Читать книгу Abrechnung am Meer - Biljana Fenzl - Страница 5

3. Kapitel

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Als Nika am nächsten Morgen wach wurde, schien die Sonne hell in ihr Zimmer. Zehn Uhr. Ruckartig richtete sie sich im Bett auf. Hatte sie verschlafen? Sie wusste nicht, wann ihr Arbeitstag begann. Am Abend zuvor war es sehr gemütlich bei Ana und Ivan. Sie hatten Nika wie ein eigenes Enkelkind aufgenommen. Nika war deswegen aufgewühlt gewesen und konnte lange nicht einschlafen. Sie wälzte sich im Bett herum. Gegen drei Uhr in der Nacht fand sie endlich in den Schlaf. Nun sprang sie aus dem Bett, eilte ins Bad und unterzog sich einer Katzenwäsche. Flink streifte sie T-Shirt und kurze Hose über. Es war so eine herzliche Begrüßung und Nika vermasselte den ersten Arbeitstag. Was würden Ana und Ivan Kovac von ihr denken? Sie schlüpfte in ihre rosa Chucks. Mit ihnen lief sie sicherer als in Flip Flops. Sie riss ihre Zimmertür auf. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Nika rannte los. Sie sah nichts, sie hörte nichts, sie spürte nur Schmerzen. Ein Zusammenstoß. Die Wucht des Aufpralls hatte sie zwei Schritte zurückgeworfen. Ihr Blick klärte sich allmählich und sie sah meerblaue Augen, volle Lippen, zwischen denen strahlend weiße Zähne hervor blitzten, eine große Nase mit einem Höcker und dunkelblondes, lockiges Haar. Ihr Gegenüber sah besorgt aus.

„Entschuldige. Hast du dich verletzt? Sprichst du deutsch? I’m so sorry.“

Nika wankte benommen, fing sich jedoch schnell.

„Schon okay. Das war ganz schön hart. Himmel, bist du so durchtrainiert?“

„Das waren nicht meine Muskeln“, grinste er. „Du bist gegen meinen Laptop gerannt.“ Er hatte den tragbaren Computer vor dem Bauch gehalten. Nun hob er ihn als Beweis hoch. Wie peinlich. Nika stieg die Röte ins Gesicht. Er lächelte noch breiter.

„Ich bin David Bruch. Und Gast hier, wie du.“

„Ich bin kein Gast. Schönen Aufenthalt noch.“ Damit ließ sie ihn stehen und floh zu Ana nach unten.

David schüttelte den Kopf über diese seltsame junge Frau. Pinke Augenbrauen hatte er noch nie gesehen. Nervös und bunt wie ein kleiner Papagei flatterte sie durchs Treppenhaus. Er hatte sie bisher hier nicht gesehen. Und er wohnte schon seit einer Woche in einem von Anas Apartments. Irgendetwas gefiel ihm an ihr. Doch er hatte keine Zeit herauszufinden was es war. Er musste die Fotos sichten, die er in den letzten Tagen geschossen hatte. Er war gerade auf dem Weg in ein Café, wo er bei einem guten Frühstück, die Bilder sortieren wollte, als der Zusammenstoß passierte. Nun setzte er seinen Weg fort.

Nika kam außer Atem bei den Kovacs an. Sie entschuldigte sich für ihr spätes Erscheinen und wurde von Ana sofort beruhigt. Heute stand nur ein Zimmer im zweiten Stock auf dem Plan. Das wurde von einer Familie mit zwei kleinen Kindern bewohnt. Die Jungs hörte man noch auf dem Balkon krakeelen. Es war also noch Zeit genug, um in Ruhe zu frühstücken.

„Du bist so dünn, Liebes. Komm setz dich. Ich mache dir schnell etwas zu essen“, bot Ana sich an. Nika nahm dankend an und war froh, dass Ana ihr nicht böse war. Als Ana mit Brot, Butter, Honig, Marmelade und frisch aufgebrühtem Mokka ins Esszimmer kam, entspannte Nika sich langsam. Sie fragte Ana nach den Gästen im Haus. Die begann über die Familie aus Italien zu erzählen.

„Sie kommen jedes Jahr hierher. Sehr nette Leute.“

„Warum fahren die nach Kroatien. Sie haben doch selbst das Meer vor der Tür“, wollte Nika wissen.

„Es ist günstiger für sie bei uns den Urlaub zu verbringen, als in ihrer Heimat. Italien ist teuer“, erklärte Ana.

Nika rieb ihr rechtes Ohrläppchen. Dann faste sie sich ein Herz und fragte nach dem jungen Mann, namens David.

„David Bruch? Ja, sehr sympathisch. Er ist Fotograf und kommt aus München. Ein guter Fang für uns.“ Ana gluckste und zwinkerte Nika zu.

„Er macht Fotos für einen Bildband und hat das Apartment gleich für mehrere Wochen gemietet. Das ist lukrativ für uns.“

„Und wie sind so seine Gewohnheiten? Muss ich auf etwas achten?“, fragte Nika beiläufig.

„Manchmal ist er ganz früh weg. Das Licht wäre dann gut, sagt er. Abends ist er nie besonders spät zurück, es sei denn, er schießt Nachtaufnahmen. Er arbeitet viel. Ist diszipliniert, höflich, ein netter Junge.“

Ein Spießer also, dachte Nika ein wenig enttäuscht. Eine Spaßbremse war nicht das, was sie sich als Ablenkung gewünscht hatte. Schade, denn er sah sehr gut aus.

