Читать книгу Die Bibliothek des Kurfürsten - Birgit Erwin - Страница 9

II

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Das Knirschen des Riegels schreckte Jakob aus einem Schlaf, der ihn erst Stunden nach seiner Verhaftung von Kälte und Grübeleien erlöst hatte. Mit klammen Fingern klaubte er Stroh aus seinen Haaren und von seiner Kleidung. Letzte Nacht, in der kompletten Finsternis, in Gestank und Einsamkeit, hatte er Furcht verspürt. Jetzt gewann der Zorn die Oberhand. Er überlegte, ob er aufstehen sollte, entschied sich aber dagegen. Maxilius würde keine solche Höflichkeit von ihm erwarten können.

Doch der Mann, der eintrat, war nicht Maxilius.

»Aufstehen!« Leutnant Karius stieß die Fackel in die Zelle. »Mitkommen!«

Jakob befolgte den Befehl, bis die Kette spannte. Mit einem ironischen Lächeln blieb er stehen und hob die Brauen.

Karius nahm die Fackel in die Linke. Im nächsten Augenblick ließ ein Faustschlag Jakob gegen die Wand taumeln. Während er noch zu begreifen versuchte, was passiert war, wurde die Schelle von seinem Fußgelenk gelöst, und Karius knurrte: »Ich sage es nicht noch einmal, Katholik. Mitkommen!«

Jakob betastete sein Kinn. »Wohin bringt Ihr mich, Herr Leutnant?«, fragte er. Er erstickte fast an der höflichen Anrede, aber die Jahre bei Hof zahlten sich aus. »Zum Stadtkommandanten? Zu …«, er zögerte, verfluchte Spielvogel für seine Heimlichtuerei, »Oberst Maxilius?«

Statt einer Antwort trieb Karius ihn die Stufen hinauf in den Hof. Das fahle Morgenlicht war gnädig zu Jakobs empfindlichen Augen. Der Leutnant und sein Gefangener zogen kaum Aufmerksamkeit auf sich, denn die meisten Soldaten waren bereits beim Drill. Jakob stellte fest, dass der Stadtkommandant so vorausschauend war, auf den Einsatz von Musketen zu setzen. Noch handhabten die Männer die komplizierten Waffen unbeholfen, doch der junge Offizier, der sie anleitete, schien seine Sache zu verstehen. Ein Stoß zwischen die Schulterblätter machte Jakob bewusst, dass er stehen geblieben war. Er ging weiter.

Karius öffnete das Tor eines verlassen aussehenden Lagerhauses und drängte seinen Gefangenen zu einer alten Pferdedecke, aus der ein unangenehmer Geruch aufstieg. Jakob konnte die Formen eines menschlichen Körpers erahnen. Er rümpfte die Nase.

Karius’ Gesicht zuckte vor Wut. »Ist dir deine eigene Tat so zuwider? Mit einem Geständnis machst du es dir leichter.«

Wenigstens wusste Jakob jetzt, was es mit Spielvogels Gerede auf sich hatte, dass er keine Scherze über Mord machen sollte. Er setzte zu einem Protest an, als Karius den Zipfel der Decke packte und den Körper Stück für Stück freilegte. Dabei ließ er Jakob nicht aus den Augen. Der Tote war nackt. Beine und Rumpf waren die eines kräftigen Mannes, muskulös und stark behaart. Er wirkte gut genährt, aber drahtig.

»Und was soll diese lächerliche Vorstellung?«

Mit einem Ruck legte Karius den Kopf frei. Jakob bekreuzigte sich. Er hatte gefürchtet, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Doch er sah überhaupt kein Gesicht. Der Schädel war vollkommen zertrümmert. Jählings überfiel ihn eine Erinnerung zusammen mit dem Blutgeruch. Er holte ein paarmal keuchend Luft, ehe er sich zu Karius umdrehte.

»Und jetzt?«

Der Leutnant stierte ihn mit einem Hass an, der an Irrsinn grenzte. Er grub seine Finger in Jakobs Nacken und zwang ihn in eine gebückte Haltung. »Sieh ihn dir an«, grollte er. »Sieh ihn dir einfach an.«

Jakob blieb nichts übrig, als zu gehorchen. Er atmete durch den Mund und überlegte, ob er den Toten kennen müsste. Dabei fiel sein Blick auf den Hals. Er machte eine heftige Bewegung. In diesem Moment ließ der Druck nach, Karius packte ihn am Arm und stieß ihn vor sich her. »Raus jetzt. Der Stadtkommandant soll sein Urteil sprechen.«

Endlich, schoss es Jakob durch den Kopf, endlich hat der Irrwitz ein Ende.

Obwohl Jakob sich trotz des überstürzten Aufbruchs große Mühe gegeben hatte, sich sorgfältig auf seinen Auftrag vorzubereiten, hatte er nicht herausfinden können, wer nach Auflösung der Regierung das Amt des Stadtkommandanten bekleidete. Er hoffte nur, dass er nicht ebenso so ein Fanatiker war wie dieser Karius. Zwar war ihm bewusst, wie ungepflegt er nach einer Nacht im Kerker aussehen musste, dennoch setzte Jakob das verbindliche Lächeln auf, das ihm durch sein Leben bei Hof in Fleisch und Blut übergegangen war. Es erstarb schlagartig.

»Ihr seid der Stadtkommandant. Ihr?«, entfuhr es ihm wenig höflich.

Maxilius musterte ihn frostig. »Habt Ihr etwas dagegen?«

Er saß da, als ob die letzten Jahre nie vergangen wären. Sogar der speckige Hut mit der abgeknickten Feder lag auf der Tischkante wie damals. Ein Hauch von Wehmut erfüllte Jakob, als er sich erinnerte, was Maxilius, damals noch Hauptmann, bei ihrem Abschied über diesen Hut gesagt hatte: ein alter Freund. Plötzlich wurde Jakob die Brust eng. »Nein«, sagte er leise. »Es ist eine gute Wahl.«

Maxilius konnte einen Anflug von Überraschung nicht verbergen. Mit einer knappen Geste deutete er nach links. »Ihr solltet Pfarrer Hermeskeil begrüßen. Ihr werdet in nächster Zeit mehr von ihm sehen, als Euch lieb sein wird.«

Jakob drehte überrascht den Kopf. Das Gesicht des Pfarrers glänzte so rosig, wie er es in Erinnerung hatte.

»Gott zum Gruß, Herr Liebig«, sagte Hermeskeil ohne jedes Ressentiment.

Jakob rettete sich in eine Verbeugung. »Gott zum Gruß. Verzeiht, Haupt… Stadtkommandant. Ich bin verwirrt …«

Und wütend, fiel ihm ein, aber er schwieg und strich seine Kleidung glatt.

Maxilius’ Blick glitt von ihm ab und blieb auf Karius haften. »Und?«

»Kein Geständnis, Herr Major.«

Jakob fuhr auf. »Natürlich kein Geständnis. Maxilius! Meinetwegen Major, ich werde verhaftet, als ich die Stadt betreten möchte …«

»Ohne Passierschein.«

»Ja, meinetwegen, ohne Passierschein, aber immerhin in Spielvogels Gesellschaft, verbringe die Nacht im Verlies und dann werde ich vor eine verstümmelte Leiche geschleppt und …«

»Was könnt Ihr mir zu dem Toten sagen?«

»Was?« Jakob war kurz davor, endgültig die Beherrschung zu verlieren. »Was wollt Ihr hören?«

»Eure Meinung. Könnte es ein Unfall gewesen sein? Der Mann wurde bei den Schanzen gefunden.«

»Nackt?«, spottete Jakob. »Ich weiß nicht, wie Eure Schanzer arbeiten, ich wage es jedoch zu bezweifeln. Außerdem wurde dem Toten die Kehle durchgeschnitten, wie ich sehen konnte, als Euer Leutnant mir fast die Nase in die Leiche gedrückt hat … Ich …«

Maxilius hob die Hand. Die andere bedeckte seinen Mund, seine Augen, übermüdet und rot, schimmerten belustigt. »Beruhigt Euch. Leutnant, Ihr könnt gehen.« Als die Schritte sich entfernt hatten, fuhr der Stadtkommandant fort: »Von einem Schnitt in der Kehle wurde mir nichts berichtet. Seid Ihr sicher? Natürlich seid Ihr sicher«, unterbrach er, als Jakob zu einer hitzigen Antwort ansetzte. »Gut. Die Leiche wurde gestern in den frühen Abendstunden gefunden. Euch festzusetzen, war eine logische Entscheidung.«

Jakob schnaubte.

»Und jetzt sagt mir Eure Meinung. Und bedenkt: Je nützlicher Ihr Euch macht, desto geneigter bin ich, ein anderes Quartier für Euch zu finden als das, in dem Ihr bereits genächtigt habt.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich meine es ernst, Herr Liebig.«

Jakob rang mit der Versuchung, hier und jetzt den Kerker zu riskieren. Er biss sich auf die Lippen. »Wenn jemand wirklich so tun wollte, als sei es ein Unfall gewesen, ist er schlampig vorgegangen. Ich glaube eher, dass die Identität des Toten verschleiert werden sollte. Getötet hat ihn der Schnitt durch die Kehle. Danach hat ihn sich jemand mit einem Knüppel vorgenommen. Wurde die Kleidung gefunden?«

»Bisher nicht.« Maxilius deutete auf einen freien Stuhl.

Jakob setzte sich, um nicht trotzig zu erscheinen.

»Ich vermute, dass Ihr mir nicht sagen werdet, was Euch nach Heidelberg führt«, bemerkte der Stadtkommandant nach einer Weile.

»Ich sorge mich um die Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind«, erwiderte Jakob giftig.

»Also nicht.« Maxilius schnippte gegen die Reste der Feder. »Ihr steht noch in den Diensten Herzog Maximilians?«

»Das tue ich, mit Stolz.«

»Mit dem Stolz solltet Ihr Euch etwas zurückhalten«, entgegnete Maxilius trocken.

Jakob presste die Lippen aufeinander. Die drei Männer schwiegen.

