Читать книгу fair-fish - Billo Heinzpeter Studer - Страница 8
ОглавлениеAlles hatte 1977 begonnen. Für den Schutz der Umwelt hatte ich mich als junger Linker schon länger engagiert. Ich musste damals mit sehr wenig Geld auskommen, nachdem ich einen gut bezahlten, aber langweiligen Job geschmissen hatte und mich als Halbtagsallrounder von der »LeserZeitung« anstellen ließ. Ich hatte mich zur selben Zeit von meiner WG verabschiedet und lebte zum ersten Mal allein in einer Wohnung, die ich spottbillig mieten konnte, weil die Liegenschaftsverwaltung gar nicht dachte, dass sich jemand für dieses »Loch« interessieren würde. Ich legte eine Liste von etwa zwanzig Abendessen an, die ich in dreißig Minuten auf meinen Tisch zaubern und deren Zutaten ich günstig und ohne lange Umwege einkaufen konnte. Eintellermenüs wie Blumenkohl an Tomatensauce, Reis mit Pilzen und Erbsen, Chorizos oder Sherryhuhn auf Kichererbsen, manches aus der Konservendose, immer scharf, immer Salat dazu und billigen Rotwein aus der Literflasche. Huhn? Pouletschenkel aus dem Supermarkt, keine Ahnung, woher die kamen. Genauso wenig wie die Leber, die Nieren, die Blutwürste, die ich mittags in einer Arbeiterkneipe verzehrte. Billig und schnell, sodass es noch für ein Bier reichte, bevor ich zurück zur Arbeit musste.
Von Milchkühen auf Rädern
Eines Tages blieb ich an einer kleinen Zeitungsnotiz hängen, die auf einen Dokumentarfilm Bezug nahm: In den USA gebe es Versuche mit einem neuartigen Stallsystem, bei dem die Milchkühe auf Wägelchen herumgefahren würden, vom Futter zum Melkstand zur Kotgrube. Wenige Zeilen nur, doch das Bild, das sie in mir hervorriefen, hat sich mir tief eingebrannt. Schlagartig wurde mir bewusst, wie weit ich von der Realität entfernt war, deren Produkte ich mir täglich einverleibte. Wenn jemand überhaupt auf die Idee kommen konnte, ein System auszutüfteln, um Tiere derart effizient zu nutzen, wie weit war die Ausbeutung von Tieren denn schon vorangekommen? Bis dahin hatte ich Tierschutz als Freizeitbeschäftigung wohlmeinender Hunde- und Katzennarren mit leicht misanthropischem Einschlag gesehen, die mit ernsthaftem Umweltschutz wenig gemein hatte; nun begann ich mich dafür zu interessieren, was Menschen mit Nutztieren anstellen, weil ich spürte, dass hier etwas aus dem Gleichgewicht geraten war.
Ungefähr ein Jahr später organisierte die »LeserZeitung« im Rahmen einer Umweltreihe im Zürcher Corbusier-Haus eine Podiumsdiskussion mit ein paar klingenden Namen; einer davon war Roger Schawinski, Journalist, Fernseh-Konsumentenschützer und Privatradiorebell. Mit auf dem Podium saß Lea Hürlimann, Künstlerin und nach eigener Aussage eine »wild gewordene Hausfrau«, die 1974 ihrem Zorn über die Zustände in der landwirtschaftlichen Tierhaltung Luft gemacht hatte, was zu einem Artikel in der damaligen Gratiszeitung »ZüriLeu« und zu 1400 empörten Zuschriften von LeserInnen führte, die Maßnahmen erwarteten. So wurde Lea Hürlimann wie einst Winkelried bei der Schlacht in Sempach in die Spieße der Gegner nach vorn gestoßen. Ordner voller Dossiers füllten ihr Schlafzimmer und lange Gespräche ihre Telefonrechnung. Zusammen mit Freunden gründete sie einen kleinen Verein mit dem programmatisch langen Namen Konsumenten-Arbeits-Gruppe zur Förderung tier- und umweltfreundlicher Nutztierhaltung (kurz KAG). Vier Jahre später saß sie also auf dem Podium, legte sich kundig und mit Verve ins Zeug, ließ sich von niemandem den Schneid abkaufen und war um keine Antwort verlegen. Ihre Entschiedenheit beeindruckte mich derart, dass ich keine andere Erinnerung mehr an diesen Anlass habe und damals nur eines wollte: hernach mit Lea Hürlimann ins Gespräch zu kommen und ihr Anliegen bei uns ins Blatt zu bringen.
