Читать книгу Hatschepsut. Der goldene Falke - Birgit Fiolka - Страница 5
Der Tagfahrt zweite Stunde ist jene, welche die Finsternis vertreibt
ОглавлениеDie königliche Barke, Jahr 9 der Herrschaft Hatschepsut Maatkares
Hatschepsut warf Hui, die einen Schritt hinter ihr stand, einen prüfenden Blick zu. Sie trugen das gleiche Kleid, den gleichen Schmuck und das gleiche Kinn lang gestutzte Haar unter dem Nemes-Tuch. Hui war ihr sichtbar gewordener Ka, der Ka eines Königs, der ihn begleitete. Hatschepsut legte Wert darauf, dass das Volk dies sah, wann immer sie den Palast verließ. Sie hatte sich an diesem Tag für ein eng anliegendes Trägerkleid und das männliche Nemes-Tuch des Pharao mit der Uräusschlange am Stirnreif entschieden. War es Hatschepsut nach ihrer Krönung noch schwergefallen, sich für die verschiedenen Anlässe zwischen weiblichen und männlichen Attributen ihres Königtums zu entscheiden, verschmolz sie mittlerweile wie selbstverständlich beides miteinander.
Noch immer musste sie insgeheim über ihre und Huis Ähnlichkeit staunen. Sie hätten Schwestern der Geburtsstunde sein können, doch das waren sie nicht. Und dies – so wusste Hatschepsut – war der deutlichste Beweis für die Wahrhaftigkeit der Prophezeiung, welche ihr zu Osiris gegangener Vater von Amun erhalten hatte.
Um ihre Gedanken wieder auf den Grund ihrer Ausfahrt auf der königlichen Barke zu lenken, gab sie Hui ein Zeichen. „Was denkst du über Nehesi? Ist er der Richtige für die Reise nach Punt?“
Hui trat aus dem Schatten Hatschepsuts an die Reling. Ihre Brauen hoben sich in dem ihr eigenen Stolz, den Hatschepsut an ihr schätzte. Hui verbot sich niemals den Mund, weil sie Bestrafung oder Gunstentzug fürchtete. Wie hätte sie Solches fürchten sollen, wo wie doch ein Teil des Pharao war. „Ich halte ihn für geeignet, Horus ... der Schatzmeister ist verlässlich und dir ergeben.“ Etwas leiser fügte Hui hinzu: „Ein Makel dürfte jedoch seine fehlende Erfahrung mit den Gepflogenheiten der südlichen Länder sein.“
Hatschepsut erwiderte nichts. Hui sprach aus, was sie selbst lange beschäftigt hatte; doch sie hatte ihre Entscheidung getroffen ... sie würde Nehesi einen Mann an die Seite geben, der das Goldland kannte wie kein anderer.
Sie schritt zum Bug der königlichen Barke, während das Volk von den Ufern her dem Pharao und seinem fleischgewordenen Ka zujubelte. Die Barke fuhr gerade ein scharfes Manöver nach rechts in den Kanal, der zu den Trockendocks führte, in denen die Schiffe für die Reise nach Punt darauf warteten, endlich auf ihre Reise zu gehen. Nur noch einen Mondumlauf, dann würde die prächtige Flotte über Land zum Roten Meer aufbrechen, um von dort aus ihren Weg nach Punt zu suchen. Hatschepsut spürte, wie ihr Herz vor Aufregung gegen ihre Rippen schlug – dies hatte sie vollbracht. Es würde das erste große Ereignis ihrer Regierungszeit sein.
Der Kapitän rief den Ruderern Befehle zu, als die Anlegestelle mit den blauweißen Wimpeln in Sicht kam. Von Weitem konnte Hatschepsut das Holz riechen, welches die Arbeiter zum Bau der Schiffe verwendeten ...
Hui verzog unwillig die Brauen, als sie zwischen den Wartenden einen Mann am Ufer entdeckte, der sich abseits derjenigen hielt, die das Eintreffen der königlichen Barke erwarteten. „Was tut er hier, Horus?“
Die Ruderer warfen Taue ans Ufer, die von sonnengebräunten Arbeitern um die hölzernen Poller gezogen wurden. Kurz darauf schritt Hatschepsut gefolgt von Hui auf breiten Planken ans Ufer. „Sary kennt das Goldland und die südlichen Länder. Ich wünsche, dass er Nehesi auf der Reise begleitet ... als Berater.“
Fast meinte Hatschepsut, Hui in ihrem Rücken lächeln zu sehen. „Eine gute Gelegenheit, den Goldlöwen aus deinem Umfeld zu entfernen. Ich gratuliere dir zu dieser weisen Entscheidung, Horus.“
Hatschepsut wandte sich zu Hui um, sobald sie festen Boden unter den Sandalen hatte. Obwohl die unverfrorenen Worte ihrer ersten Dienerin sie ärgerten, da sie wie so oft eine Spur Wahrheit enthielten, ließ sie es sich nicht anmerken. „Für eine Weile ... ich weiß, dass Senenmut und auch du ihn gerne auf einen Außenposten in Nub versetzt sehen würdet. Aber das wird nicht geschehen.“
Ihre Dienerin seufzte. „Was für eine Schuld kann den Pharao Ägyptens an einen gemeinen und grausamen Menschen wie ihn fesseln?“
Hatschepsut verschloss ihre Gedanken vor Hui. Ebenso wie Senenmut würde sie diese Schuld nicht verstehen. Obwohl er sie hasste, hatte Sary einst im Goldland ihr Leben gerettet, und als ihr Brudergemahl seine Barke bestiegen hatte, war es mitunter ihm zu verdanken gewesen, dass Isis mit dem kleinen Thutmosis nicht nach Memphis geflohen war. Dies war die Schuld, die Pharao Maatkare an dem Einäugigen trug, die andere Schuld, jene, die sie in den Nächten heimsuchte, in welchen sie nicht in Senenmuts Armen lag, war jene der Frau Hatschepsut ... der Gottestochter. Warum konntest du dir nicht einen Stärkeren nehmen, als Ameni? ... hatte Sary sie damals gefragt. Während die schwarze Löwin zum Falken geworden war, lag Ameni in seinem Grab auf der Westseite des Nils, und Sary war kaum noch das, was man einen Menschen nennen konnte. Nein, weder Hui noch Senenmut verstanden die Schuld, welche sie an den Einäugigen fesselte.
Nehesi, ein drahtiger Mann mittleren Alters, begrüßte Hatschepsut unter tiefen Verbeugungen, während er sie zu einem Baldachin führte, unter dem ein Tisch und ein Stuhl für sie bereitstanden. Hatschepsut verbot sich das Schmunzeln, welches sich auf ihre Lippen legen wollte, während sie sich setzte und Hui hinter sie trat. Nehesi war ihr Schatzmeister, und aus diesem Grunde hatte sie ihn zum Leiter der Expedition ernannt. Er war zuverlässig und würde die Schätze des Landes Punt sicher in die beiden Länder bringen.
Eine Schar von Dienern trug Wein und Früchte auf, von denen Hatschepsut keine Einzige nahm. Ihre Angewohnheit, nichts zu essen, was nicht durch ihre Vorkoster probiert wurde, hatte sie sich seit den gefahrvollen Tagen ihrer Jugend erhalten.
„Horus, mächtig an Ka-Kräften, ich danke dir für das Vertrauen, das du in mich setzt“, hob Nehesi zu einer Rede an. „Deine Schiffe sind beinahe vollendet. Es sind gute Schiffe, robust und seetüchtig. Wir haben sie in Einzelteile zerlegt, damit sie besser über Land zu transportieren sind ... aber da du uns die überaus große Ehre deines Besuches erweist, Horus, haben wir eines der Schiffe zusammengebaut, damit du es mit deinen eigenen Augen betrachten kannst.“ Unter weiteren beflissenen Verbeugungen bat er Hatschepsut, ihm zu folgen. Sie erhob sich von ihrem gerade erst eingenommenen Platz und folgte Nehesi zu einem Segler, der viel zu groß für den kleinen Seitenarm des Hapi zu sein schien, in dem die Trockendocks lagen.
