Читать книгу Hatschepsut. Die schwarze Löwin - Birgit Fiolka - Страница 4
Der Nachtfahrt 1 Stunde ist jene, welche die Feinde des Re zerschmettert
ОглавлениеTheben, im ersten Jahr der Herrschaft des Thutmosis Aakheperrenre
Die Sterne funkelten im Leib des ewigen Himmelsgewölbes, verlockend und klar, ganz so als würden sie nach ihr rufen, damit sie ihren Platz unter ihnen einnahm – dort oben, neben ihrem Vater und dessen Vater und all jenen, die vor ihnen gewesen waren. Haatsch ... komm zu uns, sieh wie glücklich wir hier sind ... auf ewig werden wir erstrahlen über dem roten und schwarzen Land, über dem Hapi und jedem Papyrusstängel, der sich im Wind biegt. Hatschepsut streckte die Hände zur mit Sternen bemalten Decke, als könnte sie sich erheben und hinauf steigen in den Nachthimmel, die Sterne der Decke begannen zu tanzen und wirbelnd, zu ihr hinabzusteigen ...
Als sie die Augen aufschlug, gab der Traum sie nur langsam frei. Obwohl sie nicht hatte einschlafen wollen, war sie in einen kurzen Schlummer gefallen. Sehnsüchtig betrachtete Hatschepsut die bemalte Decke ihres Gemachs. Es war nur die Decke eines Raumes, in tiefem Blau getüncht und mit unzähligen Sternen bemalt. Farbe und Lehm und Kalk – nichts weiter. Hatschepsut meinte kaum atmen zu können, und die Stunde ging bereits auf Mitternacht. Die Laken klebten an ihrem Leib, als wäre es bereits Schemu, die Zeit der großen Hitze, dabei zählten die Priester erst den zweiten Mond der Saatzeit. Hatschepsut quälte sich unter dem Laken hervor, das Ipu ihr wie jeden Abend sorgfältig über den Leib gebreitet hatte, bevor sie sich auf ihre Strohmatte in der Ecke des Raumes zum Schlafen legte. Heute Nacht, in dieser unerträglichen Hitze und der Gewissheit eines ebenso heißen Morgens, waren ihr sogar die ruhigen Atemzüge ihrer Dienerin eine Qual. Leise, damit Ipu nicht erwachte, stieg Hatschepsut von ihrem Lager, fort von der Sternendecke, die des Nachts ihren Schlaf bewachen sollte, obwohl sie nur Farbe und Lehm war. Sogar die sonst kühlen Steinfliesen schienen unter ihren nackten Füßen zu glühen. Aber nein! Es waren nicht die Steinfliesen - es war sie selbst, die glühte, ihr Kopf, ihr Ka, ihr Leib, der nicht wusste, was zu tun war in dieser Zeit der schwirrenden Hitze voller Dunkelheit, in der Hatschepsut keinen Weg vor sich sah. Leise ging sie zur Tür ihrer Sonnenterrasse und starrte hinauf in den echten Nachthimmel, in dem Myriaden von Sternen funkelten. War er unter ihnen, er, der sie so allein und ratlos zurückgelassen hatte? Wenn die Priester ihre Arbeit sorgfältig getan hatten, hätte die Barke ihres Vaters bereits heil die Unterwelt durchfahren und ihren Gefahren getrotzt. Früher hätte sie nicht daran gezweifelt ... doch seit er fort war, gab es zu viele Zweifel in ihrem Herzen.
Hatschepsut wandte sich ab und warf einen Blick auf Ipus Leib, der sich ruhig hob und senkte. Auch sie hätte sich zurück auf ihr Lager legen sollen, die Augen schließen, und versuchen zu schlafen unter dem gemalten Nachthimmel, dem Leib der Himmelsmutter Nut. Diese Nacht war ohnehin zu kurz, und bald kämen die Priester mit ihren Gesängen, Litaneien, ihren kahlen Köpfen und all ihren Gedanken, die sie vor Hatschepsut sowie allen anderen verbargen. Es war dumm, überhaupt daran zu denken, die Räume zu verlassen. Aber Hatschepsut dachte an nichts anderes, seit Ipu an diesem Abend die Fackeln und Feuerbecken gelöscht hatte. Ihre Füße wollten ihrem Verstand nicht länger gehorchen - sie huschte zur Tür, schob sie nur einen Spalt weit auf, mit verschwitzten Händen. Es wäre die letzte Nacht, die allerletzte, und sie hatte gewusst, dass diese irgendwann kommen musste, auch wenn sie nicht geglaubt hatte, dass es so bald geschehen würde. Es war so leicht, das zu verdrängen, was man nicht wissen wollte! Der Wachhabende vor ihrer Tür stellte keine Fragen – das tat er nie. Er ließ den Kopf sinken, fuhr sich über den Schurz und neigte den Speer ein wenig zur Seite, wie um Hatschepsut zu ermuntern, zu gehen. Sie waren verschworen, obwohl keiner von ihnen je einen Schwur geleistet hatte. Hatschepsut trug ein Trägerkleid, und ihr schwarzes Haar hing ihr lose über den Rücken, als wäre sie nicht die, die sie war, sondern irgendein junges Mädchen aus Theben – die mit dem Katzengesicht, wie ihr zu Osiris gegangener Vater sie oft geneckt hatte. Bei dem, zu welchem es Hatschepsut hinzog, konnte sie es sein – in der Verschwiegenheit der Nacht, verborgen in Nuts unendlichem Leib. Die Feuerbecken waren bereits am verglimmen, und die Schatten tanzten an den Wänden, als würden sie aufgeregt das freudige Ereignis des Morgens herbeisehnen, wenn die Angst und das Chaos endlich vom roten und schwarzen Land genommen würden – wenn es endlich wieder einen Pharao auf dem Doppelthron gab. Eine Spur von Weihrauch lag noch in der Luft, da die Priester erst vor wenigen Stunden ihre Räume gesegnet hatten, und von draußen drang der betörende Duft von schwerem Jasmin. Eine Nacht voller Zauber war es, in der Götter und Menschen sich hätten umarmen sollen, da die Dunkelheit und die Angst nun bald ein Ende hätte - es gab Grund zu feiern, zu tanzen und zu jubeln. Aber Hatschepsut tanzte nicht, und sie wollte nicht jubeln. Sie musste Abschied nehmen. Leise ging sie an der Tür ihrer Mutter Ahmose vorbei, obwohl es nicht nötig gewesen wäre zu schleichen wie eine Diebin. Ahmose schlief bereits seit dem frühen Abend, in ihrem Geist und ihrem Körper schwemmte ein Meer aus Mohnsaft, trug sie auf sanften Wellen fort, bis es sie am Morgen zurück an die gnadenlosen Ufer der Wirklichkeit spülte – so war es seit vielen Nilschwemmen, obwohl Hatschepsut sich daran zu erinnern meinte, dass vor langer Zeit auch in den Räumen ihrer Mutter gelacht und gesungen worden war. Aber das war gewesen, bevor Mutnofret gekommen war und das Herz des Mächtigen Stiers mit ihrem falschen Zauber belegt hatte. So erklärte zumindest Ahmose sich, dass eine gewöhnliche Nebenfrau es vermocht hatte, den ewigen Gott so zu betören, dass er seine große königliche Gemahlin vergaß. Mutnofret war die zweite Gemahlin des zu Osiris gegangenen Gottes, und ihr war das gelungen, was Ahmose nicht vermocht hatte, obwohl Mutnofret nie die Hohen Federn der Königsgemahlin getragen hatte. Sie hatte dem Pharao Kinder geboren, die nicht starben, einen neuen Sohn, den der Einzig Eine so sehr ersehnt hatte, nachdem der Falke im Nest so früh aus dem Leben gerissen worden war. Es hatte auch in Ahmoses Gemächern Söhne gegeben, prächtige und gut gewachsene Prinzen, die sie geliebt hatte. Aber Amunmose war in seinem zwölften Jahr bei einer Jagd von einem Streitwagen überrollt worden, als sein Vater nicht auf ihn geachtet hatte und Wadjmose hatte das Fieber dahingerafft noch bevor er sein achtes Jahr vollendet hatte. Seine Schwester Neferubity hatte er mit sich ins Reich Osiris genommen. Danach war nur noch Hatschepsut übrig geblieben - und der Sohn der anderen, Thutmosis, nach seinem Vater benannt, ihr Halbbruder und Gemahl. Die erhabene Ahmose hatte ihrem Gatten nie verziehen, dass er nicht auf Amunmose acht gegeben hatte, auf ihren prächtigen Prinzen, der ihr ganzer Stolz gewesen war, dem Horus im Nest, dessen Flügel sich bald gespannt hätten. Er hätte Hatschepsuts Gemahl sein sollen, der Prinz mit den freundlichen Augen, an den sie sich kaum noch erinnerte, weil sie so klein gewesen war, als er starb. Aber Hatschepsut erinnerte sich daran, dass er ihr oft unter das kleine spitze Kinn gefasst und ihr ins Gesicht gepustet hatte. Kleine Haatsch – wenn du groß bist, nehme ich dich mit und zeige dir das rote und schwarze Land. Ich fahre mit dir den Hapi hinauf und hinab und lehre dich, die Schönheit der beiden Länder zu lieben. An diese Worte erinnerte sie sich und an das freundliche Lachen eines sonnengebräunten Gesichts. Er wäre der Richtige gewesen, und obwohl sie kaum vier Sommer alt gewesen war, hatte auch er gewusst, dass sie die Richtige gewesen war. „Amunmose“, seufzte sie leise, überwältigt von der Last einer Wehmut, die nicht auszulöschen war, und zwang sich, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er war fort, hatte die Barke bestiegen und sie allein gelassen mit dem, der nun ihr Gemahl war. Amunmose war nichts als eine Ahnung, wie ihr Leben hätte sein können. Hatschepsut ging schneller, als sie an Mutnofrets Gemächern vorbei kam. Auch hier war es still, obwohl Hatschepsut wusste, dass es dort einen Grund zum Jubeln