der zwar mit den Mädels scherzte und lachte, sie aber nicht abschleppte und wechselte, wie es einige seiner Bekannten zu tun pflegten. Er hatte in der Vergangenheit die eine oder andere intensivere Bekanntschaft und sicher gab es einige, die ihm gut hätten gefallen können, aber irgendwie ging es nicht über einen gemeinsamen Kinobesuch oder die sonntäglichen Treffen zum Wermut hinaus. Abgesehen davon hätte er niemanden mit nach Hause bringen dürfen. Seine Eltern wären aus allen Wolken gefallen, hätten der weiblichen Begleitung tausend Fragen gestellt und das wollte Santiago auf keinen Fall, zumal ihn noch nicht so richtig Amors Pfeil getroffen hatte.
Man unterhielt sich über gemeinsame, nicht anwesende Bekannte, über Fußball, über eine Bergtour, die schon fürs Frühjahr geplant war und die man immer wieder verschoben hatte und über das neue Kinoprogramm. Während Santiago ein großer Kinofan war und sich eifrig an der Auswahl des Filmes beteiligte, den man am Nachmittag gemeinsam sehen wollte, war Fußball nicht sein Spezialgebiet. Wie die meisten Spanier sah er sich Spiele zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid an und natürlich auch internationale Spiele bei Europa- und Weltmeisterschaften. Sein Sport hingegen war etwas ausgefallener als der Breitensport: Karate.
Er hatte in den letzten Jahren an vielen Wettkämpfen teilgenommen, einige Pokale geholt und war im Besitz des schwarzen Gürtels, Zweiter Dan. Er lebte ein bisschen die fernöstliche Philosophie seines Kampfsports, und betrieb den Sport nicht nur zur körperlichen Betätigung. Über die Jahre hatte sich sein Verhalten gegenüber anderen und sich selbst geändert. Er interessierte sich im Laufe der Zeit mehr und mehr für andere Kampfsportarten und nahm Unterricht in Taekwondo, Jiu-Jitsu und Aikido, ähnliche Sportarten, deren Techniken ihm auf Grund seiner Erfahrung im Karate recht mühelos zu erlernen fielen.
»Hey Leute, ich muss euch etwas zeigen«, rief er in die Runde und zog sein Telefon aus der Innentasche seiner Jacke, die er neben sich über einen Stuhl geworfen hatte, denn in der Sonne war es recht warm und ihm war eigentlich nie kalt. Er war ein richtiger Nordpanier, der das feuchtgemäßigte, atlantische Klima gewohnt war; im Sommer ist es an der Küste immer in paar Grad kälter als im Hinterland, an sonnigen Tage bläst oft ein starker Nordwind; die Winter sind mild, es gibt aber auch sehr viele kalte Tage. Santiago erkrankte äußerst selten, er schlief bei offenen Fenstern, ja Fenstern, und obwohl sein Zimmer relativ klein war, hatte es zwei große Fenster, sein breites Bett stand in der Mitte und schon ein paar Mal hatte er seinen Freunden die Anekdote erzählte, als er im Bett lag und plötzlich eine mittelgroße Eule mitten durchs Zimmer flog, zum einen Fenster hinein, zum anderen hinaus. Die Freunde bestritten immer wieder den Wahrheitsgehalt dieser Story, doch die wenigen, die schon einmal in Bosque waren und ihn zu Hause abgeholt hatten, waren überzeugt, dass die Geschichte nicht erfunden war.
»Wir warten, zeig schon«, riefen zwei seiner Freunde, denn nach seiner Ankündigung, ihnen etwas zeigen zu wollen, warteten sie bereits gespannt.
Santiago klappte die Telefonhülle auf und zeigte das neue Hintergrundbild, welches er inzwischen gespeichert hatte.
»Toller Vogel«, sagten die anderen staunend und fragten ihn, wann und wo er das schöne Foto gemacht hatte. Er erklärte ihnen, dass dies nicht einfach ein Vogel sei, sondern ein Pájaro Carpintero, die wörtliche Übersetzung ins Deutsche ist Zimmermannsvogel. Er hielt ihnen eine Viertelstunde einen Vortrag über den Specht, sein Verhalten, Vorkommen und dessen symbolische Bedeutung.
Sein Spitzname war gefunden: Zimmermannsvogel.
Ein langes Wort für einen Spitznamen, doch alle waren sich einig und fanden diesen Namen witzig, komisch und sehr passend für Santiago. Von seinem Äußeren war er ein dunkler Typ, wie der Schwarzspecht. Obwohl Santiago ein typischer Nordspanier war, konnte man ihn wegen seines immer gebräunten Teints, den schwarzen Haaren und den dunklen Augen viel mehr für einen Südspanier halten – zweifellos wäre er als Sevillano durchgegangen. Außerdem war er durchtrainiert, hatte eine athletische Figur, die er nicht zuletzt durch seinen Sport bekommen hatte, den er zwei Mal in der Woche in dieser Stadt praktizierte.
»Läuft heute ein Zimmermannsvogelfilm?«, fragte einer. Allgemeines Gelächter folgte.
