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In einer luxuriösen Bürosuite an den Champs-Élysées unweit des Triumphbogens saß ein großer Mann, der es irgendwie schaffte, kryptisch dreinzuschauen, auf einem weichen italienischen Ledersofa. Er trug einen kohlegrauen Fünftausend-Dollar-Anzug und eine teure Krawatte, die den Schluss nahe legten, dass sich Dummköpfe in Frankreich ebenso leicht von ihrem Geld trennen lassen wie überall sonst auch.

Sein Name war Marcel, und die Tatsache ließ sich nicht übersehen, dass er eine Schwäche für Sahnesoßen hatte. Er war ein wuchtiger Mann mit ausgeprägt birnenförmigem Körper und hatte etwas Altmodisches an sich.

Marcel war ein Mittelsmann, das Verbindungsglied zwischen Leuten mit einem nicht ganz gesetzeskonformen Wunsch auf der einen Seite und den Personen mit der erforderlichen Expertise, solche Wünsche zu erfüllen, auf der anderen Seite.

Sein junger Assistent, Jean, stand stumm neben Monets »Terrasse bei Le Havre«, das die hintere Wand schmückte. In seinem einreihigen klassischen Shetland-Sportmantel aus feiner Woll-Lammwoll-Mischung mit Klapptaschen sah er wirklich eindrucksvoll aus. Die glatten Linien des Mantels wurden nur leicht durch die zarte Wölbung gestört, die seine kleine Handfeuerwaffe verursachte.

Die restlichen Wände des Büros waren mit Manets und Jerry-Lewis-Postern geschmückt. Vom Fenster hatte man einen schönen Blick auf den stramm erigierten Eiffelturm.

Sein beträchtliches Gewicht nach vorn bewegend, legte Marcel einen großen Koffer auf den Glas-und-Chrom-Couchtisch vor seinen Gast, der gerade eben aus einem bestimmten chaotischen afrikanischen Staat eingeflogen war. Klaus öffnete den Koffer und ließ den Anblick von Reihen über Reihen von gebündelten Hundert-Dollar-Scheinen auf sich wirken.

»Von den dankbaren Menschen der neu gebildeten Afrikanischen Demokratischen Republik«, sagte Marcel.

Klaus ließ den Kofferdeckel zuschnappen.

»Wollen Sie es nicht zählen?«, fragte Marcel.

»Das würde nur dazu dienen, Sie zu beleidigen«, erwiderte Klaus.

»Ganz und gar nicht, ich wäre nicht im Geringsten beleidigt.« »Sollten Sie aber, weil es implizieren würde, dass ich glaube, Sie wären dumm genug, mich übers Ohr zu hauen.«

Jean zog eine Augenbraue hoch und glättete die Falten in seiner Hose, wobei er die etwas vollere Silhouette begutachtete, die der gerade Schnitt der Hosenbeine bewirkte.

Marcel grinste. »Natürlich, Sie haben Recht. Es ist alles da.« Er lehnte sich in die Tiefen des Sofas zurück.

»Dann sind wir fertig.« Abrupt erhob sich Klaus und steuerte auf die Tür zu. Auf ihn wartete eine Chartermaschine, die ihn nach Monte Carlo fliegen sollte.

»Warten Sie«, sagte Marcel. »Ich habe noch einen Job für Sie.« Klaus hielt inne, drehte sich dann um, nicht ahnend, dass Jean mit seinem Schneider zufrieden war.

Marcel warf eine Aktenmappe auf den Tisch. Klaus überlegte kurz, ging dann zum Tisch und nahm die Mappe, was Marcel zu einem selbstzufriedenen Lächeln veranlasste.

Die Mappe enthielt detaillierte biografische Informationen und die Fotografie eines sonnengebräunten, silberhaarigen Mannes in den Fünfzigern.

»Hans Huweiler«, erklärte Marcel. »Ihm gehören die Amaron Laboratories. Seine liebevolle Familie möchte gerne, dass er ... ›in den Ruhestand geht‹, wodurch sie die Kontrolle über das Unternehmen und sein Vermögen von fünfhundert Millionen Dollar bekäme.«

Ohne einen weiteren Blick darauf warf Klaus die Mappe auf den Tisch zurück, wobei der Inhalt wie ein Kartenspiel auseinander fächerte.

»Ich passe«, meinte er brüsk.

»Monsieur«, konterte Marcel, während er die Papiere wieder in die Mappe stopfte, »das Honorar von zweihundertundfünfzigtausend Dollar würde weitgehend dazu beitragen, Ihre beträchtlichen Spielschulden zu begleichen.«

»Suchen Sie sich jemand anderen. Eine gierige Familie ist kein Grund zum Töten«, sagte Klaus und meinte es auch.

Jean spielte mit dem Gedanken, an dem losen Faden zu ziehen, den er an seinem Seidenhemd bemerkte, entschied sich dann aber dafür, zu warten, bis er eine Schere zur Hand hatte.

Klaus nahm seinen Koffer mit dem Bargeld und ging zur Tür. Noch einmal drehte er sich zu Marcel um und unterkühlte ihn mit einem eisigen Blick. »Und Sie, mein rundlicher Freund, werden viel länger leben, wenn Sie daran denken, dass meine Schulden Sie nichts angehen.«

Drehte sich um und ging.

Nach einer kurzen Pause schluckte Marcel trocken. »Na, das ist ja großartig. Jetzt haben wir nur noch zwei Wochen, jemand für diesen Job zu finden.«

Erregt nahm er die Mappe in die Hand. »Wie können diese Leute erwarten, dass wir so kurzfristig jemand auftreiben? Jean, ich sag dir, manchmal wünsche ich mir, ich hätte einfach etwas Geld geerbt, anstatt so hart dafür arbeiten zu müssen.« »Soll ich Chantalle anrufen?«, fragte Jean, wobei er sich schwelgerisch vorstellte, was sie zu einem Treffen tragen könnte.

Marcel ging zum Fenster hinüber. »Ja, ist wohl besser.«

Bob und Mary und ihre Tochter Katy wohnten in 2439, 30th Street, in der Astoria-Gegend von Queens. Ihr schmales einstöckiges Backsteinhaus hatte eine niedrige Veranda, die mit mehreren hastig aufgetragenen Schichten von dunkelgrüner Farbe überwältigt worden war.

Dieser Abschnitt der 30th Street, unweit vom Astoria Boulevard, befand sich in einem verblichenen, aber insgesamt sicheren Viertel in der Nähe der Endstation der RR-Linie, die auf erhöhten Gleisen über der 31st Street verlief. Es war ein ruhiges Viertel, das von anständigen Bürgern der unteren Mittelschicht bevölkert war, die arbeiten mussten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen – Leute, die erst nach einem Lotteriegewinn Hausbesitzer sein konnten.