gab. Er, der Sohn der Mutnofret, geboren aus ihrem gewöhnlichen Schoß, würde bald ein Gott sein. Hatschepsut ließ den prunkvollen Flügel der königlichen Frauen hinter sich und mit ihm die müden Männer der Leibwachen, die den Blick senkten, als sie vorbei ging. Auch mit ihnen war sie verschworen, denn sie war die geliebte Tochter ihres toten Herrn. Sie lief durch den Flügel der Männer, noch prunkvoller und noch viel stiller, als der Frauenflügel es war. Wie hätte dort Leben sein sollen, wo doch das Herz Ägyptens nicht mehr hier war. An der verlassenen Tür, auf der in vergoldeten Zeichen der Name ihres göttlichen Vaters prangte, ging sie schnell vorbei, ebenso wie an der Tür ihres Brudergemahls. Als sie hinausschlüpfte durch den Seitenflügel, blieb sie stehen und sog die hitzestarre Luft in ihre Lungen. Hier war der Duft des Jasmins noch stärker, aber auch der Gestank vom modrigen Wasser der Badeteiche, die bereits jetzt grünlich verfärbt waren. Kein gutes Omen für den neuen Herrn der beiden Länder, eines unter vielen schlechten Vorzeichen für die Thronbesteigung ihres Bruders! Hatschepsut ging weiter, und ihr Herz schlug schneller, als sie die Mauer am Ende der Gärten sah, das Fackelfeuer, das von der anderen Seite her über die Mauerkrone flackerte und ihr eine letzte Nacht des Trostes verhieß – dort, wo die Leibwache ihres toten Vaters ihre Unterkünfte hatte. Als es nur noch ein paar Schritte bis zur Mauer waren, wurde sie am Arm festgehalten. Die Stimme, mutig und ablehnend zugleich, war ihr wohl bekannt. „Wohin willst du denn, Haatsch? Es ist schon spät, und die Unterwelt ist nicht gnädig mit denen, die gegen die Maat handeln.“
Hatschepsut blieb stehen, straffte die Schultern und wandte sich langsam um. Die Augen des Mannes funkelten im Schein des Mondes, und sein schönes Gesicht hätte den Neid eines Gottes hervorzurufen vermocht. Stets war er da, wie eine stumme Mahnung, dass das was sie tat, falsch war. Aber heute begnügte er sich nicht mit vorwurfsvollem Schweigen, und sie musste ihm antworten. „Sary, warum fragst du mich das gerade in dieser Nacht, wenn du es in den vielen Nächten zuvor nicht getan hast?“ Hatschepsut wich dem Blick seiner bernsteinfarben funkelnden Augen nicht aus, obwohl es ihr nicht leicht fiel. Auf eine erschreckende Weise konnte man sich diesem Goldblick nicht entziehen. Der junge Mann, ein paar Sommer älter als sie selbst, ließ sie los und verschränkte die Arme vor der nackten Brust, ohne sie aus den Augen zu lassen. Warum schwitzte er nicht in dieser Hitze, wie alle es taten? Vielleicht lächelten die Götter ihm zu, da er sich stets der Einhaltung der Maat verpflichtet fühlte? Sary achtete die Götter und diente der göttlichen Familie des Einzig Einen – wie unendlich schwer es ihm fiel von ihr und Ameni zu wissen, konnte Hatschepsut nur erahnen.
„Es ist eine andere Nacht, Haatsch ... eine gefährliche Nacht, die einem Tag voller schlechter Vorzeichen vorauseilt. Du weißt, dass du nicht hier sein solltest.“
„Es ist die letzte jener Nächte“, entgegnete sie, ohne Weichheit in ihre Worte zu legen. „Ich muss Abschied von ihm nehmen, und er von mir. Er ist mein Freund.“
„Und er ist mein Bruder“, antwortete Sary ebenso hart und unnachgiebig. Hatschepsut meinte, dass sie sich gegenüberstanden wie Löwen, die um die Beute stritten. Der Goldlöwe und das Mädchen mit dem katzenhaften Gesicht. Sie hätten von einer Art sein sollen, aber das waren sie nicht, und so wenig Hatschepsut mit Sary verband, so stark war das Band zu Ameni, seinem Bruder. Sie würde sich nicht von ihm aufhalten lassen. „Morgen ist das vorbei, was du so sehr verabscheust, Sary. Aber diese Nacht gehört er noch mir.“
Sary schüttelte den Kopf. „Ich verabscheue nichts, Haatsch, aber ich achte die Maat. Ich fürchte um ihn, um seinen Ka, seinen Ba und seinen Ach. Den Leib Amenis hast du mit eurem Treiben oft genug in Gefahr gebracht, aber nun fürchte ich um meines Bruders Lebenswillen. Er ist dir verfallen. Warum konntest du nicht einen anderen nehmen, einen der stärker ist, als Ameni?“
„Ameni ist stark. Stärker als die meisten“, hielt Hatschepsut ihm entgegen und verlor bereits die Geduld für dieses Gespräch. Die schönen Züge des Mannes vor ihr beflügelten die Träume der Mädchen in ganz Theben, und wieder einmal musste sie feststellen, wie anders sie selbst doch zu sein schien. Sary trat einen Schritt von ihr zurück, wie als ob er sich erinnerte, dass sie ab dem morgigen Tag keine Erbprinzessin mehr wäre, sondern die große königliche Gemahlin des neuen Horus. „Er ist nicht stark – nur sein Körper ist es.“ Sary wollte das letzte Wort haben, doch heute war es ihr Einerlei. Jeder Augenblick war kostbar, jeder Augenblick, den die süße Hathor ihnen noch gewähren mochte. Sie ließ den jungen Mann stehen und verschwand im Schatten der Mauer, bis sie den von Ranken überwucherten Durchlass fand. Sie alle waren verschworen, selbst die Nilschlammziegel der Mauern stellten sich ihr nicht in den Weg. So war es immer gewesen – sie war Hatschepsut ... Tochter des Gottes.
Amenis Leib war angespannt, obwohl er schlief. Die Muskeln seiner Brust zuckten, während er sich auf seiner Pritsche wälzte, die Kieferknochen schienen unaufhörlich zu mahlen, und das kurz geschorene dunkle Haar war verschwitzt. Unter seinen geschlossenen Lidern bewegten sich seine Augen, als suchten sie in der Dunkelheit etwas, das sie nicht finden konnten. Hatschepsut schloss leise die Tür hinter sich und blinzelte in die Dunkelheit der Unterkunft. Klein war dieser Raum, nur eine einfach Pritsche, Amenis Schwert, sein Bogen, in der Ecke ein Schrein, der seinen bevorzugten Gott, Month, den Herrn des Krieges beherbergte, und ein kaltes Feuerbecken in der Ecke. Es war der schmucklose Raum eines einfachen Soldaten, denn wozu brauchte ein Soldat ein gemütliches Heim. Wohin der Wind ihn trug, wohin sein Herr ihn sandte, dort war sein Heim. Dieses hier war nur ein Ort, an dem man schlief oder ein Mädchen aus der Stadt brachte, um sich ein wenig Ablenkung zu verschaffen. Ameni nahm keine Mädchen aus Theben mit in dieses Quartier, sie, die nun zu ihm auf die schmale Liege schlüpfte, war die Tochter des Gottes, gewöhnt an weiche Laken, erlesene Düfte und goldene Gemächer. Aber Hatschepsut wollte nirgendwo anders sein, als in diesem armseligen Quartier. Unter dem Laken war sein vom Drill gestärkter Leib nackt, und es kam ihr beinahe so vor, als würde sie ihn nur bar seines Schurzes und Harnisches kennen. Ihre wenige Zeit zusammen hatten sie so geteilt, ohne Kleidung und ohne Schuldgefühle. Das erste Mal, seit sie ihn kannte, fragte sich Hatschepsut, ob Sary vielleicht recht hatte, mit dem was er behauptete. Hätte sie an jenem schicksalhaften Tag ihren Blick einfach abwenden sollen und diese weichen besorgten Augen vergessen? Es war in der Wüste gewesen, im roten Land des Seth, auf der Jagd nach Löwen, zu der sie ihren Vater so gern begleitet hatte, obwohl Ahmose es stets als unpassend empfunden hatte. An jenem Tag hätte Ahmose beinahe ihren größten Triumph feiern können, eine Bestätigung ihrer Schuldzuweisung, auch das letzte ihrer Kinder durch die Unachtsamkeit ihres Gemahls verloren zu haben. Der Schädel einer verendeten Gazelle hatte im Sand gelegen, und der Streitwagen des Vaters hatte einen Satz gemacht. Hatschepsut, die hinter ihm gestanden hatte und darauf nicht vorbereitet gewesen war, hatte den Halt verloren und war gefallen wie ein Stein, hintenüber, während die Pferde den Wagen weiterzogen ohne zu bemerken, dass ein Teil ihrer Last abhanden gekommen war. Der Sand hatte Hatschepsuts Sturz zwar abgefangen, aber die Streitwagen der Eskorte hätten sie beinahe überrannt, wie einst Amunmose. Dann hatte ein starker beherzter Arm sie hochgehoben - im Vorbeifahren, als wäre sie nicht viel schwerer als die Feder der Maat, hatte sie an sich gedrückt und sie gehalten, wie sie noch nie gehalten worden war. Stark und ängstlich zugleich. Sie hatte ihn angesehen, einen jungen Soldaten, gerade erst in den Dienst der Leibwachen des Einzig Einen berufen, entsprechend ängstlich nun, mit der Tochter des Gottes im Arm, die er weder hätte berühren noch ansehen dürfen. War es nicht göttlicher Wille gewesen, dass es doch geschehen war, und dass er dafür vom Einzig Einen nicht bestraft, sondern mit dem Ehrengold belohnt worden war? Der Name des Soldaten war Ameni gewesen, und sie, die Erbprinzessin Hatschepsut, hatte ihm seine Tat auf ihre Art vergolten.
