Читать книгу Hatschepsut. Der goldene Falke - Birgit Fiolka - Страница 4

Der Tagfahrt erste Stunde ist jene, welche Re erscheinen lässt

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Die westliche Wüste, Jahr 8 der Herrschaft Hatschepsut Maatkares

Wie Isis die Herrin der fruchtbaren Nilflut war, so war der rote Seth der Herr der Wüste und der salzigen Tränen, die alles veröden ließen ... den Ka eines Menschen ... und sein Herz. Wer, wenn nicht Sary, der Einäugige, hätte das besser gewusst. In seinem verbliebenen Auge loderte das Feuer des Hasses, während er auf die flimmernde Luft starrte, die sich über dem heißen Sand des Westufers erhob. Der Name des Festes, das in diesen Tagen gefeiert wurde – das Schöne Fest vom Wüstental – war Hohn im Angesicht der brütenden Schemu-Hitze, die sich über der Wüste staute.

Von Weitem vernahm Sary die Flöten, Sistren und Gesänge der Priester, die Amun in seinem Schrein zum Djeser Djeseru trugen, dem fast vollendeten Millionenjahrtempel Pharao Hatschepsut Maatkares. Wie ein Lied aus Trauer und nie endender Schuld schienen die Festgesänge Sary bis ins unwirkliche Land des roten Seth zu verfolgen.

Sein verkrustetes Herz begann sich in seinem Brustkorb zu regen. Sie ... die goldene Hure, hatte das Djeser Djeseru von ihrem Günstling Senenmut erbauen lassen ... einen Ort, an dem man ihrer gedenken sollte ... der von ihren großen Taten erzählte – jenen Taten, die sie noch zu vollbringen gedachte. Die elende Hure säugt sich am goldenen Euter der Hathor fett und rund, enthält jedoch die Milch der Himmelskuh dem wahren Herrscher Ägyptens vor. So dachte Mutnofret, die Witwe des zu Osiris gegangenen Pharao ... und so dachten Viele im Geheimen. Sary kannte nur Wenige von ihnen ... Ipu, die Witwe des zu Osiris gegangenen Ahmose-Pennechbet, die einst Hatschepsuts Dienerin und Vertraute gewesen war. Doch leider gab es auch jene, die Hatschepsut umschwärmten wie die Fliegen einen Haufen Rinderscheiße und von ihr mit Gold, Ämtern und bösen Zaubern blind gegen die Maat gemacht wurden.

Sary hatte es geahnt, als er Senenmut damals in der Tempelanlage von Karnak in die Augen gesehen ... und jenen verlorenen Ausdruck dort entdeckt hatte, den auch Amenis Augen gehabt hatten. Er hatte den Vorsteher der Kornspeicher vor ihr gewarnt ... vor ihren Lügen, ihrem Gift – jenem Gift, das auch Ameni zum Verhängnis geworden war. Doch Senenmut war längst dem Zauber der Gottestochter verfallen gewesen, ebenso wie die anderen Speichellecker, die Hatschepsut letztendlich auf den Thron der beiden Länder gehoben und ihren Verrat mit Gold und Lügen versüßt hatten.


Doch Hatschepsut Maatkare war in den folgenden Nilschwemmen noch weiter gegangen – sie zählte die Zeit der Herrschaft ihres Neffen Thutmosis zu ihren eigenen Regierungsjahren ... tatsächlich waren erst fünf Nilschwemmen vergangen, seit sie nach den beiden Kronen gegriffen hatte, doch gezählt wurde bereits das achte Jahr ihrer Herrschaft.

Sary spie in den heißen Sand und stieß einen Fluch aus. Sie würde stürzen, wie sie emporgestiegen war ... dieses verdorrte Herz in seinem Brustkorb würde nicht aufhören zu schlagen, bevor die Goldene Hure vor seinen Füßen im Dreck lag!