Es war Hermeskeil, der die Stille beendete. »Herr Liebig, Ihr habt Euch vielleicht gewundert, warum der Stadtkommandant mich hinzugebeten hat.«

Jakob besann sich auf seine gute Erziehung. »In der Tat, Herr Pfarrer.«

Stadtkommandant und Pfarrer tauschten einen Blick. »Major Maxilius hat mich ersucht, Euch in den nächsten Tagen zu beherbergen.«

»Beherbergen«, wiederholte Jakob bitter. »So heißt das also.«

»Ihr könnt gerne in Euer altes Quartier zurückkehren«, beschied ihn Maxilius barsch. »Ganz wie Ihr beliebt. Ohnehin werdet Ihr keinen Schritt machen, ohne dass ich es erfahre.«

»Das heißt, ich bin Euer Gefangener?«

»Ihr bewegt Euch in diplomatischen Kreisen«, spottete Maxilius. »Da müsst Ihr doch ein schöneres Wort wissen. Im Übrigen«, er wurde übergangslos ernst, »dient die Maßnahme auch Eurem Schutz. Die Stimmung in der Stadt hat ihren Siedepunkt noch nicht erreicht, das garantiere ich Euch.«

Jakob dachte an Karius. »Und ich glaube Euch. Daher danke ich Euch, Herr Pfarrer, dass Ihr mich aufnehmt. Ich hoffe, dass ich Euch nicht in Schwierigkeiten bringe.«

Hermeskeil wollte etwas erwidern, aber Maxilius kam ihm zuvor. »Das wird nicht passieren. Dafür wird mein Leutnant sorgen. Ich sagte doch, dass ich über jeden Eurer Schritte informiert sein werde.«

»Der Kerker wäre einfacher.«

Maxilius’ Lächeln wurde breiter, wenn auch nicht wärmer. »Das stimmt, aber solange Ihr auf freiem Fuß seid, könnt Ihr Euch nützlich machen, indem Ihr herausfindet, wer diesen Unbekannten vom Leben in den Tod befördert hat. Denn dazu habe ich wirklich keine Zeit!«

In der Vorstadt verabschiedete sich Leutnant Karius höflich von Hermeskeil. Was immer die Vereinbarung hinsichtlich seiner Person war, niemand schien es für nötig zu halten, Jakob die Regeln zu erklären. Er dachte an das Heidelberg zurück, das er verlassen hatte, und wieder erfüllte ihn Trauer. In einem hatte Maxilius recht: Es würde schlimmer werden, für sie alle. Natürlich hatte Jakob keine Zweifel, auf wessen Seite Gott letztlich stand, aber der Weg zum Sieg des wahren Glaubens würde blutig werden. Inzwischen öffnete der Pfarrer die Haustür und rief nach seiner Haushälterin. Sie bedachte Jakob mit einem säuerlichen Blick, während sie den Pfarrer begrüßte. Hermeskeil bat sie, für seinen Gast ein Zimmer herzurichten und zu veranlassen, dass sein Gepäck aus Reilings Hof geholt wurde. Bei der Nennung dieses Namens wurde ihr Gesichtsausdruck noch missbilligender. Hermeskeil schmunzelte und führte Jakob die Treppe empor in seine Studierstube. Wenigstens hier hatte sich nichts verändert. Im Kamin knisterten brennende Scheite gegen die Herbstkühle, auf dem Schreibtisch lag eine aufgeschlagene Bibel, und auch das abstoßende Gemälde vom Sündenfall hing am selben Platz. Nur die Schlange starrte noch etwas bösartiger als vor drei Jahren.

Hermeskeil dagegen strahlte eine Freundlichkeit aus, die von Herzen zu kommen schien. »Nehmt Platz. Machen wir das Beste aus diesen ungewöhnlichen Umständen. Bitte glaubt mir, Ihr seid mir willkommen.«

»Danke«, erwiderte Jakob steif. »Wenn Maxilius allerdings darauf spekuliert, dass ich Euch Geheimnisse verrate …«

Hermeskeil hob beschwichtigend die Hände. »Herr Liebig, Ihr seid der Spion, nicht ich. Ich warte darauf, dass die Menschen mir ihre Geheimnisse aus freien Stücken anvertrauen. Wenn sie es nicht tun, nun, dann gibt es immer noch gute Gespräche und guten Wein.«

»Und Kuchen.« Jakob musste gegen seinen Willen lächeln. »Wie geht es Matthias? Und … Sophie?«

Hermeskeil ging zum Schrank und entnahm ihm trotz der frühen Stunde zwei Gläser und einen Krug. Jakob kam es vor, als hantiere er unnötig lange damit herum.

»Herr Pfarrer?«

»Oh, Euer Freund Matthias hat Ambitionen entwickelt. Nachdem Ratsherr Bonneville gestorben ist, bewirbt er sich um dessen Nachfolge. Außerdem hat er Traugott Krauses Kunden übernommen. Er ist der kommende Mann in Heidelberg.«

»Hmm«, brummte Jakob. »Und seine Frau?«

»Sie hatten eine kleine Tochter.« Hermeskeil sah zu, wie der Wein die Gläser füllte. »Sie ist gestorben. Ich leiste der armen Frau Beistand, so gut ich kann, aber … der Schmerz ist sehr frisch. Und sehr tief. Sie hat sich verändert.«

»Inwiefern verändert?« Endlich stellte sich Jakob den Erinnerungen an die blonde Sophie Abele, ketzerisch, aufmüpfig und absolut reizend. Eine Sekunde lang schien sie leibhaftig im Raum zu stehen und ihm ihr spöttisches Lächeln zu schenken.

»Sie ist … gläubig geworden.«

Jakob runzelte die Stirn. »Ist das nicht gut? Ihr seid Geistlicher!«

Hermeskeil setzte das Glas an. »Natürlich, Ihr habt recht. Es ist immer richtig, Trost bei Gott zu suchen. Und Ihr? Eurer Kleidung nach hat es das Leben nicht schlecht mit Euch gemeint.«

»Wenn es mich nicht gerade in den Kerker verschlägt.« Jakob rieb an einem Schmutzfleck auf seiner weißen Manschette. »Aber Ihr wolltet mich doch nicht aushorchen.« Er lehnte sich zurück und ließ zu, dass der Wein ihn wärmte. Angeekelt betrachtete er dabei die schwarzen Ränder unter seinen Nägeln. »Und Maxilius ist jetzt Major?«

»Tja, nach der Niederlage des Kurfürsten hat der Rat händeringend fähige Männer gesucht. Maxilius wurde vor einem Monat endgültig zum Stadtkommandanten befördert. Es gab sonst niemanden, der sich der Verantwortung gestellt hätte.«

»Nur dass sie keinen Stadtkommandanten brauchen, sondern einen Wundertäter«, entfuhr es Jakob. »Die Spanier stehen im Westen, Tillys Heer im Osten. Eine schier unlösbare Aufgabe.«

Sie wurden unterbrochen, als die Hauswirtschafterin ein Tablett mit Brot, Käse und einem Krug Dünnbier auftrug. Sie musterte die Gläser strafend. Jakob vermutete, dass Hermeskeil der Gardinenpredigt allein seinetwegen entkam. Als sie den Raum verlassen hatte, schenkte der Pfarrer mit verschmitzter Miene nach.

»Vielen Dank«, sagte Jakob. »Ein guter Tropfen. Setzen wir unsere Fragestunde fort?«

»Gerne«, erwiderte der Pfarrer und nippte genießerisch an seinem Wein. »Aber nicht jetzt. Ihr habt ein Bad und eine Rasur nötig. Ich bin sicher, ein Mann wie Ihr ist den Kerker nicht gewöhnt.«

Jakob errötete leicht. »Nein. Nicht wirklich. Danke.«

Die Haushälterin führte ihn auf sein Zimmer unter dem Dach. Es war eine schlichte Kammer mit einem Bett, einem Waschtisch und einer altertümlichen Kommode. Er griff nach dem Buch, das darauflag, und verzog das Gesicht. Es war die Bibel in deutscher Sprache. Jakob trat zum Fenster und blickte hinaus. Selbst wenn sich ein Weg finden ließe, auf das Dach zu klettern, so stand an der Hauswand gegenüber sein persönlicher Höllenhund und beobachtete das Fenster mit unbestechlichen Augen. Leutnant Karius war nicht zur Garnison zurückgekehrt, und er machte auch keine Anstalten, sich zu verstecken.

Die Herbstsonne verlieh den Hauswänden einen warmen Schimmer und ließ das gelbe Laub erstrahlen. An der Mauer des Herrengartens blieb Hermeskeil stehen. In besseren Zeiten hätte er an dieser Stelle die Stimmen der Schauspieler gehört, die sich auf der Bühne versammelten, um ein weiteres Stück Shakespeares einzustudieren. Jetzt tollten hier nur ein paar Jungen herum, zwei eiferten mit aus Stöcken gefertigten Schwertern den Rittern nach, an deren Turnieren der Kurfürst und seine Frau sich in glücklicheren Tagen erfreut hatten. Hermeskeil schüttelte bekümmert den Kopf und setzte seinen Weg fort. Ob die goldenen Zeiten je wiederkommen würden? Sein Herz wurde noch schwerer, als er das prächtige alte Hagen-Haus aufragen sah. Benannt war es bis heute nach dem Vater der jetzigen Besitzerin, auch wenn sie längst Abele hieß und die Heidelberger sich an ihren Ehemann gewöhnt hatten, obwohl er ein Konvertit war. Hermeskeil wollte eben die Straße überqueren, als ihm ein Mann auffiel, der müßig an einem Zaun lehnte und zu den hohen Fenstern hinaufsah. Er versuchte, sich zu erinnern, woher er den hochgewachsenen, schwarzhaarigen Kerl mit den wachen, dunklen Augen kannte. Wahrscheinlich ein säumiges Gemeindemitglied. Höflich nickte der Pfarrer und registrierte erstaunt, dass der Mann hastig um die nächste Ecke bog.

Hermeskeil betätigte den Türklopfer. Wenig später hörte er die schweren Schritte Marthas, der Haushälterin, durch den Flur donnern.

Die Tür wurde aufgerissen und gab ihr bärbeißiges Gesicht frei, das sich aufhellte, als sie den Gast erkannte. »Herr Pfarrer, kommt herein. Leider hat der Herr hohen Besuch.« Sie schürzte die Lippen.

»Eigentlich wollte ich ja Frau Abele besuchen.«

»Hat auch Besuch«, lautete die knappe Antwort, »aber sie empfängt Euch sicher.«

Während sie ihn durch den Flur führte, fragte sich Hermeskeil, was den Ärger der treuen Seele hervorgerufen hatte. Plötzlich vernahm er im ersten Stockwerk erregte Männerstimmen.