Beeindruckt legte Hatschepsut den Kopf in den Nacken und folgte mit den Augen dem Mast bis hinauf zur obersten Spitze. Nehesi hatte nicht übertrieben. Die königliche Barke war groß, doch diese Schiffe waren für weitere Reisen als jene auf dem Hapi geschaffen worden. Hatschepsut konnte den Stolz in Nehesis Stimme mitschwingen hören, während er ihr die Vorzüge der Schiffe pries. „Der Rumpf geht tiefer als bei einer Flussbarke, und durch Querbalkenverstärkungen besitzt es auch bei starkem Seegang eine gute Stabilität. Anstatt des Baumes verwenden wir Geitaue, um die Trimmung zu verbessern und das Rah-Segel aufzuziehen.“ Sogar Hui betrachtete den großen Segler ehrfürchtig, während Hatschepsut die Länge des Schiffes abschritt. Ihre Hand fuhr über die Außenplanken. „Welches Holz wurde verwendet?“
Nehesi, beflissen, ihr zu gefallen, huschte an ihre Seite. „Es ist Akazien- und Sykomorenholz, Horus, nach alter Tradition mit Zapfen verbunden. Es sind gute Schiffe, Majestät ... ich stehe dafür mit meinem Namen und meiner Ehre ein.“
„Die halbe Staatsschatulle habe ich für den Bau dieser Schiffe geleert“, wandte Hatschepsut ein und sah Nehesi dann eindringlich an. Leise, damit nur er ihre Worte vernahm, flüsterte sie ihm zu: „Ich habe kaum genug Gold, die Truppen zu entlohnen noch die Bauvorhaben, wie die Restauration des Satet-Heiligtumes auf Elephantine zu bezahlen. Die Kosten für das Schöne Fest vom Wüstental haben mehr verschlungen, als ich zugeben mag ... diese Reise muss erfolgreich sein, Nehesi ... unter allen Umständen brauche ich den Handel mit Punt.“
Nehesi schlug die Augen nieder und raunte: „Ich werde dir die Schätze Punts zu Füßen legen, Horus.“
Während Hatschepsut sich wieder dem Schiff zuwandte, winkte Nehesi seinen Gehilfen heran, der ihm eine Papyrusrolle überreichte und sich dann wieder zurückzog. Der Schatzmeister überreichte Hatschepsut die Rolle respektvoll mit beiden Händen. „Dies, Horus, ist der Reiseweg, den die Schiffe nehmen werden.“
Hatschepsut nahm den Papyrus und entrollte ihn. Hui warf einen neugierigen Blick über ihre Schulter, während Nehesi zu erklären begann. „Wir werden die Schiffe in Einzelteilen nach Koptos transportieren und von dort aus etwa sieben Tage lang durch das Tal von Bechnu am Grauwackenberg zum Großen Grünen, wo die Segler zusammengebaut werden. Von dort aus werden wir das Große Grün bis zu den Horizonten der Sonne hinauffahren und unseren Weg nach Punt suchen.“
„Ich bin zufrieden mit deiner Arbeit, Nehesi“, gab Hatschepsut ihm zu verstehen, während sie die Rolle an Hui weiterreichte, die sie wiederum einem Diener übergab. Dann entsann sie sich des Goldlöwen. Der Blick seines verbliebenen Auges brannte in ihrem Rücken – Hatschepsut konnte es spüren, obwohl er außer Hörweite noch immer abseits des Geschehens stand.
Ohne Hast wandte sie sich Sary zu und konnte den Hass in seinem Blick lodern sehen.
Hatschepsut ging auf den Ausbilder ihrer Leibwache zu. ... Angst ist der Weg zur Niederlage ... erinnere dich ... es waren deine eigenen Worte in der Zeit, in der du allen Grund hattest, dich zu fürchten. Du darfst ihn nicht fürchten!
Die Verbeugung des Goldlöwen fiel knapp aus – Hatschepsut tadelte ihn nicht dafür. Sie wusste, dass Sary ein Tier war, das sie mit ihren eigenen Händen in einen Käfig gesperrt hatte – ein Tier, das seinen Kerkermeister mehr hasste als der rote Seth seinen Bruder Osiris.
„Gesundheit, Leben und Wohlergehen, Ausbilder der Leibwache.“
Hatschepsut spürte die lauernde Anspannung im entstellten Gesicht ihres Gegenübers und roch scharfen Schweiß ... den Schweiß eines Raubtiers, das mich töten will! Seit Unesch ihm den Schädel geöffnet hatte, war Sary noch unzugänglicher, noch seltsamer geworden. Die wahnhaften Vorstellungen, er sei noch immer im Goldland, hatte Unesch zwar vertreiben können, doch nicht seine Wut und seinen Hass. Einst hatte der Hass des Goldlöwen allein ihr als Frau gegolten, doch nun war er anders ... gefährlicher!
Hatschepsut ahnte, dass Sary ihre Krönung zum Pharao als endgültigen Verstoß gegen die Maat sah. Trotz ihrer Erfolge und besonnenen Entscheidungen gab es noch immer jene, die einzig und allein den Knaben Thutmosis als Sohn Amuns auf dem Thron sehen wollten; allen voran die memphitische Priesterschaft des Ptah und ihr Hohepriester Iti. Doch Thutmosis war nur ein Knabe und der Wunsch Amuns zu offensichtlich, als dass die Priester gewagt hätten, laut aufzubegehren – nun, wo sie die Doppelkrone trug. Statt dessen trafen sie sich in dunklen Ecken des Palastes, nachts, wenn Nut sie in einen Mantel aus Dunkelheit hüllte, sie konspirierten in den Tempeln und schmiedeten Ränke. Hatschepsut wusste es ... erst vor wenigen Tagen war sie nachts erwacht, und die Luft in ihren Räumen hatte nach fauligem Atem gerochen. Es war ein Zeichen Amuns gewesen und eine Warnung! Öffne die Augen, meine Tochter und schlafe nicht in dieser Zeit der Gefahr! Seitdem trug Hatschepsut ein Udjat-Amulett um den Hals, das ihre Augen und ihre Sinne schärfen sollte.
Hui räusperte sich, ein Zeichen, dass sie sich unwohl fühlte. Niemand fühlte sich in der Gegenwart des Goldlöwen wohl. Hatschepsut erinnerte sich ihres Anliegens. „Sary, ich will, dass du Nehesi als Berater nach Punt begleitest. Du kennst das Goldland besser als jeder andere ...“, sie machte eine kurze Pause, „... auch wenn es für dich keine guten Erinnerungen birgt. Doch ich brauche jemanden, der Nehesi beraten kann ... jemanden, dem ich vertraue.“
Bei ihren letzten Worten funkelte das verbliebene Auge, und die Mundwinkel des Ausbilders ihrer Leibwache zuckten. Er glaubte ihr kein Wort. Sein Auge sah in ihr Herz! Es gab kein Vertrauen zwischen ihnen. Amun, lass ihn schweigen und gehorchen ... flehte Hatschepsut stumm. Denn obwohl sie ihm nicht vertraute, so missfiel ihr der Gedanke, Sary durch die Macht ihrer Insignien auf die Reise nach Punt zu zwingen. Vielleicht ... so betete ihr Herz ... wird es uns beiden gut tun, den anderen eine Weile nicht in seiner Nähe zu wissen. Vielleicht wird dies unsere Herzen heilen!