Re war im Begriff, von Nut verschlungen zu werden. Bald würden die vielen Menschen, welche der Festprozession zum Djeser Djeseru gefolgt waren, Fackeln entzünden und wie Fliegen in die westliche Wüste ausschwärmen, um die Gräber ihrer Familien und Freunde zu besuchen, Opfer darzubringen und mit den Toten zu speisen. Sary scheute die Menschen seit Unesch, der Sohn eines Schweines, ihm den Schädel geöffnet hatte. Und wie er die Menschen mied, so mieden sie ihn. Sie starrten ihn an, sobald er vorüberging – sie starrten auf das blank polierte Stück seines Schädels, das er an einer Kette um seinen Hals trug ... und sie starrten auf die haarlose Stelle auf seinem Kopf und in sein verbliebenes Auge. Einige von ihnen machten das Zeichen gegen den bösen Blick, wenn sie ihm begegneten. Sary wusste, die Menschen sahen den Hass in seinem brennenden Blick, und sie fürchteten ihn wie den glutäugigen Seth. Sollten sie es – sie hatten Grund dazu!

Nut spannte bereits ihren Sternenkörper über der Wüste aus, als Sary die kleine Kapelle erreichte, welche über dem Grab seines Bruders errichtet worden war. Wie in jeder Nilschwemme um diese Zeit wollte er allein mit Ameni sein, seinem zornigen Ach Speise und Trankopfer darbringen und den Schwur erneuern ... seinen Schwur auf Rache und Vergeltung.

Sary betrat die Kapelle, in der es so heiß und stickig war, dass er kaum atmen konnte. Staub und Sand wirbelten auf, da niemand außer ihm diesen Ort besuchte ... auch Amenis Geliebte nicht, die längst in den Armen eines anderen lag. Der zerschundene Leib Amenis ruhte tief unter dem Boden der Kapelle in seiner kühlen Grabkammer mit Leinenbinden umwickelt in einem Sarkophag aus Zedernholz – Hatschepsut hatte keine Kosten für die Grablegung ihres Geliebten gescheut ... und ihn dann für immer vergessen.

Mit vor Zorn zitternden Händen entzündete Sary eine Wandfackel und betrachtete eine Weile die Licht-und Schattenspiele auf den Lehmziegelwänden. Dann öffnete er das Wachssiegel des mitgebrachten Weinkruges und wickelte das Brot aus dem Leinentuch.

Was nutzte seinem Bruder die beste Grablegung, wenn er ohne Augen, Zunge, Lippen und Nase durch die jenseitige Welt irren musste? Sary ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf dem gestampften Boden nieder und betrachtete die gegenüberliegende Wand ... jene Wand, vor der Amenis Ach stand und ihn stumm aus leeren Augenhöhlen anstarrte.

„Ich habe mein Versprechen nicht vergessen, Bruder“, flüstere Sary, während er die Hälfte des Weines auf dem Boden vergoss und dann den Krug an seinen Mund setzte, um selbst einen großen Schluck zu nehmen. „Wir müssen warten, bis der Knabe alt genug ist ... das goldene Schweinchen mag ein ebenso schwacher Herrscher werden, wie sein Vater es war, doch er ist der Falke, und es ist Maat, dass er die Kronen trägt.“

Amenis Ach regte sich nicht, er stand nur da und starrte ihn an ... das tat er, seit er ihm das erste Mal erschienen war. Sary wusste, es würde nicht verschwinden, bevor er seine Schuld nicht gesühnt hatte. Anfangs hatte er sich vor dem Ach seines Bruders gefürchtet, doch längst war der Anblick ihm vertraut geworden. Ameni war bei ihm ... immer ... an jedem einzelnen Tag seines verfluchten irdischen Lebens.

Von draußen drangen Stimmen in die Kapelle ... die Festprozession hatte sich aufgelöst, und die Menschen liefen singend durch die westliche Wüste, die in den Tagen des Schönen Fests vom Wüstental fast so belebt wie Theben selbst war. In den Tagen des Talfestes kam man nicht hierher, um die Toten zu betrauern, sondern um ihrer zu gedenken und im Kreise der Familie mit ihnen zu speisen.

Sary trank den letzten Rest Wein und spürte, wie sein Kopf unter der goldenen Schädelplatte, die Unesch ihm anstelle des ausgemeißelten Knochens eingesetzt hatte, zu hämmern begann. Bohrende Schmerzen waren das zweifelhafte Geschenk, welches Unesch ihm mit der Öffnung seines Schädels bereitet hatte. Hatschepsut hatte den ehemaligen Leibarzt des verstorbenen Falken bestrafen lassen – mit Stockhieben und dem Verbot, weiter als Sunu und Wab-Sachmet tätig zu sein. Es war eine lächerliche Strafe für die Qualen und Entstellungen, mit denen Sary leben musste.