Hatte sie das wirklich getan? Oder hatte sie ihn bestraft dafür, dass er ihr Leben erhielt, wo sie so wenig daran gehangen hatte - die unglückliche Erbprinzessin, Gattin ihres Brudergemahls Thutmosis, der sie nicht anrührte und sie mied, als besäße sie faules Fleisch.
Als Hatschepsut nun seinen unruhigen Leib umarmte, war sie sich nicht mehr sicher. „Ameni“ flüsterte sie ihm ins Ohr, und seine Augen öffneten sich, sein Körper wurde ruhig, während das Gesicht sich entspannte. „Du bist gekommen, der süßen Hathor sei Dank. Ich fürchtete, dich nicht mehr zu sehen, bevor ...“
Sie legte ihm einen Finger auf den Mund und küsste ihn. Warm und weich schmeckten seine Lippen, träge wie der Nil an einem Tag im Schemu war sein Kuss, aber ebenso nahrhaft wie der braune Schlamm, der die Felder Ägyptens fruchtbar machte. „Es ist unser Abschied, Ameni. Ich hätte die Tiefen der Unterwelt durchquert, dich noch einmal zu sehen.“
Er zog sie an sich, und sie drückte sich an seinen starken Leib, dem sie ihr Leben verdankte ... mehr noch als ihr Leben, ihre Freude an freudlosen Tagen. Ameni streifte ihr das Trägerkleid von den Schultern, bis sie nur noch Haut an Haut lagen. Hatschepsut setzte sich auf ihn, nahm sein Min in sich auf, schloss die Augen und lauschte seinem leisen Stöhnen, während er sich in ihr bewegte. Dein Haar ist aus Lapislazuli, deine Knochen aus Silber, und dein Fleisch ist Gold, mahnten sie ihre Gedanken, während sie sich dem Genuss hingab, ihren göttlichen Leib mit einem Sterblichen zu vereinen. Dass es Unrecht wäre, ein Frevel an den Göttern, hätte Ahmose geschrien, und Hapuseneb, Amuns Priester, sie mit einem tadelnden Blick gemahnt. Aber Mutnofret hätte nichts dergleichen gesagt ... wie sollte sie auch. Sie, die nicht göttlich war, hatte einen nicht göttlichen Sohn aus den Lenden des Einzig Einen empfangen, und wer wollte mehr als Mutnofret, dass sich das menschliche Fleisch ihres Sohnes mit göttlichem Fleisch vereinte, damit er den Thron der beiden Länder besteigen konnte. Dafür hätte Thutmosis jedoch erst einmal seine Gemahlin besteigen müssen. Es war jedoch ein einfacher Soldat, der das tat, was Thutmosis nicht wollte, Nacht für Nacht, und der Hatschepsut die Freuden des Lagers gezeigt hatte.
Ameni stöhnte gequält auf, als Hatschepsut sich ihm entzog, und sein Samen verspritze sich nutzlos auf seinem vor Schweiß glänzenden Leib. Sie rollte sich neben ihn und litt stumm seine Qualen mit ihm. Wäre sie ein Mädchen aus Theben gewesen, die Tochter eines Viehhirten oder eines Brotbäckers, schon längst hätte sie eine Tochter oder einen Sohn mit ihm gehabt, dessen war sie sich sicher. Als ihrer beider Atem sich beruhigt hatte, erinnerte sie sich der Endgültigkeit des bevorstehenden Abschieds. „Morgen werden mir die Priester die Uräusschlange auf mein Haupt setzen und Thutmosis die rote und weiße Krone der beiden Länder. Dann bin ich die Königin Ägyptens, bewacht von Priestern, umsorgt von einer Schar von Hofdamen. Dies ist unsere letzte Nacht – ein letztes Geschenk der Kuhhörnigen.“
Ameni setzte sich auf, sog scharf die Luft ein als würde es ihm das erste Mal wirklich bewusst, nickte jedoch gleich. Er bemühte sich um Stärke, Hatschepsut konnte es sehen, und sah im gleichen Zuge, dass es ihm nicht so gut gelang wie ihr. Auch er war schön, nicht so schön wie Sary, nicht makellos stark – seine Stärke war durchzogen von Schwächen – und Amenis größte Schwäche war die Liebe zu ihr, die sich in seinen unglücklichen Augen widerspiegelte. „Hätte ich dich nicht anrühren sollen, Bruder meines Herzens? Hätte ich damals den Wüstensand aus meinem Haar schütteln sollen, mich abwenden und dir einen goldenen Ring zuwerfen?“
Er ging vor ihr in die Knie und nahm ihre Hände in seine großen vom Soldatendrill rauen Finger. „Das weiß ich nicht, meine Haatsch. Manchmal denke ich, dass es besser gewesen wäre, aber dann wäre ich ein anderer ... einer, der die Liebe nicht kennt. Sary meint, dass es besser gewesen wäre, wir hätten uns niemals gesehen, doch es ist mir einerlei. Möge Ammit dereinst mein Herz vor dem Totengericht verschlingen, wenn ich mich schuldig gemacht habe, eine Göttin berührt zu haben, die nur ein Gott berühren darf. Ich tat es aus Liebe.“ Er legte ihre Hände in seinen Nacken, schloss die Augen und Hatschepsut knetete seine verspannten Muskeln, wie sie es so oft getan hatte.
„Ich weiß nur eines, Haatsch. Morgen bist du die Große Königliche Gemahlin deines Bruders, und er hat dich noch kein einziges Mal angerührt. Dafür besteigt er Isis, dieses Weib aus seinem Harem, das ihm den Kopf verdreht hat, jede Nacht. Ihr Bauch ist rund, während deiner noch immer flach ist. Du bist jetzt in deinem sechzehnten Sommer, Haatsch. Mutnofret braucht dich nur so lange, bis ihr Sohn fest auf dem Thron Kemets sitzt, die kleinmütige Isis würde dich lieber heute als morgen aus dem Weg wissen, deine Mutter zerfällt in einem ewig währenden Traum aus Mohnsaft, und dein Vater, der mächtige Stier Ägyptens, liegt seit einem Mondumlauf in seinem prächtigen Grab. Dein Gemahl ist schwach, und du bist vollkommen allein. Niemand schützt dich. Es ist ein Frevel an den Göttern, und sie mögen mich strafen, doch ich wünschte, ich hätte dir ein Kind gemacht, das du als den Sohn deines lendenschlaffen Gemahls würdest herzeigen können.“
Ein Schreckenslaut entfuhr Hatschepsut, und sie machte das Zeichen gegen den bösen Blick. Sie würde gleich morgen ein Opfer für Amun darbringen, damit dieser Ameni seine lästerlichen Gedanken verzieh. Ehe er weitersprechen konnte, legte sie ihm die Hand auf die Lippen, aber ihr Blick blieb weich. „Das darfst du nicht sagen, Ameni. Du weißt, dass ich nur von ihm oder von meinem Vater ein Kind hätte empfangen dürfen. Ich bin von göttlichem Blut, du nicht.“
Ameni schüttelte den Kopf, und sein Blick wurde eindringlich. „Das ist dein Brudergemahl auch nicht. Du bist es, die ihm aus ihrem Leib göttliches Blut schenkt, das ihn berechtigt, den Thron der beiden Länder zu besteigen. Haatsch, ich flehe dich an ...“
Wie er zu ihr sprach, der Kosename, den er ihr nach Amunmoses Tod zurückgegeben hatte, und mit dem sie nun fast alle riefen, die sie ihre Freunde nannte. Haatsch ... selbst Sary, der nie gut geheißen hatte, dass sie das Lager teilten, nannte sie so. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, die Garnison, die Leibwache des Einzig Einen, die Soldaten, die weggesehen hatten, wenn die Erbprinzessin sich wie ein einfaches Mädchen aus ihrem goldenen Palast geschlichen hatte, um bei einem der ihren zu liegen. Sie mochten sie, egal was Sary über sie dachte, das wusste Hatschepsut, sonst hätten sie Ameni und sie längst verraten. „Ich werde den Sohn von ihm bekommen, den er mir schuldet. Auch wenn ich wünschte, es könnte deiner sein, Ameni.“
Er nickte und ergab sich in sein Schicksal, wie er es immer getan hatte. Er litt mehr als sie, das wusste Hatschepsut, und sie hätte ihm gerne eine ihrer Hofdamen gegeben, sogar Ipu, wenn er nur ein Auge für sie gehabt hätte. Es schmerzte sie, ihn zu verlieren, doch sie würde es ertragen, wie sie das Leben im Schweigen der königlichen Familie ertragen hatte. Hatschepsut war es gewohnt. Solange er ihr Freund blieb, würde sie es hinnehmen können. „Wirst du mir im Herzen ein Bruder bleiben?“ fragte sie deshalb sanft, und er sah sie an wie ein Hund, den sein Herr geprügelt hatte. „Das werde ich immer sein, Haatsch. Aber ich werde dich nicht schützen können. Nach der Krönungszeremonie sind wir abberufen, einen Aufstand der Nomadenvölker, zu dem die Fürsten der elenden Kermasöhne in Nubien aufgerufen haben, einzudämmen - die ganze Einheit, die gesamte Leibwache deines zu Osiris gegangenen Vaters.“