»Nanu?«, machte er und wies mit dem Kinn nach oben.

»Das ist Rat Hirsch«, antwortete sie auf die unausgesprochene Frage. »Mir steht es ja nicht zu, zu urteilen, aber ein feiner Umgang ist das!«

Auch wenn Hermeskeil sie liebend gern weiter ausgefragt hätte, schämte er sich seiner Neugier. Außerdem schien der kurze Ausbruch schon vorbei, seine und Marthas Schritte übertönten das wieder leise geführte Gespräch vollkommen. Martha führte ihn schnaufend und vor sich hin brummend in den Salon, wo drei Frauen bei süßem Gebäck und Likör plauderten. Zwei von ihnen waren schwarz gekleidet, die dritte trug ein prächtiges, dunkelgrünes Gewand; alle Kleider waren mit kostbarer Spitze verziert. Die Hausherrin erhob sich. »Herr Pfarrer, das ist schön. Bitte, setzt Euch zu uns. Ihr kennt ja meine Freundinnen, Ernestine de Bonneville und Emilie Hirsch.«

Hermeskeil nickte erst der Frau in Schwarz, dann der in Grün zu, während sein Blick den Kuchenteller suchte.

Sophie sah es und ihre Lippen zuckten. Hermeskeil fühlte Wehmut, denn ihr Lächeln, so warm es sein mochte, war von Trauer überschattet. Er umschloss Sophies Hand mit seiner und drückte sie. Ihre Augen begegneten seinen in stillem Einvernehmen.

»Ihr seid mit Eurem Mann gekommen?«, wandte er sich an Frau Hirsch, nachdem Sophie ihn mit Gebäck versorgt hatte.

Emilie seufzte geziert. »Männer!«, sagte sie nur und führte das winzige Likörgläschen an die Lippen. Sie waren sehr rot. Hermeskeil fragte sich, ob all die Farbe natürlichen Ursprungs war. Er dachte an seine nächste Predigt. Eitelkeit könnte ein gutes Thema abgeben.

»Ja, Männer«, tadelte er. »In der Heiligen Schrift steht, dass das Weib dem Manne untertan sein soll.«

»Dazu müsste er mir einmal Gelegenheit geben, statt immer seinen Geschäften nachzugehen«, entgegnete Frau Hirsch spitz.

Sophie schaute ihre Freundin betreten an.

Ernestine de Bonneville, Witwe des verstorbenen Rates Pierre de Bonneville, zeigte sich amüsiert. »Ein religiöser Disput, Herr Pfarrer? Und das mit drei schwachen Frauen?«

Hermeskeil biss krachend in den Blätterteig und wischte die Krümel von seiner Soutane. Er wollte streng aussehen, aber angesichts der Cremefüllung fiel es ihm schwer. Außerdem dachte er mit einem Anflug von Schuldbewusstsein an das daheim verspeiste Frühmahl. Vielleicht sollte er die Predigt lieber über Völlerei halten.

Gleichzeitig mahnte Sophie: »Ernestine, nicht! Der Herr Pfarrer möchte sicherlich nur seine Aufwartung machen.«

»Ja, ich wollte sehen, wie es Euch geht«, bestätigte Hermeskeil. »Doch bin ich auch hier, um Euch etwas mitzuteilen.«

»Also ist es kein Zufall«, rief Ernestine und beugte sich vor. »Lasst hören.«

Hermeskeil verwünschte sich im Stillen. Was er Sophie zu sagen hatte, wollte er keinesfalls vor Zeugen preisgeben, doch er wusste beim besten Willen nicht, wie er den herausfordernden Augen der schönen Witwe entkommen sollte. Er war Ernestine ein paarmal im Haus der Abeles begegnet und war sich nicht sicher, was er von dieser Frau halten sollte. Sie war Hugenottin, vor Jahren nach Heidelberg gekommen, wo sie nach skandalös kurzer Zeit den deutlich älteren Rat de Bonneville geheiratet hatte. Inzwischen war der Mann tot und hinterließ eine reiche Witwe und reichlich Gerede. Selten war Hermeskeil so erleichtert gewesen, den Hausherrn zu sehen, der in diesem Moment hereinplatzte. Matthias’ Gesicht war gerötet, an seiner Schläfe pochte eine Zornesader.

»Oh, guten Morgen, Herr Pfarrer«, knurrte er. »Ich werde mich gleich um Euch kümmern. Zuvor aber muss ich Frau Hirsch hinausbegleiten. Euer Mann wartet an der Haustür.«

»Ach, tut er das?« Emilie maß Matthias mit einem kühlen Blick und erhob sich. »Gut, ich komme. Ich danke dir für die Gastfreundschaft, Sophie.« Sie machte eine lange, bedeutungsvolle Pause. »Und natürlich Euch, Herr Abele. Ihr wolltet mich hinunterbegleiten?«

Sie streckte die Hand aus. Matthias’ Wangen wurden noch röter, widerstrebend bot er ihr den Arm. So rauschten sie aus dem Zimmer. Sie ließen Schweigen zurück, das nur vom Knarren der dritten Stufe gestört wurde.

Ernestine lächelte noch immer. »Dein Mann ist sehr zupackend, liebste Sophie.«

Sophie spielte mit ihrem Ehering. »Er … er steht unter großem Druck. Er will Rat werden und …«

»Er sollte sich die nötigen Umgangsformen zulegen«, bemerkte Ernestine leicht. »Und worüber«, sie wandte sich Hermeskeil zu, »wolltet Ihr mit uns reden?«

Der Pfarrer sah die elegante Frau an. »Verzeiht, Frau de Bonneville, meine Neuigkeiten sind für Frau Abele bestimmt.«

»Wie spannend.«

»Ich habe keine Geheimnisse vor Ernestine.«

Hermeskeils Miene verschloss sich noch mehr, sein gütiges Gesicht wurde beinahe finster. »Es ist Eure Entscheidung.«

Sophie ergriff Ernestines Hand. »Bitte bleib.«

Hermeskeil beschloss, es kurz zu machen. »Jakob Liebig ist in der Stadt.«

Sophie wurde leichenblass. »Oh«, machte sie endlich und tastete nach ihrem Glas. Ohne daraus zu trinken, hielt sie es an ihre Lippen. »Seid Ihr sicher?« Sie lachte zittrig. »Natürlich seid Ihr sicher. Oh Gott, warum?«

»Und wer ist dieser Herr Liebig?«, fragte Ernestine und strich ihren Ärmel glatt, den Sophie zerknittert hatte. Ihre Stimme drückte nur Anteilnahme aus, dennoch war Hermeskeil sicher, dass Untiefen darunter verborgen waren.

»Ein katholischer Agent im Dienste Herzog Maximilians«, entgegnete er knapp. »Und ein Jugendfreund Herrn Abeles.« Er legte den Kopf schief. »Der gerade eben die Treppe heraufkommt. Er wird diese Stufe wohl nie austauschen?«

»Nein«, flüsterte Sophie. »Wohl nicht.« Sie stellte das unberührte Glas ab. Als die Tür aufgerissen wurde, zwang sie sich zu einer freundlichen Miene. »Setz dich zu uns, Matthias, oder musst du gleich in die Backstube? Pfarrer Hermeskeil freut sich sicher über deine Gesellschaft.«

Matthias’ Gesicht war immer noch gerötet, seine Augen funkelten mordlustig. »Ich denke, ein Schluck Wein wird mir guttun«, presste er hervor. Er bediente sich im Stehen und stürzte das Glas hinunter.

»Du wirkst aufgebracht.«

Matthias füllte sein Glas ein zweites Mal. »Hirsch rät mir – in aller Freundschaft natürlich –, meine Bewerbung für den Rat ruhen zu lassen.«

»Das ist natürlich ärgerlich, aber, Matthias, wir haben Gäste.«

Er stutzte und strich sein Wams über dem Bauch glatt. »Verzeiht, Frau de Bonneville.« Er hauchte Ernestine einen unbeholfenen Kuss auf den Handrücken. »Führt Euch der Kuchen zu mir? Bitte greift zu!«

Hermeskeil sah auf den Teller, doch der Appetit war ihm vergangen. Am liebsten hätte er Matthias ein wenig Feingefühl in seinen Dickschädel gebläut, aber die stille Verzweiflung in Sophies Zügen hielt ihn zurück. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Ernestine sich mit einer geschmeidigen Bewegung erhob.

Sophie sprang ebenfalls auf. »Du willst gehen?«

»Ich denke, es ist an der Zeit. Du wirst mir bei anderer Gelegenheit erzählen, wer dieser … alte Freund ist, nicht wahr?«

Sophies Blick huschte zu Matthias. »Ja, ich … ja, natürlich.« Sie zupfte an ihren Spitzenmanschetten. »Ich begleite dich nach unten.«

»Warum übernimmt das nicht dein Mann? Wo er sich Emilie gegenüber schon als vollendeter Kavalier erwiesen hat.«

Matthias musterte die schöne Frau misstrauisch. Als er ihr den Arm bot, wirkte er noch unbeholfener. Sophie wandte den Kopf ab, während Ernestine ihre schmale Hand, schmucklos bis auf einen kostbaren Ehering, auf seinen mehlbestäubten Ärmel legte.

»Auf bald, liebe Freundin. Und Euch, Herr Pfarrer, werde ich ja am Sonntag im Gottesdienst sehen dürfen.«

Bei dem Wort »Gottesdienst« musste Hermeskeil an die Begegnung vor dem Haus denken. »Sagt, Frau Abele, kennt Ihr einen großen, zwielichtig aussehenden Burschen? Dunkel. Irgendwie verwegen. Er trieb sich vor Eurem Haus herum, als ich kam.«

Sophie hob die Schultern, doch Ernestine warf den Kopf zurück. »Sophie, du führst ja ein wildes Leben!«, rief sie mit einem spröden Lachen. »Du musst mir wirklich alles erzählen!«

»Aber ich kenne so einen Mann nicht.«

»Wie überaus schade!«

Jakob fuhr mit der Hand über seine rasierte Wange, während er zum Fenster trat. Er bedauerte, dass sein Gepäck noch nicht gebracht worden war, aber wenigstens hatte Hermeskeil Wort gehalten und den Drachen von Wirtschafterin angewiesen, ihm ein Bad herzurichten. Das lauwarme Wasser war ein Segen gewesen, doch jetzt, in seiner kleinen Kammer, kehrten die düsteren Gedanken zurück. In einem Anflug von kindischem Trotz wünschte er, Maxilius hätte ihn im Kerker sitzen lassen. Alles war besser als Karius’ grinsende Fratze unten auf der Straße. Der Leutnant schien von seinen anderen Pflichten entbunden und stand zufrieden in der Sonne. Jakob fasste einen Entschluss. Er streifte sein Lederwams über das verschwitzte Leinenhemd, glättete die Spitze an Kragen und Manschetten und trat in den engen Flur. Auf der Treppe begegnete ihm die Haushälterin. Das Erschrecken der ältlichen Frau stachelte seinen Ärger von Neuem an.

