Читать книгу Abrechnung am Meer - Biljana Fenzl - Страница 3
1. Kapitel
ОглавлениеNika rannte. Die Kondenswölkchen ihres Atems streiften ihre Wangen. Eisige Luft kroch ihren Hals hinunter. Sie hustete. Ihr linker Arm ruderte vorwärts. Die rechte Hand umklammerte krampfhaft den Riemen ihrer Tasche. Sie lief davon. Vor ihrer Arbeit, vor ihrem Leben. Vor sich selbst. Und endlich auf etwas Neues zu.
Den ganzen Weg zur S-Bahn rannte sie. Sie erwischte sie gerade noch rechtzeitig. Kaum war sie drin, glitten die Türen hinter ihr zu. Die Bahn fuhr an. Nika ließ sich auf den Sitz am Fenster plumpsen und warf ihren Rucksack auf den freien Platz neben sich. Sie begann zu frösteln. Ihre Arme umschlangen den dünnen Körper. Sie mochte den Winter nicht und war froh, dass er nun ausklang und die Temperaturen langsam stiegen. Kälte und Dunkelheit setzten ihr zu, machten sie schwermütig.
Der Zug beschleunigte. Häuser und Landschaften zogen an ihr vorbei. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie dachte an ihre Eltern.
Sie würden von ihrem Entschluss nichts erfahren. Wie sie schon seit langer Zeit nichts mehr von ihr erfuhren.
Endlich besann sie sich auf ihren Lebenstraum. Sie nahm sich fest vor, es diesmal durchzuziehen. Das Auswandererkind würde es schaffen. Sie war stark, auch wenn ihre zierliche Gestalt das Gegenteil vermuten ließ. Sie hatte in ihrer Kindheit gelernt, für sich einzustehen.
Die S-Bahn hielt. Nika löste sich vom Sitz, schnappte ihren Rucksack und verließ den Zug. Sie rannte nach Hause. Ihre gefütterten, schwarzen Chucks berührten kaum den Boden. Sie riss die Haustür auf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hüpfte sie in den zweiten Stock. Den Schlüssel hatte sie irgendwo zwischen zwei Etagen bereits herausgekramt. Flink schloss sie ihre Wohnungstür auf und schmiss sie hinter sich zu. Die Tasche flog in eine Ecke, die Jacke an die Garderobe, wo sie mit der Kapuze an einem Haken hängen blieb.
Sie musste Großmutter anrufen. Ihre Oma war der einzige Mensch, dem Nika vertraute. Sie würde sich für ihre Enkelin freuen. Endlich war Nika auf einem guten Weg. Als sie die Telefonnummer in die Tastatur tippte, wippte Nikas linkes Bein aufgeregt auf und ab. Sie horchte auf das Tuten in der Leitung.
„Ja?“
„Omaichbin’sNika. IchhabtolleNeuigkeiten.“
„Nika? Nicht so schnell. Ich verstehe ja kein Wort.“
„Oma, hör mal, ich gehe weg vom Fernsehen.“
„Du hast gekündigt?“
„Nein.“ Sie druckste herum. „Aber ich werde noch.“
„Ach, Kind. Was ist das jetzt wieder?“
„Was meinst du?“
„Nika, wann kommst du endlich zur Ruhe?“
Nika schwieg. Jetzt wippten beide Beine synchron. Sie umklammerte den Hörer fester und presste die Kiefer aufeinander. Dann sog sie scharf Luft durch die Nase, bevor sie antwortete.
„Ich bin die Ruhe selbst, Oma.“
„Wie du meinst.“
„Ich verstehe das nicht, Oma. Du hast doch immer gesagt, ich soll meinen Weg gehen“, platzte es aus ihr heraus.
„Aber du tust es nicht.“
Nika war genervt. Schlug Oma jetzt in die gleiche Kerbe wie ihre Eltern?
„Das wollte ich dir doch gerade erzählen. Ich kündige beim Fernsehen und suche mir einen guten Job bei einer großen Tageszeitung.“
„Aber du hast noch keinen?“
Ihre Kiefer schmerzten bereits und ihre Zähne gaben knirschende Geräusche von sich.