In dem Moment hörte man die Italiener die Treppe herunterpoltern. Ana warf einen Blick aus dem Fenster. Sie sagte, sie würden noch ein paar Minuten warten, falls die Familie etwas vergessen hätte, und würden dann nach oben gehen, um die Wäsche auszutauschen.

In dem Familienapartment im obersten Stock herrschte Chaos. Spielsachen warteten überall verteilt auf die Rückkehr ihrer kleinen Besitzer. Die Zudecken der Kinder waren zerwühlt. Ein paar Handtücher lagen am Boden zum Austausch. Ana gab Nika Anweisungen. Die Betten waren schnell bezogen. Es gab große Laken, keine Spannbetttücher, die sich gegen das Aufziehen wehrten. Ana zählte Frotteetücher ab und erklärte Nika wo sie sie hinzulegen hatte. Die gebrauchten stopften sie in den Korb, in dem sie die frischen Sachen transportiert hatten. Das Toilettenpapier wurde aufgefüllt. Nika nahm den Besen aus der Ecke des Zimmers und kehrte Krümel zusammen. Ana nickte zufrieden. Sie sammelten noch Geschirrtücher ein und dann war die Arbeit in diesem Apartment abgeschlossen. Viel war es nicht und Nika dachte, sie könnte eine entspannte Zeit auf der Insel verleben. Doch Ana klärte sie schnell auf. Nicht alle Besucher reisten am gleichen Tag an. Die meisten fuhren an einem Samstag an. Dann gab es viel zu tun. Einige kamen unter der Woche. Und wenn es an einem Tag keine Zimmer zu richten gab, dann mussten Einkäufe erledigt werden, die Wäsche zum Mangeln gebracht oder abgeholt oder Sonderwünsche erfüllt werden. Manchmal veranstalteten Ana und Ivan Grillabende für die Gäste im Garten. Auch die erforderten Planung und Vorbereitung.

„Aber du wirst genug Zeit haben, an den Strand zu gehen und dich zu amüsieren“, versprach Ana. Nika hatte da ihre Zweifel. Und prompt kündigte Ana ihr an, dass sie gleich losziehen würden, um Besorgungen zu machen. Heute würde sie Nika noch begleiten und ihr alles zeigen. Beim nächsten Mal müsste sie Nika alleine losschicken. Nika war wenig begeistert. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie zum Arbeiten hier war und nicht im Urlaub. Es viel ihr schwer, wenn die Sonne einen an den Strand lockte. Bepackt mit dem Wäschekorb stiegen sie die Stufen zu Anas Wohnung hinunter. Nika stellte ihre Last in der Diele ab und folgte Ana in die Küche. Dort bekam sie zwei überdimensionale Plastiktaschen in die Hand gedrückt.

„Die werden wir bis oben hin füllen“, kicherte Ana. Nika konnte nichts Witziges an dieser Aussage finden. Ihr war klar, dass das Schleppen zu ihren Aufgaben gehörte. Und das würde bei der Hitze in Schwerstarbeit ausarten. Sie verließen das „Haus Ana“ und liefen die schmale Straße entlang, die sie den Berg hinunterführte. Vor ihnen tauchte das Strandcafé auf. Nika wollte danach erkundigen, doch Ana riss die Augen auf, presste die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf und zog sie schnell weiter. Nika sah verwirrt zurück auf das Café, aber Ana zerrte an ihr. Sie bogen rechts ab, weg vom Strand in Richtung eines staubigen Vorplatzes mit Souvenirshops. Dahinter stießen sie auf eine breite Straße, gesäumt von Restaurants, Eisdielen, Bäckereien, Metzgereien und einem kleineren Supermarkt. Ana schob Nika in den Selbstbedienungsladen und lotste sie durch die Gänge. Ohne die restliche Ware zu beachten, zog Ana das heraus, was sie benötigte. Dabei sah sie kaum noch hinsehen. Die Hangriffe waren seit Jahren eingeübt. Nur wenn der Laden sämtliche Regale von Zeit zu Zeit umstellte, musste sie sich neu orientieren. Das war schon länger nicht mehr vorgekommen. Nika brach allmählich der Schweiß aus. Sie versuchte, sich jegliches Detail zu merken. Der Einkaufszettel in ihrem Kopf geriet durcheinander. Von welcher Marke war das Toilettenpapier und von welcher die Küchenrollen? Wo stand noch mal das Waschpulver? Welches Reinigungsmittel war das Beste? Sie nahmen heute das Rote mit. Aber Ana hatte gesagt, das Grüne wäre besser, Nachschub käme jedoch erst nächste Woche. Sie würde sich zu Hause auf jeden Fall alles aufschreiben müssen. So langsam Ana ihre Füße trugen, so flink wirbelten ihre Hände beim Einkauf. Sie fegte durch die Regale und im Nu füllte sich der Einkaufswagen. Nika stöhnte leise. An der Kasse packte sie mechanisch die Ware in die Plastiktaschen, während Ana bezahlte und einen kurzen Plausch mit der Kassiererin hielt. Nika hob die Taschen an und sackte unter dem Gewicht ein wenig zusammen. Sie fürchtete, die Last würde sie zwei Zentimeter ihrer Körpergröße kosten. Sie meinte, bereits die Stauchung in der Wirbelsäule zu spüren. Als sie aus dem klimatisierten Laden trat, stand sie wie vor einer Wand. Die Sonne heizte den Asphalt unter ihren Füßen auf, der die Wärme abstrahlte. Heiße Luft stieg an ihren Beinen hoch bis zu ihrem Kopf, wo sich auf ihrer Stirn sofort Schweißperlen bildeten. Das Atmen fiel ihr schwer. Tapfer setzte sie einen Schritt vor den anderen. Die Henkel der Plastiktaschen schnitten in ihre Schultern und hinterließen rote Striemen. Alles brannte, ihr Gesicht, die von den Tragegurten verursachten Druckstellen und ihre Fußsohlen. Sie sah zu Ana. Wie hatte diese alte Frau das bisher geschafft? Ihr Respekt für Ana stieg in den letzten Minuten unaufhaltsam. Nika biss die Zähne zusammen. Nicht jammern. Das beherrschte sie. Darin hatte sie Übung.