»Nein, heute läuft ein Actionfilm, ich habe die Vorschau gesehen, ist sicher gut«, und so einigten sie sich, am Nachmittag diesen Film zu sehen.
Inzwischen war es spät geworden und man bestellte ein paar Tapas, die wie üblich freundschaftlich geteilt wurden und wobei jeder von allem essen konnte.
Santiago achtete im Allgemeinen sehr auf seine Gesundheit und vor allem auf eine gesunde Ernährung, aß lieber Fisch als Fleisch, kein Fett. Thunfisch und Miesmuscheln waren seine Favoriten, er vermied Salz im Essen, trank koffeinfreien Kaffee und literweise Milch. Zum Frühstück bevorzugte er Kakao und Vollkorntoast sowie drei Walnüsse, denn die sind reich an Omega-3-Fettsäuren, und ließ seinen Cholesterinspiegel regelmäßig kontrollieren; selbstverständlich rauchte er nicht und trank nur gelegentlich einen Rotwein, ein alkoholfreies Bier oder eine für die Region typische Sidra, eine Art Apfelwein.
Es war ein gelungener Sonntag, der sich doch länger hinzog als gedacht, denn nach dem Kino saßen sie noch beisammen. Allerdings hatte er den Freunden noch nichts von seinen Plänen verraten, weil sie es noch früh genug erfahren würden, wenn er sie weiterhin an den Wochenenden sah und an manchen Abenden nach dem Karate-Training. Die Kleinstadt war ihm schon immer viel lieber gewesen als Bosque; er fühlte sich hier wohler und freier, konnte mehr unternehmen, hatte Freunde, und als er auf der Heimfahrt so über alles nachdachte, hüpfte er innerlich vor Vorfreude auf die etwa drei Mal so große Stadt, direkt am Meer, in der er studieren, neue Leute kennen lernen und endlich im Leben vorwärts kommen und nicht mehr auf der Stelle treten würde.
Als er nach Hause kam, war schon alles dunkel, nur vom Wohnzimmerfenster her sah er den wechselnden Lichtschein des Fernsehers; sein Vater war also noch wach. Er schloss leise die Haustüre auf, schlich am Wohnzimmer vorbei ins Bad und stellte sich lang und ausgiebig unter die Dusche. Er genoss immer diese Minuten der Intimität des Badezimmers, hier hatte er seine Ruhe, konnte das Wasser über sich rieseln lassen und nachdenken. Auch hatte er die Angewohnheit, sich nie abzutrocknen, sondern er schüttelte das Wasser ein bisschen ab und ließ sich von alleine trocken werden. Ein Zimmermannsvogel trocknet sich schließlich nicht mit einem Handtuch ab. Seine glänzend schwarzen Haare föhnte er nie trocken; er besaß überhaupt keinen Fön.
Er rasierte sich, was er meist am Abend tat, weil ihm am Morgen die Zeit fehlte, putzte sich die Zähne und hüpfte über den Flur in sein Zimmer gegenüber. Noch war er nicht ausreichend müde, um zu schlafen und so nahm er das Buch vom Nachtkästchen und las darin weiter. Weit war er noch nicht gekommen, weil er sich in den letzten Tagen der Entscheidung kaum konzentrieren konnte. Doch jetzt war alles klar und er hatte den Kopf wieder frei und Lust, die bereits angefangene Geschichte, ein modernes Märchen, endlich weiter zu verfolgen:
… Der Prinz konnte kaum abwarten, dass das Päckchen die Prinzessin erreichte und war auf deren Reaktion gespannt. Er ließ sich von seinem Diener eine mittelgroße glänzende Schachtel bringen und setzte den Frosch hinein. Der Diener hatte vorausschauend genügend Grünzeug und einen Napf Wasser in der Schachtel platziert, sodass dieser nicht umfallen konnte. Ohnehin würde der königliche Transport das Päckchen mit äußerster Sorgfalt befördern und am Hofe der Prinzessin übergeben, dem kleinen Frosch könne nichts passieren.
Die Prinzessin empfing mit vor Vorfreude zittrigen Händen das Päckchen und stellte es auf den güldenen Tisch in ihrem Schlafgemach. Die Kammerzofe half ihr, die kunstvolle Schleife zu öffnen und hob langsam den Deckel der Schachtel hoch. Schwupp – mit drei Sätzen sprang der kleine grüne Frosch heraus und hüpfte auf den samtbezogenen Sessel, der sich neben dem Tisch befand.
Die Prinzessin und ihre Kammerzofe sahen sich an und trauten ihren Augen nicht, da fing der Frosch an zu quaken. Die Prinzessin lachte, denn sie fand ihn außerordentlich sympathisch, ging auf ihn zu und wollte ihn auf ihre Hand nehmen, als er mit einem großen Satz wieder zurück in die Schachtel sprang. Er war intelligent, denn damit wollte er nur die Aufmerksamkeit der Prinzessin auf ein Objekt richten, was sich ebenfalls in der Schachtel befand. …
Santiago wurde müde und immer müder und musste das Buch weglegen. Er drehte sich zur Seite, schlief sofort ein und träumte von Wäldern, Spechten, von Robin Hood, Fröschen und märchenhaften Gestalten.