Die Innenausstattung von 2439, 30th Street, war gemütlich und gab einem nie dieses grässliche Gefühl, dass man im nächsten Moment einem hochnäsigen Fotografen von Architectural Digest über den Weg laufen könnte. Im Wohnzimmer war eine Art unbeabsichtigter Minimalismus am Werk, wobei das Familienbild auf dem Kaminsims offenbar als Zentrum fungierte.

Das Foto zeigte Bob, die Arme um Mary und Katy gelegt, alle drei überglücklich lächelnd. Sie waren einen Hund und ein halbes Kind davon entfernt, die vorbildliche amerikanische Durchschnittsfamilie zu sein.

Hervorstechendes Merkmal der beengten Küche war ein müder, olivgrüner elektrischer Herd und ein dazu passender Kühlschrank, der sichtlich bebte, wenn der Kompressor eine Ruhepause brauchte.

Die restlichen Zimmer des Hauses waren gleichermaßen uninteressant, bis auf eines. Mit Marys Erlaubnis und Hilfe hatte Bob das untere Schlafzimmer zu seinem Arbeitszimmer umgebaut. Dieser Raum war dem Studium mehrerer Spezies wirbelloser Tiere gewidmet, die der Klasse Insecta angehörten – Bobs »Wanzsaal«, wie er ihn scherzhaft nannte, nachdem ihm eines Abends – vertieft in die Arbeit mit seinen Krabbeltierchen – aus heiterem Himmel ein kleiner verrückter Satz durch den Kopf geschossen war: Wenn Killerwanzen Tango tanzen ... Der wenige Platz war mit grauen Regaleinheiten voll gestellt, auf dem Trödel erworbenen Tischen, einem Arbeitstisch mit einem uralten PC und einem ramponierten Drehstuhl auf Rädern. Auf dem vorderen Rand des PC hockten mehrere Plastikinsekten – Weihnachtsgeschenke von Katy – neben einigen mumifizierten Insektenhülsen, die aus dem Garten stammten und die Bob als seine Maskottchen adoptiert hatte. Es waren eine Maulwurfsgrille (Gryllotalpa hexadactyla), ein Hain-Laufkäfer (Carabus nemoralis) und eine Gespenstheuschrecke (Diapheromera femorata). Sie hießen Jiminy, Ringo beziehungsweise Slim.

Der Raum enthielt auch Dutzende von Insektarien, jedes mit einer anderen Spezies von Kerbtieren bevölkert. Die Behälter waren mit feinem Maschendraht überspannt und mit besonderen blauvioletten Lampen ausgestattet, die den Raum in ein unheimliches, wissenschaftliches Licht tauchten, das die Viecher irgendwie zu beruhigen schien.

Neben den acht Spezies von Mordwanzen, die Bestandteil von Bobs Experiment waren, beherbergte das ehemalige Schlafzimmer auch noch andere Insekten, die er über die Jahre gesammelt hatte.

In das einzige Fenster war ein großer weißer, wie eine Belüftungsanlage aussehender Kasten geklemmt, dessen geschlossene Hälfte in den Raum hineinragte und dessen andere der Außenwelt offen stand. Der Kasten gab ein elektrisches Summen von sich, das von den abelhas assassinas erzeugt wurde, wie die Portugiesen sie nannten. Die amerikanischen Medien bezeichneten sie lieber als »Killerbienen«.

Bob hatte sie im College für ein Experiment mit Honigherstellung erworben und sie wegen des Honigs behalten, nachdem er ein B+ für sein Projekt bekommen hatte. Es waren im Allgemeinen friedliche, fleißige Tiere, die einen nicht belästigten, wenn man sie nicht belästigte.

Wann immer Bob den Honig einsammelte (was die Bienen als Belästigung empfanden), benutzte er seinen selbst gemachten Smoker – ein Gerät, mit dem man den Rauch von verbranntem Sackleinen verteilt, um das Bienenvolk zu beruhigen. Stets wirtschaftlich denkend, hatte er seinen eigenen Smoker konstruiert, anstatt einen zu kaufen. Das aus ein paar Stahlabfällen zusammengebaute Gerät sah zwar aus wie der misslungene Prototyp einer extraterrestrischen Waffe, aber es funktionierte.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, so weit wie möglich von Bobs Honigquelle entfernt, waren die Bienenmörder (Apiomerus crassipes) untergebracht. Bob hielt sie deswegen so auf Distanz, weil er vermeiden wollte, dass sich die Insekten gegenseitig provozierten.

Die Bienenmörder, ein wichtiger Teil von Bobs Experiment, sind wieselflinke und schlaue Killer, die sich von jedem Insekt ernähren, das arglos genug ist, sich in ihre Reichweite zu wagen. Rubinrot mit hübschen schwarzen Zeichnungen, wartet der Bienenmörder geduldig, bis sich ein Opfer nähert. Dann stürzt er sich mit alarmierender Schnelligkeit auf seine Beute, stößt seinen spitzen Rüssel in den Rücken des Opfers und spritzt ihm eine lähmende Speichelflüssigkeit ein. Während die Einzel- und Netzaugen mit kaltem Blick ins Leere starren, saugt der Bienenmörder schließlich seinem Opfer langsam die Körpersäfte aus und lässt nur noch einen vertrockneten Kadaver zurück.

Bob hoffte, die Bienenmörder und ihre Schnelligkeit mit einem seiner Schaben tötenden Hybriden kreuzen zu können.

Neben ihnen wohnten die Gezackten Raubwanzen (Phymata erosa), wilde, mordwütige Insekten, die andere Käfer abschlachteten, selbst wenn sie sie nicht fressen wollten. Es machte ihnen einfach Spaß zu töten.

Die Gezackte Raubwanze, blassgrüngelb mit kolbenförmigen Fühlern, wird so genannt wegen den gezackten Stacheln, die die Seiten ihres Prothorax säumen. Ihre muskelbepackten Vorderbeine sind ideal dafür ausgestattet, die Beute zu packen und beim Fressen festzuhalten. Diese Mordwanze würde ein Silberfischchen buchstäblich in Stücke reißen, nur um sich zu amüsieren. Ihre orangeroten Augen haben große, schwarze, pupillenähnliche Flecken und rotieren widerlich wie die eines Chamäleons, was ein beunruhigendes, mörderisches Starren ergibt.

Kürzlich hatte Bob mit seinem Plan Fortschritte erzielt, die verschiedenen Mordwanzen zu kreuzen, um einen hoch frisierten Hybriden zu bekommen. Aber diese Fortschritte waren nicht ohne Mühe errungen worden. Zuerst hatte Bob gehofft, die verschiedenen Arten würden sich so leicht kreuzen lassen wie Hunderassen. Natürlich stellte es sich als schwieriger heraus.