Nachdem sie die Einkäufe ins „Haus Ana“ gebracht, alles notiert und ausgeräumt hatte, bekam Nika für den Rest des Tages frei. Sie beschloss, an den Strand zu gehen und sich im Meer abzukühlen. Flink packte sie eine Badetasche zusammen, tauschte ihre Chucks gegen Flip Flops und lief platschend zur Strandpromenade hinunter. Hinter der Strandbar im Pinienwäldchen führte ein schmaler Weg nach unten zum Kiesstrand. Genau unterhalb der Bar legte sie ihr Handtuch aus und ließ sich einige Minuten von der dröhnenden Musik aus der Bar beschallen. Da sie keinen Schattenplatz mehr ergattern konnte, flüchtete sie schnell ins Meer. Sie musste nicht weit hineinlaufen bis sie bis zum Hals im Wasser stand. Sie drehte sich zum Wäldchen, breitete ihre Arme aus. Die Wellen wogten sie hin- und her. Dabei beobachtete Nika das Café. Das Meerwasser strich sanft um ihr Kinn und kühlte ihre geschundenen Schultern. Ihr Blick erfasste jede Bewegung im Strandcafé. Junge Leute wippten auf ihren Rattanstühlen und hohen Hockern zum Takt der Musik. Die Bedienungen, ausnahmslos weiblich, bewegten sich geschmeidig zwischen den Gästen. Die Bar war luftig gebaut. Es gab keine Wände. Alles war aus Holz. Die Bar thronte oben wie ein riesiger Ausguck auf einem Schiff. Es sah einladend aus. Warum wollte Ana Nikas Fragen zu diesem Café nicht beantworten? Es war doch nur ein Café. Ana hatte sie fest am Arm gepackt und von jenem Platz weggezogen. Nika konnte sich das nicht erklären. Sie beschloss, später der Sache auf den Grund zu gehen. Sie drückte sich mit den Füßen vom Boden ab und schwamm los. Verbissen pflügte sie durch das Wasser, immer weiter aufs Meer hinaus. Sie erreichte außer Atem eine vorgelagerte Klippe. Ein junges Pärchen saß bereits dort oben. Nika ließ sich in gebührendem Abstand zu den beiden nieder. Von hieraus war der Ausblick traumhaft. Der Kiesstrand erstreckte sich rechts in einer langen Kurve bis zu jenem Felsen auf dem Nika an ihrem ersten Tag saß. An die Felswand grenzte der Wald, hinter dem sich die Bushaltestelle an der Nika ausgestiegen war, der Hafen und der Ortskern von Maun-Stadt befanden. Direkt vor ihr ragte das Strandcafé auf. Einige Meter dahinter sah man die Balkone von „Haus Ana“. Links schlängelte sich die Straße mit den Restaurants, Geschäften und dem kleinen Supermarkt. Nika kannte sich in ihrem Ortsteil inzwischen gut aus. Hier herrschte Familienidylle. Das Stadtzentrum interessierte sie mehr. Morgen würde sie sich auf den Weg durch den Wald machen und den lebendigeren Teil der Insel erkunden. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Sie stand auf, kletterte vorsichtig am Fels hinunter und sprang ins Meer. Im ersten Moment erschrak sie über die Kälte, ruderte flott durchs Wasser und gewöhnte sich bald an die Temperatur. Die Schwimmbewegungen wurden ruhiger. Den Blick starr auf die Wasseroberfläche gerichtet, teilte sie sie vor ihrem Gesicht mit den Händen und schob sie nach hinten zu ihren Beinen. Mechanisch wiederholte sie den Ablauf. Wieso hatte Ana so seltsam auf das Strandcafé reagiert? Sie hatte Nika nicht verboten, hinzugehen. Aber Nika war sich sicher, dass Ana es nicht gutheißen würde. Nur warum war das so? Was konnte schon schlimm daran sein, dort einen Kaffee zu trinken? Sie würde es einfach tun. Ana musste es nicht erfahren. Vielleicht fand sie selbst heraus, was da nicht stimmte. Möglicherweise war nichts und Nika hatte Anas Reaktion nur falsch interpretiert. Sie schwamm weiter, teilte das Wasser und erreichte das Ufer. Die Kieselsteine massierten ihre Fußsohlen, während sie zu ihrem Handtuch ging. Sie streckte sich auf der Unterlage aus und ließ sich von der Sonne wärmen. Sie schloss die Augen. Die Gedanken wüteten durch ihren Kopf. Nicht einmal ein Sonnenbad konnte sie richtig genießen. Sie ärgerte sich über sich selbst. Sie würde keine Ruhe finden, bis sie nicht die Bar inspiziert hatte. Nika trocknete sich ab, griff nach ihrer Strandtasche und machte sich auf den Weg nach oben. An einem schiefen Pfahl waren quer drei Bretter befestigt. Darauf stand „Beach Bar“, daneben war ein Papagei gezeichnet. Wie originell, dachte Nika spöttisch. Das Ganze sollte ein Piratennest darstellen. Der Boden war mit Schiffsplanken ausgelegt. Auf der anderen Seite des Eingangs war ein weiterer Pfosten angebracht. Daran hing eine Schatzkarte, die bei näherem Hinsehen, die Getränke auswies. Besonders hervorgehoben waren alle Arten von Rum-Cocktails. Bisher konnte Nika nichts Außergewöhnliches entdecken. Sie ging weiter um Tische und Stühle herum und suchte sich einen Platz auf einem Barhocker. Die Theke vor ihr zeigte zum Meer und war gleichzeitig die Umrandung der Beach Bar. Der Barkeeper stand hinter einem Tresen auf der anderen Seite der Bar. Über den gewollt windschiefen Balken spannte sich ein Segel, das als Dach fungierte. An den Stützpfeilern aus Holz hingen Anker, Fischernetze, ein Vogelkäfig und einige Muscheln. Die Musik dröhnte, der Boden vibrierte. Die Anlage war für die hohe Dezibelzahl nicht ausgerichtet, sie übersteuerte. Es quietschte und krächzte laut aus den Boxen. Nika bestellte einen Espresso und wartete gespannt, was sie bekommen würde. Das Mädchen, das sie bediente, konnte sie bei dieser Lautstärke unmöglich verstanden haben. Kurze Zeit später kam ein Mann mit einem kleinen Tässchen auf sie zu. Er war sicher über 1,80 Meter groß, älter als Nika. Das braune Haar war mit Gel nach hinten verstrubbelt. Es sah aus, als käme er gerade aus dem Meer. Alles an ihm strahlte Sommer und gute Laune aus. Seine Ohrläppchen waren angewachsen, die Nase gerade bis zur Spitze, die etwas abwich und sich leicht nach oben bog. Die bernsteinfarbenen Augen leuchteten, begleitet von einem schelmischen Lächeln. Er hob die linke Augenbraue, was ihm sofort drei Falten auf der Stirn bescherte.