Nach einer ihr endlos erscheinenden Weile deutete Sary mit einer knappen Verbeugung seine Ergebenheit an. „Mögest du ewig leben, Horus.“
Die Schwärze der Nacht hüllte Sary in einen Umhang aus Dunkelheit, während er den Wachhabenden am Eingang des Hofes, auf dem sich die Unterkünfte der königlichen Leibwache befanden, grüßte. Die Nachtstunden, in welchen die zu Osiris Gegangenen ihre Reise durch die Unterwelt antraten, waren Sary die liebsten. Er fürchtete die Gefahren der Nacht nicht – nicht die irdischen und nicht die jenseitigen. Das, was Sary fürchtete, war das Licht des Sonnengottes, das ihn verfolgte und zu verhöhnen schien! Re strahlte für die Goldene Hure, die auf Ägyptens Thron saß. Die Nacht jedoch – sie war der Trost der Verlorenen und Verratenen ... der Trost Amenis ... und auch der Seine. Und die Nacht würde verbergen, weshalb er gekommen war ... die Nacht würde schweigen ...
Der müde Wachhabende nickte ihm nur kurz zu und ließ ihn ohne zu fragen passieren. Als Ausbilder der Leibwache brauchte Sary niemandem Rechenschaft darüber ablegen, weshalb er hier war.
In Sarys Herzen schwelte Wut. Sie wollte ihn aus dem Weg schaffen und fortschicken aus Theben! Er hatte geahnt, dass es so kommen würde, und eigentlich hätte es eine Erlösung für ihn sein sollen. Doch das war es nicht! Sein Blick wanderte vorbei an den Dumpalmen, deren Wedel sich im lauen Wind wiegten. Früher hätte ihm dieses Bild Frieden gegeben, doch dies war in einer anderen Zeit gewesen, die lange vergangen war. Seine Vergangenheit lag in einem Grab am Westufer des Hapi.
Sary spürte wie so oft den hämmernden Schmerz unter seiner goldenen Schädelplatte anschwellen. Er konnte sich nicht weigern, Hatschepsut zu gehorchen, das hatte ihm die Königswitwe Mutnofret unmissverständlich gesagt. „Mein Einfluss im Palast ist weniger als gering, Ausbilder der Leibwache. Alles, was wir tun können, ist warten ... warten, dass Thutmosis alt genug ist, sich den Thron zurückzuerobern, den Sie ihm gestohlen hat.“ Ihr schlaffes Gesicht hatte verbittert gewirkt – ganz anders als das Gesicht jener Frau, die damals zu ihm gekommen war, nachdem Unesch seinen Schädel geöffnet hatte. Doch dann hatte sie ihn aus harten und entschlossenen Augen angesehen. „Wenn sie sagt, dass du gehen musst, dann wirst du das tun. Meine Aufgabe ist es, in der Nähe meines Enkels zu bleiben und darüber zu wachen, dass er alt genug wird, um Krummstab und Geißel aus ihren Händen zu reißen.“
Sary spie auf den Boden und verfluchte die Königswitwe. Möge das Gift von tausend Skorpionen dein elendes Herz stillstehen lassen! Sie wollte auf etwas warten, das niemals geschehen würde! Es würde nie dazu kommen, dass der verweichlichte Knabe allein regierte ... nicht, wenn er auf ein Wunder der Götter wartete, wie Mutnofret. Deshalb war er in dieser Nacht gekommen, denn es gab noch etwas zu tun, bevor er Theben den Rücken kehrte.
Sary achtete darauf, niemandem zu begegnen, als er den Weg zu den Unterkünften der Truppenführer einschlug. Er wusste, dass der junge Thutmosis hier war. Hatschepsut hatte den Knaben vor zwei Mondumläufen in die Obhut des Kommandierenden gegeben, damit er eine militärische Erziehung erhielt. „Es wird Amun gefallen, und es ist Zeit, dass der junge Horus seine Schwingen ausbreitet. Thutmosis soll seine Pflichten erfüllen, wie es meine Tochter Nofrure als Gottesgemahlin des Amun längst tut“, hatte sie im Audienzsaal, sehr zum Schrecken des dicklichen Knaben und des dürren Mädchens, das seine Milchschwester war, verkündet. Das Mädchen hatte geflennt wie eine dumme Fellachentochter, als sie Thutmosis fortgebracht hatten und die Unterlippe des Knaben hatte gezittert. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre in das weibische Gejammere seiner Milchschwester eingefallen.
Mit zusammengepressten Lippen dachte Sary an den Vater des Jungen ... den umnachteten Schwächling, der sich kaum vier Nilschwemmen auf dem Thron hatte halten können. Sie waren sich so ähnlich – der Vater und der Sohn! Auch er hatte eine militärische Ausbildung erhalten ... doch was hatte es genutzt?
Sary ballte die Hände zu Fäusten. Noch bevor Mutnofret ihn fortgeschickt hatte, war seine Entscheidung gefallen. Wenn es niemand tat, würde er vorsorgen, dass es dieses Mal anders käme. Wer, wenn nicht er wusste besser, dass Angst den Charakter eines Jungen formen konnte!
Sary presste sein verbliebenes Auge zu und atmete tief durch. Der Schmerz in seinem Kopf war mittlerweile unerträglich. Dann ging er langsam auf das letzte Haus zu, vor dem zwei müde Wachen saßen und darauf warteten, dass die Nacht vorüberging. Als sie ihn entdeckten, sprangen sie auf und verbeugten sich. „Ausbilder Sary! Gesundheit, Leben und Wohlergehen.“
Sary achtete kaum auf ihre Worte und schob sich stattdessen an den beiden vorbei ins Haus. „Ich muss zum jungen Thutmosis.“
Die beiden Männer versuchten halbherzig, ihn aufzuhalten, da sie nicht wagten, sich ihm in den Weg zu stellen. „Es ist spät, Herr. Die achte Stunde der Nachtfahrt. Der Einzig Eine schläft bereits.“
Sary stieß den Ersten grob zur Seite und zog sein Schwert aus der Scheide. Der Schmerz in seinem Kopf machte ihn rasend vor Wut ... er hatte das Gefühl, den Dorn einer Streitkeule im Schädel stecken zu haben. Einen kurzen Augenblick meinte er, wieder im Goldland zu sein und in das schwarze Gesicht eines Kermasohnes zu starren. Sary fuhr herum und drängte den zweiten Mann an die Wand. Mit einer einzigen Bewegung zog er sein Kurzschwert aus der Scheide und richtete die Schwertspitze auf die Kehle des elenden Kermasohnes. Er war bereit, ihn aufzuschlitzen ... Ihr elenden Söhne von Schweinen habt meinen Bruder in eine ewige Verdammnis geschickt ...
„Herr, beim großen Month! Bitte töte mich nicht!“, rief ihm der Mann in ordentlicher thebaner Mundart zu, und Sary kniff sein Auge zusammen. Als er es öffnete, waren die Kermasöhne verschwunden. Stattdessen blickte er in die entsetzten Gesichter der beiden ägyptischen Wachsoldaten.
Sary nahm sein Schwert von der Kehle des einen und schob es zurück in die Scheide. Er wusste, dass die Männer ihn fürchteten, seit sie ihn damals vom Truppenübungsplatz geschleift und Unesch seinen Schädel geöffnet hatte. Nicht wenige der Soldaten glaubten, dass in seinem Herzen noch immer Dämonen wohnten, und dass der Ach seines toten Bruders Sary folgte. „Er hat sie aus dem Goldland mitgebracht ... die Dämonen und den wütenden Ach Amenis!“, erzählten sie sich hinter seinem Rücken. Wie Recht sie hatten!
„Bei den Pforten der Unterwelt! Ich werde jetzt zum jungen Thutmosis gehen. Und ihr werdet darüber schweigen ... ebenso, wie der Knabe es tun wird!“
Die Männer nickten fast gleichzeitig und starrten in sein Auge. Fast meinte Sary, ihren Schweiß riechen zu können. Sie fürchteten ihn tatsächlich mehr als den roten Seth. Sary ließ die beiden stehen und setzte seinen Weg fort.