Er schloss sein Auge und versuchte ruhig zu atmen. Sary konnte ihn nicht ertragen ... den Gedanken an Sie, die in diesem Augenblick über die Terrassen ihres Djeser Djeseru schritt, den Zeremonienbart an ihrem Kinn, Krummstab und Geißel in den Händen haltend, die Doppelkrone auf ihrem Kopf ... Ihr Götter, das könnt ihr nicht gewollt haben! Gepresst flüsterte Sary dem wartenden Ach seines toten Bruders zu: „Wo ist sie an diesem Tag, deine goldene Geliebte, mein Bruder? Keinen Gedanken verschwendet sie an dich, keinen Tropfen Wein. Stattdessen liegt sie in den Armen des Erziehers ihrer Tochter. Das Weib war dein Leben nicht wert. Doch beim zornigen Seth und der großen Neunheit von Theben, ich werde dich rächen, Ameni!“


Hatschepsut trat mit ausgestreckten Armen, vom Standbild Amuns zurück, ohne ihm dabei den Rücken zuzukehren. Das Antlitz des Gottes leuchtete im Schein der Feuerbecken, als lächele es ihr zu – zufrieden über die Ausrichtung des Festes. Sie hatte sich bemüht, ihren Vater Amun zu erfreuen. Dieses Talfest war das Schönste gewesen, das jemals gefeiert worden war, seit Hatschepsut denken konnte. Das war mitunter dem fast vollendeten Millionenjahr-Tempel zu verdanken, dem erstaunlichsten Bauwerk, das je für einen Pharao erbaut worden war. Es war vor allem Senenmuts und Hapusenebs Einfallsreichtum, dem das Djeser Djeseru seinen Glanz und seine unvergleichliche Erhabenheit zu verdanken hatte.

Der Oberste Prophet des Amun reichte Hatschepsut die Fackel, und sie tauchte diese in das bereitstehende Becken mit frischer Milch, wo sie mit einem letzten Aufflackern verlosch. Hatschepsut schloss die Augen und lächelte in sich hinein. Eine Welle aus Erleichterung floss durch ihre Adern und wärmte ihr Herz. Das Schöne Fest vom Wüstental war vorüber und ihr Vater Amun zufrieden.

Während Hatschepsut an der Seite Hapusenebs das Sanktuar verließ, berührte der Oberste Prophet ihren Arm. Hatschepsut blieb stehen, da Hapuseneb sich diese persönliche Geste nur erlaubte, wenn ihm etwas Wichtiges auf dem Herzen lag. „Dein Vater Amun ist zufrieden mit dir ... Kemet erblüht unter deinen goldenen Händen. Doch seit du die Kronen trägst, gibt es keine Gottesgemahlin des Amun mehr. Es ist an der Zeit, dass Nofrure in das Amt berufen wird.“

Hatschepsut blieb stehen und sah ihren ältesten Vertrauten nachdenklich an. Waren die Nilschwemmen so schnell vergangen? War es nicht erst vor wenigen Tagen gewesen, dass Hapuseneb ihr die Doppelkrone auf das Haupt gesetzt und ihr Heka Krummstab und Nechecha Geißel gereicht hatte? In Hapusenebs Gesicht konnte Hatschepsut jedoch sehen, dass es nicht erst vor wenigen Tagen gewesen war. Ein paar mehr Falten im nussbraunen Gesicht hatte der Oberste Prophet Amuns in den letzten fünf Nilschwemmen trotz seiner Beleibtheit bekommen, und Nofrure lief mit ihren acht Sommern längst auf ihren eigenen Beinen, anstatt auf Senenmuts Schoß zu sitzen.

„Amun soll wieder eine Gottesgemahlin an seiner Seite haben, Hapuseneb“, stimmte Hatschepsut zu. „Ich werde Nofrure im nächsten Mondumlauf nach Karnak bringen, damit sie die Weihen erhält.“

Hapuseneb deutete eine Verbeugung an. „Du bist weise, Horus, und mächtig an Ka-Kräften“, verfiel er in einen förmlichen Tonfall, denn sie hatten den Ausgang der Kapelle erreicht.