Bei seinen ersten Kreuzungsversuchen hatte er einfach Männchen und Weibchen verschiedener Arten zusammen in ein Insektarium getan. Er schaffte es aber nicht ganz, bestimmte Arten dazu zu überreden, miteinander zu kopulieren, und so hatte er einmal aus Frust einen mit Aprikosenwein gefüllten Glasdeckel in das Insektarium gestellt und das Licht gedämpft. Das verhalf ihm zwar zu einigen interessanten Beobachtungen über alkoholbedingte Verhaltensstörungen bei Insekten, löste jedoch nicht sein Problem.

Schließlich ließ sich Bob von einem seiner früheren College-Professoren helfen, der ihm zeigte, wie man die Eier kreuzweise befruchtet, um die gewünschten hybriden Lebensformen zu erzeugen. Die relative Unkompliziertheit des Züchtungsverfahrens war auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Insekten genetisch nah genug miteinander verwandt waren für eine direkte Kreuzung.

Drei der Insektarien waren für Käfer, Termiten und Kakerlaken reserviert – schmackhafte Leckerbissen für Bobs räuberische Insekten, und eines bevölkerte Bob mit gewöhnlichen Heimchen (Acheta domestica), weil es wenige Dinge in seinem Leben gab, die Bob mehr genoss als die Laute, die die Grillen mit ihren Zirpapparaten erzeugten. Der Klang erinnerte ihn an die Zeltausflüge mit seinem Dad.

Bobs Vater war jeden Sommer mit ihm zum Big Moose Lake in den Adirondacks gefahren. Tagsüber machten sie lange Wanderungen und angelten stundenlang, und nachts saßen sie am Campfeuer, brieten sich Würstchen und Marshmallows, und die Hitze der orangeroten und blauen Flammen machte Bobs Augen ganz träge, sodass er hypnotisiert ins Feuer starrte, bis sein Vater plötzlich »Glühwürmchen« rief und Bob aus seinen Träumereien aufschreckte und aufsprang, um dem blinkenden geflügelten Licht durch die Dunkelheit hinterherzujagen.

Bob erinnerte sich gerne an diese Ausflüge, und sie waren einer der Gründe, warum es ihn aus New York wegzog. Er wollte an einem Ort leben, wo das Leuchten der Sterne nicht in künstlichem Licht ertränkt wurde, wo man angeln und Glühwürmchen jagen konnte.

Aber vorläufig blieb es bei ein paar Grillen, um sich dieses Ziel lautstark in Erinnerung zu behalten.

Manchmal, wenn Bob sich spätabends in irgendeinen Aspekt der Insektengenetik vertiefte, war er wie verzaubert von den Lauten, die die Käfer im Konzert veranstalteten.

Aus Gründen, die sich Bob nie erklären konnte, wurde es im Wanzsaal plötzlich still. Dann setzte eine Art leises weißes Rauschen ein – der Gesamtton, der durch das Wedeln von Kiefertastern und Rüsseln erzeugt wurde, dazu das Gekratze der Kakerlaken, das dadurch entstand, dass ihre steifen, borstenähnlichen Sporen an den Beinen leicht gegen das Metall schabten, wenn sie über die feinen Maschendrahtabdeckungen ihrer Käfige huschten.

Das Geklacke schmatzender Mandibeln steuerte ein lebhaftes Perkussionselement bei, während das Geschlürfe und Gesauge von Lippentastern die rauen dissonanten Kanten glättete.

Dann stimmten die Bienen von ihrem weißen Kasten aus ein, und das Summen ihrer Flügel vibrierte wie die Celli von der Streicherabteilung dieser Insektensinfonie. Das Ganze wurde schließlich von dem beruhigenden Klang des Grillengezirps unterlegt.

Neben den Geräuschen hatte der Raum aber auch einen ganz eigenen Geruch.

Einzeln schienen die Mordwanzen nicht zu riechen, doch zu mehreren (und womöglich befürchtend, dass sie Bestandteil irgendeines grausigen Experiments waren) gaben sie ein Aroma von sich, das süßlich, aber nicht unangenehm war.

Der leichte Duft des Bienenstocks kam von den Pheromonen, die sie absonderten, um untereinander bestimmte Verhaltensweisen auszulösen.

Die Kakerlaken und Termiten waren eine andere Sache. Ihr penetranter Geruch wurde erheblich verstärkt, wenn so große Zahlen in beengtem Raum zusammenlebten. Zum Glück wurde ihr Gestank durch andere Gerüche im Raum abgemildert. Die verschiedenen Insektendüfte vermischten sich mit dem sachten Muffen der alten Bücher auf den Regalen.

Die grauen Stahl-Regalelemente beherbergten eine eindrucksvolle Bibliothek von Nachschlagewerken über Bobs Kerbtierfreunde, einschließlich einiger Klassiker wie Das ABC allgemeiner Insektenanatomie; Sexuallockstoffe und Fortpflanzungspraktiken der Hymenoptera; und Diptera – Eigene Ordnung oder Unterklasse?

Mehrere Regale waren Werken über die chemischen Stoffe vorbehalten, die zur Insektenvernichtung und -bekämpfung eingesetzt wurden, darunter die Standardwerke Tod aus der Dose – Eine Geschichte der chlorierten Kohlenwasserstoffe; DDT – Kürzel für die Katastrophe; und Meditationen über Pyrethrin.

Aber die Werke, die für Bob von größtem Interesse waren – die Werke, die als Blaupause für seinen Traum dienen sollten –, waren solche wie Biologische Bekämpfungsmittel und Wirkungsvoller Einsatz von räuberischen Insekten. Diese und ähnliche Bücher predigten, dass es natürliche, nicht toxische Mittel gab, mit den Insekten, die die Menschheit zahlenmäßig derart in den Schatten stellten, fertig zu werden.

Das, so sagte Bob sein Instinkt, war seine Bestimmung: die Welt der Schädlinge auf natürliche Weise zu bekämpfen. Und das einzige Hindernis, das Bob jetzt noch davon abhielt, seiner Bestimmung zu folgen, war eine überarbeitete Kellnerin mit einem ungenutzten Diplom in Betriebswirtschaft.

»Es tut mir leid, Marcel«, sagte sie, »aber ich bin bis zum Ende des Jahres ausgebucht. Nächste Woche muss ich geschäftlich nach Haiti. Danach geht’s nach Ruanda, und dann muss ich einen Beraterauftrag in Mogadischu wahrnehmen.«

Die Frau war so schön, dass es hieß, sie könne mit ihrem Aussehen töten, aber gewöhnlich benutzte sie ein spezialangefertigtes Scharfschützengewehr und teflonbeschichtete Explosivgeschosse. Sie hieß Chantalle und befand sich gerade in Marcels Büro, wie schon so oft, um potenzielle Einsatzmöglichkeiten zu besprechen.