Der Schreck fuhr ihr durch den Leib, und Hatschepsut sah ihn an, als glaube sie ihm nicht. „Aber ihr seid die Leibwache! Mein Bruder kann nicht auf seine Leibwache verzichten.“
„Das tut er ja auch nicht. Aber was hast du denn geglaubt, meine Haatsch. Thutmosis beruft eine neue Leibwache ein, eine, der er mehr vertraut als uns.“
„Er ist mein Bruder, Ameni. Er ist schwach, aber nicht schlecht. Ich werde mit ihm reden.“
Wieder nahm er ihre Hand und drückte sie, als müsse er einem Kind etwas begreiflich machen. „Die Schwachen werden von den Starken zu Gutem oder zu Üblem verleitet. Auf deinen Bruder wirken die Kräfte seiner Mutter Mutnofret und seiner Nebenfrau Isis. Beide sind dir nicht wohlgesonnen, und beide wissen, dass die Leibwache deines Vaters dich ebenso bevorzugt, wie der Einzig Eine es getan hat. Diese elenden Nomadenaufstände, die jedes Mal, wenn ein neuer Pharao den Thron besteigt, entbrennen, sind ein Vorwand uns aus Theben fortzuschicken. Von nun an werden allein ihre Verbündeten Theben und den Palast bewachen.“
„Hapuseneb wird mich beschützen. Er ist der oberste Priester des Amun.“
„Ja, Hapuseneb ist dein Freund, und vielleicht auch Senenmut, der Vertraute deines Vaters. Aber derjenige, der die Truppen auf seiner Seite hat, kann Macht ausüben. Haatsch, du musst mir eines versprechen, wenn ich fort bin ... du wirst Thutmosis dazu bringen, das Lager mit dir zu teilen, damit du einen Sohn empfängst. Ich will nicht mit der Angst im Nacken ins Goldland gehen, dass dein Leben in Gefahr ist.“
War sie wirklich so unerfahren, dass sie nicht geahnt hatte, was er schon lange wusste? Ameni war älter als sie, aber nur vier Sommer und ein einfacher Mann, der Sohn eines Nilschiffers, der das Land liebte. Das hatte sie einander verbunden. Er liebte Kemet, das schwarze Fruchtland, und Hatschepsut war Kemet. Wie hätte er sie nicht lieben sollen. Ein wenig war er, wie sie sich Amunmose als erwachsenen Mann und Gemahl vorgestellt hatte. Verliebt in sein Land und verliebt in seine Königin. Ein Sohn von ihm wäre gut für Ägypten gewesen. Aber er gehörte nicht zur königlichen Familie, also würde sie den Sohn aus den schwachen Lenden ihres Bruders erbetteln müssen. „Ameni, ich tue es ja, ich werde Thutmosis einen Sohn abtrotzen, aber du musst auf dich achten, wenn du in Nubien bist und zu mir zurückkehren.“
Er lächelte freudlos. „Zumindest muss ich nicht sehen, wie die Frucht deines Bruders in deinem Leib heranwächst. Die Götter, meine Haatsch, sind grausam.“
Er stand auf, zog sie auf die Beine und umarmte sie mit der gleichen ängstlichen Kraft, mit der er sie das erste Mal gehalten hatte. Als er sie losließ, spürte sie eine Ahnung der Einsamkeit, die sie fortan begleiten würde. „Mögen deine Füße festen Tritt finden, möge die süße Hathor dich wohlbehalten zurückbringen, Bruder meines Herzens ... gib auf dich Acht.“
„Sary wird auf mich achtgeben, meine Haatsch.“
Sie sahen sich an, betasteten sich mit den Augen und mochten sich kaum voneinander lösen, wohl wissend, dass sie sich nie wieder so nah sein würden, wie jetzt. Endlich gelang es Hatschepsut sich abzuwenden und die Tränen zu unterdrücken, die sich in ihre Augen stehlen wollten. „Jeden Tag werde ich Amun ein Opfer für dich bringen, damit er dich beschützt“, sagte sie leise, dann stieß sie die Tür auf und lief hinaus in die Nacht.
Hapuseneb, der oberste Priester des Amun, kreuzte die Hände vor der Brust, hielt jedoch den Blick auf den Boden gerichtet. Um ihn herum standen seine Hilfspriester, hinter Hatschepsut Ipu, die auf den Wangen rote Flecken vor Aufregung hatte. „Alle Augen ruhen nun auf dir, Haatsch. Die Götter und auch der Hof erwarten, dass ich dir den nötigen Respekt entgegenbringe – zumindest wenn wir nicht alleine sind.“
Er hätte es Hatschepsut nicht sagen brauchen, und doch war sie froh über diesen dicken Mann mit der zu dunklen Haut und den runden Augen. Sein Aussehen ließ kaum vermuten, dass Hapuseneb Sprössling einer adeligen Familie war. Tatsächlich hatten Neider immer wieder versucht, Gerüchte über seine einfache Herkunft zu verbreiten, aber die Klugheit und Bildung Hapusenebs straften die bösen Zungen Lügen. Auch jetzt sah er Hatschepsut an, als wolle er sie fragen: Verstehst du was ich dir sagen will, Haatsch? Sie verstand es, spätestens seit der letzten Nacht, in der Ameni ihr die Augen geöffnet hatte. Jeder konnte ihr nun Übles wollen, diejenigen, die sich freundlich gezeigt hatten, könnten ihr jetzt Böses nachsagen. Bereits als sie ihm hinaus aus ihren Räumen folgte, wusste Hatschepsut, dass es angefangen hatte. Der Wachhabende, der steif vor ihrer Tür stand, war ihr fremd. Eine neue Leibwache war bereits auf ihrem Posten. Sie vernahm Ipus Schritte hinter sich, die gleich einer Affenmutter darauf achtete, dass ihre Schminke nicht verwischte, der Modius auf ihrem Kopf für die Hohen Federn nicht verrutschte und Hatschepsut nicht über ihr gefälteltes Gewand stolperte. Auch als Ipu sie in eine überdachte Sänfte schob, achtete sie darauf, dass das hauchdünne Gewand aus Königsleinen nicht zerknitterte.
Der Weg durch die überfüllten Straßen Thebens war kurz und auch lang. Auf den Straßen jubelten die Menschen, Kinder, Frauen, Greise, junge und alte Männer, und es wurden Blüten geworfen und Segenswünsche gerufen; ganz Theben war ein Jubelschrei, denn endlich war die beängstigende Zeit des Chaos, in der die Maat nicht gewährleistet war, vorbei. Endlich würde ein neuer Horus den Thron der beiden Länder besteigen. Hinter ihnen folgte eine Eskorte der dunklen nubischen Medjai-Krieger, die für Ordnung sorgen würde, sollte die jubelnde Masse außer Rand und Band geraten, und vor ihnen ging singend eine lange Reihe kahlköpfiger Priester, die eine Wolke aus Weihrauch hinterließen. Wann wenn nicht am heutigen Tag, dem neunundzwanzigsten des Mechir zur Zeit der Saat, wäre ein Grund zum Toben und Tollen für das verängstigte Volk gewesen, das seit dem Tod seines Horussohnes in Angst gelebt hatte. Doch die Menschen waren trotzdem vorsichtig. Dieser Tag war nicht Glück verheißend, und das Buch der Manifestationsfeste riet, das Haus nicht zu verlassen, da der Tag Anstiftungen zum Kampf und zum Aufruhr vorhersagte. Doch wer sollte Aufruhr gegen ihren Brudergemahl im Sinn haben? Es gab keinen anderen Thronfolger, der seine Ansprüche auf die Doppelkrone hätte geltend machen können.
„Die Hohen Federn muss er dir geben, Haatsch“, mahnte Ipu altklug, während sie gemeinsam mit Hatschepsut beunruhigt durch die Leinenvorhänge der Sänfte auf die wogenden Körper sah. Ihre Dienerin war ein hübsches Ding mit einer kurzen geraden Nase und mandelförmigen Augen. Sie stammte aus einer guten Familie alten Thebaner Adels und war mit Hatschepsut aufgewachsen. Dementsprechend freimütig pflegte Ipu Umgang mit der Frau, die nun bald die Königin beider Länder sein würde.
„Die Hohen Federn für die Mutter des Thronfolgers“, gab Hatschepsut matt zu bedenken, die noch immer der Verlust Amenis plagte.