Hatschepsut übergab zwei wartenden Priestern die verloschene Fackel und trat, gefolgt von Hapuseneb, an den Rand der obersten Terrasse, wo ganz Theben sich versammelt zu haben schien, um seinen Pharao zu ehren. Amun, mein Vater ... betete Hatschepsut stumm in Gedanken, während sie die Arme hob, um ihre Mutter Nut, den Nachthimmel zu grüßen. Bist du zufrieden mit deiner Tochter, die du über die beiden Länder herrschen lässt nach deinem Willen?

Obwohl Hapuseneb ihr davon abgeraten hatte, dem Volk die mächtigste Form der göttlichen Erscheinung ihres Pharao zu offenbaren, trug sie den Pschent – die weiße und rote Doppelkrone Ober- und Unterägyptens und das Leopardenfell des Obersten Priesters über der Schulter sowie den Zeremonienbart. Nach ihrem Willen brannten unzählige Feuerbecken auf der obersten Terrasse des Tempels, die sie in goldenes Licht tauchten.

Während Hatschepsut die Macht der Kronen durch ihren Körper fließen ließ, warfen die Priester metallhaltige Pulver in die Feuerbecken, sodass alle Flammen gleichzeitig emporschnellten und die Osirisstatuen an den Säulenkapiteln in blendendes Licht tauchten, als sende Amun selbst dem Pharao seinen Gruß.

Tausend Stimmen erhoben sich aus dem Tal und stiegen zu ihr hinauf, um sie zu preisen ... „Der Falke ist erschienen ... Herr allen Lebens ... möge sie ewig leben!“

Ergriffen von der Gewaltigkeit des Augenblicks und der Liebe ihres Volkes, schloss Hatschepsut die Augen. An diesem Morgen, an dem die Götter sich im Djeser Djeseru versammelt hatten, sollte auch ihr Volk endlich das Wunder aller Wunder sehen: die göttliche Verwandlung, die ihr Vater Amun an ihr vollzogen hatte, als er ihr Heka Krummstab und Nechecha Geißel übergeben und sie mit den zauberreichen Kronen der beiden Länder gekrönt hatte.

In der Geste des lebensspendenden Ka hob Hatschepsut beide Arme, während der Jubel von Tausenden, die gekommen waren, ihren König zu ehren, ohrenbetäubend wurde. Wie eine einzige Stimme trugen sich die Lobpreisungen zwischen den Felsen im Tal hinauf zur obersten Terrasse des Heiligtums, auf dem Hatschepsut stand.

Amun, mein Vater ... was willst du, das ich tue? So wahr ich deine Tochter und dein Sohn bin ... ich werde es geschehen lassen!

Als sie die Augen öffnete und ihre Arme sinken ließ, herrschte plötzlich Stille. Der Wind hatte aufgehört zu wehen ... als hielte die Natur den Atem an, um das Erscheinen von Amuns Tochter zu preisen. Hatschepsut sah hinunter auf die vielen gebeugten Rücken im Vorhof ihres Heiligtums. Weißes Leinen und bunte Tücher, allerlei Kupferschmuck und Blumengebinde leuchteten im Schein der Fackeln ... ihr Volk hatte sich geschmückt, um sie und ihren Vater Amun angemessen zu ehren.

Könnte ich euch doch die Wunder zeigen, die sich hinter den Mauern des Heiligtums verbergen und teilhaben lassen an Amuns Schönheit und Größe. In diesem Augenblick meinte Hatschepsut, in ihrem Herzen die Stimme ihres Vaters Amun zu vernehmen, der ihr seine Wünsche kundtat. Sie würde einen Ort erschaffen, an dem das Volk von Kemet Amuns Liebe und Kraft spüren konnte. Einen Ort, an dem die Menschen nicht ausgeschlossen, sondern eingeladen wurden, in Amuns göttlicher Nähe zu verweilen.

Sie spürte, wie Hapuseneb neben ihr hüstelte und erwachte wie aus einem Traum.

„Horus ...“

Hatschepsut trat vom Rand der Terrasse zurück und folgte Hapuseneb zurück in den inneren Hof der obersten Terrasse. Ihr Zeremonienmeister sowie der Bewahrer der Kronen erwarteten sie bereits, um die mächtige Doppelkrone in Empfang zu nehmen. Hatschepsut seufzte. Wie immer, wenn die Kronen von ihrem Kopf genommen wurden, fühlte sie sich leicht und frei. Es war der Augenblick, in dem der Gott einen Schritt zurücktrat und die Frau mit dem dreieckigen Katzengesicht zum Vorschein kam ... die Mutter ... die Geliebte.