„Der Espresso war für dich?“ Er sprach sie auf Kroatisch an.

„Ja, danke.“

„Ich habe dich hier noch nicht gesehen. Arbeitest du auf der Insel?“

„Ja, diese Saison.“

„Schön, dann sehen wir uns noch öfter. Ich bin übrigens Marko. Mir gehört die Bar.“

Er krempelte die Ärmel seines weißen Hemdes nach oben. Die braungebrannten, muskulösen Unterarme kamen zum Vorschein. Die obersten Knöpfe standen offen. Wenn er sie beeindrucken wollte, hatte er das geschafft.

„Du hast ein sehr schönes Fleckchen für deine Bar gefunden.“

„Ja, ich habe so meine Beziehungen.“ Er setzte sich auf den Barhocker neben sie und beugte sich zu ihr herüber. Ein herber Duft umhüllte sie. Nika wusste nicht, ob sie sein Rasierwasser wahrnahm. Ob er ein Parfüm benutzte? Ihr war klar, dass er alles tat, um seine Männlichkeit zu betonen. Ein Aufreißer. Ein Abenteurer. Der Typ interessierte Nika. Was war gegen ein wenig Spaß einzuwenden? Er neigte sich noch ein Stück näher zu ihr, so dass seine Nasenspitze beinahe ihre berührte.

„Und wie darf ich dich nennen, wenn wir uns das nächste Mal begegnen?“, wollte er wissen.

Nenne mich wie du willst, dachte sie.

„Nika“, sagte sie.

„Also gut, Nika. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder“, zwinkerte er ihr zu, während er eine vorwitzige Strähne hinter ihr abstehendes Ohr strich. Er stand auf und verschwand im rückseitigen Teil des Cafés. Wärme durchflutete Nikas Körper. Und es war nicht der Kaffee. Der war inzwischen abgekühlt. Sie kippte ihn hinunter, legte Geld auf die Theke, schnappte sich ihre Tasche und verließ die Bar.

Am Strand packte sie ihre Sachen zusammen und trat den Heimweg an. Sie verspürte ein Hungergefühl. Nika überlegte, ob sie sich selbst etwas kochen oder irgendwo essen gehen sollte. Sie kam zu keinem Ergebnis. Ihre Gedanken schwirrten lieber um Marko als um die Nahrungsaufnahme. Er war aufregend. Er war selbstbewusst. Das gefiel Nika. Sie fand nichts Beunruhigendes an ihm oder seinem Café. Warum reagierte Ana so seltsam? Sollte sie sie fragen? Dann müsste sie zugeben, im Café gewesen zu sein. Aber Ana hatte es ihr ja gar nicht verboten. Trotzdem wusste Nika, dass es Ana nicht recht wäre. Sie wollte Ana und Ivan nicht verärgern, nachdem sie sie so herzlich empfangen und aufgenommen hatten. Nika musste eine andere Möglichkeit finden, an Informationen zu kommen. Sie hatte den ganzen Heimweg in Gedanken versunken auf den Boden gestarrt. Nun blickte sie auf und sah, dass sie die Einfahrt zum „Haus Ana“ bereits hinter sich gelassen hatte. Sie kehrte um, lief den Hügeln ein Stück hinunter und bog rechts in den Garten der Kovacs ein. Sie stieg die Stufen zu ihrem Zimmer hoch und wäre beinahe wieder mit David zusammengestoßen.