»Um Gottes willen, ich tue Euch nichts«, erklärte er ironisch.

»Der Herr Pfarrer hat gesagt, dass Ihr das Haus nicht verlassen dürft«, keifte sie, nachdem sie ihren Schrecken überwunden hatte. »Also geht zurück! Oder wollt Ihr mich in Schwierigkeiten bringen?«

Jakob fragte sich flüchtig, ob Übellaunigkeit in Heidelberg zwingend zum Wesen einer Haushälterin gehörte. »Mit Verlaub, ich kann mir den Herrn Pfarrer nicht mit der Gerte vorstellen, wie er Euch züchtigt. Daher bitte ich Euch, beiseitezutreten und mich meinen Geschäften nachgehen zu lassen. Sie sind wichtig.«

Die Frau warf ihm einen giftigen Blick zu, aber als Jakob einfach auf sie zuging, raffte sie ihre Röcke und flüchtete die Stufen hinunter. »Ich habe die Haustür abgeschlossen!«, rief sie und ließ die Schlüssel klimpern.

Statt einer Antwort suchte Jakob nach der Hintertür für die Dienstboten. Er fand sie ohne Schwierigkeiten und zu seiner Erleichterung war sie unverschlossen. Ohne auf das Zetern zu achten, gelangte er ins Freie. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er keinen Mantel mitgenommen hatte, doch die plötzliche Freiheit berauschte ihn. Entschlossen zog er die Tür hinter sich zu.

Er durchquerte das Gemüsegärtchen und trat durch das Holztor auf die Straße. Dort sah er sich nach rechts und links um, aber außer einer Horde lärmender Kinder war die Gasse leer. Jakob schmunzelte, als er an Karius dachte, der immer noch vor dem Haus herumlungerte. Dennoch galt es, sich zu beeilen, denn er wusste nicht, ob der Hausdrache auf die Idee kam, dem Leutnant von seiner Flucht zu berichten.

Beschwingt eilte Jakob zu dem Mietstall, in dem laut Hermeskeils Aussage seine Stute untergestellt war. Anstandslos zäumte der Knecht das Pferd auf, sattelte es und führte es aus dem Stall. Jakob warf dem Mann eine Münze zu. Der tippte sich an die Schläfe und Jakob war überrascht, wie gut die spontane Freundlichkeit tat, obwohl er vermutete, dass der Mann gar nicht wusste, dass er ein katholisches Pferd gesattelt hatte. Im Geiste sah er sich bereits in Reilings Hof, wo er endlich seinen Auftrag weiterverfolgen konnte, und damit meinte er nicht die Leiche, die ihm fast ebenso gleichgültig war wie offenbar dem Stadtkommandanten.

Er machte Anstalten, sich auf sein Pferd zu schwingen, als er an der Schulter herumgerissen wurde. Eine Faust traf ihn ins Gesicht. Jakob taumelte, gleichzeitig stieg die temperamentvolle Rappstute mit einem schrillen Wiehern auf die Hinterhand. Er versuchte, nach dem Zügel zu greifen, wurde aber an den Armen gepackt und zurückgeworfen.

»Um der Liebe Gottes willen, Ihr Herren«, schrie der Knecht, der zu ihnen rannte, »das Pferd!«

Im letzten Moment rollte Jakob sich weg, als die Hufe über seinem Kopf niedersausten. Ein Tritt traf ihn in die Eingeweide. Der Pferdeknecht zog das Tier beiseite, während Jakob sich auf die Knie kämpfte. Keuchend wischte er sich über den Mund und schüttelte den dröhnenden Kopf, ehe er aufsah. Über ihm stand Karius.

Mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte, kam Jakob auf die Füße und klopfte den Schmutz von den Kleidern. »War das nötig?«, fragte er kalt, wenn auch etwas undeutlich. Behutsam tastete er mit der Zunge über die Zähne. Sie schienen festzusitzen.

»Scheißkatholik!«, knirschte Karius. »Du lebst nur noch, weil der Major es so will!«

»Der Major wünscht, dass ich einen Mord aufkläre. Ihr hindert mich daran mit Eurer vollkommen unsinnigen Wut. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich Befehl erhalten habe, Euch über meine Schritte zu informieren.« Jakob betonte das »Euch« geringschätzig und fragte sich, warum er den fanatischen Katholikenhasser auch noch reizte. Er zwang sich, nicht auf die krampfartig geschlossene Faust zu achten, die halb erhoben in der Luft schwebte. Stattdessen schaute er sich betont gelassen nach seinem Pferd um. Es stand mit zuckenden Ohren neben dem Pferdeknecht. Karius’ Stimme zwang ihn, sich wieder seinem Gegner zuzuwenden.

»Ich werde Euch jetzt dahin zurückbringen, wo Ihr hingehört. In den Kerker. Kommt gutwillig mit, sonst …«

»Ja? Ihr habt Euren Satz nicht zu Ende gesprochen. Seid Ihr sogar zum Reden zu feige?«, höhnte Jakob.

In den Augen des Soldaten loderte es. Jakob spannte die Muskeln an. Karius war größer, schwerer und wütender. Egal, was jetzt kam, schön würde es nicht werden.

Karius’ Faust schoss vor, aber diesmal wich Jakob zur Seite und der Schwung brachte den Leutnant aus dem Gleichgewicht. Jakob rammte ihm die Faust in die Rippen. Sein Widersacher taumelte, Jakob setzte nach, doch in diesem Moment bäumte sich sein Pferd erneut auf. Der winzige Augenblick genügte. Zum zweiten Mal traf Karius Jakobs Kinn. Der strauchelte, ließ sich fallen und rollte unbeholfen aus der Reichweite der Schläge. Als der Leutnant sich auf ihn stürzen wollte, trat Jakob blindlings nach oben.

Jede Finesse war überflüssig, eine brutale Schlägerei brach aus, wie es sonst nur zu später Stunde in Wirtshäusern vorkam. Beide bluteten aus Mund und Nase. Die Schläge wurden unsicherer, keiner war bereit, einen Fußbreit Boden aufzugeben. Jakobs Arme brannten, er atmete flach. Karius keuchte und schnaufte.

Das laute Klatschen zweier gegeneinanderschlagender Hände ließ die beiden zur Seite schauen. An einem Holzpfeiler lehnte ein großer Mann, umringt von neugierigen Kindern, und grinste spöttisch.

»Unentschieden, würde ich sagen«, urteilte Jiří und stieß sich ab. »Wenn ihr zwei euch totgeschlagen habt, ist es immer noch unentschieden. Was ist das eigentlich? Die Schlacht am Weißen Berg für Zwerge?«

Karius wischte sich das Blut ab und trat auf den Böhmen zu. »Halt dein Schandmaul, wenn du nicht verhaftet werden willst!«

»He, ich will keinen Ärger.« Jiří hob beide Hände. »Macht ruhig weiter. Ich schau bloß zu.«

»Ja, weiter!«, grölten die Jungen.

Jakob konnte nicht anders, er brach in schmerzhaftes Gelächter aus.

Karius fuhr zu ihm herum. »Dir vergeht gleich das Lachen!«

»Himmel, er hat ja recht«, murmelte Jakob und musterte seine aufgeschlagenen Knöchel, ehe er vorsichtig über sein Gesicht tastete. »Die Kinder da benehmen sich erwachsener als wir. Ich bitte Euch um Verzeihung für meine Unbeherrschtheit, Herr Leutnant.« Er streckte die Rechte aus. »Waffenstillstand?«

Karius stierte auf die schmale Hand. »Knecht! Ein Pferd! Und Ihr bleibt hier. Wagt nicht, Euch vom Fleck zu rühren!« Er stürmte in den Stall.

Jakob nahm die Zügel seiner Stute, da der Knecht hinter dem wütenden Offizier hereilte. »Wahrscheinlich sollte ich Euch danken. Nur frage ich mich, warum Ihr Euch eingemischt habt. Spioniert Ihr mir nach?«

»Wieso? Ich kenne Euch doch gar nicht.« Jiří deutete mit dem Daumen auf die Kinder, die unschlüssig wirkten, ob es noch etwas zu sehen gab, für das es sich zu bleiben lohnte. »Ich wollte nur wissen, was die Jungs hier so begeistert. Aber woher kennt Ihr mich?«

Jakob sah ein, dass sich der Fehler nicht mehr ausbügeln ließ. »Ihr seid eine Berühmtheit in Reilings Hof.«

Kurz blitzten die schwarzen Augen des Böhmen auf, aber der Glanz verblasste schnell zu dem alten spöttischen Funkeln. »Worum ging es denn?«

»Um den rechten Glauben.«

Jiří schnaubte durch die Nase.

In diesem Moment kam Karius mit einem hochbeinigen Rotfuchs zurück. Wenn er selbst nur halb so schlimm aussah, dachte Jakob, konnten sie beide eine Woche lang kleine Kinder erschrecken. Karius war anzusehen, dass er die letzten Worte gehört hatte. Seine geschwollenen Augen flammten schon wieder auf.

»Ich muss aufbrechen. Lebt wohl, Held vom Weißen Berg.«

»Wollt Ihr mir nicht sagen, mit wem ich das Vergnügen habe?«

Jakob lächelte ironisch. »Wenn Ihr das wirklich noch nicht wisst, bin ich sicher, dass Ihr es bald herausfinden werdet«, sagte er und zog sich mit schmerzenden Rippen auf sein Pferd. Mit unchristlicher Genugtuung sah er, dass auch Karius sich mühsam in den Sattel quälte. »Und jetzt?«

»Jetzt folgt Ihr mir.«

Jakob beschloss, vorerst den Mund zu halten. Im Sattel drehte er sich nach dem Böhmen um und sah gerade noch, wie dieser einen der Jungen am Ärmel erwischte, ehe der sich aus dem Staub machen konnte, und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

»Schneller«, grollte Karius und wieder gehorchte Jakob.