Im Frühsommer 1979 mussten meine Freundin und ich die Wohnung in Zürich räumen; die von uns zusammen mit einigen Mietern erstrittene Fristerstreckung war abgelaufen, die einst von der »Roten Fabrik« erbaute Arbeitersiedlung war von einem Handwerker zwecks Totalsanierung gekauft worden. Wir zogen zusammen mit Freunden in ein Haus mit 2000 m2 Garten am Rand von Winterthur, grade noch rechtzeitig, um Gemüse anzupflanzen. Für mich vollkommenes Neuland, das ich mir mit Fachliteratur und viel Schweiß und Schwielen erschloss. Und weil zur Liegenschaft auch ein Hühnerstall gehörte, kauften wir uns sechs schöne, stolze New-Hampshire-Legehennen, gewährten ihnen großzügigen Auslauf im ganzen Garten und holten uns Rat bei Lea Hürlimann, der Retterin der damals letzten wenigen bäuerlichen Freilandhühnerhaltungen. Da ich bis dahin nie Tiere gehalten hatte, war ich erstaunt, wie einfach es mir die Hühner machten: Sie schienen zufrieden mit Futter und Umschwung und legten täglich fünf Eier. Als wir wenig später die kleine Herde um einen Hahn vergrößerten, fanden wir täglich sogar sechs Eier. Doch nachdem wir den Hahn hatten schlachten müssen, weil er unsere kleinen Kinder angriff, waren es wieder fünf Eier pro Tag, denn nun übernahm eines der Hühner die Funktion des Hahns: Es spürte Nahrung auf, sicherte das Terrain und wachte über die Kolleginnen.
Mein Arbeitsaufwand für die Eier war gering, im Durchschnitt kaum mehr als eine Viertelstunde pro Tag, weniger als die Zeit, die ich manchmal mit dem Beobachten der Tiere verbrachte, allmählich verstehend, wie dumm es ist, Hühner als dumm zu betrachten.
Vom Jagen und Sammeln
Ein Jahr später, 1980, scheiterte die Fusion der »LeserZeitung« mit dem Alternativmagazin »Focus« nach wenigen Monaten. Wir von der »LeserZeitung« wurden vom eben erst gegründeten Verein M-Frühling angeheuert, als Redaktion der Zeitschrift von oppositionellen Migros-Genossenschaftern, die andere Personen und Ideen in die Führung der größten Detailhandelskette der Schweiz bringen wollten. Nach Ende der Kampagne entschloss ich mich, fortan als Selbständiger mein Auskommen zu suchen, weil ich meine verschiedenen Fähigkeiten und Kenntnisse weiter anwenden und vertiefen wollte. Meine ArbeitskollegInnen hielten mich für verrückt: ausgerechnet jetzt, da ich bald Vater würde? Ich hatte Glück, fand ein paar Aufträge, darunter von Lea Hürlimanns KAG, ich half meiner Partnerin beim Nähen von Kinderkleidern für ihr Geschäft und hatte viel Zeit für Arbeiten in Haus und Garten, für die Hühner, Enten, Kaninchen und Katzen und vor allem für meine erste Tochter. Ich sammelte viele neue Erfahrungen und hatte viel Zeit zum Nachdenken; auch jede Nacht, während der einstündigen Schneckenjagd mit Taschenlampe und Schere entlang der Gemüsebeete. Dabei verfiel ich ins Philosophieren, wohl ähnlich wie ein Bauer, der einen halben Tag lang seinen Acker pflügt, oder wie ein Fischer, der frühmorgens alleine auf dem See seine Netze hievt.