Er betrat den Raum, in dem der junge Thutmosis schlief, und starrte eine Weile auf den schlafenden Knaben. Selbst hier brauchte er nicht auf seine königlichen Vergünstigungen zu verzichten. Neben dem Bett stand ein Sklavenjunge und wedelte dem schlafenden Horus unermüdlich mit einem Straußenwedelfächer Luft zu. Der Raum war mit Tischen, Stühlen, Truhen und allerlei Dingen eingerichtet, die dem jungen Falken Vergnügen bereiteten. Sary entdeckte einen Senet-Spieltisch, auf dem die Figuren einer unvollendeten Partie standen. Mit einer unwirschen Handbewegung gab er dem unermüdlich fächelnden Sklaven ein Zeichen, dass er verschwinden sollte. Der Junge ließ sich nicht zweimal bitten und rannte mitsamt dem Wedelfächer aus dem Raum.
In seiner Erinnerung vernahm Sary die Stimme der Königswitwe Mutnofret. Es ist Maat, dass er Horus ist! Sary trat an das Bett heran, dessen Fußbrett in Form von Isis Schwingen den Schlaf des Knaben bewachen sollte. Die Wangen des Jungen wirkten im Schlaf prall und seine Lippen hatte er zu einem Schmollmund verzogen. Ein goldenes Schweinchen ... Thutmosis zählte elf Nilschwemmen und wurde bereits seit zwei Mondumläufen zum Soldaten erzogen, doch er war immer noch feist und rundlich.
Als er und Ameni seinerzeit in den Dienst des Heeres getreten waren, hatten sie innerhalb von nur einem Mondumlauf alles Fett an ihrem Körper verloren und dafür Muskeln wie Granitstein bekommen. Der Drill war hart und manchmal grausam gewesen. Doch er hatte sie zu Männern gemacht! Sary ahnte, dass der Kommandierende der Leibwachen es nicht wagte, den Knaben gegen seinen Willen einem harten Drill auszusetzen.
Er beugte sich über den Schlafenden – dann packte er unvermittelt den Hals des Jungen. Thutmosis erwachte und begann mit Armen und Beinen zu strampeln. Sary drückte fester zu, gerade so fest, wie es ging, ohne den Kehlkopf des Jungen zu zerquetschen. Thutmosis Augen traten aus den Höhlen, seine Zunge schnellte hervor, aus seinem Mund kamen erstickte Laute. Ein lustvoller Schauer lief beim Anblick des zappelnden Jungen durch Sarys Körper. Er erinnerte sich an jene Nacht in Memphis, als er einer Hure das Leben aus dem elenden Leib gepresst hatte ... ein gutes Gefühl!
Ruckartig ließ Sary die Kehle des Jungen los. Er durfte nicht töten ... nicht heute Nacht ... nicht ihn! „Hör mir zu ...“, flüsterte er stattdessen und hielt seinen glühenden Blick auf Thutmosis gerichtet, der zitternd und stumm vor Entsetzen in seinem Bett lag und ihn aus aufgerissenen Augen anstarrte. „Du bist ein Schwächling, wie es dein Vater war! Ihr bist du lästig, denn längst trägt sie die Kronen Kemets und hat nicht vor, sie wieder abzulegen. Kemet braucht keinen zweiten Horus, schon gar keinen fetten nutzlosen Knaben.“ Er machte eine lange Pause ... der Junge begann leise zu wimmern. Sary schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. „Hör auf zu jammern, Sohn eines Schwächlings!“, zischte er und kümmerte sich nicht darum, dass Speicheltropfen auf das Gesicht des Knaben fielen. „Wenn ich aus Punt zurückkehre und noch immer einen Schwächling vorfinde – sei gewiss! Ich werde dich schlachten, wie ich einst deine Amme und die beiden Zwerge geschlachtet habe ... in jener Nacht, in der ich auch dich hätte töten sollen!“
Noch immer starrte der Junge mit zitternden Lippen in sein Gesicht. Sary wusste nicht, ob er sich an jene Nacht erinnerte, als seine kuhäugige Mutter mit ihm nach Memphis hatte fliehen wollen. Er war sehr jung gewesen. Doch tief im Herzen des Jungen musste eine Erinnerung vergraben sein, denn wann immer er Sary erblickte, begann er am ganzen Leib zu zittern. Sary beeindruckte die Furcht des Jungen nicht, noch regte sich Mitleid in ihm. „Niemand wird dich beschützen, junger Horus! Hatschepsut duldet dich, solange du noch ein Kind bist. Deine einfältige Mutter lebt fern von Theben auf einem Landgut, und deine Großmutter ist eine alte Frau, deren Macht versiegt ist.“ Sary stand auf und legte die Hand auf sein Schwert. „Du bist ganz allein ... doch wenn du stark genug wärest, dann könntest du dir vielleicht zurückholen, was dir gehört ... was Sie dir fortgenommen hat.“ Er wusste, dass der Knabe ihm trotz seiner Angst zuhörte. „Entweder das ... oder du wirst das Mannesalter nicht erreichen.“
Mit diesen Worten wandte Sary sich um und verließ die Räume des Jungen. Er ging ohne ein weiteres Wort oder einen Gruß an den beiden Wachhabenden vorbei, die ihm in einer Mischung aus Angst und Misstrauen hinterher sahen. In seinem Auge flackerte ein loderndes Feuer aus Hass, während er an die goldene Hure dachte. Er wusste, dass der junge Thutmosis ihn nicht verraten würde. Ihr, der er misstraute, würde er sich niemals anvertrauen, und außer Hatschepsut gab es niemanden, der ihn hätte schützen können. Nicht einmal die Götter, junger Thutmosis, hören dich ... denn sie hören nur noch auf Sie!
Der Königspalast, Jahr 9 der Herrschaft Hatschepsut Maatkares
Hatschepsuts Finger fuhr an der Halsbeuge ihres Geliebten entlang und verharrte kurz, um den Schlag des Herzens zu fühlen, das viel zu schnell in Senenmuts Brust schlug. Sie hatten sich geliebt – den ganzen Nachmittag, während Res Strahlen ihre ineinander verschlungenen Körper liebkost hatte – nun lagen sie satt und träge wie Katzen auf Hatschepsuts Lager. Wie immer, wenn sie mit Senenmut zusammen war, empfand Hatschepsuts Herz eine zufriedene Ruhe. Wie anders doch diese Liebe war, als jene, die zwischen ihr und Ameni gewesen war. Damals war sie jung gewesen, unsicher und voller Furcht. Ameni war ihr Beschützer und sie das Mädchen mit dem Katzengesicht, das so gerne etwas anderes gewesen wäre, als die Gemahlin ihres Bruders, der sie verabscheute. Doch die Frau, die Senenmut liebte, war erwachsenen geworden. Obwohl in Senenmuts Adern kein Tropfen göttlichen Blutes floss, so wusste Hatschepsut doch, dass sie sich ebenbürtig waren.
Sie betrachtete die tiefen Falten um die Mundwinkel ihres Geliebten, und wie so oft wurde ihr bewusst, dass Senenmut sehr viel älter war als sie. Was soll ich tun, Amun, wenn er einst seine Barke besteigt und ich zurückbleibe? Insgeheim fürchtete Hatschepsut diesen Tag, auch wenn sie diese Furcht tief in ihrem Herzen verbarg. Sie war der Falke ... und Furcht ist der Weg zur Niederlage!