Jiří hatte es nicht eilig, sein Pferd zu holen. Er war ziemlich sicher, dass der aalglatte Katholik und sein Bewacher zu Reilings Hof wollten, denn innerhalb der Stadtmauern benötigte man keine Pferde. Er griff in seine Tasche, förderte eine halbe Wurst zutage und genoss, an eine Mauer gelehnt, die warmen Sonnenstrahlen. Schließlich leckte er das Fett von den Fingern und folgte den beiden Männern zu Fuß.

Die Waldesstille umfing ihn, trockene Blätter knisterten, die letzten Vögel zwitscherten gegen den Herbst an. Als ein Rabe krächzte, machte Jiří geistesabwesend das Zeichen gegen den bösen Blick, versteckt allerdings, denn diese Calvinisten waren sehr streng, was den hussitischen Aberglauben seiner Großmutter anging. Der Gedanke an die weiße Hand, wütend geballt auf dem Weg, blitzte auf. Erst beim Anblick des friedlichen Gasthofes entspannte Jiří sich.

Aus dem Schankraum erklangen die gedämpften Stimmen der Gäste, die um diese Stunde ihr Mittagsmahl zusammen mit einem Bier genossen. Aus dem oberen Stockwerk erscholl ein spitzer Schrei. Jiří grinste dreckig. Die kleine Anni gewährte also wieder einmal einem der Gäste ihre Gunst. Er griff in die Tasche seines Lederwamses und klimperte mit den verbliebenen Malaygroschen, die ihn aus Böhmen hierherbegleitet hatten. Sie waren abgegriffen und nicht von großem Wert, aber das Mädchen hatte der silbrige Glanz zu Höchstleistungen angespornt. Leiser, als es seine Art war, betrat er die Schenke und stellte enttäuscht fest, dass statt Lena Gisbert am Ausschank stand. Die Schankmagd war wieder in Gesellschaft des Katholiken. Jiří drückte den Hut in die Stirn und schlenderte zu Gisbert. Der Wirt öffnete den Mund zu einer Begrüßung, doch Jiří legte den Finger auf die Lippen. »Bitte, mein Freund, kein Aufsehen. Gib mir einfach ein Bier.«

»Geht trotzdem aufs Haus«, brummte Gisbert und füllte einen Humpen. »Was führt dich her? Wieder Geschäfte?« Sein Lächeln war eine unangenehme Mischung aus Anzüglichkeit und Neugier.

Jiří winkte ab. »Nur Bier.«

Immer noch unbemerkt schob er sich in eine Ecke und fuhr fort, die drei an ihrem Tisch zu beobachten. Lena hatte sich nicht gesetzt, ihre Hände waren auf die zerschrammte Tischplatte gestützt. Ihre aufgekrempelten Ärmel gaben ihre vom Sommer noch sanft gebräunten Unterarme preis. Aus dem aufgesteckten braunen Haar hatten sich lange Strähnen gelöst und ringelten sich auf der einfachen Bluse. Sie schüttelte den Kopf, nickte, verstummte, und Jiří bildete sich ein, dass sie sich zunehmend unwohl fühlte. Wäre es nur um den Katholiken gegangen, wäre er sofort als ihr Retter aufgetreten, doch mit dem Leutnant wollte er sich nicht anlegen. Plötzlich erhob sich der Katholik und kam direkt auf ihn zu. Jiří biss sich auf die Lippen. Es kam nicht oft vor, dass er Menschen unterschätzte, aber der Kerl schien die ganze Zeit gewusst zu haben, dass er da war. Jiřís Grinsen fiel säuerlich aus, als der Katholik sich unaufgefordert zu ihm setzte.

»Also spioniert Ihr mir doch nach«, stellte er trocken fest. »Ich will es Euch einfach machen und mich vorstellen. Ich bin Jakob Liebig, Herr Němec.«

»Einfach Jiří«, brachte der hervor. Es konnte nicht schaden, dem gut gekleideten Fremden etwas zu schmeicheln. Und wenn der ihn weiter unterschätzte, umso besser. Er erwartete, dass der Katholik sein Angebot mit der Selbstverständlichkeit reicher Herren annehmen würde, doch er wurde überrascht.

Liebig lächelte hintergründig und sagte: »Nun, Herr Němec, weil ich Lena ersparen möchte, dass Ihr Euch später an sie heranmacht, um sie auszuhorchen, will ich Euch gleich einweihen. Ich untersuche zusammen mit dem Leutnant einen Mord.«

Jiří war stolz, dass er dem forschenden Blick standhielt. Nur die Hand auf seinem Oberschenkel verkrampfte sich. »Einen Mord?«

»Einen Mord an einem Unbekannten«, bestätigte Liebig. »Ein paar Jahre jünger als Ihr, kräftig, war oft an der Sonne, womöglich ein Soldat. Ist Euch so jemand begegnet?«

»Klar.«

Jakob hob die Brauen. »Er ist?«

Jiří zeigte wahllos auf einen der Gäste. »Da. Und da. Der da auch. Nee, der ist zu alt.« Er legte den Kopf schief und lächelte treuherzig.

Jakobs Mundwinkel zuckten, aber Jiří konnte nicht sagen, ob er verärgert oder belustigt war. Mehr denn je nahm er sich vor, etwas über diesen Menschen herauszufinden. »War das eine Hilfe?«

»Nicht wirklich, da keiner dieser Männer ein zertrümmertes Gesicht und eine durchgeschnittene Kehle hat.«

Jiřís Züge entgleisten. »Wär auch unpraktisch beim Trinken«, brachte er hervor. Wieder vollführte er unter dem Tisch das Zeichen gegen Dämonen und Hexen. »Wo wurde er denn gefunden?«

»Bei den Schanzen. Gestern am frühen Abend.«

»Unmöglich!«

Wieder wanderten die dunklen Brauen des Katholiken in die Höhe. »Wieso unmöglich?«

Jiří fasste sich und grinste. »Weil ich so etwas normalerweise als Erster erfahre. Wisst Ihr, die Leute reden gern mit mir.«

»Und Ihr mit ihnen. Wart Ihr wirklich am Weißen Berg dabei?«

»War ich«, entgegnete Jiří kurz und leerte sein Bier.

Der Katholik betrachtete es, dann Jiří, zuletzt hob er einen Finger. Lena nickte und ging zum Tresen.

»Danke«, sagte Jiří überrascht.

Liebig bedachte ihn mit einem undeutbaren Blick. »Nehmt es als Anzahlung für den Schlachtbericht, den ich später von Euch erwarte.« Er schob den Hocker zurück. »Die Wahrheit wäre allerdings schön.«

»Wirklich?«, entfuhr es Jiří.

Liebig antwortete nicht, sondern gesellte sich zu Karius, der aus einem Auge – das andere war komplett zugeschwollen – zu ihnen herüberstierte. Jiří widmete sich einem erfreulicheren Anblick: Lena und seinem Bier.

Diesmal gelang es ihm, ihre Finger beim Abstellen des Kruges zu erhaschen. »Du kennst den Kerl, nicht wahr?« Als sie ihn nur stumm anschaute, verschränkte er seine Finger mit ihren. »Hat er mit dir auch über diese Leiche gesprochen?«

»Ja«, gab sie einsilbig zurück und befreite ihre Hand.

»Wenn du in Schwierigkeiten bist …«

Lenas Augen weiteten sich, bevor sie in Gelächter ausbrach. Es war ein wunderschönes Geräusch. »Und da wollt ausgerechnet Ihr mir helfen, Herr Němec? Danke, aber nein danke.«

»Aber …«

»Ich danke Euch wirklich.« Sie berührte flüchtig seinen Handrücken. »Ich wollte mich nicht über Euch lustig machen. Aber ich denke nicht, dass mir von Herrn Liebig Schwierigkeiten drohen. Herr Němec …«

»Ja?«, fragte er etwas atemlos.

»Wenn Ihr Euch wirklich als Freund erweisen wollt, dann habt ein Auge auf Anni. Sie ist zu vertrauensselig.«

»Anni?«, murmelte Jiří. »Nun gut. Wenn ich dir damit eine Freude mache. Nennst du mich dann Jiří? Als Gegenleistung?«

Lena lachte, dieses Mal leise, und ging zum Tresen. Sein Blick saugte sich an ihren Hüften unter dem Leinenrock fest. Wenn der Weg zu dieser Frau über Anni führte, würde er sich nicht beklagen.

Während das Bier in die Steinkrüge gluckerte, beobachtete Lena die Gäste. Normalerweise liebte sie den Trubel der Schankstube, der sie von ihren eigenen düsteren Grübeleien abhielt, aber heute konnte sie kaum erwarten, bis der Raum sich leerte. Herr Liebig und der Leutnant waren vor einer Stunde gegangen, ersterer mit einem höflichen Lächeln, bei dem jeder Muskel seines Gesichtes geschmerzt haben musste. Lena hatte schon einige Schlägereien gesehen, doch den vornehmen Herrn Liebig konnte sie sich beim besten Willen nicht Fäuste schwingend vorstellen. Der Leutnant war etwas anderes. Selten hatte ein Mensch ihr solch eine Furcht eingejagt. Sie dachte an Anatol, ihren mörderischen Geliebten. Auch er war Leutnant gewesen. Hauptmann Maxilius und Jakob hatten ihn zur Strecke gebracht. Es war Sünde, dass ihr Herz noch heute manchmal zuckte, wenn sie an ihn dachte. Er war ein schlechter Mensch gewesen. Und sie eine dumme Gans! Ihr Blick huschte zu Anni, die endlich mit geröteten Wangen und keckem Hüftschwung nach unten gekommen war.

Lena seufzte. »Anni!«

Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und reckte die Stupsnase. »Ich hab nichts getan.«

Lena dachte an ihr Gespräch mit dem Böhmen und setzte eine strenge Miene auf. »Nur weil Herr Reiling es gutheißt, was du oben …« – ein warnender Laut Annis verriet ihr, dass der Wirt im Anmarsch war, aber sie ließ sich nicht beirren – »… treibst, heißt das nicht, dass es keine Sünde ist.«

In ihrem Rücken brummelte Gisbert etwas vor sich hin, aber er wies Lena nicht zurecht. Anni hingegen fuhr er unwirsch an: »Die Treppe muss gewischt werden. Und zwar nass. Nicht nur mal schnell mit dem Besen drüber wie beim letzten Mal.«

»Ich helfe ihr!«, rief Lena rasch, und ehe der Wirt Einwände erheben konnte, hatte sie Annis drallen Arm ergriffen und zog sie zur Tür.