„Du hast mich schon wieder übersehen. Das sollte mir zu denken geben“, meinte er prompt.

Ja, das solltest es wirklich, dachte Nika.

„Entschuldigung“, sagt sie mit einem höflichen Lächeln. Schließlich war David Gast und durfte vom Personal eine freundliche Behandlung erwarten. Im gleichen Moment war ein knurrendes Geräusch zu vernehmen. Nika griff sich schnell an den Bauch. David sah Nika zunächst erstaunt an. Dann breitete sich ein Grinsen über sein Gesicht.

„Du hast noch nichts gegessen“, stellte er fest.

„Nein. Deshalb muss ich jetzt auch rein“, sie deutete auf ihre Zimmertür, „und mir, was zaubern.“

„Ich lade dich zum Essen ein. Was hältst du davon?“

„Lieber nicht. Ich weiß nicht, ob es Ana und Ivan recht ist, dass ich mich von Gästen einladen lasse“, versuchte sie sich herauszuwinden.

„Das hier ist doch kein Hotel. Und ich glaube nicht, dass Ana und Ivan etwas dagegen hätten. Komm schon.“

Nikas Magen meldete sich wieder und sie gab nach. Vielleicht hatte dieser David spannende Seiten an sich. Nika würde es herausfinden. Man sollte sich alle Optionen offen halten. David strahlte über die Zusage und hakte sich bei Nika unter. Sie wand sich sofort aus seinem Griff.

„Ich muss mir nur schnell etwas anderes anziehen. Ich habe noch die nassen Badesachen an“, entschuldigte sie sich, erleichtert darüber eine Ausrede zu haben. David wartete vor Nikas Tür. Nika stand in ihrem Zimmer und schüttelte den Kopf. Was hatte sie sich nur dabei gedacht. Sie wollte auf keinen Fall falsche Signale senden. Nun gut. Sie hatte beim Essen immer noch die Möglichkeit die Sache richtigzustellen. Eine gemeinsame Mahlzeit, das war alles. Er würde das verstehen. Die halb getrockneten Badesachen klebten an ihrer Haut. Sie zog sie aus und rieb sich mit einem Handtuch ab. Sie holte trockene Unterwäsche aus dem Schrank und stieg hinein. Dann zog sie T-Shirt und Shorts über und schlüpfte in ihre Chucks. Als sie die Tür aufmachte, wartete David noch davor. Sie hatte gehofft, er würde es sich anders überlegen und verschwinden. Nun stand er nach wie vor da, also galt es, das Beste daraus zu machen. Nika stürmte los, um David keine Möglichkeit zu geben, sich wieder bei ihr einzuhaken. Verdutzt folgte er ihr.

„Wo wollen wir überhaupt hin?“, rief sie ihm über die Schulter zu.

„Zum Essen dachte ich. Aber, wenn du lieber ein Marathontraining absolvieren willst, musst du es mir nur sagen“, keuchte er hinter ihr her.

Nika blieb stehen. Eine leichte Röte stieg ihr ins Gesicht. Es war zu offensichtlich, dass sie flüchtete. Sie riss sich zusammen. David holte sie ein.

„Du hast wohl einen riesigen Hunger? Komm, ich kenne ein nettes Lokal ganz in der Nähe. Da musst du nicht lange auf dein Essen warten.“ Jetzt zog David an Nika vorbei und sie beschleunigte ihren Schritt, um mithalten zu können.

Das Restaurant hieß Laguna und war tatsächlich nur ein paar Gehminuten vom „Haus Ana“ entfernt. Es hatte einen kleinen Außenbereich unter einer Pergola. Dort war es angenehm schattig und kühl. Ein Ober brachte ihnen die Speisekarten. Nika versenkte sich tief in die Karte und studierte das Angebot, während David intensiv Nika studierte. Sie spürte seinen Blick und rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Der Kellner kam und erlöste Nika für einen kurzen Moment. Sie bestellte Cevapcici mit Pommes frites und ein Mineralwasser. Davids Hunger schien nicht sehr groß, denn er orderte lediglich einen Salat. Als das Essen kam, stopfte Nika sich gierig den Mund voll. Beide Backen mit Fleisch gefüllt, mahlten ihre Zähne darauf herum. Sie schluckte und schob sich den nächsten Cevapcic hinein. Noch während des Kauens begann sie zu reden.

„Sag mal, warst du schon mal in dieser Beach Bar?“

„Ja, einmal. Ist nichts Besonderes. Der Besitzer ist überheblich, die Musik zu laut und der Kaffee ist eher durchschnittlich.“

Nika hielt im Essen inne und rieb an ihrem Ohrläppchen.