„Willst du sie Isis überlassen? Haatsch ...“, gab sie flehend zu verstehen. „Heute Abend gehst du zu ihm und forderst dein Recht. Tu es, bevor Mutnofret und Isis ihn ein für alle Mal gegen dich aufgebracht haben.“
Hatschepsut nickte müde. Sie hatte es Ameni versprochen, also konnte sie es auch Ipu versprechen. Hatte Ipu nicht auch darüber hinweggesehen, dass Hatschepsut bei Ameni gelegen hatte? Jetzt musste sie endlich zu ihrem Bruder gehen und einfordern, was er nicht einfordern wollte.
Hapuseneb hob die Vorhänge der Sänfte und lächelte ihr aufmunternd zu, wiewohl er wusste, dass sie nicht glücklich war an diesem Tag, an dem alle um sie herum sich froh und sorglos gaben. „Wir sind in Karnak, im Hof vor Amuns Tempel angelangt. Dein Bruder wartet auf dich.“
Hatschepsut stieg hinaus in die flirrende Hitze und fühlte sich schwach, obwohl sie es nicht zeigte. Die Säulen im Tempelhof spendeten wenig Schatten vor den Strahlen des Re, trotzdem wartete Thutmosis im länglich gezogenen Schatten einer Säule auf sie. Er war bereits angetan mit dem halblangen Schurz, an dessen Rückseite der Schwanz eines Stieres baumelte und den weißen Antilopenledersandalen, auf deren Sohlen Abbilder seiner Feinde eingeritzt waren, sodass er sie mit jedem Schritt in den Staub treten konnte. Er trug das Leopardenfell des obersten Priesters und aufwendigen Halsschmuck sowie einen Prunkgürtel. Die Einkleidung des Pharao war bereits vor Amun vollzogen worden, nun brauchte Thutmosis seine Königin, um die wirklichen Insignien der Macht über Kemet - Krummstab und Geißel sowie die Doppelkrone von Amun zu erhalten. Sein kurz geschorenes Haar, das er nie wieder so freimütig zeigen würde, glänzte in der Sonne. Daran, dass Thutmosis ihr die Hohen Federn geben würde, glaubte Hatschepsut nicht. Trotzdem zwang sie sich zu einem müden Lächeln, welches ihr Bruder erwiderte und trat zu ihm in den mageren Schatten. Wie wenig Schutz es doch gab, wo immer sie ihn auch suchen mochte. Thutmosis neigte den Kopf und betrachtete sie lange. Groß war er nicht, kaum größer als sie, obwohl er drei Jahre älter war. Sein Wuchs war schmächtig, fast noch der eines Knaben und sein Gesicht zu weich. Nur eine hervorspringende Nase verlieh ihm etwas Männlichkeit. Trotzdem war ihr Bruder hübsch, so hübsch wie eine Puppe, die ausstaffiert worden war. „Schwester“, sagte Thutmosis mit der ihm eigenen etwas zu hohen Stimme und küsste sie fahrig auf die Stirn. Seine Hände griffen nach ihrem Arm, nicht so stark und fordernd, wie Amenis es stets getan hatten, sondern eher zurückhaltend. Er zog Hatschepsut mit sich, als fürchte er, Amun könnte sich anders entscheiden, und ihm die Doppelkrone doch noch verweigern. Während sie an seiner Seite in den Tempel ging, kam es Hatschepsut vor, als stütze er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie. „Hast du diese Nacht gut schlafen können?“, wollte er wissen, und sie nickte, obwohl es nicht stimmte.
„Das ist gut, ich habe kaum ein Auge zugetan. Isis gab mir Mohnsaft, aber es half nicht.“
Hatschepsut überhörte den Namen der Nebenfrau und stützte ihren Bruder, als dieser zu straucheln schien. Isis hatte ihm augenscheinlich zu viel Mohnsaft verabreicht. Immerhin – im Tempel Amuns herrschte noch eine angenehme Kühle, denn die Hitze währte erst seit wenigen Tagen. Die Wände aus Stein waren noch nicht aufgebacken, wie die Nilschlammziegel des Palastes. Hatschepsut war froh, als Hapuseneb sie und Thutmosis aufforderte, sich auf die beiden blockartigen Throne zu setzen, auch wenn diese nicht bequem waren. Gemeinsam ließen sie die Litaneien der Priester, das Weihrauchschwenken und das Opfer eines Stiers über sich ergehen. Thutmosis stöhnte gequält und wischte sich über die Stirn. Es war zu heiß für ein Blutopfer, aber es musste getan werden. Zwei Priester führten den Stier in den Tempel, ein makelloses Tier, beinahe so rein wie der Apisstier, der im Serapeum als Verkörperung des Gottes Ptah verehrt wurde. Auch sein schwarzer Leib glänzte vom Schweiß und der Hitze. Sie banden ihn zwischen zwei Säulen, während Puemre, der zweite Prophet Amuns, mit einem reich verzierten Opferdolch an ihn herantrat. Der Stier verströmte einen scharfen Geruch, und Hatschepsut meinte, seine Lebensader an seinem Hals pulsieren zu sehen. Dann, mit geübter Handbewegung, durchtrennte Puemre die Luftröhre des Tieres, sodass es lautlos zusammensackte. Nur seine Glieder zuckten noch, während der schwere Leib auf dem Steinboden verendete. Metallischer Blutgeruch breitete sich in der Tempelhalle aus, als die Priester den Bauch des Stieres aufschlitzten und die Eingeweide herausquellen ließen, um die Zukunft des jungen Horus zu lesen. Thutmosis hielt sich unvermittelt die Hand vor den Mund. „Mir ist schlecht“, flüsterte er Hatschepsut zu, und sie legte die Hand auf die Seine, obwohl auch ihr übel vom Anblick des Blutes und der Eingeweide wurde. Es dauerte lange, bis Puemre zufrieden nickte. Zwei Priester mit den hölzernen Masken des glutäugigen Seth und des falkenköpfigen Horus traten schließlich zu Thutmosis und nahmen ihn in die Mitte. Hatschepsut beobachtete steif und unbeweglich von ihrem Thron aus, wie ihr Bruder unsicher durch die Pfützen des Stierblutes lief, wobei er seinen Ekel nur schwer zu verbergen mochte. Erst als Puemre den Weihraucharm vor Thutmosis schwenkte, schien ihr Bruder etwas gelöster. Doch noch immer hielt er sich die Hand vor den Mund, um nicht speien zu müssen. Dann trat endlich Hapuseneb mit der Doppelkrone des Pharao zu Thutmosis und setzte ihm beide Kronen aufs Haupt – die rote und die weiße ... das obere Ägypten und das untere. Thutmosis Hände zitterten, als der Insignienverwahrer ihm Heka-Krummstab und Nechecha-Geißel reichte, aber seinen Mund umspielte das Lächeln eines glücklichen Kindes. Mit unsicheren Schritten, als ob er fürchtete, die Kronen würden von seinem Kopf fallen, ging er zurück zu seinem Thronwürfel, die Hände mit Geißel und Krummstab über der schmalen Brust gekreuzt. Ihr Bruder war der neue Horus – die Götter hatten ihren Willen kundgetan. Hatschepsut überkam eine unbestimmte Furcht bei seinem Anblick, und sie fragte sich, ob Thutmosis wusste, dass die Insignien in seinen Händen göttlichen Zauber besaßen, der seinem Träger eine schwere Bürde auflastete. Aber dann traten zwei Priesterinnen mit den Masken der Schlangengöttin Uto und der Geiergöttin Nechbet zu Hatschepsut und führten sie wie Thutmosis durch die bereits gerinnende Lache des Stierblutes. Sie war froh darüber, dass es ihr besser gelang als Thutmosis, ihren Ekel zu verbergen. Puemre schwenkte einmal mehr den Weihraucharm, und schließlich trat Hapuseneb ihr mit einem versteckten Lächeln entgegen. Hatschepsut fühlte, wie ihr Herz zu schlagen aussetzte. Der Insignienverwahrer trug die Hohen Federn der großen königlichen Gemahlin vor sich her. Es war nur ein kurzer Augenblick, bis der Oberste Prophet die Hohen Federn auf den Modius setzte, aber er bedeutete Hatschepsut mehr als sie zu hoffen gewagt hatte. Alles wird gut, schienen Hapusenebs Augen zu sagen, und Hatschepsut unterdrückte Tränen der Erleichterung. Thutmosis hatte ihr die Hohen Federn der Großen Königlichen Gemahlin gegeben und damit ihren Platz in der königlichen Familie gesichert. Hatschepsut würde die erste Frau Ägyptens sein, die Große Königliche Gemahlin. Isis blieb eine Nebenfrau, obwohl sie bereits ein Kind des Pharao trug.
Als sie gemeinsam mit Thutmosis ins Allerheiligste geführt wurde, um den Gott Amun zu salben und vor ihm niederzuknien, empfand Hatschepsut das erste Mal Zuneigung für ihren schwachen Bruder, der über sich und sein ängstliches Gemüt hinausgewachsen war, indem er ihr die Hohen Federn zugesprochen hatte. Sicherlich hatten weder Mutnofret noch Isis ihm dazu geraten, und es wäre ihm nicht unmöglich gewesen, seiner Schwester den von den Göttern zugedachten Platz an seiner Seite zu verweigern. In der langen Geschichte der beiden Länder war es nicht selten vorgekommen, dass der Ehrgeiz der Nebenfrauen den Pharao von der Maat abweichen ließ. Der Palast und auch die Priester blickten mit Besorgnis auf den jungen Falken, der so wenig von der Stärke des Vaters besaß, doch Hatschepsut beschloss, dass sie Hoffnung in ihn setzen würde. Tatsächlich war auch in ihr nur eine kleine Flamme für Thutmosis entzündet worden, doch vielleicht konnte sie größer werden, genährt werden und wachsen ... wenn nur die Zeit ihnen gewogen war.