So dachte ich etwa darüber nach, dass nicht nur der menschliche Verdauungsapparat, sondern wohl auch unser Bewusstsein sich in den letzten zehntausend Jahren seit der Agrarrevolution nicht mehr verändert hat: Wir sind im Kern noch immer Jäger und Sammler. Warum also sperren wir Tiere und Pflanzen in eine enge Umwelt, die sie sich selber nicht aussuchen konnten? Die Tiere, die wir zu unserer Ernährung oder zu unserer Freude halten, würden vermutlich anders leben, wenn sie frei entscheiden könnten; die Pflanzen würden an anderen Orten und in anderen Gemeinschaften wachsen. Die Menschheit hat mit der Zucht von Lebewesen eine große Verantwortung auf sich genommen: Jetzt sind wir dafür verantwortlich, dass Milliarden von Tieren ein gutes Leben vom Anfang bis zum Schluss führen können. Unsere Vorfahren hatten als Jäger und Sammler »nur« die Verantwortung für einen guten Tod.
Von kastrierten Katern
Dass etwas nicht stimmt mit unserem Verhältnis zu Tieren war mir schon wenige Jahre zuvor aufgefallen. Wir hatten damals in Zürich ein Katzenpaar und bald auch vier Junge. Der stolze Kater war ein liebevoller Vater, doch hin und wieder musste er alleine um die Häuser ziehen, kam aber stets nach ein paar Stunden zurück, zum Glück, denn einer Krankheit wegen brauchte er täglich Medikamente. Eine wahrscheinlich gutmeinende Dame im Quartier griff sich das vermeintlich vernachlässigte Tier, sperrte es in ihre Wohnung und brachte es zum Tierarzt, der den Kater untersuchte und kurzerhand kastrierte. Das erfuhren wir erst ein paar Tage später, als besagte Dame endlich auf die von uns ausgehängten Zettel reagierte, den Kater freiließ und uns anrief, um die Bezahlung der nicht gewollten Tierarztleistung einzufordern. Ich war schockiert und erkundigte mich bei verschiedenen Tierschutzorganisationen, was davon zu halten sei. Damals galten Tiere im Schweizer Recht noch als Sachen, und da der Kater ja nun wieder nach Hause gekommen sei, bestünde für uns kein Schaden, im Gegenteil: Es sei sogar ein Gewinn, dass der Kater nicht mehr zeugungsfähig sei, also nicht mehr zur schon unkontrollierten Vermehrung der Katzen beitragen könne; damit werde das Leid vieler unerwünschter Katzen vermieden. Einzig in der Frage der Entschädigung gaben uns die Angefragten recht. Das Entscheidende war für mich damit nicht beantwortet, ja nicht einmal gestreift, und mein Zorn war noch immer groß genug, um die Erfahrung in einer Kurzgeschichte mit dem Titel »Für die Freilassung aller Haustiere und deren Rückführung in die Gärten des Quartiers«1 zu verarbeiten. Und im Zorn schrieb ich da unter anderem: »Man kastriert halt eben, und die Wissenschaft scheint das sogar noch zu rechtfertigen. Schau, Universität, du Hure der Neunmalklugen und Siebengescheiten! Ich schüttle mich bei der Erinnerung an Psychologievorlesungen, wo von der grundlegenden Differenz zwischen Tier und Mensch die Rede war, von der Geschlossenheit und Bedingtheit tierischer Existenz.«