Nun hatte auch der Herr allen Lebens endlich Zeit für ein wenig Familienleben.

Hui, ihre engste Vertraute und erste Dienerin, konnte ihr zufriedenes Lächeln nicht verbergen, als Hatschepsut, das erste Mal seit zwölf Tagen ohne den ernsten Gesichtsausdruck des Königs, zu ihr trat.

Nofrure und Huis eigene Tochter Meritre, die etwa gleichaltrig waren, saßen auf einer Treppe des inneren Hofes, welche in die Opferkapelle führte, und malten mit ihren Fingern Bilder in den Sand, den die Wüste auf die Terrassen des Djeser Djeseru wehte. Als die Mädchen Hatschepsut sahen, standen sie auf, klopften den Sand aus ihren Leinenkleidern und schlenderten Hand in Hand auf Hatschepsut und Hui zu.

Ipu, Hatschepsuts ehemalige Dienerin und Amme des neunjährigen Thutmosis, stand mit ihrer eigenen Tochter Satjah und dem Knaben etwas abseits. Dies, so überlegte Hatschepsut, schien Ipus Schicksal zu sein, seit sie die Gemahlin und bereits zwei Nilschwemmen später Witwe des Ahmose-Pennechbet geworden war – abseits zu stehen.

Ihr Neffe und Mitregent starrte Hatschepsut düster aus seinem pausbackigen Gesicht entgegen. Seine Abneigung gegen sie hatte der Knabe nie ablegen können, und Hatschepsut musste sich eingestehen, dass Thutmosis ihrem Herzen in den letzten Nilschwemmen ebenfalls nicht näher gekommen war. Trotzdem bemühte sie sich um Freundlichkeit und Nachsicht, was ihn anging.

„Ich will zurück in den Palast“, maulte der Neunjährige deutlich hörbar und Ipus Tochter Satjah, seine Milchschwester, konnte nicht schnell genug zustimmend nicken.

Hatschepsut erinnerte sich an die Nacht, in der ihr Brudergemahl zu Osiris gegangen war und Sary den verängstigten Knaben zu ihr gebracht hatte. Er hat es schwer ... sein Vater ist tot, und seine Mutter habe ich auf ein Landgut im Delta verbannt. Mutnofret hat sein Herz vergiftet ... ich muss nachsichtig ihm gegenüber sein. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Zuerst musst du Amun in seinem Schrein ein Opfer bringen, Thutmosis. Du bist Horus, der lebende Gott auf Erden ... ebenso wie ich.“

„Nein, ich habe keine Lust“, begehrte Thutmosis auf und reckte trotzig das Kinn. „Überhaupt kann es nicht zwei Falken auf dem Thron geben ... wenn ich Horus bin, so kannst du es nicht sein!“

Hatschepsut zog die Brauen hoch, während Ipu den Knaben streng zurechtwies. „Mein König, so darfst du nicht reden ... du ziehst den Zorn der Götter auf dich.“ Ipu, einst ein hochnäsiges jedoch hübsches Ding, mittlerweile aber schwammig und aufgedunsen von den Süßspeisen und dem Wein, mit denen sie ihr Selbstmitleid bekämpfte, machte das Zeichen gegen den bösen Blick. Ihre Furchtsamkeit und ihren tief verwurzelten Aberglauben hatte sie nie verloren.

„Und warum?“, schrie Thutmosis ungehalten und riss sich von ihrer Hand los. „Wenn ich der Herr allen Lebens bin, kann ich tun und lassen, was ich will.“

Ipu hob beschwichtigend die Hände und wusste nicht, wie sie den jähzornigen Knaben zügeln sollte. Sie warf Hatschepsut einen flehenden Blick zu. An manchen Tagen tat ihre ehemalige Dienerin Hatschepsut leid. Ein einfaches Amt hatte sie ihr versprochen, aber es hatte sich herausgestellt, dass es alles andere als einfach war, mit dem jungen Thutmosis umzugehen. Zu allem Überfluss tat Ipus eigene Tochter Satjah alles, was Thutmosis ihr befahl; und wenn er ihr befahl, nicht mit ihrer Mutter zu sprechen, weil er selbst einen Groll gegen Ipu hegte, so gehorchte Satjah und sprach kein Wort mehr mit ihrer Mutter.