»Ich verstehe«, sagte Marcel mit einer Andeutung von Enttäuschung. »Es ist ein Last-Minute-Auftrag. Ich weiß wirklich nicht, wie diese Leute erwarten können, dass ich so kurzfristig arbeite.« Er seufzte. »Ich hab schon Reginald probiert, aber er ist in Singapur und steht erst nächsten Monat wieder zur Verfügung, und meine Klienten wollen, dass diese Angelegenheit vorher erledigt wird.«

Jean saß auf dem Sofa neben Chantalle, schenkte dem Gespräch aber keine besondere Aufmerksamkeit. Er steckte mit den Gedanken irgendwo in Chantalles kuschelweichem Angorapulli.

»Und Ch’ing?«, fragte sie.

»Hat bis zum Monatsende seine Kinder bei sich, und er will sie für einen Auftrag von dieser Größenordnung einfach nicht allein lassen. Wer hätte geahnt, dass er seine Kinder so abgöttisch lieben würde?«

»Und ich nehme an, unser Freund Klaus ist zu skrupelhaft, um sich mit Monsieur Huweiler zu beschäftigen?« Chantalle spuckte die Frage voller Verachtung aus.

»Ohhhh, aber natürlich. Eine gierige Familie sei kein Grund zum Töten, sagt er. Also wirklich! Was spielt das denn schon für eine Rolle?«

Chantalle schüttelte den Kopf, peinlich berührt von Klaus’ Berufsethik.

»Nun«, sagte Marcel keuchend, als er sich erhob, um Chantalle zur Tür zu bringen, »ich möchte Ihre Zeit nicht noch länger beanspruchen. Das hier ist mein Problem, und ich werde irgendwie damit fertig werden müssen.«

»Nun, viel Glück, mon ami. Kommen Sie doch wieder mal auf mich zurück.« Sie küsste Marcel auf die Wangen und verschwand mit einem »Ciao!«.

»Was ist mit diesem neuen Amerikaner, dem Cowboy?«, fragte Jean vom Sofa aus. Er stellte sich einen rauen, sonnengegerbten Grobian vor, in verblichenen Jeans und handvernähten, ölgegerbten Stiefeln aus Rindboxleder mit leichter Karreespitze. »Nein. Nach dem, was ich über ihn höre, fehlt ihm die Raffinesse, die wir hier benötigen. Und ich wäre dir dankbar, wenn du den Nigerianer gar nicht erst erwähnst. Zwei Meter groß und schwarz wie Kohle, würde er in der Schweiz wohl etwas auffallen. Nein, ich befürchte, wir werden einige Angebote einholen müssen.« Sein Tonfall verriet tiefe Abneigung gegen Werbung jeglicher Art.

»Ich weiß wirklich nicht, wieso du so entsetzt tust«, meinte Jean. »Das letzte Mal hat es doch hervorragend funktioniert.« Er ging zu einem großen Aktenschrank hinüber.

»Es gefällt mir deswegen nicht«, sagte Marcel verärgert, »weil es eigentlich so gedacht ist, dass die Leute zu mir kommen, weil ich über so hervorragende Kontakte verfüge, nicht weil ich nicht weiß, wie man Stellenanzeigen benutzt.«

»Aber es funktioniert trotzdem«, entgegnete Jean und zog eine Schublade heraus, die mit Akten voll gestopft war. »Wo soll ich sie reinsetzen? In die Daily Mail? Wir könnten nach London gehen und ...«

»Nein«, unterbrach Marcel, »die New York Times ist viel preiswerter pro Tausend, vor allem die Sonntagsausgabe.«

Jean fand die Mappe mit den Anzeigen. »Und welche wollen wir verwenden? ›Suche erfahrenen Sterbebegleiter‹?«

»Nein. Man darf nie dieselbe zweimal hintereinander benutzen.« Marcel watschelte zu Jean hinüber.

»Na gut«, sagte Jean und blätterte weiter. »Wie wär’s mit der ›Suche Totengräber‹?«

»Die mag ich nicht«, erschauerte Marcel. »Die ist mir zu makaber. «

»Bestattungsunternehmer?«

»Nein.«

»Trauerberater?«

»Nein, die gefallen mir alle nicht.« Marcel sah aus, als könnte er gleich anfangen zu schmollen. »Ich fürchte, wir werden eine neue schreiben müssen.«

Einen Augenblick standen sie schweigend da und überlegten. Jeans Gedanken wanderten zu einem Sakko, einreihig, modisch etwas höher geknöpft, aus solider Schurwolle, den er an diesem Morgen in einem Katalog gesehen hatte.

Plötzlich kam sich Marcel, die Stirn gerunzelt, ganz schlau vor. Er wandte sich zu Jean und verkündete selbstgefällig: »Ich hab’s!«

Bobs Selbstsicherheit nahm dramatisch ab, als er an diesem Nachmittag das Haus betrat, und so steuerte er erst seinen Wanzsaal an, um sich dort etwas Inspiration zu holen.

An einem Nagel auf der Innenseite der Tür hing Bobs spezialangefertigte Baseballmütze, ein Geschenk von Mary zu seinem letzten Geburtstag. Der größte Teil der Mütze war tintenschwarz, nur der Knopf auf der Spitze und der kurze, abgerundete Schirm waren dunkelrot. Aber das Wesentliche war das, was über die Vorderseite in fetten, dunkelroten Buchstaben gestickt war: Terminator. Dieses Wort und die bedrohliche schwarz-rote Farbgebung verliehen Bob ein Gefühl von Macht, und so drückte er sich die Mütze auf den Kopf, während er zu seinem Schreibtisch eilte.

Er nahm seine Lupe und ging zu dem Insektarium mit der Blutsaugenden Kegelnase (Triatoma sanguisuga) hinüber, manchmal auch Mexikanische Bettwanze genannt. Eingehend betrachtete er eine der Wanzen, die neben der Glaswand hockte.

Die Blutsaugende Kegelnase hatte eine Figur wie ein Miniaturtennisschläger, mit Augen, Beinen und winzigen Antennen an der Spitze eines sich verjüngenden Griffs. Ihr rechteckiger Hinterleib war braun und mit orangeroten Streifen versehen, die bis zu den Seiten verliefen. Der Thorax war stämmig und besaß einen leichten Kamm, der die Seiten horizontal überspannte. Der schmale Kopf endete in einem bedrohlichen, sich verjüngenden Rüssel, anders als der typische gebogene Rüssel, der bei den anderen Mitgliedern der Reduviidae-Familie anzutreffen war. Es war ein elegantes Tötungswerkzeug, erbarmungslos und endgültig in seiner Anwendung.