Wie richtig war es also, Hühner um ihrer Eier willen zu halten, auch wenn sie viele Freiheiten genossen? Und wie richtig war es, als Selbstversorger Kohl, Salat, Tomaten zu pflanzen, ohne zu wissen, ob sie da von selber gedeihen würden? Warum musste ich mich täglich um sie kümmern, sie vor Schnecken und anderen Schädlingen schützen? Und warum war ich in der Konfrontation mit Schnecken so fraglos aufseiten der Kohl- und Salatköpfe? Was war da noch Natur, was menschliche Planung und Ausbeutung? Was die KAG für die Nutztiere tat, schien mir gut und wichtig, doch nur ein halber Schritt angesichts des Umstands, dass wir mental Jäger und Sammler geblieben sind und Tiere und Pflanzen in diesem Bewusstsein nur jagen oder pflücken sollten – doch wie, wenn wir die Erde inzwischen mehr als zehnmal so zahlreich besiedeln? In meinem Alltag jedoch handelte ich eher wie ein fürsorglicher Kleinbauer, ungeachtet des inneren Dilemmas. Inzwischen war meine zweite Tochter zur Welt gekommen, die Zeit zur Kontemplation wurde knapper; schließlich mussten wir »unser« Haus wegen Eigenbedarfs des Eigentümers verlassen und 1985 mit allen Lebewesen und der ganzen Habe nach Trogen ziehen, in ein großes Haus, dessen Besitzer nebenbei eine kleine Landwirtschaft mit ein paar Schweinen, Schafen, Rindern und Hühnern betrieben. Kaum eingezogen, benachrichtigte mich Lea Hürlimann, dass sie sich einer schweren Brustkrebsoperation unterziehen müsse und ihr der Arzt dringend geraten habe, ihre tagefüllende Arbeit für die KAG auch danach nicht wieder aufzunehmen.
Geschäftsleiter »ad interim«
Meiner Einschätzung nach hätte dies das Ende der kleinen Organisation bedeutet; lange überlegte ich hin und her, und entschloss mich endlich, Lea Hürlimann anzubieten, dass ich die Geschäftsleitung für zwei Jahre übernehmen und in dieser Zeit eine geeignete Nachfolge suchen würde. Sie hatte darauf gehofft und, wer weiß, gar geahnt, dass ich länger bleiben würde. Tatsächlich hat mich diese neue Aufgabe derart herausgefordert und gepackt, dass ich mich ihr die nächsten 16 Jahre widmete. Ich mietete ein Büro in St. Gallen, zog dort mit der KAG ein und wurde vom Redaktor der lokalen Zeitung als einer »mit dem langen Atem« porträtiert – noch jemand, der vor meiner Zukunft mehr wusste als ich selbst … Wenig später zog ich mit einer neuen Partnerin zusammen, die vegetarisch aufgewachsen war. »Alles klar«, sagte ich, »dann aber konsequent!«, denn auch für Eier und Milch werden Tiere genutzt und, wenn zur Produktion unbrauchbar, einfach getötet. Fortan ernährten wir uns vegan, auch wenn dies das Problem der Pflanzenproduktion ungelöst ließ. Einzig ein Ei testete ich hin und wieder, wenn es einer Reklamation wegen zu uns gelangte. Und ich lernte, beim Besuch auf dem Hof eines »unserer« Bauern nicht auf veganer Kost zu bestehen, wenn mir Produkte des Hauses zum Genuss offeriert wurden – intellektuell konnte die Familie meine Haltung zwar nachvollziehen; aber emotional blieb etwas Ungutes hängen, und das wollte ich vermeiden. Der Kompromiss fiel mir umso leichter, als ich meinen Ernährungsstil ohnehin nicht wie ein Werbeschild vor mir hertrug; Missionieren war mir fremd, Kampagnen lagen mir näher: Wer mag, macht mit.