„Wer hat dir gesagt, dass es nicht zwei Falken geben darf, Thutmosis?“, mischte sich Hui, die einen weitaus schärferen Verstand besaß als Ipu, ein.

Thutmosis bedachte Hui mit einem erschrockenen Blick und schwieg verbissen. Hatschepsut schüttelte den Kopf. Sowohl sie als auch Hui wussten, dass es die Worte Mutnofrets waren, die aus Thutmosis Mund herausschossen wie Giftpfeile. Sie verdarb den Knaben und brachte ihn gegen Hatschepsut auf. Doch Hatschepsut glaubte nicht, dass es Maat war, Thutmosis auch von seiner Großmutter zu trennen – der einzigen Person, der er überhaupt zu vertrauen schien.

Nofrure und Meritre beachteten Thutmosis und Satjah nicht weiter. So wie Satjah und Thutmosis ihre Geheimnisse teilten, so taten das auch Nofrure und Meritre. Zwischen den Kinderpaaren gab es jedoch keine Freundschaft, und das machte Hatschepsut Sorgen.

Nofrure und Meritre trugen Lotosblüten in ihren Kinderlocken, welche die Priesterinnen der Hathor ihnen eingeflochten hatten. Sie waren verwelkt nach der Hitze des Schemutages, doch die Augen der Mädchen leuchteten noch immer im Nachklang des ausgelassenen Festes. Nofrure ist so anders als dieser missmutige Knabe, der ihr Gemahl werden soll. Kann ich denn zulassen, dass es meiner Tochter ergeht, wie einst mir? Hatschepsut vertrieb die sorgenvollen Gedanken und nickte stattdessen Hapuseneb zu, der neben sie getreten war.

„Möchtest du mich im nächsten Mondumlauf in Karnak besuchen, Prinzessin Nofrure?“, fragte er möglichst geheimnisvoll, um das Interesse ihrer Tochter zu wecken.

Nofrure strahlte den Obersten Propheten Amuns an, als hätte er ihr ein neues Spielzeug geschenkt. Sie liebte Hapuseneb ebenso wie ihren Erzieher Senenmut. „Darf ich dann mit den Tempelkatzen spielen und sie füttern?“ Ihre Augen leuchteten in Vorfreude auf das Vergnügen.

Hapuseneb lächelte. „Die heiligen Miut werden sich über deine Besuche freuen, Prinzessin. Aber es gibt etwas weitaus Wichtigeres, das dich in Karnak erwartet. Es ist an der Zeit, dass du das Amt der Gottesgemahlin übernimmst ... so wie einst deine Mutter“, erklärte Hapuseneb feierlich. „Amun will es so.“

Sofort bekam Nofrures Blick einen ehrfurchtsvollen Ausdruck.

„Darf ich Nofrure nach Karnak begleiten?“, mischte sich überschwänglich Meritre ein, die ganz nach ihrer Mutter Hui kam und sich nicht darum scherte, ob es angebracht war zu schweigen oder zu reden.

Hatschepsut fiel auf, dass Satjah die Stirn runzelte und Thutmosis fragend ansah. Obwohl Thutmosis nur ein Jahr älter als Nofrure war, wirkte sie zart im Vergleich zu dem kräftigen Knaben. „Ich will nun doch meinem Vater Amun ein Opfer darbringen“, rief Thutmosis mitten in das Gespräch hinein. Es bestand kein Zweifel daran, dass er es hasste, wenn Nofrure im Mittelpunkt stand und nicht er.

Hatschepsut verbarg ihren Unwillen gegenüber dem Knaben und nickte Hapuseneb zu, der sich vor Thutmosis verbeugte und ihn ins Sanktuar führte.

Hatschepsut und Hui seufzten erleichtert, als der Knabe mit dem Obersten Propheten im Heiligtum verschwunden war – sogar Ipu, die Hatschepsuts Herzen längst nicht mehr so nah stand, wie in ihrer Jugendzeit, gestattete sich ein leidvolles Gesicht.

Hatschepsut beruhigte ihr Gewissen, indem sie sich sagte, dass Thutmosis bald keiner Amme mehr bedurfte. In einer oder zwei Nilschwemmen würden seine Lehrer, die Priester und der Kommandeur der Truppen die Ausbildung und Erziehung des störrischen Knaben übernehmen und dabei hoffentlich erfolgreicher sein als Ipu.