Als sie gemeinsam aus dem Tempel traten, wo das Volk wartete um ihnen zuzujubeln, wagte Hatschepsut es, die Hand ihres Bruders zu nehmen, was ihn überrumpelte. Er zuckte zusammen, als hätte eine Schlange ihn gebissen. „Ich danke dir, Bruder“, flüsterte sie ihm zu. Thutmosis runzelte die Stirn und schien dann zu begreifen. „Haatsch, du bist meine Schwester. Was hast du denn geglaubt, wer die Hohen Federn tragen würde?“
Hatschepsut schüttelte den Kopf und lächelte müde. Vielleicht hatte Ameni sich geirrt und Thutmosis war nicht so schwach, wie er befürchtet hatte. Sie hatte Ameni aufgeben müssen, und auch wenn es sie schmerzte, so war es doch vorherbestimmt gewesen. Es würde nur diesen einen Gatten für sie geben können, und er war ihr von den Göttern bestimmt worden. Und vielleicht konnte Thutmosis, wenn sie ihm nur ein wenig Stütze war, doch noch der Starke Stier werden, den Ägypten brauchte.
Isis war nicht zur Feier im großen Empfangssaal erschienen. Sie sandte ihre erste Dienerin, Thutmosis und Hatschepsut ihre Segenswünsche zu übermitteln und ließ sich damit entschuldigen, dass der oberste Priesterarzt ihr und dem Kind in ihrem Leib Ruhe verordnet hatte. Hatschepsut wusste, dass es nur eine stumme Mahnung der Nebenfrau an sie war, dass Hatschepsut zwar die Hohen Federn trug, sie aber den Sohn des Königs. Mutnofret ließ sich nicht abhalten selbst vor dem Thronpodest eine gekonnte Verbeugung zu vollziehen, ebenso wenig wie Senenmut, der vielleicht mehr wegen Hatschepsut als wegen Thutmosis erschienen war. Es verwunderte Hatschepsut, da sie bisher nur wenige Worte gewechselt hatten, die mehr aus Höflichkeit, denn aus wirklichem Interesse für den anderen gefallen waren. Senenmut, der alte Vertraute ihres Vaters, der unverwechselbar zwei mürrische Falten von den Mundwinkeln abwärts besaß, verbeugte sich ein wenig ungelenk vor ihrem Thron, was Hatschepsut innerlich amüsierte. Steif war er schon immer gewesen und ernst, und ebenso wie man dem adeligen Hapuseneb sein thebanisches Blut nicht hätte zutrauen mögen, konnte man beim hochgewachsenen Senenmut nicht annehmen, dass er überaus bescheidenen Verhältnissen entsprang und sich seinen Aufstieg bei Hof hart erarbeitet hatte. War es Zufall, dass er seine Verbeugung unmerklich in ihre Richtung geneigt vollführte, oder war es gewollt. Wer wusste das schon? Selbst ihr Vater hatte niemals ganz den unergründlichen Ka seines Vertrauten durchschauen können. „Möget ihr ewig leben“, sprach Senenmut mit klarer Stimme und versuchte ein Lächeln, ließ es dann aber bleiben, da er selbst wusste, wie wenig er im Lächeln geübt war. „Hatschepsut“, hatte ihr Vater ihr einmal gesagt. „Wenn ich meinen Platz am Himmelsgewölbe eingenommen habe und du nicht weißt, wem du trauen kannst – vertraue Senenmut. Er ist dein Freund.“ Hier, an diesem Tag des Jubels und der Klage stand er nun vor ihr, hager, alterslos und undurchschaubar in seinem gestärkten makellosen Gewand. Hatschepsut nickte ihm zu, und er wandte sich ab, ohne ihr einen weiteren Blick zu schenken. War er unverschämt oder nur gedankenlos? Sie war es kaum gewohnt, dass man ihr so gleichgültig gegenübertrat. Hatschepsut wusste, dass sie gehasst oder geliebt wurde. Die Kühle Senenmuts verunsicherte sie. Vielleicht würde sie niemals erfahren, ob die Worte ihres Vaters über diesen seltsamen Senenmut wahr gewesen waren. Hatschepsut wollte darüber nachdenken, doch dann erschien Ahmose, wie immer betäubt vom Mohnsaft, wankte gestützt von einer Dienerin vor das Königspaar und schenkte Hatschepsut ein seltenes Lächeln, wohingegen sie den neuen Herrn der beiden Länder nicht einmal ansah. Ein verhaltenes Kichern ging durch die Reihen der Gäste, welches Hatschepsut ärgerte. Was immer Ahmose nun war – einst war sie die erste Frau Kemets gewesen. Wie schnell vergaßen die Menschen die Maat, und Thutmosis, nun mit den Kronen des Horus auf dem Haupt, fühlte sich nicht bemüßigt, die Höflinge daran zu erinnern, dass es die Mutter seiner großen königlichen Gemahlin war, die sie verlachten. Die Schritte ihrer Mutter zeugten tatsächlich wenig von ihrer Göttlichkeit, als sie stolpernd die Stufen hinaufkam, um dann ihre Lippen an das Ohr Hatschepsuts zu legen. „Heute Nacht, Tochter ... du musst einen Sohn empfangen“, säuselte Ahmose ihr mit belegter Stimme zu. Ihr Atem war schwer von süßem Oasenwein, und die Schminke in ihrem Gesicht wie so oft ein wenig nachlässig aufgetragen. Hatschepsut nickte, jedoch mehr, um ihre Mutter zufriedenzustellen. Die Nachlässigkeit hing an Ahmose wie ein zerschlissenes Gewand, seit ihr goldener Prinz Amunmose, der Horus im Nest, gestorben war. Sie hatte sich nie viel aus der verbliebenen Tochter gemacht, doch irgendetwas hatte sie bewogen, heute zu erscheinen – vielleicht eine Erinnerung, die sich durch die wogenden Tiefen des Mohnmeeres in ihr Herz gestohlen hatte? Hatschepsut wusste, noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, dass es nicht so war. Amun, mein Vater, der du meinen Vater im Fleisch von meiner Seite genommen hast ... warum hast du nicht sie gerufen, anstatt ihn, da es ihr doch einerlei gewesen wäre? Hatschepsut sah der Mutter von ihrem Thronpodest aus nach, wie sie sich durch die feiernden Leiber der Hofgesellschaft von ihrer Dienerin führen ließ, hinaus aus dem Festrausch, da sie doch nur gekommen war, um ihre Tochter an ihre Pflichten zu erinnern, an jene Pflichten, die sie selbst versäumt, und damit Mutnofret den Weg geebnet hatte. Mutnofret kannte keine Nachlässigkeit. Sie war eine Frau aus niederem Adelsstand, die sich durch die Trägheit der großen königlichen Gemahlin ihren Platz an der Seite des zu Osiris gegangenen Pharao gesichert hatte. Eine Frau wie sie wusste, dass sie sich keinerlei Nachlässigkeit erlauben durfte, auch wenn sie Siege errang. Ihre Stimme war präzise und die Wahl ihrer Worte überlegt. Mutnofret hatte höfische Sitten und Gebräuche erst mühevoll erlernen müssen und fürchtete stets in einem unüberlegten Augenblick, in die einfache Zunge des Volkes zurückzufallen. Ihre Verbeugung war tadellos, jedoch aufgesetzt und entsprang keiner natürlichen Anmut. Doch ihre zierliche Größe und Feingliedrigkeit täuschten so manches Auge, denn sie ließen den ungeübten Blick vermuten, sie wäre am Hof in Theben geboren. Die Königswitwe wusste um ihre Stärken und ihre Schwächen so genau, wie Ahmose in ihrer ahnungslosen Nachlässigkeit dahintrieb. „Gesundheit, Leben und Wohlergehen meinem Sohn, dem Einzig Einen, Thutmosis Aakheperenre und seiner großen königlichen Gemahlin, die ich nun ebenso meine Tochter nenne.“
Deine Tochter bin ich nicht, denn mein Blut ist von göttlichen Eltern, dachte Hatschepsut mit Abneigung im Herzen, während sie scheinbar huldvoll die Demutsgeste entgegen nahm. Mutnofret verließ so erhaben das Thronpodest, wie es Ahmose gemäß gewesen wäre, blieb ihrem Sohn aber nah genug, um alles um ihn herum zu beobachten. Hatschepsut sah mit innerlichem Groll auf ihre Sandalen aus Gazellenleder, um ihre Gedanken vor der aufmerksamen Königswitwe zu verbergen. Genau so hatte Ahmose einst das Herz ihres Gemahls verloren. Sie war gegangen und hatte sich in ihre Gemächer und Träume aus Mohnsaft zurückgezogen, während die andere einfach an der Seite des Einzig Einen geblieben war und ihn wie eine Kobra umschmeichelt hatte.