In dieser Zeit wuchs die Organisation: Wir lancierten Kampagnen gegen Gentechnologie, zu BSE (Rinderwahn) sowie für strengere gesetzliche Vorschriften an die Nutztierhaltung und wir verbesserten die eigenen Richtlinien und Kontrollen. Und plötzlich wollten sich der KAG weit mehr Bauern und Bäuerinnen anschließen, als wir begleiten konnten; LandwirtschaftsberaterInnen hatten ihnen Direktvermarktung als zweites Standbein und die KAG als Mittel dazu empfohlen. Um den unerwarteten Ansturm in Grenzen zu halten, verschärften wir unsere Richtlinien; so verboten wir etwa den »Kuhtrainer«, einen Elektrobügel über dem Rist der Kühe, mit dem sie gezwungen werden, zum Koten einen Rückschritt zu machen, damit die Einstreu sauber bleibt, wir stellten gleichzeitig die Weichen Richtung Laufstall und verlangten zudem, dass fortan ein Betrieb alle seine Tierarten nach KAG-Richtlinien halten muss, um das Zertifikat zu behalten.2
Einseitiger Gesellschaftsvertrag
Eines meiner Vorbilder in jener Zeit war die britische Ethologin Marthe Kiley-Worthington, die ein Kompensationsprinzip als Basis für eine akzeptable Nutztierhaltung vertrat: Ziel müsse sein, für die Tiere eine Lebenssituation zu schaffen, die sogar besser sei, als wenn sie in der Wildnis lebten, wo sie nicht immer Futter und Wasser fänden, niemand ihre Wunden pflege oder sie vor extremen Wetterbedingungen schütze – dann erst sei es gerechtfertigt, ihre Produkte zu nutzen und sie gar zu töten. Eine Art Gesellschaftsvertrag zwischen Mensch und Tier, ein Gedanke, der sich leider als Selbsttäuschung entpuppt, da die Tiere ja nicht aus eigenen Stücken zustimmen können, sondern nur durch die ungefragte Fürsprache von TierschützerInnen.
Nichtsdestotrotz hielt ich es für richtig und wichtig, innerhalb der Realitäten der Landwirtschaft dafür zu sorgen, dass die Bedürfnisse der Tiere respektiert werden, insbesondere das Bedürfnis, sich ihrer Art gemäß verhalten zu können. Wegweisend für mich war unter anderem der Forschungsansatz des Schweizer Ethologen Alex Stolba, der in den 1970er- und 1980er-Jahren das Verhalten von ausgewilderten Schweinen minutiös beobachtet und daraus Schlüsse für deren artgerechte Haltung in einem Stall gezogen hatte. Das ist von einem natürlichen Schweineleben auf der Weide und im Wald zwar weit entfernt, bringt aber in einem einmal gebauten Stall während dessen Amortisationszeit immerhin Vorteile für die darin eingesperrten Tiere. Auch ich blieb also dem einseitigen Gesellschaftsvertrag verhaftet; manchmal hätte ich mir einfach gewünscht, dass die Tiere selber sagen könnten, was sie wollen und was nicht. Am meisten wünschte ich mir das für die Hühner, die kleinsten und schwächsten unter den landwirtschaftlichen Nutztieren, die üblicherweise zu Hunderten gezählt werden und deren Individualität am wenigsten beachtet wird; die Idee, sie in Käfigbatterien einzusperren, zeugt davon.3
Plötzlich auch noch Fische
Nach einer Pressekonferenz im Jahr 1997 bat mich ein Herr um ein Gespräch. Er stellte sich als Berater der damaligen Schweizer Detailhandelskette Usego vor, die, ähnlich wie bereits Migros und Coop, eine Linie mit Bio-Lebensmitteln einführen wollte. Hierfür war er unter anderem auf der Suche nach Fischen aus Schweizer Zucht und wollte wissen, ob die KAG Richtlinien hierfür entwerfen könnte. Fische haben mich stets fasziniert und zugleich erbarmt, weil sie wie die Hühner gering geachtet und nur als Masse wahrgenommen werden; zudem hatte ich eine Schuld abzutragen: Obwohl meine Eltern damals den Wunsch von uns Kindern nach einem Haustier immer ausgeschlagen hatten – Vater mochte keine Katzen, und einen Hund würde am Ende immer Mutter Gassi führen müssen –, waren sie eines Tages mit einem Aquarium und ein paar Fischen darin vom Einkauf zurückgekehrt; Fische machen keinen Dreck und keinen Lärm und sind leicht zu halten. Oder so dachten sie. Es war dann nicht lange gut gegangen; niemand in der Familie hatte die leiseste Ahnung von Fischhaltung und die Tiere haben nicht lange überlebt.