„Wo ist Senenmut?“, wandte Hatschepsut sich an Hui. Sie hatte ihren schweigsamen Gefährten die gesamten zwölf Tage des Festes kaum zu Gesicht bekommen. Senenmut verabscheute den Trubel der Festtage ebenso, wie er die Stunden, welche sie allein verbrachten, genoss.

Hui lächelte verschwörerisch. „Du weißt, Horus, der Vorsteher der Kornspeicher und Erzieher der Prinzessin ist kein Mann der Feste.“ Sie deutete eine leichte Kopfbewegung in Richtung der Rampe an, die hinunter zur zweiten Terrasse des Felsentempels führte. Hatschepsut verstand und lächelte. Ipu versuchte wie so oft, die Vertrautheit zwischen Hatschepsut und Hui zu ignorieren. Einst hatte sie die Stelle Huis innegehabt, doch nun war es, als läge eine Wand aus Granit zwischen ihnen. Hatschepsut bedauerte dies einerseits, andererseits war Hui vielmehr ihr Ka und ein Teil von ihr, als Ipu es jemals hätte sein können.

„Ich muss mit ihm sprechen wegen der Vorbereitungen für Nofrures Zeit in Karnak“, wandte Hatschepsut ein, während Hui und Ipu sich verbeugten. Hatschepsut war sich sicher, dass Ipu ahnte, dass der schweigsame Senenmut ihr längst viel mehr war als ein treuer Freund; der ganze Palast wusste es. Am Tag nannte Hatschepsut Senenmut bei seinen Titeln ... doch in der Nacht nannte sie ihn Bruder ihres Herzens.


Senenmut betrachtete die verblassenden Sterne in Nuts Leib, während er Schritte vernahm. Leise wie eine Katze suchten sie sich ihren Weg zwischen den Säulenkaskaden. Ein kurzes Lächeln huschte über sein ernstes Gesicht. Unvermittelt musste er an Hatschepsuts Begegnung mit dem schwarzen Leoparden im Goldland denken. Sie war gekommen. Für ein paar Stunden, in denen sie nicht Hatschepsut Maatkare, der Falke, Einzig Einer, Herr allen Lebens, sein würde, sondern nur die Frau mit dem Katzengesicht und den klug funkelnden Augen ... seine Geliebte.

Ihre Hände legten sich um seinen Leib, ihr Kopf mit dem kinnlangen Haar schmiegte sich an seine nackte Schulter. Senenmut schloss die Augen und spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Sie duftete nach Weihrauch und Salbe. Deine Haut ist aus Gold, deine Knochen aus Silber ... dein Haar aus Lapislazuli. Wie verzweifelt hatte er sich nach ihrer Liebe gesehnt, als sie ihm so unerreichbar erschienen war. Und selbst jetzt fiel es ihm schwer, ihr nur in den Nachtstunden nah sein zu können. Seine Geliebte war eine Göttin, die Tochter Amuns, und doch liebte sie ihn ... einen Sterblichen.

Ohne, dass er es verhindern konnte, drängten sich andere Bilder in Senenmuts Herz – düstere, verstörende Erinnerungen an seinen Besuch in den Balsamierungsstätten, als er seinen alten Diener Anen zu den Unberührbaren gebracht hatte. Er sah wieder die toten Augen der Königswitwe Ahmose vor sich und vernahm die verächtlichen Worte des Vorstehers der Balsamierungshäuser. Hast du je gesehen, dass einer von ihnen Knochen aus Silber gehabt hätte? Senenmut hatte Hatschepsut nie von seinem Besuch im Schönen Haus erzählt – dies war ein Geheimnis, das er nicht mit ihr teilen konnte. Angespannt ballte er die Fäuste und verkrampfte die Schultern.

Hatschepsut schien es zu bemerken, denn sie sah ihn fragend an. „Bedrückt dich etwas, Bruder meines Herzens?“

Senenmut schüttelte schnell den Kopf. „Es ist diese Nacht ... die Nacht der Toten. Ich muss an sie denken.“

„An die Toten?“ Ihre Stimme klang leise, so als würde auch sie an diejenigen denken, die bereits zu Osiris gegangen waren.