Thutmosis lächelte matt, denn ihn ermüdete das Fest sichtlich. Am Abend war es einmal mehr Hatschepsut, die ihn stützte und ihm aufmunternde Worte schenkte. Den gesamten Nachmittag musste sie auf Thutmosis einreden, das Krönungsfest durchzustehen, während die Gäste tranken, sangen, feierten und ihnen Segenswünsche zuriefen. Sie alle hatten Grund zu feiern, vor allem Thutmosis, der gebangt hatte, sein Vater würde ihn nicht zum Nachfolger bestimmen, wie er es einst angedroht hatte. Er blickte beinahe den gesamten Tag bis in den frühen Abend, als würden die Qualen der Unterwelt in ihm toben. Hatschepsut, am Morgen noch von einer Hoffnung erfüllt, die ihr den Tag als gut verheißen hatte, meinte weinen zu müssen. Trotzdem lächelte sie und gab sich froh und zufrieden.
„Ich bin furchtbar müde.“ Thutmosis ließ sich auf sein Ruhelager fallen, schloss die Augen und stöhnte leise, während Hatschepsut seiner Leibdienerin einen Wink gab, sie allein zu lassen. Das Mädchen verbeugte sich und verschwand dann auf leisen Füßen. Wie sehr hatte sie auf ihn einreden müssen, die Nacht nicht bei Isis zu verbringen, zu der es ihn hinzog, wie einen Nachtfalter in ein brennendes Feuerbecken. Ihr Bruder hatte nur widerwillig nachgegeben, da er die missbilligenden Blicke der Priester und Höflinge noch immer fürchtete. An seine Allmacht Forderungen abzulehnen oder zu gewähren, musste Thutmosis sich erst noch gewöhnen, und Hatschepsut dankte Amun und allen Göttern dafür.
Da lag er nun, ihr Brudergemahl, auf dem blütenweißen Laken, auf dem einst der Mächtige Stier, der vollkommene Gott, gelegen hatte, und sie wusste nicht, wie sie seine Lust entfachen könnte. Ein neuer Gott, ein schwacher Gott, lag dort, ausgebreitet wie ein ungestärktes Leinenkleid, hilflos wie ein Kind. Hatschepsut durchfuhr Schmerz, denn diese Gemächer waren jene, in denen sie an so vielen Abenden mit ihrem Vater gesessen und Senet gespielt hatte. Jetzt, da ihr Bruder sie bewohnte, waren sie ihr unvertraut, und wo es ein letztes Stück Geborgenheit gegeben hatte, lag nun der Bruder, der ihr stets fremd geblieben war. Doch zuletzt war jeder für sich gewesen in der Familie des Einzig einen – sogar sie. Aber um alte Wunden zu nähren, war Hatschepsut nicht hier. Leise ging sie hinüber zu dem flach atmenden Körper, der so verloren wie ein Gazellenkitz auf dem goldenen Ruhebett aussah. „Bruder, du weißt, wir brauchen einen Erben.“
Er öffnete die Augen, als hätte sie etwas Erschreckendes gesagt, setzte sich auf und schlang die Arme um seine magere Brust. „Ich weiß es, Haatsch.“
Langsam ließ sie sich neben ihm auf dem Lager nieder und versuchte zu verstehen, was ihn so daran erschreckte, sie zu berühren. Sie war nicht hässlich, vielleicht sogar schön, doch Thutmosis benahm sich, als wäre sie abstoßend von Gestalt oder hätte eine ansteckende Krankheit. „Warum hast du mich nie rufen lassen, Bruder? Seit vier Sommern bin ich deine Gemahlin, aber du hast nicht einmal nach mir verlangt.“
Wie um sich einer Antwort zu verweigern, knetete er das Laken seines Lagers, zerknitterte und zerstörte, was gerade noch vollkommen gewesen war und starrte betroffen die Wände an, die noch immer die Kartuschen mit dem Namen des übermächtigen Vaters trugen, obgleich die Bildhauer an einigen Stellen schon begonnen hatten, die Wände zu glätten. „Ich ... ich weiß es nicht, Haatsch.“
Sie nahm seine Hand, die sich in der ihren versteifte. Sie war kalt und klamm. „Ich habe nie etwas von dir verlangt, keine Beschwerden zu dir getragen, obwohl der Bauch der zweiten Gemahlin sich schon rundet. Warum verweigerst du mir, deiner Schwester, ein Kind?“
Er sah sie an aus seinem weichen Gesicht, die Augen rund wie zwei Perlen aus dem Großen Grün, und tatsächlich schien sich so etwas wie Sanftmut in ihm zu regen. Endlich atmete Thutmosis durch und antwortete ihr. „Ich fürchte mich vor dir.“
„Mit mir das Lager zu teilen?“ Hatschepsut versuchte ihn zu verstehen. War sie denn so erschreckend? Aber ja, auch Ameni war anfangs vor ihr zurückgeschreckt, doch Ameni war kein Gott. Thutmosis sollte es besser wissen.
„Nein, das ist es nicht, Schwester. Es ist die Furcht davor, was geschieht, wenn dein Bauch sich rundet - wenn du einen Sohn trägst.“
„Er wird dein Erbprinz sein – dein Blut und das meine, wie es den Göttern gefällt.“ Sie wusste nicht, warum er so verstockt gegen die göttlichen Gebote war. Ihr Haar duftete nach Blüten, ihr Körper nach feiner Salbe, und ihre Haut war von dunklem Gold wie karamellisierter Honig. Warum mochte er dieses Fleisch, das dem gleichen Vater entsprang, nicht kosten?
„Haatsch, sie sagen, wenn du erst einmal einen Sohn hast, wirst du ihn auf den Thron Kemets setzen und in seinem Namen die Geschicke der beiden Länder lenken. Das ist es, was unser Vater wollte, und davor fürchte ich mich.“
Hatschepsut fühlte, wie Kälte in ihr hochstieg. Ameni hatte recht gehabt, es fing bereits an. Mutnofret und Isis hetzten ihren Bruder gegen sie auf. „Unser Vater hat mich dir gegeben, damit ich deine große königliche Gemahlin bin, nicht mehr und nicht weniger verlangte er von uns.“
Jetzt sprang er vom Lager auf, ging unruhig auf und ab, schien zu überlegen, wem er trauen konnte und wem nicht. Mein armer gequälter Bruder, der nicht weiß, was er tun soll – wie willst du bestehen zwischen all jenen, die dich auf falsche Pfade zerren wollen? Hatschepsut wusste, dass sie ihn nicht drängen konnte, also blieb sie sitzen und wartete. Thutmosis kam zu ihr zurück und nahm ihre Hand. „Schwester, schwörst du mir bei Amun, dass du nicht gegen mich handeln wirst, und dass du dich bescheidest mit den Hohen Federn, die ich dir heute gegeben habe?“
Hatschepsut nickte schnell und drückte seine Hand. Nichts anderes wollte sie, und nie hatte sie anderes erwartet. Thutmosis entspannte sich. Dann gab er ihr einen scheuen Kuss auf die Stirn, feuchte Lippen hinterließen ein Mal auf ihrer Haut, einem Versprechen gleich, und schließlich drückte Thutmosis sie auf das Lager, nicht kraftvoll, wie Ameni es getan hatte, aber auch nicht sanft, wie es Ameni ebenso vermocht hatte. Hektisch und getrieben schien er und machte sich nicht die Mühe, sie zu entkleiden, sondern schob ihr das Leinenkleid über die Hüften, während er sich den Schurz vom Leib zerrte. Hatschepsut meinte, ein Fremder würde bei ihr liegen, und ahnte, dass es ihm ebenso ging. Mit Wehmut erinnerte sie sich an die vertraute Nähe, die sie und Ameni geteilt hatten. Wie kann mir Fleisch vom gleichen Vater so unvertraut sein? Die Augen ihres Bruders wichen ihrem Blick aus, als er in sie drang, und sein Min war kleiner als das von Ameni. Es schmerzte nicht, als Thutmosis sich unbeholfen in ihr bewegte, noch erregte es ihre Lust, aber sie schloss die Augen und dankte Amun dafür, dass der Leib ihres Bruders endlich auf dem ihren lag. Das Keuchen ihres Bruders drang in ihre Ohren, als quälte ihn die Vereinigung mit ihr. Hatschepsut ließ ihn alles tun, was er wollte, auch wenn das nicht viel mehr war, als möglichst schnell seinen Samen in ihr zu verspritzen. In ihrem Herz vernahm sie Amenis Stimme, die ihr versprach, dass alles gut würde, und wartete darauf, dass die für sie beide freudlose Vereinigung vorüber war.
„Du bist nicht mehr unberührt“, stellte Thutmosis fest, als er neben ihr lag, sein Leib erschlafft, sein Min lustlos auf seinem schmalen Schenkel geschrumpft und an die mit dem Himmelzelt bemalte Decke seiner Gemächer starrend.