Neben ihr regte sich Senenmut und wandte sich ihr zu. Hatschepsut schmiegte ihren von der Liebe erhitzten Leib an seinen. „Senenmut ... ich möchte, dass du ein neues Haus der Ewigkeit für dich bauen lässt ... mit einem langen Korridor, der bis zur Grabkammer führt ... die Grabkammer soll unter meinem Djeser Djeseru liegen.“
Senenmut runzelte die Stirn, doch sie sprach weiter, ehe er Einwände erheben konnte. „Es ist der einzige Weg, wie wir nach dem Tod für immer zusammen sein können.“
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen und schwieg. Erst nach einer Weile antwortete er. „Du solltest nicht über den Tod nachdenken, Schwester meines Herzens. Du bist noch jung.“
Aber du bist es nicht ... hätte Hatschepsut beinahe geantwortet, doch stattdessen lächelte sie nur. „Aber ich war zeit meines Lebens vom Tod umgeben ... das lange Sterben meines Bruders Thutmosis ...“, sie schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. „Nein, wir müssen vorsorgen. Anubis fragt nicht nach Alter und Jugend.“ Sie setzte sich im Bett auf und zog die Knie an ihre Brust. „Und ich will noch mehr tun. Auf der obersten Terrasse des Djeser Djeseru, im Bereich, der meiner engsten Familie vorbehalten ist, sollst du Bildnisse von dir anbringen lassen.“
„Die Priester werden es erfahren“, wandte Senenmut ein. „Du kannst es vor dem Volk geheim halten, doch die Priester werden es sehen. Denk an Iti ... er ist dir noch immer nicht wohlgesonnen.“
Hatschepsut stand vom Lager auf und griff nach ihrem Trägerkleid, das sie achtlos abgestreift hatte, als Senenmut und sie ausgehungert nach Liebe in ihre Räume gekommen waren.
Wie hätte sie Iti vergessen können – den hageren Oberpriester des Ptah in Memphis. Hui hatte ihn mit ihrem Körper bestochen, als sie damals nach Memphis gekommen war, um ihren Thronanspruch durchzusetzen. Doch Hatschepsut vertraute ihm nicht, obwohl er seither keinen Versuch mehr unternommen hatte, die Priesterschaft oder das in Memphis stationierte Heer gegen sie aufzuhetzen. Sein stechender Blick, dem eines Schakals ähnlich, war voller Abscheu – er mahnte Hatschepsut zur Vorsicht. Erst vor einem Mond hatte sie Iti in Theben empfangen und feststellen müssen, dass auch Hapuseneb, ihr enger Vertrauter und Hohepriester des Amun in Theben eine Abneigung gegen den Hohepriester des Ptah in Memphis hegte. Der Hohepriester des Amun war jedoch mächtiger, als der Priester des Ptah. Hatschepsut dankte Amun dafür, Hapuseneb ihren Vertrauten nennen zu dürfen.
Wann immer Iti sich vor ihr verneigt und Segenswünsche ausgesprochen hatte, fühlte Hatschepsut, dass er sie verachtete. Es war kein Hass, wie bei Sary, den Hatschepsut hätte greifen und verstehen können – es war eine Verachtung jener Art, die eine Katze gegenüber einer Maus empfinden mochte.
„Ich habe Iti und seinen Besuch nicht vergessen“, antwortete sie Senenmut deshalb gereizt. „Doch ich bin der Falke und werde meinen Kopf nicht vor diesem Mann mit dem verdorrten Herzen neigen. Ich bin die Tochter Amuns ... er ist der Sohn von Menschen.“
Wieder kam es Hatschepsut vor, als wolle Senenmut Einwände erheben, und wieder schwieg er. Dann stand auch er auf und suchte nach seinem Schurz. Seine Bewegungen wirkten angespannt. „Du darfst die Priesterschaft nicht unterschätzen. Dein Herz ist das einer Göttin, doch dein Körper ist sterblich.“ Er kam zu ihr und zog sie an sich. „Mein Herz könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas geschieht.“
Seine Wärme machte ihren Leib geschmeidig und anschmiegsam. Dank ihm war sie in den letzten Nilschwemmen nicht zu der bloßen Statue eines lebenden Gottes auf Erden geworden. Sein Verdienst war es, dass sie Frau und Geliebte bleiben durfte – auch wenn es nicht vor den Augen des Volkes und des Hofes geschehen konnte.
„Ich werde Iti nicht unterschätzen ...“, versprach sie. Ihre Lippen trafen sich, und Hatschepsut schlang ein letztes Mal die Arme um seinen Leib. Seit Sary und Nehesi vor sechs Monden aufgebrochen waren, um das sagenumwobene Punt zu suchen, war Hatschepsut klar, wie sehr der Goldlöwe ihr Gemüt bedrückt hatte. Es war so friedlich ohne ihn, ohne seine brennenden Blicke, die sie verfolgen ... sogar nachts in ihren Träumen, wenn sie schlief.
Senenmut löste sich von ihr und lächelte versöhnlich. Wie immer wirkte sein Versuch zu lächeln unbeholfen, doch Hatschepsut liebte ihn dafür, dass er nicht die Fähigkeit der Täuschung wie die Höflinge besaß. „Ich werde heute Abend als dein Haushofmeister und Erzieher Nofrures beim Bankett an deiner Seite sitzen. Es ist dein Abend, Horus! Du hast die Handelswege nach Punt neu erschlossen ... nach so vielen Nilschwemmen, in denen sie vergessen waren.“
Hatschepsut dachte an das Sendschreiben, das vor wenigen Tagen eingetroffen war. Nehesi hatte ihr mitgeteilt, dass sie kurz vor dem Ziel waren. Sie hatten den Weg nach Punt tatsächlich gefunden! Hatschepsut sah Senenmut nach, wie er ihre Räume über die Terrasse verließ, und fühlte wie immer ein unangenehmes Ziehen in ihrem Bauch. Wie ein Dieb musste er sich aus ihren Räumen schleichen und sich vor den Augen der Höflinge verbergen. Was hätte sie dafür gegeben, mit ihm Hand in Hand durch die Gärten zu gehen und ihre Liebe nicht zu verheimlichen. Doch dies, so pflegte Hui zu sagen, wenn sich Hatschepsut über die vielen Heimlichkeiten beschwerte, aus denen ihr Familienleben bestand, war das Schicksal eines weiblichen Falken.
Nachdem sie gebadet und ihre Leibdienerin sie geschminkt hatte, verließ Hatschepsut ihre Räume. Sobald Senenmut fort war, war auch die Unruhe wieder in ihrem Herzen. Sie bereute es, Hui nach Karnak geschickt zu haben, damit sie Nofrure und Meritre einen Besuch abstattete. Seit Nofrure das Amt der Gottesgemahlin des Amun übertragen worden war, wurden beide Mädchen im Tempel unterrichtet und lebten die meiste Zeit im zum Heiligtum gehörenden Tempelpalast Nicht bin ich fern von Amun, wo auch sie selbst während ihrer Tempeldienstzeiten residierte. Auch wenn Nofrure die Zeremonien der Gottesgemahlin noch nicht leiten durfte, war ihr Tagesablauf streng geregelt. Viel zu früh musst du deine Kindheit hinter dir lassen Tochter ... dachte Hatschepsut unglücklich.
Sie beschloss, ihrer ehemaligen ersten Dienerin Ipu einen Besuch abzustatten. Seit der junge Thutmosis in die Obhut des Truppenführers gegeben worden war, damit er eine militärische Ausbildung erhielt, gab es für Ipu wenig zu tun. Es war Zeit, dass sie sich über neue Aufgaben für die Amme des Königs Gedanken machte. Hatschepsut hatte vorgehabt, Ipu zu Ahmose-Pennechbet, ihren klebrig süßen Gemahl zurückzuschicken, nachdem Thutmosis keiner Amme mehr bedurfte. Doch nachdem der ehemalige General überraschend seine Barke bestiegen hatte, fühlte sie sich für Ipu verantwortlich, die nicht aufhören wollte, um ihn zu trauern.
Ihre Füße fanden von selbst den Weg zu dem Flügel, in dem der junge Thutmosis lebte, wenn er sich im Palast aufhielt. Ipu bewohnte als seine Amme noch immer Räume im gleichen Flügel. Obwohl Thutmosis nicht hier war, eilte seine Dienerschaft jeden Tag hin und her, wechselte welke Blumen gegen frische aus und sorgte dafür, dass der junge Falke, wann immer er heimkehrte, seine Räume bewohnbar vorfand.