„An jene, die uns verlassen haben ... und an jene, die noch unter uns weilen“, antwortete Senenmut ernst. Er hielt diesen für einen guten Augenblick, über seine Sorgen zu sprechen. „Ich habe den Ausbilder deiner Leibwache in diesen Tagen selten gesehen. Man redet über ihn. Es heißt, er sei unnötig grausam zu den ihm unterstehenden Männern.“

Sie schmiegte sich wieder an ihn und seufzte. „Sary hat selbst viel Grausamkeit und Ungerechtigkeit erfahren ... er ist manchmal roh, aber mir treu ergeben.“

In seiner Erinnerung sah Senenmut das brennende Bernsteinauge jenes Mannes vor sich, voller Hass und Verbitterung. Er hatte nie jenes Vertrauen in den Goldlöwen legen können, das Hatschepsut hegte. „Du solltest ihn fortschicken.“

Wieder löste sie sich von ihm, dieses Mal trat sie einen Schritt zurück. Senenmut konnte den Unwillen in ihrem Herzen fast körperlich spüren. „Du redest wie Hui. Ich kann ihn nicht fortschicken.“

„Warum nicht? Es hat etwas mit jenem Mann zu tun, der vor vielen Nilschwemmen in der Festung Buhen gestorben ist, nicht wahr?“ Senenmut richtete seinen Blick wieder hinauf zum Himmel, durch den sich Fäden von Purpur und Orange zogen.

„Dies alles gehört zu einer Vergangenheit, deren Teil du nicht Teil bist.“ Hatschepsut nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit den seinen. „Lass uns die Vergangenheit vergessen und in die Zukunft schauen“.

Er gab nach. Re würde bald geboren werden, und Senenmut wollte die wenige Zeit, die sie miteinander verbrachten, nicht verderben. „Wie du es wünschst.“

Sie trat an ihm vorbei und sah hinunter auf den Vorhof des Tempels. Obwohl sie noch immer den Männerschurz und ein kurzes Hemd trug, war sie in diesem Augenblick nur Hatschepsut – nicht das glänzende Abbild Amuns.

„Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich werde das Djeser Djeseru zu einem Ort machen, den Kemet noch nicht gesehen hat ... und ich werde neue Handelswege erschließen, um die leere Staatsschatulle wieder zu füllen.“

Senenmut wusste, dass sie ihre Entscheidungen lange vor diesem Tag getroffen hatte. In der letzten Zeit hatte sie sich oft mit den Priestern und Schreibern in Karnak beraten. Nun wandte sie sich ihm zu, und ihre Augen leuchteten. „Ich werde Schiffe nach Punt entsenden, damit sie dort Handel treiben und die Gaben dieses wundervollen Landes nach Kemet bringen ... so, wie es vor vielen Nilschwemmen geschehen ist ... Weihrauch ... den Schweiß der Götter, Elfenbein, edle Hölzer.“ Sie machte eine ausladende Geste in Richtung des Tempelvorhofes. „Ich will auch in Kemet Weihrauchbäume anpflanzen ... nicht dort, wo das Volk sie nicht sehen kann, weil es den Tempel nicht betreten darf.“

In diesem Augenblick erschien es Senenmut, als erstrahle sie im ersten goldenen Licht Res – ihre Haut, ihr Haar, ihre Augen. Wie schmerzvoll mein Herz dich liebt, Gottestochter. Er fühlte sich von ihr bezaubert.

„Ich will, dass das Volk einen Ort hat, an dem es sich von den Mühen und Sorgen des Tages erholen kann. Ich weiß, dass meinem Vater Amun dies gefallen würde.“ Sie kam zu ihm, und er schloss seine Arme um sie, als müsse er fürchten, dass die Götter sie ihm wieder fortnehmen würden. „Und wie willst du das sagenhafte Punt finden, Gottestochter? Der Weg in dieses Land ist seit Hunderten von Nilschwemmen vergessen.“

Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und flüsterte: „Ich bin Amuns Tochter. Ich werde den Weg nach Punt finden und das Wunder wahr machen.“

Als ihre Lippen seinen Mund berührten, war es Senenmut, als weiche alle Kraft aus seinen Gliedern. So oft er auch zweifelte ... an allem Göttlichen, an der Prophezeiung, die sie letztendlich zu dem gemacht hatte, was sie war – Pharao in weiblicher Gestalt - ... allein ihre Lippen vermochten ihn immer wieder alle Zweifel vergessen zu lassen.

Hatschepsut. Der goldene Falke

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