„Und was ist das für ein Zelt daneben?“

„Strandmassagen, glaube ich.“

„Ist dir irgendetwas Ungewöhnliches dort aufgefallen?“

„Außer, dass die bis in die frühen Morgenstunden lautstark Party machen und kein Mensch dabei schlafen kann? Nein. Wieso interessierst du dich so für die Bar?“

„Ach, nur so.“ David hatte also keine Ahnung. Und spießig war er obendrein. Marko durfte doch feiern so viel er wollte. Die jungen Leute freute es. Warum mischte David nicht einfach mit, statt zu motzen. Der Deutsche erwies sich als Spaßbremse. Mit ihm würde Nika sicher nicht mehr ihre Zeit verschwenden.

David bemerkte, dass das Gespräch ins Stocken geriet, und winkte den Kellner heran. Er bezahlte. Die Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben. Nika bedankte sich für die Einladung.

„Es war nett mit dir“, log sie, „aber ich muss jetzt Ana beim Putzen helfen.“

„Ja, ich habe auch noch zu tun“, erwiderte David. Sie verabschiedeten sich steif mit Handschlag vor dem Eingang des Restaurants und verschwanden, jeder in eine andere Richtung. Dieses Treffen konnte David niemals als Date missverstanden haben. Nika beruhigte sich.

Sie schlenderte nach Hause. Dort klopfte sie bei Ana an, um zu fragen, ob Arbeit anstand. Ana sah müde aus. Es gäbe nichts Wichtiges. Sie werde sich ein wenig hinlegen und Nika solle sich einen schönen Tag machen.

„Hast du irgendetwas? Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte Nika besorgt.

„Es ist nichts. So ist das im Alter, Liebes.“

„Soll ich bleiben und dir einen Tee kochen oder dir einfach nur Gesellschaft leisten?“

„Nein, nein. Geh dich amüsieren. Ich komme schon zurecht. Und Ivan ist ja auch noch da.“

Mit einem unguten Gefühl verließ Nika die Wohnung der Kovacs. Sie hatte ihre Hilfe angeboten, mehr konnte sie nicht tun.

Da sie nun den restlichen Nachmittag frei hatte, beschloss sie den Ausflug ins Ortszentrum schon heute in Angriff zu nehmen. Sie hastete nach oben in ihr Zimmer. Im Schlafzimmer riss sie die Schranktür auf und entdeckte sofort, was sie gesucht hatte. Das gelb geblümte Sommerkleid hing fein säuberlich an einem Kleiderbügel. Das war das perfekte Outfit für einen Stadtbummel. Flink bürstete sie ihr Haar und band es im Nacken zusammen. Darüber kam ein breites Tuch, das ihren Kopf und die Ohren vor Sonnenbrand schützen sollte. Ein bisschen Sonnencreme auf die Nase und ihre große Sonnenbrille darauf, fertig. Sie drehte sich vor dem schmalen Spiegel. Ja, so gefiel sie sich. Unter dem Bett fand sie ihre gelben Ballerinas und schlüpfte hinein. Nika schnappte sich ihre Stofftasche, schwang sie über die Schulter und verließ ihr Zimmer. Sie sprang die Stufen bis zu Anas blauer Haustür herab und horchte daran. Innen hörte sie schlurfende Schritte. Ana schlurfte umher, also ging es ihr besser. Nika atmete erleichtert auf und hüpfte wie ein Schulmädchen aus dem Garten. Sie lief den Hügel hinunter zur Strandpromenade und bog nach links ab. Sie schlenderte zwischen Strandbuden und Sonnenbadenden bis zu dem Wald, den sie an ihrem ersten Tag durchquert hatte. Sie wühlte in ihrem Shopper herum und fischte das Mückenspray heraus. Mit zwei Pumpstößen sprühte sie das Antimückenmittel auf jeden Arm. Dann nahm sie sich die Beine vor. Sie ließ das Fläschchen zurück in die Tasche gleiten und bog links in den Park ein. Dank des Insektenschutzes genoss sie heute den Spaziergang. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, der Duft der Pinienbäume erfüllte ihre Nase und erzeugte Glücksgefühle in ihrem Körper. Die Kühle lockte einige Jogger in das Wäldchen. Nika schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf und sah sich genauer um. Hier gab es viele Wege. Sie wollte sie alle erkunden, solange sie Zeit auf der Insel verbrachte. Heute blieb sie noch auf dem Hauptweg Richtung Stadt. Sie kam an der Straße heraus, an der sie der Insel-Bus ausgeladen hatte. Sie überquerte die Fahrbahn und ging rechts an der Haltestelle vorbei. Der Hafen von Maun lag vor ihr. Nika stellte sich vor, sie besäße eine Jacht und flanierte am Kai entlang. Die Boote schaukelten sanft im Wasser hin und her. Es war nur ein leises Platschen und Glucksen zu hören, wenn kleine Wellen auf die Bootswände trafen. Leichter Algengeruch wehte vom Meer zu ihr. Nika bewunderte verschiedene Wasserfahrzeuge. Unscheinbare Fischerboote lagen neben Ausflugsschiffen, die wiederum neben großen Jachten dümpelten. Nika fand eine Bank, nahm Platz, schloss die Lider und ließ Geräusche und Gerüche auf sich wirken. Eine Stimme, die ihr wage bekannt vorkam, holte sie zurück.