Hatschepsut ging bis ans Ende des langen Ganges, an dem die Räume der königlichen Amme lagen. Der Wachhabende verbeugte sich tief und öffnete ihr die Tür zu Ipus Räumen. Nur kurz sah sie sich um. So nachlässig, wie Ipu an sich selbst geworden war, so sahen auch ihre Räume aus. Über einem Stuhl lag ein zerknittertes Gewand, das die Dienerin noch nicht zum Waschen abgeholt hatte, auf einem Tisch standen benutzte Weinkelche und klebriges Süßgebäck, an dem sich einige Bienen und sogar Fliegen tummelten. Hatschepsut rümpfte die Nase. Sie musste Ipu ins Gewissen reden, damit sie sich endlich zusammenriss. Ahmose-Pennechbet war zu den Göttern gegangen, doch Ipu hatte noch immer ein königliches Amt und eine leibliche Tochter.
Als Hatschepsut mit einem Tadel auf den Lippen die Tür zu Ipus Wohnbereich öffnete, runzelte sie irritiert die Stirn.
Ipu und Mutnofret erhoben sich fast gleichzeitig von ihren Stühlen und deuteten eine Verbeugung an. „Gesundheit, Leben und Wohlergehen, Pharao“, murmelten sie die übliche Grußformel. Ein kalter Klumpen stieg in Hatschepsuts Herz. Obwohl sie nicht sagen konnte weshalb, bereitete es ihr Unbehagen, Mutnofret und Ipu so einträchtig zusammen zu sehen.
„Ich habe der edlen Dame Ipu einen Besuch abgestattet, um nach dem Befinden meines Enkels, des Falken, zu fragen“, erklärte Mutnofret schnell. „Als ich ihn besuchen wollte, wurde ich vom Kommandanten der Truppen abgewiesen.“
Es hatte wie immer kein Vorwurf in der Stimme Mutnofrets gelegen. Sie war so gerissen und schlau, wie Isis, die Mutter des Knaben, plump und einfältig war. Obwohl Mutnofret krank war und unter Gebrechen des Alters litt, hätte sie ihre Schwäche niemals offen gezeigt.
„Ich selbst habe jeglichen Besuch untersagt“, erklärte Hatschepsut kühl, während sie sich an den Tag erinnerte, als ihr eigener Bruder vom Truppenübungsplatz geflohen war und von seinem Vater gefordert hatte, dass er gemäß seines göttlichen Blutes eine bessere Behandlung bekam, als die anderen Soldaten. „Ich will nicht, dass Thutmosis Ausbildung gestört wird ... von niemandem! Du hast deinen Enkel zu sehr verwöhnt, Mutnofret. Thutmosis ist zu weich ... genau, wie sein Vater es war.“
Nur kurz funkelten die Augen der Königswitwe in einem Anflug von Zorn, dann lächelte sie. „Wie weise du bist, Horus.“
Hatschepsut lächelte spöttisch. „Und wie gut du deine Hinterhältigkeit noch immer zu verbergen verstehst, Mutnofret. Du bist nur hier am Hof, weil es nicht Maat wäre, dich fortzuschicken, nachdem der Vater meines Neffen zu den Göttern gegangen ist und seine Mutter verbannt wurde. Doch sieh dich vor ...“. Sie wandte sich an Ipu, die mit gesenktem Kopf dastand und so tat, als beträfe sie dieses Gespräch nicht. „Und sieh auch du dich vor, Ipu. Es ist gefährlich, Freundschaft zu einer Schlange zu pflegen.“
Ipu hob ihren Kopf und starrte Hatschepsut aus weit geöffneten Augen an. Das Fett an ihrem Doppelkinn bebte, während sie alle Anschuldigungen von sich wies. „Wie kannst du das sagen? Zu mir, die ich einst deine engste Vertraute war!“
„Ich weiß, was du warst ... und ich weiß, was du bist. Nur weil du meine engste Vertraute warst, will ich nachsichtig sein. Ich bin die Tochter Amuns ... ich bin Horus! Vergiss es nicht, Ipu. Ich sehe in die Herzen der Menschen. In deinem erkenne ich Verrat!“
Mutnofret verbeugte sich tief. „Ich sehe, mein Besuch hat die edle Dame Ipu in Schwierigkeiten gebracht. Das wollte ich nicht, deshalb bitte ich, mich zurückziehen zu dürfen.“
Hatschepsut gab ihr einen Wink, und Mutnofret glitt fast lautlos aus dem Raum. Wie eine Schlange, die ihr Gift verspritzt hat und heimlich durch einen Spalt in der Wand verschwindet ... Sie wandte sich wieder Ipu zu. „Ich weiß, dass du mir zürnst, Ipu, doch ich weiß nicht weshalb. Deine Wahl hast du selbst getroffen ... der Tod deines Gatten war ein Unglück. Anubis kam in der Nacht und ließ sein Herz stillstehen.“
Bei der Erwähnung Ahmose-Pennechbets presste Ipu die Lippen zusammen. Als sie sprach, war es kaum mehr als ein Flüstern. „Mein Gemahl starb an gebrochenem Herzen.“
„Auch er traf seine Wahl, als er sich dazu entschied, Nofrure gegen meinen Willen nach Karnak zu bringen.“ Hatschepsut ahnte, dass es vor allem Selbstmitleid war, das Ipu plagte. Schon früher war sie viel zu bequem und eitel gewesen, als dass sie tiefer gehende Zuneigung zu jemand anderem als sich selbst hätte empfinden können. „Denke an Satjah, deine und Ahmose-Pennechbets Tochter, und ihre Zukunft, wenn du das nächste Mal Ränke schmiedest.“
Ehe Ipu noch etwas hätte entgegnen können, wandte Hatschepsut sich um und verließ ihre Gemächer. Obwohl sie um Ipus Treulosigkeit wusste, traf sie der Verrat ihrer ehemaligen Freundin und Dienerin tiefer in ihrem Herzen, als sie es für möglich gehalten hatte. Werde ich denn immer Feinde haben ... werde ich stets in die dunklen Ecken des Palastes schauen müssen, um zu verhindern, dass sie wie Schakale über mich herfallen? Hatschepsut atmete tief durch und rief nach einem Boten. Hui! Sie brauchte nun Hui, ihren Ka und ihre einzige Vertraute. Ohne ihren Ka fühlte Hatschepsut sich angreifbar und verletzlich, als wäre sie keine Gottestochter, sondern nur eine Frau, die von ihren Feinden umgeben war.
Senenmut senkte den Kopf, als er durch den zweiten Eingangspylon der Tempelanlage von Karnak trat. Immer, wenn er Hapuseneb einen Besuch abstattete, hatte er das unbestimmte Gefühl, die Priester könnten die Zweifel in seinem Gesicht lesen ... oder schlimmer ... die Götter könnten es! Dies war einer der Gründe, weshalb er Hapuseneb lieber in seinem thebaner Haushalt besuchte, statt im riesigen Tempelbezirk des Amun-Re.
Senenmut wandte seinen Blick zum Himmel. Re war im Begriff, von Nut verschlungen zu werden. Der Oberste Prophet würde im Allerheiligsten die magischen Stundengebete vollziehen, damit der Gott seine Reise durch die Unterwelt unbeschadet überstand.
Er beschloss, Nofrure und Meritre einen Besuch abzustatten, bevor er Hapuseneb in seinen Amtsräumen aufsuchte. Sein Amt als Erzieher der Kronprinzessin nahm er ernst und wachte über Nofrure, wie er über seine eigene Tochter gewacht hätte, wenn er denn eine Tochter gehabt hätte; die Wahrheit war, dass Nofrure für Senenmuts Herz längst zu der Tochter geworden war, die er niemals haben würde.