„Nein. Es wird sich schon irgendetwas finden.“
„Ach Kind, warum gibst du dich immer nur mit irgendetwas zufrieden? Nimm dein Leben endlich in die Hand.“
„Ich habe mein Leben völlig unter Kontrolle.“
Es trat eine unangenehme Stille ein. Nika schluckte Wut und Tränen herunter. Sie hoffte, ihre Großmutter würde einlenken. Vergeblich.
„Nika, du bist jetzt dreißig. Du hast lange genug deinen Welpenschutz genossen. Möchtest du nicht mit deinen Eltern reden, ob …“
„Oma!“, schrie sie auf. Ihr Herz hämmerte hart gegen die Brust. Sie zitterte, lief im Zimmer herum, setzte sich und sprang gleich wieder auf.
„Schon gut“, beschwichtigte Oma sie. „Das war wohl keine gute Idee. Aber es gibt da noch eine andere Möglichkeit. Eine alte Freundin von mir hat auf einer kleinen kroatischen Insel ein Apartmenthaus. Sie könnte deine Hilfe gut gebrauchen. Und du könntest dort in Ruhe überlegen, wie es für dich weitergehen soll. Was hältst du davon?“
„Ich wollte nie den Traum meiner Eltern leben. Ich will auch nicht in die Tourismusbranche. Ich brauche auch keine Pause. Damit vertrödele ich nur Zeit. Ich weiß doch, was ich will. Ich will investigativen Journalismus machen!“
„Aber du bewegst dich seit Jahren nicht von der Stelle. Nika, bitte, geh nach Kroatien. Ich will dir doch nur helfen. Ich mache mir Sorgen um dich. Ich bin zweiundachtzig Jahre alt. Ich werde nicht mehr lange leben. Und dann bist du allein. Bitte bring dein Leben in Ordnung.“
„Ich denke darüber nach“, presste sie mit einem Kloß im Hals noch heraus und legte auf. Stille Tränen rannen ihr übers Gesicht. Ihr Magen krampfte sich zusammen. So konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Sie begann, Sachen in ihrer Wohnung aufzuräumen, umzuräumen und wegzuräumen. Sie schnappte sich den Staubsauger. Aggressiv schrubbte sie damit über den Boden. Seine Lautstärke betäubte jede Geistestätigkeit. Nach einer Weile schaltete sie das Gerät aus. Ihr rechtes Ohrläppchen schmerzte. Sie hatte zu heftig daran gerieben, ohne es zu merken. Hätte sie eine gute Stelle bei der Zeitung, wäre Oma beruhigt. Würde ein Chefredakteur sie gleich einen Leitartikel schreiben lassen? Eher nicht. Sie arbeitete zu lange beim Fernsehen. Bei den Printmedien startete sie wieder ganz unten. Würde Oma ihren glorreichen Aufstieg noch erleben? Sie wollte nur sicher sein, dass Nika auf dem richtigen Weg war. Was, wenn es nicht nach Plan lief? Dann wäre sie nicht einmal Großmutters Wunsch nachgekommen. Oma hatte für ihre Bedürfnisse stets ein offenes Ohr. Was konnte sie ihr vorwerfen? Sie wollte Nika helfen. Bis jetzt habe ich es ohne Hilfe geschafft, dachte Nika. Oma sorgte sich. Sie liebte Nika. Und Nika liebte sie. Was, wenn Omas Befürchtungen berechtigt waren und sie plötzlich allein wäre. Ihr Leben fühlte sich nicht wie ihres an. Woran es lag, wusste sie nicht. Vielleicht hatte Oma recht und Nika musste das erst herausfinden, bevor sie etwas Neues begann. Schadete es, ein paar Monate auf einer Insel zu verbringen und dort vorübergehend ihr Geld zu verdienen? Viel unbefriedigender als die Arbeit, die sie jetzt ausübte, konnte es auch nicht sein.