Der Hof lag zwar in hellem Sonnenglanz, dennoch pfiff ein kalter Wind vom Wald her. Sie fröstelte in den dünnen Kleidern, doch genoss sie den Geruch nach Herbst und Laub, den der Wind herüberwehte.

Anni quietschte empört und riss sich los. »Das ist ja nett, dass du mir helfen willst …«

»Nimm den Eimer und lass dir nichts anmerken«, befahl Lena. »Los, mach schon.«

Während Anni den Eimer in den Brunnen hievte, musterte sie Lena aufmüpfig. »Was ist?«

»Erinnerst du dich an diesen dunkelhaarigen, jungen Mann – Kuno?«

Anni schoss die Röte ins Gesicht. »Kuno. Natürlich.« Sie kicherte. »Der ist ein stattliches Mannsbild. Ganz anders als der fette alte Mann, den ich eben … Aber er ist lieb. Seine Frau …«

»Anni«, zischte Lena. »Was kannst du mir über Kuno erzählen?«

»Er ist …« Anni schürzte trotzig die Lippen. »Aber das willst du ja doch nicht wissen. Eigentlich wollte er mich hier rausholen und zu seinen Leuten mitnehmen, das hat er mir versprochen. Dann hatten wir Streit und ich hab nichts mehr von ihm gehört. Wieso? Ist er wieder da? Dann könnten wir …«

Kurz war Lena in Versuchung, dem Mädchen eine kräftige Ohrfeige zu geben, aber sie packte sie nur an den Schultern und schüttelte sie leicht. »Beschreib ihn mir!«

»Wieso? Du weißt doch selber, wie er aussieht.«

»Gibt es irgendetwas an seinem Körper? Ein Mal oder …«

Anni schlug die Hand vor den Mund und kicherte albern. »Haare!«

»Haare?«

»Du, der Kuno ist wirklich behaart. Manchmal habe ich …« Anni sah, wie Lena die Hände faltete, und verstummte. »Was ist? Ist … ist etwas mit ihm?« Ihre Unterlippe begann zu beben. »Du machst mir Angst. Was ist passiert?«

»Etwas Schlimmes. Es tut mir so leid, ich fürchte, Kuno ist tot.«

Anni schrie auf.

Lena schloss sie fest in ihre Arme und wartete auf den Tränenstrom. Während sie mechanisch über Annis Haare strich, waren ihre Gedanken weit fort. Sie würde zu Major Maxilius gehen müssen. Sie schob das Mädchen von sich. »Anni, sieh mich an. Es ist ein Toter gefunden worden, und ich denke, es ist dein Kuno. Das müssen wir dem Stadtkommandanten sagen.«

Annis Unterkiefer klappte herunter, sie vergaß sogar zu schluchzen. »Dem Stadtkommandanten? Aber … aber da werden die uns nie vorlassen. Und ich will auch gar nicht. Du weißt doch nicht, ob er es wirklich ist. Mein Kuno!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann, laut zu heulen.

Lena griff nach der Kurbel und holte den Eimer nach oben. Das Wasser schwappte über die Vorderseite ihres Kleides, doch sie hatte keine Zeit, darauf zu warten, dass Anni ihr half. Das Mädchen stieß immer noch unzusammenhängende Satzfetzen hervor.

»Wir gehen!«, befahl sie schließlich. »Jetzt. Und ja, der Stadtkommandant wird uns empfangen.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«, begehrte Anni auf. Ihre Augen weiteten sich ungläubig. »Du und er? Aber …« Sie verstummte, als Lena sie grob am Handgelenk packte und erneut schüttelte.

»Du nimmst jetzt den Eimer, putzt die Treppe, und wenn du fertig bist, brechen wir auf. Ich kläre das mit Herrn Reiling.«

»Du wolltest mir doch helfen«, schmollte Anni.

»Das tue ich. Glaub mir.« Lena drückte ihr den Eimer in die Hand und schubste sie zurück in die Schankstube.

Der Böhme hob sofort den Kopf, und Lena verwünschte das Wasser, das dafür sorgte, dass ihre Rundungen sich ungeschützt unter dem nassen Leinen abzeichneten. Er grinste, aber sie sah ihn so drohend an, dass er den Mund zuklappte. Reilings Einverständnis bekam sie rasch. Es war ein seltsames Gefühl, innerhalb dieser vier Wände so etwas wie Macht zu haben. Lena hatte schnell herausgefunden, dass Gisbert Reiling zwar gutes Bier braute und eine Nase für allerlei krumme Geschäfte hatte, viele der besseren Gäste jedoch ihretwegen kamen. Sie hob den Kopf etwas höher, während Anni lustlos auf der Treppe herumfuhrwerkte. Lena wusste, je mehr Lärm sie machte, desto schlampiger arbeitete sie. Plötzlich hielt Jiří einen Finger in die Höhe. Lena biss die Zähne zusammen. Konnte der Kerl nichts anderes als saufen? Ohne sich sonderliche Mühe zu geben, freundlich zu wirken, trat sie näher. »Noch ein Bier?«

»Eigentlich wollte ich meine Dienste anbieten.« Lena hob die Brauen. »Ich habe ganz durch Zufall mitbekommen, was du mit dem verehrten Herrn Reiling besprochen hast. Ich muss in die Stadt. Ich könnte dich begleiten. Ich sollte dich begleiten. Die Wege sind nicht sicher.« Bei den letzten Worten wirkte er ungewöhnlich ernst. Und leider hatte er recht. Als er ihr Zögern sah, blitzte seine alte Frechheit auf. »Und ich könnte …«

»Nein!«

»Wie … Nein?«

»Ihr könnt nicht. Ich nehme Euer Angebot an, weil es vernünftig ist. Aber Ihr könnt nicht. Egal, was es ist.«

Er zuckte die Achseln. »Du weißt nicht, was du verpasst. Ich warte hier. Und in der Zwischenzeit … Nein«, er lächelte schief, »kein Bier mehr.«

Wenig später befanden die drei sich auf der alten Straße nach Heidelberg. Lena versuchte heldenhaft, ihre Belustigung zu unterdrücken. Der arme Jiří ertrug die Enttäuschung tapfer, dass sie sich strikt geweigert hatte, sich vor ihn auf sein Schlachtross zu setzen. Anni hätte den Platz hinter ihm bekommen – das leichtfertige Ding war drauf und dran gewesen zuzusagen. Lena glaubte ihm, dass das Pferd die dreifache Belastung ausgehalten hätte, sie hatte das riesenhafte Biest im Stall gesehen, doch ansonsten glaubte sie ihm rein gar nichts. Also gingen sie zu Fuß durch den Wald. Nachdem es ihr gelungen war, Annis helle Stimme auszublenden, genoss sie den Marsch. In ein dickes Wolltuch gehüllt, raschelte sie durch das welke Laub, wie sie es als Kind getan hatte, während sich um sie herum alles Leben hartnäckig gegen den Winter wehrte. Vögel, Eichhörnchen und größeres Getier taten alles, die letzten Wochen zu feiern. Sie dachte an den Krieg. Ob Jiří wirklich beim Weißen Berg dabei gewesen war? Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, war ein Ausdruck in seinen Augen, der ihr Angst machte. In diesen Momenten glaubte sie ihm. Und sie fragte sich, was er verschwieg. Vor einem halben Jahr war er wie aus dem Nichts aufgetaucht, abgerissen und schmutzig. Jetzt hatte er Geld, Freunde und war ihr ein noch größeres Rätsel als zuvor. Lena bückte sich nach einem Tannenzapfen und ließ ihre Finger über das trockene Holz wandern.

»Ihr müsst uns nicht zur Garnison begleiten«, sagte sie in eine Gesprächspause hinein.

»Du willst wirklich zum Stadtkommandanten? Das war nicht nur eine Ausrede, um dem alten Schinder zu entkommen?«

Lena stöhnte gereizt. »Natürlich nicht. Und ja, ich muss zum Stadtkommandanten.«

»Dann geh zu den Schanzen. Da wirst du ihn eher antreffen als in der Garnison.«

»Woher wisst Ihr das denn schon wieder?«, entfuhr es ihr.

Er schmunzelte und nahm ihr den Tannenzapfen aus der Hand. Seine Finger waren warm und rau. Er zielte und warf. Ein wütendes Quieken im Unterholz war die Antwort. »Ratten«, murmelte er. »Die kriegen noch genug zu fressen, wenn es losgeht. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich weiß das, weil er dauernd da ist. Tag und Nacht. Man sagt, dass er nicht mehr schläft, dein Stadtkommandant.«

»Er ist nicht mein Stadtkommandant«, fauchte Lena.

Anni kicherte und Jiří zuckte die Schultern. »Gut für mich. Einer wie Spielvogel macht mir keine grauen Haare, aber ein Major …«

»Herr Němec, ich habe Euch nie irgendeine Ermutigung gegeben und ich …« Sie biss sich auf die Lippen, als der Schalk in seinen Augen aufblitzte. »Ihr seid unleidlich.«

»Aber ich habe dich zum Lachen gebracht. Gott hat es zu einem guten Tag gemacht.«

Sie hob die Hände zum Himmel und schnaubte. Die Stadtmauer tauchte in der Ferne auf. Überrascht stellte Lena fest, dass es ihr beinahe leidtat, dass sie am Ziel waren. Die Wache am Speyerer Tor machte sich kaum die Mühe, für zwei Frauen und einen Mann, alle zu Fuß, den Kopf zu heben. Der junge Soldat lehnte an der Mauer und hielt sein gerötetes Gesicht in die Sonne.

»Wir suchen den Stadtkommandanten!«, rief Jiří.

Statt misstrauisch zu werden, deutete der Mann an der Außenmauer entlang. »Der ist aber beschäftigt. Der halbe Rat ist bei ihm. Alles furchtbar wichtige Herren.«

»Danke.« Jiří sah die beiden Frauen an. »Sicher? Wir könnten auch …«

»Ganz sicher«, entgegnete Lena und fasste Annis Hand.