Nofrure und Meritre bewohnten nicht wie die anderen Tempelschüler und niederen Priesterstände eine kleine Zelle in der Nähe der Dienstbotenunterkünfte, sondern führten aufgrund von Nofrures Amt als Gottesgemahlin des Amun einen eigenen Haushalt. Ihre Räume lagen nicht weit von denen des Obersten Propheten des Amun entfernt, in einem ruhigen Teil des Tempelbezirks, an den auch die Räume der Henutet Priesterinnen angrenzten, die der Gottesgemahlin direkt unterstellt waren und sie bei ihren Amtshandlungen begleiteten und unterstützten. Eine Tochter Hapusenebs gehörte ebenfalls zu Nofrures Gefolge, wie Senenmut wusste.
Nofrures Leibdienerin, die mit einem Korb nasser Leinentücher aus dem Haus trat, lächelte Senenmut freundlich zu und verbeugte sich tief. „Gesundheit, Leben und Wohlergehen, edler Herr Senenmut. Die Gottesgemahlin Nofrure hat soeben ihr Bad beendet. Ich werde ihr deinen Besuch melden. Meine Herrin wird sich sehr freuen.“
Senenmut bedankte sich bei der jungen Dienerin und wartete. Die Wachsoldaten nahmen keinerlei Notiz von ihm, starrten nur stur geradeaus. Doch ihm war klar, dass die vermeintlich leblosen Statuen zum Leben erwachen würden, sobald jemand versuchte, sich gewaltsam Zutritt zum Haushalt der Gottesgemahlin und Erbprinzessin zu verschaffen. Senenmut hatte die Soldaten auf Hatschepsuts Geheiß hin selbst ausgewählt.
Kurz darauf erschien Nofrures Dienerin und bat Senenmut, ihr zu folgen.
Nofrure und Meritre saßen sich gegenüber, einen Senet-Spieltisch zwischen sich. Nofrure hatte die Stirn gerunzelt und kraulte eine dösende Katze hinter den Ohren, die auf ihrem Schoß lag, während Meritre zufrieden aussah. Sie hatte die Partie schon beinahe gewonnen. Als Senenmut die Räume betrat, hoben beide Mädchen fast gleichzeitig die Köpfe. Nicht das erste Mal fragte sich Senenmut, wie zwei derart unterschiedliche Mädchen ein so enges freundschaftliches Band teilen konnten. Meritres Charakter war dem ihrer Mutter Hui sehr ähnlich – das Mädchen war vorwitzig, selbstbewusst und klug. Doch Nofrure besaß weder die Willenskraft Hatschepsuts, noch ihre robuste Stärke. Obwohl Nofrure und Meritre fast gleich alt waren, war Meritre fast einen halben Kopf größer als die Freundin.
„Senenmut ...“, rief Nofrure mit ihrer hellen Stimme, als sie ihn sah, und sprang auf, um sich ihm in den Arm zu werfen. Die Katze sprang von ihrem Schoß und miaute erschrocken ob der unsanften Störung.
Meritre lächelte und nahm das Tier auf den Schoß. Wie ihre Mutter Hui umgab sie etwas Geheimnisvolles. Ihre tiefsten Gefühle schien sie in ihrem Innern zu verbergen, und je älter sie wurde, desto besser gelang es ihr.
Senenmut schloss seine Arme um Nofrures schmalen Körper. Die unbedarft kindliche Begrüßung Nofrures berührte sein Herz weitaus mehr, als der freundliche doch unverbindliche Gruß ihrer Freundin Meritre. „Ich sehe, es geht dir gut in Karnak, und der Oberste Prophet lässt euch freie Zeit.“
Nofrure löste sich aus seiner Umarmung und nickte eifrig. „Wir lernen viel, aber Hapuseneb ist zu uns weniger streng, als zu den anderen Tempelschülern.“
Nofrure und Meritre zählten fast elf Nilschwemmen, doch während Nofrure noch ganz Kind war, schien Meritre dem Kindesalter fast entwachsen. Senenmut fragte sich, ob es der Einfluss ihrer Mutter Hui war, der sie so schnell reifen ließ. Er musste daran denken, dass Hatschepsut bereits im Alter von zwölf Nilschwemmen die Gemahlin ihres Halbbruders geworden war. Es fiel Senenmut schwer, sich Nofrure und Thutmosis zusammen vorzustellen. Beide waren noch unreif, beide mochten einander nicht ... aber auch Hatschepsut und ihr Bruder hatten sich einander nicht verbunden gefühlt ... und trotzdem war die entzückende Erbprinzessin Nofrure aus ihrer Vereinigung hervorgegangen – die Gottesgemahlin Amuns und zukünftige Königin.
Während Nofrure ihm einen Platz anbot und Meritre nach der Dienerin schickte, damit sie Wein und Gebäck brachte, fragte sich Senenmut, wann Hatschepsut dem jungen Thutmosis ihre Tochter geben wollte. Längst war ihm der Gedanke gekommen, sie würde es überhaupt nicht tun, sondern Nofrure zum nächsten weiblichen Falken bestimmen. Wie so oft bohrte sich der Anflug des Zweifels in Senenmuts Herz. Die Prophezeiungen, die Hatschepsut letztendlich zum Falken gemacht hatten – waren sie wirklich das Werk der Götter oder doch jenes der Priester? Und welche Prophezeiung sollte es sein, die Nofrure zum Falken bestimmte und den jungen Thutmosis seines göttlichen Rechts beraubte? Würden die Götter es zulassen, dass Hatschepsut eigenmächtig handelte?
„Deine Gedanken sind weit fort“, bemerkte Nofrure und runzelte besorgt die Stirn. „Ist etwas geschehen ... mit meiner Mutter?“
Schnell schüttelte Senenmut den Kopf und setzte eines seiner verkrampften Lächeln auf. Er wollte Nofrure nicht mit seinen eigenen Dämonen belasten. Außerdem hatte Hatschepsut bisher nicht angedeutet, dass sie Nofrure zum nächsten Falken erklären wollte.
Die Dienerin erschien erneut mit Wein und Gebäck. Meritre setzte sich zu ihnen an den Tisch und lauschte stumm der Unterhaltung. Wie Hui Hatschepsuts Schatten war, so folgte Meritre Nofrure.
„Bald ist deine Zeit in Karnak vorüber“, bemerkte Senenmut, während er ein Stück Gebäck nahm. „Und Thutmosis wird ebenfalls die erste Nilschwemme seiner Ausbildung beendet haben. Wenn die Schiffe aus Punt zurückkehren, wäre ein guter Zeitpunkt, dich zu Thutmosis’ Königin zu erklären – das fordern zumindest die memphitische Priesterschaft und der Hohepriester Iti.“
Auf Nofrures Gesicht legte sich ein Schatten, der Senenmut beunruhigte. Er hatte geahnt, dass ihr die Neuigkeiten nicht gefallen würden.
„Ich wünschte, ich müsste ihn nicht zum Gemahl nehmen. Ich mag Thutmosis nicht. Er ist verschlossen und düster ... genau wie Satjah.“ Sie hob den Kopf und sah Meritre Hilfe suchend an.
Das Mädchen lächelte. „Aber Satjah besitzt keinen Tropfen göttliches Blut. Du wirst die Krone tragen, ihr werdet Kinder zeugen ... niemand erwartet, dass du Thutmosis liebst.“
Nofrure schob trotzig die Unterlippe vor. „Du musst ihn ja nicht zum Gemahl nehmen.“
Meritre zuckte die Schultern. „Und wenn ich es müsste, würde ich es tun. Was ist schon dabei?“
„Und was ist mit der Liebe?“ Nofrure war nicht überzeugt. Obwohl sie noch kindlich war, überraschte sie Senenmut manchmal durch ihre Fragen.