„Wenn das nicht die schöne Nika ist.“

Sie riss die Augen auf und zwinkerte hektisch. Die Helligkeit schmerzte. Sie setzte die Sonnenbrille vom Kopf auf die Nase und sah sich um. Zunächst erkannte sie nur eine Silhouette im Gegenlicht, dann, die mit Gel verstrubbelten Haare. Zwei Bernsteine strahlten sie an. Ein warmes Gefühl breitete sich in Nikas Bauch aus, stieg hoch in ihre Wangen und brachte diese zum Glühen.

„Marko! Hallo“, stammelte sie.

Leicht und elegant wie eine Feder ließ er sich neben sie nieder.

„Hast du mich gesucht?“, wollte er wissen.

„Nein! Was? Wieso denn?“ Sie kam ins Stottern. Es war ihr peinlich, dass er so etwas dachte.

„Naja, du sitzt genau vor der Blue Moon.“

„Wovor?“ Sie scannte den Kai ab.

„Die Blue Moon. Direkt vor dir. Meine Jacht.“

Hoppla, da hatte sie vor lauter Hafen, das Schiff nicht mehr gesehen. Na so etwas. Und was für ein Schiff. Es war riesig.

„Wow! Das ist deine?“, staunte Nika. „Die Strandbar läuft wohl gut?“

„Die Bar ist okay. Ich habe noch andere Objekte.“

„Interessant. Was sind das für Objekte?“

„Es ist so ein schöner Tag. Warum sollte ich dich da mit meinen Geschäften belasten?“

„Das ist keine Belastung. Erzähl doch mal. Ich bin neugierig.“

„Weißt du was, ich habe eine viel bessere Idee. Ich zeige dir jetzt Maun-Stadt. Ich bin dein persönlicher Stadtführer und Reiseleiter.“

„Also gut. Dann lass mal sehen, was du drauf hast.“

Warum wollte Marko ihr nichts preisgeben? Hatte er etwas zu verbergen? Nika schüttelte diese Gedanken sofort ab. Ana hatte sie völlig verunsichert. Nur, weil sie Anas Abneigung gegen die Strandbar gespürt hatte, interpretierte sie nun etwas in Markos Satz hinein. Das war Quatsch. Es war tatsächlich ein wunderschöner Tag und Marko gönnte sich ein paar freie Stunden. Das war alles. Sie sollte nicht so misstrauisch sein, schalt Nika sich innerlich. Sie sollte sich beruhigen. Zumindest heute würde sie sich dabei von Marko helfen lassen. Sie standen von der Bank auf und Marko lotste sie vom Hafen weg, in die verwinkelten Gässchen der Stadt. Nika ruderte sich flink und ausladend zwischen den Häusern hindurch, bis sie hinter sich eine Stimme vernahm.

„Führst du mich oder ich dich? Weißt du denn, wo du hin willst?“

„Äh, nein. Einfach der Nase nach?“

„Hier lässt man sich Zeit, genießt, schaut in dieses oder jenes Geschäft hinein, betrachtet die alten Gebäude. Aber du rennst blind und hektisch an allem vorbei. Entspannt dich.“

Marko hatte recht. Sie nahm nichts von dem wahr, was er ihr zeigen wollte. Sie rannte Meter um Meter ab, als bekäme sie für jeden gelaufenen Schritt einen Preis. Sie verringerte ihre Geschwindigkeit, bis Marko auf gleiche Höhe mit ihr aufschloss. Er schlenderte neben ihr durch die Gassen.

„Ich schlage vor, wir verschaffen uns erst einmal einen Überblick. Was denkst du?“

„Okay. Und was heißt das?“

„Komm mit.“ Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Ihre Finger prickelten, als sie von seinen umschlossen wurden. Der Weg stieg steil an. Nikas Atem ging schneller und sie fühlte, wie sich ihre Wangen vor Anstrengung und Erregung röteten. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn.

„Wir sind da“, erlöste Marko sie. Nika sah sich auf dem kleinen Platz um. Sie entdeckte eine Kirche. Davor wuchs eine Platane, unter der eine Sitzbank in Richtung Meer ausgerichtet war. Einige Meter vor der Parkbank lag ein Steinmäuerchen. Dahinter fiel ein Hang steil ins Wasser. Macchia wucherte daran hoch. Hier und da krallte sich eine Agave am Felsen fest. Nika ging zur Bank zurück und setzte sich. Sie starrte in die Weite hinaus, wo das Türkis des Ozeans mit dem Azur des Himmels verschmolz. Ihr Atem wurde gleichmäßiger. Marko beobachtete sie vom Mäuerchen aus. Die Sonnenbrille hatte er dekorativ im Haar drapiert. Mit strammen Schritten und Händen in den Hosentaschen kam er auf Nika zu.

„Wir sind nicht ganz am Ziel. Ein bisschen musst du dich noch anstrengen“, lächelte er ihr zu und zeigte nach oben. „Das ist der Glockenturm der Kirche Sveta Marija. Da wollen wir hin.“

Nika drehte sich zu dem Sakralbau, legte ihren Kopf in den Nacken und erkannte Stufen, durch die schmalen Öffnungen in der Turmmauer. Ein leises Stöhnen entfuhr ihr.

„Ich verspreche dir, es lohnt sich“, munterte Marko sie auf.