Bob legte die Lupe auf den Tisch und bereitete sich darauf vor, seiner Mary gegenüberzutreten. Er nahm an, dass Mary gerade dabei wäre, sich für einen weiteren Abend im Coffee Shop fertig zu machen. Das würde kein leichtes Verkaufsgespräch werden.

Er betrat das Schlafzimmer und verkündete mit einer großartigen Geste: »Schatz, ich hab eine tolle Neuigkeit!«

»Ahhh!«, schrie Mary. Sie hatte Bob nicht so früh zurückerwartet, sodass sein plötzliches Erscheinen und seine begeisterte Verkündung sie veranlassten, auf das Bett zu fallen, während sie sich abstrampelte, in eine Strumpfhose hineinzukommen, die eine unanständige Laufmasche am Oberschenkel hatte.

Bob sprang aufs Bett und begann Marys Nacken zu küssen.

»Was machst du hier? Ich dachte, du bist in Brooklyn.«

»Wie gesagt, ich habe super Neuigkeiten!«

»Hast du eine Gehaltserhöhung bekommen?«, fragte Mary zwischen den Küssen.

»Besser«, sagte Bob.

»Hat man dich etwa zum Supervisor ernannt?«

»Besser«, erwiderte er.

»Nun sag’s schon ...« Mary war nicht in der Stimmung für Ratespiele, aber Bobs spielerisches Wesen brachte sie immer zum Lächeln.

»Ich bin gefeuert worden!«

Ihr Lächeln verschwand. Sie schob Bob auf den Boden. Das war nicht gerade das, woran sie gedacht hatte, als Bob verkündete, er hätte eine tolle Neuigkeit.

»Du bist was?!«, fragte sie.

»Na ja, genau genommen habe ich gekündigt, aber eine Sekunde später hat Rick mich gefeuert, es kommt also drauf an, wie man es betrachtet. Ich hab so meine Zweifel, ob ich Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, weil ich ihm meinen Sprühstab in die Nase gestoßen habe, aber er hat mich provoziert. Er hat mir die übliche Scheiße erzählt, weißt du, dass ich wieder mein Parathion verdreifachen soll. Und so hab ich ...« »Bob, auch wenn er dir gesagt hätte, du sollst die verdammten Viecher essen! Du weißt genau, dass wir uns das nicht leisten können!«

Die untypische Verwendung von lasterhaftem Wortschatz betonte Marys Aufregung, fand Bob.

»Na komm, sei nicht so negativ. Das ist toll! Wenn du mal drüber nachdenkst. Es könnte auch nicht besser sein, wenn wir es geplant hätten. Das Timing ist ideal«, sagte Bob, wobei er der Wahrheit mehr als nur einen kleinen Drall gab.

»Bob, nein, das können wir nicht machen«, stellte sich Mary stur. »Wir können uns das im Moment absolut nicht leisten, also fang gar nicht erst an.«

Die finanzielle Situation der Dillons ähnelte der vieler amerikanischer Familien. Selbst als Mary bei der Sparkasse gearbeitet hatte und Bob ganztags bei Käfer-EX, erlaubte ihr gemeinsames Einkommen ihnen nur, das Allernötigste zu bezahlen und so viel zu sparen, dass sie die nächste größere Autoreparatur bezahlen konnten oder den gelegentlichen Wochenendausflug an die Küste von New Jersey.

Auf dem Höhepunkt hatten ihre Ersparnisse ganze tausendsechshundertneunundachtzig Dollar erreicht, aber dann musste Katy sich einer kleinen Operation unterziehen. Da das Programm mit den abzugsfähigen zweitausend Dollar der einzige Weg war, sich vollständige medizinische Betreuung zu leisten, und da der Kongress beschlossen hatte, dass es wirklich keine Krise des Gesundheitssystems gab, mit der man fertig werden musste, waren die Dillon-Ersparnisse schon längst aufgebraucht. Und nachdem Mary so weit abgestiegen war, dass sie nur noch Trinkgeld verdiente, und Bobs Gehaltsschecks bestenfalls mager waren, hatten sich die unbezahlten Rechnungen schnell angesammelt. Tatsächlich trennten sie nur noch wenige Monate von dem Zustand, obdachlos zu werden oder Freunde und Verwandte um Bargeld anpumpen zu müssen.

»Na komm, Schatz, denk mal drüber nach«, drängte Bob, »jeder macht sich Sorgen um die Umwelt, stimmt’s? Und niemand mag Kakerlaken und Termiten. Addier diese Tatsachen zusammen, und was erscheint sofort vor deinem geistigen Auge?«

»Visionen von Bankrott«, sagte Mary.

»Nein, Dummerchen, Bobs Vollbiologische Schädlingsvernichtung!«

»O nein, nicht schon wieder.«

»Ich sag dir, Liebes, es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, um damit anzufangen.«

»Womit?!«, wollte Mary wissen. »Hast du in letzter Zeit mal unseren Kontoauszug gesehen? Ohne Geld kannst du kein Geschäft gründen, so einfach ist das. Und wenn du dich mal gut umsiehst, Mr. Risikokapital, wirst du bemerken, dass wir nicht nur kein richtiges Geld haben, sondern nicht einmal etwas, das wir verkaufen könnten, um welches zu kriegen.«

Zur Veranschaulichung ihres Arguments nahm Mary ein Stück Goldschmuck von ihrem Frisiertisch und hielt es Bob unter die Nase.

»Tatsächlich ist der Anhänger deiner Großmutter der einzige Wertgegenstand, den wir noch haben, und du wirst ihn aus meinen toten Fingern herausbrechen müssen, bevor du ihn verkaufst, um dieses Projekt von dir zu finanzieren! Wenn ich hier auch nur noch ein einziges Wörtchen mitzureden habe, dann wird Katy dies eines Tages ihrer Tochter geben und –«

Bob unterbrach sie, seinen Optimismus wie einen stumpfen Gegenstand schwingend. »Schatz, versuch es doch mal so zu sehen: Wenn ich nichts unternehme, dass Leute dreifache Dosen von Parathion versprühen, dann wird Katys Gebärmutter wie eine Pflaume einschrumpfen, sodass sie gar keine Tochter bekommen kann.«

Na gut, dachte Mary, da hat Bob Recht. Aber trotzdem.

»Pratt war heute schon zweimal hier, um die restliche Miete zu kassieren«, sagte Mary in einem Versuch, den Traumexpress zum Entgleisen zu bringen. »Was werden wir dagegen unternehmen?«

Sie stieg in ihre billige und fleckige Polyester-Kellnerin-Uniform und drehte sich um, damit Bob ihr den Reißverschluss zumachen konnte.

»Weißt du, dass du hier hinten etwas hast, das wie Ketchup aussieht?«, fragte Bob.