Er hätte ihr sagen müssen, dass Liebe nicht wichtig war, dass sie nicht zählte für eine Königstochter, doch dann hätte er sie schamlos belügen müssen. Außerdem ahnten sowohl Nofrure als auch Meritre – wenn sie es nicht längst wussten – welche Gefühle Senenmut und Pharao Maatkare verbanden. Er war erleichtert, dass Meritre seine missliche Lage zu erkennen schien und an seiner statt antwortete. „Thutmosis ist deine Pflicht ... das heißt nicht, dass nicht ein anderer deine Liebe werden kann, wenn du deinem Gemahl Prinzen und Prinzessinnen von göttlichem Blut geboren hast. So ist es doch ... nicht wahr, edler Herr Senenmut?“
Nofrure sah Meritre erschrocken an. Dass sie so offen aussprach, was alle wussten, jedoch niemand erwähnte, schockierte sie augenscheinlich. Senenmut zwang sich zu einem Nicken. Es nutzte nichts, es zu leugnen. „Meritre hat recht, Prinzessin.“
Schließlich gab Nofrure nach und seufzte. „Also gut, ich werde mich fügen, wenn die Priester es verlangen.“
Senenmut stand langsam auf und richtete den Blick auf die Sonnenterrasse. Re war soeben von Nut verschlungen worden, und der Oberste Prophet hätte sein Stundengebet beendet. Er verabschiedete sich von beiden Mädchen mit dem Versprechen bald wieder zu kommen und war froh, das unangenehme Gespräch auf einen anderen Tag verschieben zu können.
Hapuseneb kam Senenmut bereits entgegen gelaufen. Scheinbar hatten die Tempelpriester ihn vom Besuch des Erziehers und Haushofmeisters der Prinzessin Nofrure berichtet. Er breitete seine kurzen Arme aus, als er Senenmut sah und in seinem Gesicht zeigten sich Lachfalten. „Mein Freund, willkommen in Karnak. Du bist lange fortgeblieben. Früher waren deine Besuche häufiger.“
Sie umarmten sich herzlich, und Senenmut plagte das schlechte Gewissen. In den Worten Hapusenebs hatte kein Vorwurf gelegen, doch Senenmut wusste, dass der Oberste Prophet Amuns einer der wenigen Menschen war, welche die Wahrheit in seinem Herzen lesen konnten. Hapuseneb wusste, dass er mit einem Dämon kämpfte – doch welcher das war ... die nagenden Zweifel an der Prophezeiung, an der Göttlichkeit der Göttlichen ... konnte Senenmut seinem Freund nicht offenbaren.
„Es gibt viel zu tun ... die Arbeiten am Djeser Djeseru müssen vorangetrieben werden“, versuchte Senenmut sich deshalb zu entschuldigen. „Pharao Maatkare wünscht, dass ihr Millionenjahre-Haus vollendet ist, wenn die Schiffe aus Punt zurückkehren.“
Hapuseneb faltete die Hände über seinem runden Bauch. „Wie geht es der Tochter Amuns? Mir scheint, dass es niemand anderen gibt, der es besser wissen könnte, als jener törichte Mann, dem ich einst riet, die Liebe seines Herzens nicht an die Göttlichen zu verschwenden.“
Senenmut sah zu Boden, doch bevor er antworten musste, erreichten sie Hapusenebs Haus, vor dem sein Leibdiener mit einer Wasserschüssel wartete, um dem Hausherrn die Hände zu säubern. Als er Senenmut erblickte, nickte er einem anderen wartenden Diener zu, eine weitere Schüssel mit Wasser zu bringen.
Während Senenmut und Hapuseneb im Empfangsraum des Hauses auf Stühlen Platz nahmen und die Diener ihnen mit Wasser verdünnten Wein brachten, sprach Senenmut das Thema an, wegen dem er nach Karnak gekommen war. „Ich sorge mich um die Sicherheit des weiblichen Falken. Sie ist unbekümmert und furchtlos, was die Ablehnung ihrer Herrschaft durch den Obersten Propheten des Ptah in Memphis angeht.“
Senenmut konnte sehen, wie sich Hapusenebs Gesicht bei der Erwähnung Itis in einem Anflug von Zorn verzog. „Dieser Schakal! Er ist respektlos und unverschämt.“ Dann glätteten sich die Zornesfalten in Hapusenebs Stirn wieder und er besann sich. „Iti ist lästig und intrigant, ich stimme dir zu. Doch er ist der Hohepriester des Ptah in Memphis, ich bin der Prophet des Amun-Re in Theben, dem Herrn der Throne beider Länder … der allen anderen Göttern vorsteht. Gegen mein Wort hat das des Iti keinen Bestand.“
Senenmut war nicht überzeugt, wartete jedoch, bis die beiden Diener, die sie bedienten, verschwunden waren, bevor er leise weitersprach. „Doch in Memphis ist der Großteil des Heeres stationiert. Iti ist eine Schlange mit sehr starkem Gift ... das hat er bereits einmal bewiesen.“
Hapuseneb überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete. „Doch nun ist es anders als zu der Zeit, als sie das erste Mal Memphis besuchte. Hatschepsut im Begriff, ihre Versprechen den Soldaten gegenüber wahr zu machen. Sie hat neue Handelswege erschlossen, füllt die leeren Schatzkammern der beiden Länder und entlohnt das Heer. Warum sollten sie ihr die Treue verweigern?“
Senenmut nickte, doch seine Zweifel blieben. „Es gibt immer noch viele, die gegen sie sind und sich Thutmosis als Alleinherrscher wünschen.“
Hapuseneb schüttelte den Kopf. „Und wen? Ahmose-Pennechbet hätte als alt gedienter und hoch verehrter General die Soldaten vielleicht dazu bringen können, sich gegen den weiblichen Horus zu wenden. Doch er ist tot, und seine Gemahlin ist ein einfältiges Ding, ebenso wie die Mutter des jungen Thutmosis. Die Königswitwe Mutnofret ist alt und krank, und Thutmosis selbst noch ein Knabe.“ Hapuseneb faltete zufrieden die Hände über seinem Wohlstandsbauch und lächelte. „Es gibt keinen Grund zur Sorge, mein Freund ... Amun ist zufrieden mit seiner Tochter.“
Senenmut starrte auf seine Sandalen. Hapuseneb bemerkte es und beugte sich in seinem Stuhl vor. Seine klugen Augen schienen sich durch Senenmuts Haut zu brennen. „Ich meine Zweifel in deinen Augen lesen zu können ... Zweifel, die nichts mit dem zu tun haben, worüber wir gerade sprachen.“
Senenmut hörte Verwunderung in den Worten des Obersten Propheten mitklingen. Schnell setzte er seine Maske ernsten Gleichmutes auf und schüttelte den Kopf. Der Oberste Prophet war sein Freund, doch wie hätte er ihn fragen können, ob die Zeichen der Prophezeiung um Hatschepsuts Erwählung zum weiblichen Falken ein Betrug an Amun gewesen waren ... erdacht von der thebaner Priesterschaft, um Jene auf den Thron zu heben, die ihre Interessen vertrat. Eine solche Frage würde die innigste Freundschaft nicht unbeschadet überstehen ... und das Schöne Haus. Wie hätte er dem Hohepriester Amuns offenbaren können, dass er zu den Unberührbaren gegangen war und gesehen hatte, was nicht für die Augen eines Sterblichen bestimmt war? Die göttliche Ahmose all ihrer Göttlichkeit beraubt ...
„Ich sorge mich um ihre Sicherheit.“ Senenmut stand auf und presste hervor: „Ich bin nur ein törichter Mann, der eine Göttin liebt.“
Hapuseneb hob die Brauen und schüttelte den Kopf. „Die Götter fordern einen Preis für besondere Gunst, mein Freund. Und die Gunst, die dir widerfährt, werden sie sich reichlich entlohnen lassen.“
Senenmut nickte und verabschiedete sich, damit Hapuseneb nicht noch mehr Geheimnisse seines Herzens offenbarte. Aber was, wenn sie nicht göttlich ist ... welchen Preis werden sie von ihr fordern und welchen von uns, da wir es waren, die sie zur Göttin erklärten ...