Also los, Richtlinien für die Fischzucht mussten her! In meiner Freizeit suchte ich nach Literatur über die Bedürfnisse und das Verhalten von Fischen und begann, auf der damals sehr dünnen Grundlage an gesicherten Erkenntnissen mit Skizzen für eine tier- und umweltfreundliche Aquakultur. Inzwischen war ich mit einem Kollegen des WWF Schweiz in Kontakt gekommen, der an der Entwicklung eines Standards für nachhaltige Fischerei beteiligt war, der zwei Jahre später als MSC-Siegel bekannt wurde. Zu uns stieß ein Kollege von Bio Suisse, der die Aufgabe hatte, Regeln für die Bio-Fischzucht zu erarbeiten. Ein Jahr lang arbeiteten wir zu dritt an Richtlinien für Fang und Zucht, bis meine Kollegen von ihren Organisationen zurückgerufen wurden; der WWF wollte sich nicht um die Zucht kümmern, die Bio Suisse nicht um den Fang. Wieder alleine, stellte ich die Richtlinienentwürfe fertig und ließ sie unter Mithilfe von Studierenden der oberen Semester und von Praktikern in zwei Runden kritisch beurteilen. Den Schlussbericht mit dem Titel »Fisch ist kein Gemüse« unterbreitete ich den fünf Tierschutzorganisationen, welche die Arbeit finanziell unterstützt hatten, und schließlich der KAG, für die ich die Richtlinien erstellt hatte. Der Entscheid des KAG-Vorstands war ein Dämpfer für mich, aber rückblickend wohl weise: Die Organisation habe schon genug unterschiedliche Tierarten zu kontrollieren, eine weitere wäre zu viel. Tatsächlich handelt es sich aber um weit mehr als nur eine Tierart: Kommerziell werden weltweit Fische von mehreren Hundert Arten gefangen oder gezüchtet, allein in der Schweiz sind es mindestens zwei Dutzend.
Wir waren schon zu weit vorangekommen in unserer Arbeit, und es erwarteten schon zu viele etwas von uns. Ähnlich wie einst Lea Hürlimann fühlte ich mich gedrängt, aus dem Angefangenen etwas Richtiges zu machen; also Schluss mit einem kleinen Projektlein nebenher. Den fünf Organisationen, die die Arbeiten bis dahin begleitet und finanziert hatten, schlug ich vor, einen Verein mit dem Namen fair-fish zu gründen. Zu Beginn des Jahres 2000 war es schließlich so weit: Die VertreterInnen von Tierschutzbund Zürich, Verband Tierschutz-Organisationen Schweiz (VETO), Zürcher Tierschutz, Aargauer Tierschutz und von Bioterra gründeten den Verein fair-fish als Fachstelle für Tierschutz bei Fischen, nahmen im Vorstand Einsitz und beauftragten mich mit der Leitung der Fachstelle. Wenig später stieß als Mitträger auch der Schweizer Tierschutz (STS) hinzu, der unsere Arbeiten zuvor schon verfolgt hatte.
Wäre es besser, wenn ich nur noch einheimische Fische kaufe? [→ Kapitel »Welchen Fisch kann ich noch essen?«]