„Du hast mich nicht gewollt, Bruder.“
Er nickte und wandte beinahe schläfrig den Kopf zu ihr. „Es ist mir nicht wichtig, Haatsch. Ich gebe dir meinen Samen, und du gibst mir einen Sohn ohne Makel. Du schenkst ihm dein göttliches Blut, auf dass er meinem Blut Geltung verschafft, wie es die Götter befohlen haben. Er wird das geringe Blut meiner Mutter tilgen, das durch meinen Leib fließt.“ Selten hatte er so entschlossen geklungen, so ehrlich zu sich selbst oder zu ihr gesprochen, trotz aller Müdigkeit, die auf ihm lastete. Thutmosis Augen ruhten auf ihr und erwarteten ebensolche Ehrlichkeit. „Du begehrst nicht mich, du begehrst nur meinen Samen.“
Hatschepsut konnte es nicht leugnen und nickte. Was gab es zu leugnen, an diesem Ort der Wahrheit, wo alles begonnen hatte, was zwischen ihnen stand. „Auch ich fürchte mich, und ich bin allein. Es gibt niemanden der mich beschützt, nur ein Sohn kann mich vor denen bewahren, die mich gerne tot wüssten. Sie werden es nicht wagen Hand an mich zu legen, wenn ich die Mutter des Falken im Nest bin.“ Sie musste die Namen derjenigen nicht aussprechen, von denen sie sprach. Thutmosis wusste, wen sie fürchtete. Seine Augen waren nun keine Perlen mehr, vielmehr schienen sie wie moderige Sumpflöcher zu sein, die sie abschätzen. „Du bist meine Schwester, wie könnte ich dir dein Vorrecht verweigern. So fürchten wir uns also beide und können uns nicht trauen. Also schließen wir einen Handel, denn wir erhoffen uns etwas vom anderen. Auch ich begehre dich nicht, weil du die bist, die du nun einmal bist, Haatsch - die Angst, die mir im Nacken sitzt - und doch brauche ich dich.“
Sie sahen sich an, und so etwas wie Bedauern über die Erkenntnis ihrer Gefühle legte sich in ihrer beider Gesichter. Hatschepsut streckte die Hand aus, und Thutmosis ergriff sie dieses Mal ohne Zögern. „Wenn wir nicht die wären, die wir sind, vielleicht hätten wir uns Zuneigung und Wärme schenken können, Bruder.“
„Vielleicht, Schwester“, stimmte er zu, dann schloss er die Augen und schlief ein, ohne sie noch einmal anzusehen. Hatschepsut lag neben ihm wach, hörte auf das Zirpen der Grillen, die ihren abendlichen Gesang anstimmten, und spürte, wie der Samen des Bruders zwischen ihren Schenkeln erkaltete. Während sie seinen ruhigen Atemzügen lauschte, fragte sie sich, ob es nicht anders hätte sein müssen. Hätte der Herr allen Lebens nicht ihren Leib wärmen müssen, die Stärke des Mächtigen Stiers nicht ihren Bauch erhitzen, anstatt kalt und kraftlos aus ihr hinaus zu fließen? Konnte Amun in diesem schwachen Pharao Gestalt annehmen, um ein göttliches Kind mit ihr zu zeugen? Hätte Amenis Samen ihren Leib zum Glühen gebracht? Du wirst es nie erfahren, denn dieser Bruder ist der Einzige, dem es erlaubt ist, mit dir ein Kind zu zeugen. Ihre Gedanken flogen weit fort, zurück in die Vergangenheit, in der das Übel, das zwischen ihr und Thutmosis lag, seinen Anfang genommen hatte.
Es war ein kühler Tag in der Jahreszeit Achet gewesen, in der die Göttin Isis reichlich ihre Tränen vergossen hatte und die Fellachen auf den Feldern ob des Überflusses gesungen und getanzt hatten. Der mächtige Stier hatte sie mitgenommen, als er den Hapi, den lebensspendenden Nil, gesegnet hatte, und Hatschepsut war stolz darauf gewesen, eine kleine Prinzessin, die eigentlich nichts gelten durfte, der jedoch der Vater wo immer er sie mitnahm, Geltung verschaffte. Auch, dass sie nach dem aufregenden Tag mit ihm in seinen Räumen saß, kaltes Gänsefleisch knabberte und mit dem lebenden Gott Senet spielte, war von großer Bedeutung. Groß war er, mächtig und stark, nicht nur an Gestalt, auch in seinen Worten und Taten. Hatschepsut hatte ihm zugesehen, wie er das Wasser aus dem geweihten Gefäß in die grünlich schlammigen Fluten des Hapi hatte fließen lassen, und seine Worte waren mächtig gewesen. „Gott Hapi, Amuns Sohn sendet dir Dank für die gute Flut in diesem Jahreskreis.“ Die Menschen hatten ihm zugejubelt, und nun saß Hatschepsut in seinen Gemächern, neben dem Gott, der ihr Vater war, und er lächelte, als wäre er nicht der Herr allen Lebens, sondern nur ein einfacher Vater, der mit seiner Tochter den Abend verbrachte. Hatschepsut hatte die Wurfstäbe in der Hand gehalten, ein Mädchen mit tiefschwarzer Kinderlocke und dem Gesicht eines Kätzchens, wie der Einzig Eine sie gerne neckte, als Thutmosis auf einmal in der Tür gestanden hatte. Seine Knie waren aufgeschlagen gewesen, die Nase blutig und das kurze Haar staubig. Erst vor einigen Monden hatte Mutnofret ihm seine Jugendlocke abgeschnitten und ihm erklärt, dass er nun ein Mann sei. Aber ihr Bruder war kein Mann, wie er da vor Hatschepsut und seinem übermächtigen Vater stand. Er hatte seine Schwester angesehen, betrübt und verletzt zugleich, da der Vater sie hier bei sich hatte und mit ihr Senet spielte. Aus seinen Augen hatte Eifersucht gesprochen. Thutmosis war fortgelaufen vom Übungsplatz der königlichen Leibwache, wo man den allzu zarten und verwöhnten Prinzen Demut und Kraft durch Schleifen und Drill lehren sollte, denn mit vierzehn Nilschwemmen, so meinte der Einzig Eine, war er alt genug dazu. „Ich will nicht mehr zu den Soldaten, sie sind grob und behandeln mich wie einen der ihren, nicht wie den Sohn des Pharao.“
Die breiten Muskeln unter den Armreifen des Einzig Einen hatten sich angespannt, das vorspringende Kinn sich verhärtet. Sei ruhig Bruder und verschließe deine Gedanken, hatte Hatschepsut innerlich gefleht, denn so gut sie ihren Vater kannte, so wenig verstand der Bruder das Herz seines Vaters. Schwäche verabscheute er, und der überhebliche Prinz, der sich für besser hielt als die Soldaten, die ihn Bescheidenheit lehren sollten, verärgerte ihn. Amunmose, der zu Osiris gegangen war - er war gerne mit ihnen gelaufen, hatte mit den Männern gerungen und sie Freunde genannt. Aber Thutmosis jammerte und beschwerte sich, und der Pharao wurde immer unerbittlicher gegen den widerspenstigen Sohn. „Du bist der Falke im Nest, du wirst zurück zu ihnen gehen.“
Als Thutmosis trotzig den Kopf hob, hatte ihr Vater auf Hatschepsut gewiesen, ihre Hände ergriffen und sie Thutmosis entgegen gehalten. Die Stäbe des Senetspiels waren ihr aus den Händen gefallen und über den Boden gerollt, wo sie vor Thutmosis Füßen liegen blieben. „Deine Schwester ist jünger als du, doch sie liebt und ehrt Kemet. Wenn du das nicht kannst, werde ich sie zum Falken im Nest machen. Eine starke Frau auf dem Thron beider Länder ist mir lieber als ein schwacher Mann.“
„Sie sind zu hart zu mir, ich bin dein Sohn“, hatte Thutmosis sich mit zitternder Stimme verteidigt und die blutige Nase gerieben. Die Worte seines Vaters verletzten seinen Stolz, und er musterte die Schwester mit grimmigem Blick. „Schick doch sie, damit sie ihr die Nase brechen.“ Er hatte auf Hatschepsut gewiesen, und sein Blick wurde gehässig, da er doch wusste, dass sein Vater leere Drohungen aussprach. Eine Frau konnte nicht der Mächtige Stier Ägyptens sein, die Maat erlaubte es nicht.
Hatschepsut hatte mit übler Vorahnung gesehen, wie das Gesicht des mächtigen Stiers versteinert war. Dann hatte er Thutmosis einfach den Rücken zugewandt. Da hatte Thutmosis seine Schwester erneut angestarrt, dieses Mal jedoch voller Angst und Unglauben, als hätte sie ihn betrogen.
„Wer will es mir verbieten, ich bin der lebende Gott auf Erden, und ich kann ebenso eine Frau mit reinem Blut auf den Thron heben, wie einen dummen Jungen, der aus dem Schoß einer Nebenfrau gekrochen ist.“
Danach war es ruhig gewesen in den Gemächern des Einzig Einen, da Worte gesprochen worden waren, die niemals hätten fallen dürfen. Thutmosis war ohne noch einmal aufzubegehren zurück zu den Soldaten gegangen. Niemand von ihnen hatte je wieder über diesen Tag ein Wort verloren.
Hatschepsut rollte sich auf die Seite und betrachtete die im Schlaf noch verschwommeneren Züge ihres Bruders. Hättest du doch geschwiegen, Vater, und nicht ausgesprochen, was nur im Zorn gesprochen war. Aber so bist du gewesen, mein Vater. Deine Worte konnten Liebe schenken, oder im Herzen ein blutiges Schlachtfeld hinterlassen. Warum bist du von denen, die du Familie nanntest, gegangen, ohne Liebe zu hinterlassen? Wir sind allein, jeder für sich, und jeder von uns trägt ein Schlachtfeld im Herzen.