Je weiter sie kamen, desto lebhafter wurde das Treiben auf der Baustelle. Lena ließ ihre Gefährtin nicht los. Zuerst hatte sie sie beruhigen wollen, jetzt umklammerte sie ihre Finger warnend, denn sie wusste, wie gern Anni die guten Sitten fahren ließ. Die bewundernden Blicke der vielen Männer waren eine beinahe unwiderstehliche Versuchung für das Mädchen. Nach rechts und links den Hals drehend, stolperte sie neben ihrer Freundin her. Lena gab es ungern zu, aber hier war sie für Jiřís Anwesenheit ehrlich dankbar. Ein paar Scherze, mehr trauten sich die Männer nicht. Die Arbeit schien unglaublich schwer zu sein. Lena konnte sich nicht vorstellen, wie jemand diese Wälle würde überwinden können. Doch als sie in Jiřís Gesicht sah, erkannte sie nur abgrundtiefen Zynismus. Alle wärmeren Gefühle erstarben jäh. Umso eifriger schaute sie sich nach Maxilius um und schließlich entdeckte sie ihn. Inmitten einer Gruppe gut gekleideter Ratsherren wirkte er staubig und abgekämpft. Er war braun gebrannt, aber hager, und unter den Augen lagen dunkle Ringe, den speckigen Hut hielt er, wie er es gern tat, in der Hand und nutzte ihn, um in einem wütendem Rhythmus gegen seinen Oberschenkel zu schlagen. Sogar die Ratsherren schienen Abstand zu halten. Am Rand der Gruppe standen Jakob und der Leutnant, beide mit absurd zerschlagenen Gesichtern. Jakob sah im hellen Sonnenlicht noch schlimmer aus als in der gnädigen Beleuchtung der Schankstube. Lena wunderte sich, dass er sich überhaupt auf den Füßen halten konnte. Sie merkte, dass Jiří sie ansah, nicht auffordernd, eher neugierig. Sie hob das Kinn und trat auf die Männer zu. Als sie nahe genug war, dass Maxilius sie irgendwann sehen musste, blieb sie bescheiden stehen und wartete. Anni drängte sich an ihre Seite. Es war nicht der Stadtkommandant, sondern einer der Ratsherren, ein schlanker Mann in den Vierzigern, der sie schließlich bemerkte. Er musterte sie eine Weile, ehe er Maxilius mit einem diskreten Wink auf sie hinwies.

Ungeduldig fuhr der Stadtkommandant herum. Lena lächelte scheu. Maxilius stutzte und setzte seinen Hut auf. Er gebot dem Vorarbeiter, der gerade irgendeinen Bericht erstattete, zu schweigen und winkte den Frauen mit seiner behandschuhten Hand zu. Lena konnte die Verwunderung der Männer ebenso spüren wie ihr Missfallen. Nur Jakobs Gesicht blieb unbeweglich, was aber an seinem Zustand liegen mochte.

»Lena«, sagte der Major, als sie vor ihm stand. »Ich nehme an, es ist wichtig?«

Lena machte einen Knicks. Auf einmal war sie um Worte verlegen. Sie machte einen zweiten Knicks.

Seine grauen Augen, kühl und forschend, verengten sich unheilvoll.

»Es geht um die Leiche, Herr Major«, erklärte sie. »Herr Liebig hat Fragen gestellt.« Sie hoffte, dass sie Jakob nicht in Schwierigkeiten brachte, doch der nahm die Aufmerksamkeit gelassen hin. »Ich hatte eine Idee, wer der Tote sein könnte. Oder vielmehr Anni.« Sie knuffte das Mädchen in die Rippen.

Annis Mund stand offen. Sie starrte Maxilius an wie eine Erscheinung. Lena biss die Zähne zusammen. Musste das dumme Ding, das doch wirklich nicht schüchtern war, ausgerechnet jetzt vom Anstand gepackt werden? Sie bohrte ihr den Finger in die Seite. »Anni, red!«, zischte sie.

»Kuno«, flüsterte Anni errötend.

Lena blickte Maxilius hilfeflehend an. Zu ihrer Überraschung lächelte er. Es machte ihn um Jahre jünger. Und während der halbe Rat in der Sonne stand und wartete, schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit der kleinen Schankmagd.

»Der Mann heißt also Kuno?«

Er muss Ohren wie ein Luchs haben, dachte Lena bewundernd.

Anni nickte stumm. Ihre Augen waren tellergroß.

»Kuno? Und wie weiter?«

»Das weiß ich nicht«, hauchte sie.

Irgendjemand lachte abfällig.

Maxilius setzte den Hut wieder ab. Er sah zu Lena hinüber, die ratlos die Achseln zuckte.

»Nun gut, Mädchen, du wirst jetzt mit Lena in die Garnison gehen und dort auf mich warten. Ich muss mir deine Geschichte in Ruhe anhören. Leutnant!«

Karius trat zu seinem Vorgesetzten. »Herr Major?«

»Ihr begleitet die beiden Frauen. Seht zu, dass sie mit allem Nötigen versorgt werden.«

»Und der Katholik?«

»Ich werde wohl in der Lage sein, auf ihn aufzupassen. Und auch ein irrgläubiger Ketzer wird nicht die Macht haben, sich einfach in Luft aufzulösen«, entgegnete Maxilius bissig.

Karius wurde rot, soweit die Farben seiner Blessuren das zuließen. Er befahl Anni und Lena, ihm zu folgen. Plötzlich erinnerte sich Lena an Jiří. Sie schaute sich um. Er stand in einiger Entfernung. Vielleicht konnte Jakob sich nicht unsichtbar machen, Jiří konnte es jedenfalls hervorragend. Obwohl er sich nicht eigentlich versteckte, gelang es ihm, vollkommen unauffällig zu wirken. Er grinste ihr zu.

»Macht endlich!«, rief Karius.

Jakob sah Karius und den beiden Frauen hinterher. Es war eine Befreiung, den Leutnant ziehen zu sehen. Mit gehässigen, geschwollenen Argusaugen hatte Karius ihn während der letzten halben Stunde gemustert und immer wieder geraunt: »Ja, erzähl deinem katholischen Herrn nur, wie gut Heidelberg befestigt ist.«

Dabei hatte Jakob von der praktischen Seite der Schanzarbeiten keinerlei Ahnung und es hatte auch nichts mit seinem Auftrag zu tun, dennoch war er routiniert genug, sich möglichst viel von dem zu merken, was der Vorarbeiter Maxilius und dem Rat berichtete. Alles, so hatte der Herzog ihm während der letzten geheimen Audienz eingeschärft, konnte wichtig, konnte kriegsentscheidend sein. Und natürlich würde Jakob berichten, wenn er gefragt wurde.

Er seufzte. Was hätte Karius gelacht, wenn er gewusst hätte, dass Jakob insgeheim hoffte, nicht gefragt zu werden.

Der Vorarbeiter sprach immer noch. Es war ihm anzumerken, dass er stolz auf seine Arbeit und seine Männer war. Maxilius unterbrach ihn hier und da mit einer Frage. Dass die Mitglieder des Rates immer ungeduldiger wurden, schien keiner der beiden zu bemerken, wobei Jakob vermutete, dass es Maxilius sehr wohl bewusst war und dass die eine oder andere Frage den Bericht unnötig in die Länge zog. Doch besonders die beiden Oberen Räte, die Vertreter des kurfürstlichen Rates, durften sich nichts anmerken lassen. Der ältere der beiden, ein weißhaariger Mittfünfziger, stützte sich schwer auf einen Stock. Nur Rat Hirsch gähnte von Zeit zu Zeit verstohlen, wenn er sich unbeobachtet wähnte.

Eine weitere Viertelstunde verstrich, bis der Vorarbeiter sich tief verbeugte und an seine Arbeit zurückkehrte. Die Gruppe löste sich auf, und Jakob wusste, was jetzt kommen würde. Noch ehe Maxilius ihn mit einer barschen Geste zu sich zitieren konnte, ging er auf den Stadtkommandanten zu.

»Ihr habt Euch mit meinem Leutnant geprügelt«, stellte Maxilius ausdruckslos fest. »Ist das das, was Katholiken unter Diplomatie verstehen?«

»Ich bin kein Schläger«, verwahrte sich Jakob nachdrücklich.

»Ihr nicht. Sei’s drum.« Maxilius sah den Räten nach, die unbeholfen ihren Weg über die Baustelle suchten. »Die Herren diskutieren wahrscheinlich gerade meinen Geisteszustand, weil ich einen katholischen Spion auf die Schanzen lasse.«

»Der Leutnant hielt es für eine notwendige Machtdemonstration, die mich entsprechend demütig stimmen sollte.«

Maxilius’ Mundwinkel zuckten. »Und? Ist es gelungen? Was denkt Ihr?«

»Nichts.«

»Natürlich denkt Ihr etwas. Ihr denkt immer etwas. Aber damit Ihr nicht vom Wesentlichen abgelenkt werdet, will ich Euch die Wahrheit verraten. Es ist herzlich egal, ob Ihr hier steht oder nicht. Jeder halbwegs fähige General kann sich die Arbeiten vorstellen. Und Tilly ist mehr als halbwegs fähig. Nein, wenn es so weit ist, wird es in meiner Hand liegen, ob ich die Tore öffne oder es darauf ankommen lasse, dass die Stadt erobert wird. Und da kann keine Mauer mir helfen. Nur Gott.« Jakob schluckte und Maxilius lachte trocken auf. »Lasst Euch deswegen keine grauen Haare wachsen, obwohl Ihr ein paar davon bekommen habt in den letzten drei Jahren. Erstattet mir lieber Bericht.«

»Sollte das nicht der Leutnant tun?«

»Wird er, glaubt mir. Aber jetzt seid Ihr an der Reihe. Was hat es mit dem Namen des Toten auf sich?«

»Das weiß ich nicht. Lena hat ihn nicht erwähnt, als ich sie danach gefragt habe. Ich nehme an …« Er brach ab.