»Lenk nicht ab«, erwiderte Mary. »Es ist Erdbeersirup.«

»Wie viel schulden wir Pratt?«

»Dreihundertzwanzig Dollar.« Sie drehte sich um und steckte Bob einen Finger ins Gesicht. »Ich will nicht, dass das hier meine Kreditwürdigkeit versaut. Wir müssen die Miete bezahlen!«

Er küsste Marys Fingerspitze. »Du machst dir immer so viel Sorgen«, sagte er. »Ich werd mir irgendwas einfallen lassen, oder wer weiß, vielleicht kriegst du heute Abend ein paar großzügige Trinkgelder. Außerdem juckt es uns überhaupt nicht, wenn wir gerade ein bisschen knapp mit dem Betriebskapital sind.«

»Und wie kommt das, Mr. Rockefeller?«, fragte Mary mit ungezügeltem Zynismus.

»Weil«, erwiderte Bob weise, »einer der Vorteile eines vollbiologischen Schädlingsvernichtungsunternehmens niedrige Startkosten sind.«

Bei dem Gedanken an überhaupt irgendwas Niedriges beruhigte sich Mary, und wie immer gefiel ihr Bobs Entschlossenheit, seinen Traum zu verwirklichen.

»Wie lange?«, fragte sie, schon nachgebend.

»Schwer zu sagen. Ich brauch noch ein paar hundert Radwanzen für das Kreuzen, und dann, wenn ich einen bereitwilligen Hauseigentümer finde, der ein paar verseuchte Gebäude hat, und ... Oh! Da fällt mir ein, ein Freund eines Freundes hat Sy Silverstein von meiner Idee erzählt.«

»Sy ›Mir-gehört-die-halbe-Stadt‹ Silverstein? Der Bauunternehmer? Der Sy Silverstein?« Mary war beeindruckt.

»Genau der«, sagte Bob. »Er hockt auf einer Menge Ruinen, ich versuche also, einen Termin bei ihm zu bekommen. Wenn er mich ein paar von seinen Gebäuden benutzen lässt, dann brauche ich nur ein paar Wochen, um die verschiedenen Kreuzungen zu testen, und dann sind wir im Geschäft.«

»Vorausgesetzt, die Viecher funktionieren«, sagte Mary.

»Ja, das stimmt natürlich«, gab Bob zu. »Aber das ist ja gerade das, was diese ganze Sache so aufregend macht, findest du nicht?«

»Ich find es erst aufregend, wenn du deinen ersten Scheck einlöst.«

Inzwischen war sie für einen weiteren Abend an der Fütter-und-Fress-Front bereit. Sie grapschte sich ihre Handtasche und ging nach unten. Bob folgte ihr, in der Hoffnung, die Sache unter Dach und Fach zu bringen.

Sie kamen in die Küche, wo Katy, ihre zehnjährige Tochter, am Tisch saß. Ihre Aufmerksamkeit sprang zwischen einer Schale Cornflakes, einer Wrestling-Zeitschrift und einem alten Fernseher hin und her, wo gerade MTV lief.

Katys Spitzname war »Doodlebug«, der landläufige Name für die Larve des räuberischen Ameisenlöwen (Hesperoleon abdominalis).

In ihrem »Doodlebug«-Stadium haben Ameisenlöwen einen ovalen, plumpen Abdomen und einen übergroßen Kopf mit langen dornigen Kiefern, kurzen Beinen und Borsten am ganzen Körper. Aber während der plumpe Abdomen und die übergroße Kopfpartie eine treffende Beschreibung für Katys eigenes Larvenstadium waren, hatte Katy den Spitznamen eigentlich deswegen bekommen, weil sie, als sie klein war, ebenso gefräßig war wie ein Ameisenlöwe.

Jetzt war Katy endlich in ihren Kopf hineingewachsen. Ihr einstmals plumpes und ovales Abdomen verteilte sich nun über eine Gestalt, die groß für ihr Alter war.

Katy war eine ideale Kandidatin für jene Untersuchungen, die gerne eine Kausalbeziehung zwischen im Fernsehen gezeigter Gewalt und der Gewalt von Fernsehzuschauern gegenüber ihren Mitmenschen nachweisen möchten.

In New York aufgewachsen, hatte sie von den zahllosen Gräueltaten gehört, gelesen oder sie sogar selbst erlebt, die die Bürger dieser Stadt aneinander verübten. Und seit sie Kabel und CNN hatten, konnte sie sich überzeugen, dass auf der ganzen Welt ein ähnliches Verhalten an der Tagesordnung war.

Katy war dankbar für die neuen Warnsymbole der Fernsehsender. Das erleichterte ihr die Arbeit, diejenigen Fernsehprogramme zu finden, die sie nicht sehen sollte.

Wenn die Vordenker solcher Organisationen wie »Amerikaner für verantwortungsvolles Fernsehen« mit ihren Theorien richtig lägen, hätte Katy als Folge der ungeheuerlichen Gewalt, die sie über die Medien miterlebt hatte, schon längst ihre beiden Eltern, mehrere Nachbarn und einige Haustiere aus der Nachbarschaft umgebracht haben müssen. Tatsächlich war aber das Gewalttätigste, in das Katy jemals direkt verwickelt gewesen war, eine Tracht Prügel, die sie bezogen hatte, als sie die Nacht mit Ann verbrachte, einer molligen Freundin von ihrer Pfadfinderinnentruppe.

Anns Mutter Lillian war selbst nach Maßstäben der politischen Korrektheit ein überängstlicher Bottich Schmalz, der oft bei Elternabenden gesichtet wurde, wo sie einen verblichenen geblümten Rock trug und versuchte, den Fänger im Roggen aus der Schulbibliothek entfernen zu lassen.

Am fraglichen Abend lieh Lillian zwei ihrer Lieblingsfilme aus, die sich die Mädchen ansehen konnten: Im Zirkus der drei Manegen, ein typisch dröges Schlockfest mit Zsa Zsa Gabor in der Hauptrolle, und Polly of the Circus, ein schlechtes Vehikel für Marion Davies als libidinöse Trapezkünstlerin und mit Clark Gable als dem Priester, dem sie hinterherlibidinierte.

Lillian teilte rote Schaumstoff-Clownnasen und Tüten mit Erdnüssen an die Mädchen aus, und dann ließen sie sich zu ihrem Zirkus-Doppelschlag nieder. Während Lillian über den ganzen grässlichen Klamauk des Ersteren wieherte und bei der entsetzlichen Melodramatik des Letzteren dahinschmolz, steckten sich Katy und Ann die Zeigefinger in den Mund, die internationale Geste für »Ich kann gar nicht so viel in mich stopfen, wie ich kotzen möchte«.

Nachdem Lillian den Raum verlassen hatte, um sich ihre fünfte Tüte Erdnüsse zu holen, überredete Katy ihre Freundin, trotz des mütterlichen Verbots auf »Cops« umzuschalten.