Wieso musste er ihren Seufzer hören? Er sollte nicht den Eindruck haben, dass sie den Aufstieg nicht schaffte und nur jammerte. Sie sprang von der Bank und marschierte armschwingend zum Kirchturm. Prompt kam sein Kommentar: „So gefällst du mir schon besser.“ Sie traten in die Dunkelheit im Inneren des Turms und erklommen Stufe um Stufe. Während Nika stumm die Treppen zählte, hörte sie hinter sich Marko, der mit ruhigem Atem seine geschichtlichen Ausführungen zum Besten gab.

„Der romanische Glockenturm ist im zwölften Jahrhundert auf Resten römischer Bauwerke errichtet worden. Er ist das Wahrzeichen der Stadt und von überall zu sehen. Das muss dich nicht wundern, das Städtchen ist nicht sehr groß und der Turm steht auf einer Anhöhe. Aber wenn du dich tatsächlich mal verlaufen solltest, dann halte Ausschau nach diesem Kirchturm.“ Nika verzählte sich schon zum vierten Mal und gab auf. Sie würde wohl nie erfahren, wie viele Stufen sie hochgestiegen war. Sie lauschte sowieso lieber Markos sonorer Stimme. Die verursachte ihr eine wohlige Gänsehaut. Die geschichtlichen Daten erreichten dabei lediglich die entferntesten Winkel ihres Gehirns. Es beschäftigte sich mit Gedanken darüber, ob Nika ihr Sommerkleid vorne zusammenraffen und festhalten sollte, damit Marko beim Aufstieg nicht darunter spitzen konnte. Oder sollte sie alles so lassen und ihm die Aussicht gönnen. Aber wahrscheinlich war Marko mit seiner Reiseleitertätgkeit so ausgefüllt, dass er über so etwas gar nicht nachdachte. Warum tat sie es also? Wie kam sie überhaupt darauf, dass sie ihm gefiel? Ein Mann wie er, gutaussehend und offensichtlich wohlhabend, konnte doch ganz andere Kaliber haben. Bevor sie den letzten Satz zu Ende dachte, kamen sie oben an. Um die Spitze des Glockenturms zog sich ein Balkon aus weißem Stein, so dass man diese umrunden konnte. Nika hielt die Luft an. Die Aussicht überwältigte sie. Zunächst sah sie weit übers Meer, sah Schiffe am Horizont und Möwen am Himmel. Ein paar Schritte weiter lag ihr die ganze Stadt zu Füßen. Sie sah jede Gasse, jede Straße, die sich durch Maun schlängelte. Marko fing ihren Blick auf und strich ihr leicht über den Rücken.

„Na? Hab ich zu viel versprochen?“

„Es ist wunderschön“, flüsterte sie ehrfürchtig.

Er zog seine Hand zurück und stand still neben ihr, ließ sie all die Eindrücke in sich aufnehmen und genießen. Erst als Nika sich mit leuchtenden Augen zu ihm umdrehte, begann er ihr die Gebäude und Straßen zu erklären.

„Und da unten“, Marko deutete auf eine Terrasse, „wo du die Tische mit den roten Tischdecken siehst, da gehen wir jetzt einen Kaffee trinken.“

„Was? Du gehst deinem eigenen Café fremd?“

„Konkurrenzanalyse nennt man so etwas“, grinste er schelmisch.

Sie stiegen die Treppen hinunter. Marko ging voraus. Nika folgte ihm vorsichtig auf den schmalen, steilen Stufen.

Im Café bestellte Marko zwei Kaffee, ohne Nika vorher zu fregen, was sie wollte. Sie sah ihm diese Machogeste nach. Nika mochte so etwas gar nicht, mochte sich aber den Nachmittag nicht verderben, indem sie eine Diskussion begann. Marko saß ihr gegenüber und seine bernsteinfarbenen Augen strahlten sie so an, dass sie ihm in diesem Moment jeden Fehler verziehen hätte.

Marko nahm seine Aufgabe als Reiseleiter sehr ernst. Er erzählte Nika alles Wissenswerte über Maun. Sie erfuhr, wo sie in der Stadt welchen Laden fand, wo die guten Restaurants waren und welche historischen Gebäude sie sich auf jeden Fall anschauen sollte. Außerdem gäbe es auf der Insel und in der näheren Umgebung unendlich viele Ausflugsmöglichkeiten, teilte er ihr mit. Dann stand er auf.

„Ich muss mich jetzt wieder meinen Geschäften widmen. Bestell dir noch etwas, genieße den Tag, du bist eingeladen. Ich kläre das an der Theke.“

Dann beugte er sich über den Tisch, schob seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und versenkte seinen Blick in ihrem. Sie schluckte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich einige Takte schneller. Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden.

„Danke für diesen wunderschönen Nachmittag, Nika.“

Seine Lippen berührten ihre nur ganz leicht, aber der Stromstoß, den sie in ihrem Körper auslösten, traf sie mit voller Wucht. Ihre Hände umklammerten die Stuhllehnen so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Es kam ihr vor, als müsste sie die überschüssige Energie ableiten, sich selbst erden. Aber so unverhofft dieser Moment gekommen war, so schnell verflüchtigte er sich wieder. Marko richtete sich auf, zwinkerte Nika zu und begab sich auf die Suche nach dem Kellner. Ein paar Worte und Geldscheine wurden über die Theke gewechselt und dann verließ Marko das Café, ohne sich noch einmal nach Nika umzusehen. Sie blieb alleine und aufgewühlt zurück.

Abrechnung am Meer

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