»Dass sie die kleine Hure beschützen wollte? Sehr wahrscheinlich. Habt Ihr diesen Kuno auch getroffen? Ihr habt ja in Reilings Hof übernachtet. Wie lange? Eine Nacht? Zwei?«

»Eine. Und nein, ich habe ihn nicht getroffen. Jedenfalls nicht bewusst. Vielleicht kann uns Anni mehr darüber erzählen, was er hier wollte.« Jakob rief sich den Auftritt der beiden Frauen ins Gedächtnis und lächelte. »Ich bin sicher, Ihr werdet alles von ihr erfahren. Sie hat Euch ja angeschaut wie ein höheres Wesen.«

Maxilius verzog das Gesicht. »Da halte ich mich lieber an Lenas gesunden Menschenverstand. Sie vertraut Euch, und darum bin ich bereit, auf Euch zu hören. Was denkt Euer verschlagenes Politikergehirn? Wer ist der junge Mann und warum ist er tot?«

»Ein Liebeshändel?«

»Möglich, aber für diese Antwort brauche ich kein Politikerhirn. Seht Ihr, es ist wie vor drei Jahren. Ihr seid da und schon gibt es Tote. Politische Tote.« Er klang angewidert. Jakob wartete und Maxilius wurde lauter. »Ihr werdet Euch nicht ewig hinter Eurem Schweigen verstecken können. Es gibt Leute, die fordern, dass ich die Wahrheit auf der Folter aus Euch heraushole. Ich tue es nicht, weil …« Er hob die Hände. »Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht wegen Sophie. Oder weil ich denke, dass Ihr zu anständig für einen Politiker seid. Jedenfalls werdet Ihr die Fragen beantworten, die ich Euch stelle.«

Jakob starrte über die Schanzarbeiten hinweg. »Ihr kennt die Kräfte so gut wie ich. Tilly. Euer Kurfürst. Spinola … Jeder von denen hat seine Agenten, seine Boten … Ihr beherbergt einen Katholiken in Euren Mauern.«

Maxilius lachte spöttisch. »Rodriguez? Bevor ich vor dem Angst habe, fange ich an, katholische Mäuse zu fürchten. Tilly auf dem Weg in den Odenwald, Spinola in Kaiserslautern. Heidelberg in der Mitte …«

Jakob fiel auf, dass Maxilius den Kurfürsten nicht erwähnte. Entweder erhoffte er sich nichts von dieser Seite oder der Major kannte die Agenten Friedrichs. Jakob runzelte nachdenklich die Stirn. Es war ein interessanter Gedanke, den es sich weiterzuverfolgen lohnte.

»Ist Euch etwas eingefallen?«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Ihr solltet lernen, besser zu lügen«, sagte Maxilius müde. »Aber egal. Gehen wir.«

»Wohin?«

»In die Garnison«, erklärte Maxilius überrascht. »Wohin sonst?«

Da Maxilius zu Fuß gekommen war, war Jakob gezwungen, sein Pferd zurückzulassen. Dass der Stadtkommandant ihm mürrisch versicherte, das Tier werde in seinen Stall zurückgebracht, beruhigte ihn nicht. Jakob liebte die temperamentvolle Rappstute, und der Gedanke, dass ein anderer sie ritt, war ihm zuwider. Maxilius hatte die Diskussion beendet, indem er halb ungeduldig, halb spöttisch ausgerufen hatte: »Lieber Himmel, Mann, sucht Euch eine echte Frau!«

Jakob hüllte sich seitdem in empörtes Schweigen, und Maxilius machte keine Anstalten, es zu brechen. Jakob hatte den Verdacht, dass der Stadtkommandant sich auf seine grimmige Weise über ihn lustig machte. Während sie in flottem Tempo durch die Stadt gingen, tauchten die Bilder seines letzten Besuches vor seinem inneren Auge auf. Er dachte an Matthias, den er immer noch nicht wiedergesehen hatte. Und an Sophie. Jakob fühlte, wie ihm warm wurde. Ihr Haus war nicht mehr weit, zehn Minuten zu Fuß, dann könnte er sie sehen.

»He, Thomas, so weit weg von deinem Revier?«

Jakob kehrte in die Gegenwart zurück.

Ein schmutziger, vielleicht zehnjähriger Junge in löchriger Kleidung saß auf einer niedrigen Mauer und biss in einen Apfel. Er war viel zu dünn und seine Schuhe fast noch armseliger als sein Hemd, aber er grinste frech. »Muss ja einer nach dem Rechten sehen, wenn der Herr Stadtkommandant zum Katholikenfreund wird.«

»Holla, Freundchen!« Maxilius hob die Hand wie zu einer Ohrfeige. Der Junge schwang sich mühelos von der Mauer und flitzte davon.

Jakob sah den Major an; er erwartete Zorn, sah aber nur eine Mischung aus Belustigung und Kummer. »Nichts für ungut, aber sollte man solche Burschen nicht einsperren? Der Apfel war doch sicher gestohlen.«

»Natürlich war der geklaut, was denn sonst? Der Junge hat keinen Vater, die Mutter kann das Essen kaum noch bezahlen, seit die hohen Herren die armen Leute mit ihren schlechten Münzen ruiniert haben.« Er streifte Jakobs dunkelblaues Wams mit einem verächtlichen Blick. »Ab und zu habe ich einen Botengang für ihn. Ansonsten hat er ein paar Jungs um sich geschart, Kinder wie er, mit denen er sich als Herr der Straße fühlt. Allerdings ist er in letzter Zeit etwas aufsässig geworden. Irgendwann werde ich herausfinden müssen, was dahintersteckt.«

»Aber …«

»Herr Liebig. Ihr habt keine Ahnung, wie es hier zugeht. Haltet einfach Euren Mund.«

Eine zornige Antwort lag Jakob auf der Zunge, doch er beherrschte sich. Zwei Straßen weiter befand sich die Garnison. Dort erwartete ihn eine Aufgabe und er musste sich nicht mehr mit dem selbstgerechten Zorn eines Ketzers auseinandersetzen.

Maxilius’ Schritte stockten. Gelächter schallte aus seinem Quartier. Er riss die Tür auf. Lena, Anni und Stefan sprangen auf. Sein Bursche wirkte verlegen, aber seine Augen hatten den Glanz eines Jungen, der sich in der Gesellschaft zweier hübscher Mädchen befand. Auf dem Tisch standen Brot und Butter. Maxilius wies mit dem Daumen hinter sich. Stefan verschwand wortlos, während der Stadtkommandant sich müde auf einen Stuhl fallen ließ. Kurz fragte er sich, was Jakob, den er in die Wachstube verbannt hatte, gerade tun mochte. Er hatte ihm befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren, bezweifelte jedoch, dass der verfluchte Katholik gehorchen würde. »Wie geht es euch?«, fragte er, ehe er sich ein Stück Brot in den Mund schob.

Anni brachte keinen Ton heraus, daher antwortete Lena für sie beide. »Wir sind gut behandelt worden. Danke, Herr Major.«

Maxilius brummte. »Setzt euch. Ich muss mehr über diesen Kuno wissen. Anni …«

»Ja?«, hauchte sie.

Maxilius fuhr sich über die Augen. »Warum denkst du, dass er der Tote ist?«

»L… Lena denkt das«, stammelte Anni. »Weil Kuno doch verschwunden ist und der Tote … Ich wusste gar nichts von dem Toten, aber dann …«

Maxilius hob die Hand. »Lena, bitte«, forderte er mit einem Anflug von Verzweiflung. »Aber fass dich kurz.«

»Ist der Tote stark behaart?«

Maxilius sah überrascht auf. Mit einem scharfen Blick auf die errötende Anni nickte er. »Kann man sagen. Gut. Ich nehme an, ich kann dir ersparen, die Leiche anzuschauen. Du hast gesagt, dass du seinen Nachnamen nicht kennst. Was weißt du sonst über ihn? Hat er dir etwas über sich erzählt?«

»Nur … nur … dass er einem mächtigen Herrn dient. Und dass er mich mitnehmen wollte. Aber … ich wollte nicht nach Spanien.«

»Spanien?«, brüllte Maxilius. Ein paar Brotkrümel flogen durch die Luft.

Anni brach in Tränen aus. »Ich hab doch gesagt, dass ich da nicht hinwollte …«

»War dieser Kuno Spanier?«

»Er war Pfälzer«, erwiderte Lena über Annis Schluchzen hinweg. »Das konnte man hören. Er war zwar schwarzhaarig, aber Spanier war er im Leben nicht.«

»War er Katholik?«

»Nein«, brachte Anni erstickt hervor.

»Weißt du das mit Gewissheit? Hat er das gesagt?«

»N… nein, aber er war doch nett.«

Maxilius verdrehte die Augen. »Ja, schon gut. Lena, weißt du irgendetwas?« Seine Stimme klang beschwörend.

»Leider nicht. Ich habe ihm weiter keine Beachtung geschenkt. Er war einfach ein junger Mann, der viel trank und viel redete. Er war vielleicht fünf- oder sechsmal in der Gaststube. Sprach von wichtigen Geschäften in der Stadt. Aber das tun sie ja alle.«

»Hatte er einen Passierschein?«

Lenas Wangen färbten sich. Maxilius vermutete, dass sie an Jakob dachte. »Ich weiß nicht. Er schien sich keine Sorgen zu machen, dass er nicht in die Stadt kommen könnte. Er hatte auch Geld. Ich habe angenommen, dass er als Bote unterwegs war.«

»Ein Bote von den Spaniern«, knirschte Maxilius. »Diesem Rodriguez werde ich hart auf den Zahn fühlen.« Er erinnerte sich an die Gegenwart der beiden Frauen. »Eine Frage noch, Lena. Verkehren bei euch die Schreiber des Rates? Kennst du welche von ihnen?«

»Manchmal, zwei oder drei.«

»Kennst du einen Christian Streichling?«

»Verzeiht, der Name sagt mir nichts. Anni?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Soll ich etwas herausfinden?«

Maxilius winkte ab. »Schon gut. Ich lasse euch jetzt zurückbringen. Wie seid ihr überhaupt hergekommen? Die Straßen sind nicht sicher.«

»Wir waren in Begleitung.«

Maxilius’ Augen verengten sich. »Dieser Böhme?« Als Lena nickte, stieß er ein lang gezogenes Knurren aus, sagte aber nichts weiter. »Stefan!«, brüllte er so laut, dass Anni ihn bewundernd ansah. Der Junge erschien prompt. »Sorg dafür, dass Sergeant Spielvogel die Frauen zu Reilings Hof zurückbringt.« Er kritzelte ein paar Worte auf die Rückseite einer zerknitterten Flugschrift. »Und gib ihm das. Beeil dich!«

Die Bibliothek des Kurfürsten

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