Als Lillian wiederkam, drohte ihr Zartgefühl bleibenden Schaden zu nehmen, da sie Zeugin der Festnahme eines Mannes werden musste, dem vorsätzliche Körperverletzung zur Last gelegt wurde. Das Letzte, was der Beschuldigte sagte, bevor Lillian zu der libidinösen Trapezkünstlerin zurückschaltete, war: »Wenn einer meine Schwester verprügeln will, dann muss er sie zuerst heiraten.«

Sowohl Katy als auch Ann bekamen eine Tracht Prügel und wurden sofort ins Bett geschickt. Einzig und allein Katy erkannte die Paradoxie, die in dieser erzieherischen Maßnahme lag.

Jedenfalls, wenn man den Fachleuten zum Thema Gewalt im Fernsehen glauben wollte, dann war Katy eine Zeitbombe, die darauf wartete zu explodieren, aber im Moment schlürfte sie ganz harmlos einen weiteren Löffel Cornflakes auf und lauschte der lebhaften Unterhaltung ihrer Eltern.

Mary, die sich hektisch für die Arbeit fertig machte, hatte noch ein paar Fragen, bevor sie bereit war, Bob zu geben, was er haben wollte.

»Was meinst du, wie lange du brauchen wirst?«

»Sechs Monate?«, bot Bob.

»Ich geb dir zwei«, lautete Marys Gegenangebot.

Bob hatte das Gefühl, dass er durchkam »Na gut. Die Kreuzungen sind fast fertig, und ich habe bei diesem Geschäft mit Mr. Silverstein ein gutes Gefühl. Ich brauche nur einen Auftrag, Mundpropaganda besorgt den Rest.«

»Okay, zwei Monate, aber es muss Teilzeit sein. In der Zwischenzeit musst du ein bisschen Geld ranschaffen, sonst ist d. K. a. d.«

Katy sah zu ihrem Vater, um seine Interpretation der kryptischen Abkürzung zu erfahren.

»Frei übersetzt heißt das, äh, sonst ist ›das Konto arg danieder«‹, log er.

»Abgemacht?« Mary brauchte sein Versprechen.

Bob hob die Hand. »Bewerbungstexte gehen morgen raus.«

»Und wenn du ein Jobangebot bekommst?«, fragte Mary.

»Ich nehme jeden Job, der mir angeboten wird. Ich geb dir mein Wort.«

»Also gut. Zwei Monate. Mehr nicht. Aber Bob, hör zu.« An der Kürze ihrer Sätze wusste Bob, dass Mary es ernst meinte. »Du hast ein Diplom in Entomologie. Nutze es. Sieh zu, ob du eine Dozentenstelle finden kannst, irgendwas mit einem regelmäßigen Einkommen. Katy und ich haben es satt, von der Hand in den Mund zu leben.«

»Tatsächlich?«, fragte Katy.

Begeistert umarmte Bob seine Frau.

»Du wirst es nicht bereuen.« Bob konnte riechen, dass sein Traum vor der Verwirklichung stand. »Ich liebe dich.«

»Das möchte ich dir auch raten«, sagte Mary, als sie Bob tief in die Augen sah.

Das arme, aber glückliche Paar küsste sich. Als sie sich aus ihrer Umarmung lösten, schnappte Mary ihre Handtasche und steuerte auf die Tür zu.

»Ich komm heute Abend später«, sagte sie. »Ich werde versuchen, eine Doppelschicht zu bekommen.«

Sie küsste Katy, und in einer einzigen routinierten Bewegung warf sie die Wrestling-Zeitschrift in den Mülleimer, schaltete den Fernseher zu »Sesamstraße« um und verschwand durch die Hintertür.

»Was ist los, Dad?«, fragte Katy, während sie sich einen weiteren Löffel Cornflakes in den Mund schaufelte.

»Wir gründen unseren eigenen Betrieb.«

»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte Katy.

»Na ja, viel kann ich nicht bezahlen.«

»Das ist schon in Ordnung, ich werd auch nicht viel arbeiten.« Bob lächelte und stülpte Katy seine Terminator-Mütze auf den Kopf.

Er legte den Arm um Katy. »Weißt du, Doodlebug, ich hab diesen Traum schon lange. Und wenn du und deine Mama mithelfen, bin ich mir einfach sicher, dass wir ihn verwirklichen werden.«

Katy sah ihren Dad an, während Milch ihr Kinn herunterwanderte. »Das will ich hoffen«, sagte sie, »sonst ist ›die Kacke am Dampfen‹, ha?«

Während Bob erwog, welche Disziplinarmaßnahmen ihm zur Verfügung standen, klingelte es an der Haustür.

Als Bob hinging, schaltete Katy wieder zu MTV um.

Angesichts dessen, was Mary ihm erzählt hatte, hatte Bob eine ziemlich genaue Vorstellung, wer um diese Tageszeit an der Haustür klingeln könnte. Er spähte durch das Guckloch und sah den grotesk konvexen Kopf von Dick Pratt. Er war ein untersetzter kleiner Unmensch, der eine Veranlagung zur Bösartigkeit hatte und an Haarausfall in fortgeschrittenem Stadium litt. Bezeichnend für das Niveau seines Einfallsreichtums war die, wie Pratt meinte, innovative Lösung, die er für letzteres Problem ersonnen hatte. Auf der rechten Schädelseite hatte er eine Matte außergewöhnlich langer, dicker Haare kultiviert, die er mit Pomade geglättet und sich dann ganz über den Schädel geklappt hatte. Das Gesamtergebnis sah so aus, als würde er niemandem etwas vormachen außer sich selbst. Durch die Fischaugenlinse des Gucklochs konnte Bob außerdem eine glimmende Parodi sehen, die aus Pratts konvexem Gesicht herausragte.

Bob holte noch ein letztes Mal saubere Luft, bevor er die Tür aufmachte und auf den Treppenabsatz trat.

»Hi, Dick«, meinte er. »Wie geht’s so?«

Pratt saugte an seiner Zigarre und sagte nichts.

»Hören Sie«, fuhr Bob fort, »ich wollte eigentlich demnächst bei Ihnen –«

»Hey, Mr. gottverdammter Tambourine Man«, kreischte Pratt. »Spiel ein Lied für mich – irgendwas zu einer Melodie von dreihundert’ n’ zwanzig Möpse!«

Etwas Spucke landete auf Bob, als Pratt »Möpse!«, sagte.

Bob schloss die Tür hinter sich. »Hören Sie, Dick –«

»Yo! Sie sind überfällig, Sie Wichser!«, sagte Pratt in seinem kantigen Bronx-Akzent. »Und jetzt sag ich Ihnen mal, was passiert, wenn Sie nicht ganz schnell etwas Kohle rüberschieben.« Während Pratt mit seiner beleidigenden Tirade fortfuhr, bemerkte Bob einen Lieferwagen des Elektrizitätswerks, der vor dem Haus vorfuhr.

Eine kompetent aussehende Frau mit langen braunen Haaren, die unter ihrem Helm hervorquollen, stieg aus und sah auf ihr Klemmbrett, um sich zu vergewissern, dass dies auch die richtige Adresse war. Sie kam den Gehweg hinauf, wo Pratt immer noch stand und Bob beschimpfte.

»Hey, yo, Wichser!«, brüllte Pratt, ohne die Frau zu bemerken, die jetzt direkt hinter ihm stand. »Hören Sie mir zu oder was? Ich hab gesagt, ich will mein verficktes Geld haben!«

»Können Sie mir noch ein paar Tage Zeit geben? Ich habe gerade meine Stelle verloren.«

»Das ist mir kotzegal«, fluchte Pratt. »Zahlen Sie Ihre Miete oder suchen Sie sich eine Tiefkühltruhe für drei. Kapiert?«

»Verzeihung«, sagte die Frau und erschreckte Pratt so sehr, dass er seine stummelige Zigarre auf den Gehweg spuckte.

»Yo! Wer zum Teufel sind Sie denn?«, fragte Pratt, wobei sein lüsterner Blick auf der spitzen Partie ihres Dienst-Overalls verweilte.

»Ich bin von der Con-Ed«, entgegnete sie und sah auf Pratt hinunter. »Ich suche einen Mr. Bob Dillon.«

»Yeah, ich bin’s jedenfalls nicht, Babe«, sagte Pratt, als er sich vorbeugte, um seine widerliche kleine Parodi aufzuheben. »Der hier ist der Schlappschwanz, aber ich bin noch nicht mit ihm fertig, also müssen Sie Ihr Höschen und Ihr Heimchen noch so lange anlassen, bis ich mit ihm durch bin.«

Umgehend bellte sie zurück: »Und wer zum Teufel sind Sie?« Pratt kniff die Augen zusammen. »Yo, ich bin sein Scheiß-Vermieter, wenn Sie’s wissen wollen.« Er drehte sich wieder zu Bob um.

Die Frau warf einen schiefen Blick auf Pratts Haare und wandte sich ihrerseits an Bob. »Heißen Sie wirklich Bob Dillon?«

»Leider«, sagte Bob.

Sie lächelte. »Mann, ich wette, das war eine lustige Kindheit.« »Yo! Wer hat Sie denn was gefragt?!«, platzte Pratt heraus.

Niemandem fiel auf, wie sich die Tür hinter Bob leicht öffnete. Katy spähte durch den Spalt und hörte zu.

»Hey, was ist Ihr Problem, Stummel?«, fragte die Frau. »Ich mach nur ein bisschen freundliche Konversation mit Mr. Dillon hier.«

»Hey, yo, das ist hier nicht irgendein verfickter Kaffeeklatsch«, spuckte Pratt. »Ich will wissen, was Sie auf meinem gottverdammten Eigentum zu suchen haben.«

»Na ja, das geht Sie zwar einen Scheißdreck an, aber Ihr Mieter ist ein bisschen im Rückstand mit seinen Stromrechnungen, und ich bin gekommen, um ihm den Saft abzudrehen.«

»Uups«, sagte Bob.

Es war Katy peinlich, das zu hören.

»Hey, yo, ist das nicht großartig?«, meinte Pratt. »Dann stellen Sie sich mal hinten an, Süße, weil Mr. Schlappschwanz hier mir etwas Miete schuldet, und Sie kriegen keinen Cent zu sehen, solange er nicht bezahlt hat. Angekommen?«

In dem Moment roch Katy irgendwas anderes außer Pratts Zigarre. Es war die Essenz der günstigen Gelegenheit, was in ihre winzigen kleinen Nasenlöcher hochstieg, und so öffnete sie die Tür und trat auf die Veranda.

»Hey, Mr. Pratt«, sagte Katy. »Wollen Sie ein paar Pfadfinderkekse kaufen?«

»Verpiss dich, Kleine«, knurrte er. »Ich versuch grade, aus deinem Schlappschwanz von Dad hier etwas Knete rauszudrücken.«

»Hey, drücken Sie sich gefälligst anders aus«, wies ihn die Frau von Con-Ed zurecht. »Das ist keine Art, vor dem Kind zu reden.«

»Geht schon in Ordnung«, meinte Katy. »Ich hab nichts dagegen.«

»Hören Sie, Dick«, sagte Bob. »Ich brauch einfach noch etwas Zeit.«

»Passen Sie auf, Sie schmarotzender Arschwischer –« fuhr Pratt fort.

»Hey«, tadelte Bob, »kein Grund, so eine Sprache zu benutzen.«

»Yeah, was hab ich Ihnen grade gesagt?«, fügte die Frau hinzu. »Yo, konnte nicht ahnen, dass ihr alle so empfindlich seid«, sagte Pratt. »Ich will’s mal so formulieren ... zahlen Sie endlich, oder ich schmeiß euch raus. Ich komm morgen wieder.« Pratt drehte sich um und zog eingeschnappt ab zurück zu seinem Haus, das sich, Pech für Bob, gegenüber auf der anderen Straßenseite befand.

»Und Sie, Lady? Wollen Sie ein paar Pfadfinderkekse kaufen?« Katy lächelte zu dem Helm und den Haaren hoch.

»Klar, wieso nicht?«, lächelte der Helm zurück. »Wie wär’s mit einer Schachtel von denen mit Pfefferminzgeschmack?«

»Wird gemacht!« Katy verschwand, um die Kekse zu holen.

»Danke, das war nett«, sagte Bob. »Hören Sie, ich weiß, ich bin im Rückstand, aber ...«

»Hey, machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte die Frau. »Ich hab ein bisschen Spielraum. Ich will Ihnen nicht den Strom abstellen.«

»Das rechne ich Ihnen hoch an.«

»Aber ich sag Ihnen, was Sie machen müssen«, sagte sie, während sie etwas auf ihr Klemmbrett schrieb. »Kommen Sie bei der Zahlstelle vorbei und zahlen Sie, was Sie können. Wir stellen Sie nicht ab, wenn Sie etwas guten Willen zeigen.«

»Toll. Danke«, sagte Bob. »Das mach ich.«

Katy kam mit einer Schachtel Pfefferminzkekse wieder und hielt sie der Frau hin. »Das macht fünf Dollar bitte.«

»Fünf?«, fragte die Frau. »Drüben beim Waldbaum-Laden kosten sie nur zwei fünfzig.«

»Schon«, sagte Katy mit einer sanften Geste zu ihrem Vater, »aber ich hab höhere Unkosten als die.«

Der Kammerjäger

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