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§ 1. Masse, Gesellschaft, Gemeinschaft

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1. Wir leben im „Jahrhundert der Masse“, ist ein beliebter Ausspruch; und mehr als ein Schlagwort? Es hat zu allen Zeiten Massen und Massenwirkungen gegeben, keineswegs minder kräftig als heute. Aber als Problem stand die „Masse“ nicht derart vor dem Bewußtsein nachdenkender, ihre Epoche analysierender Menschen. Sie war nicht in demselben Grade wissenschaftliches Problem wie jetzt und seit langem. Wenn sie erlebt wurde, so nach der Seite des Quantitativen, des Numerischen, nicht des Qualitativen, der Form und der Gestalt, weder psychologisch noch ethisch als eine Einheit. Thomas Hobbes ist einer der typischen Vertreter dieser individualistischen Theorie. Eine Menge von Menschen, die sich freiwillig verbunden haben, sind – so sagt er1 – „nicht eine Körperschaft, sondern viele Menschen, von denen jeder seinen eigenen Willen wie sein eigenes Urteil über alles hat, was vorgebracht wird“. Menge ist ein Sammelwort und bezeichnet so viel wie „viele Menschen“. Die Menge hat demnach keinen natürlichen Willen, sondern in ihr hat jeder seinen und einen andern. So kann auch „keine Handlung der Menge als die ihrige zugeschrieben werden; auch wenn alle oder viele eingewilligt haben, entsteht nicht eine, sondern stets so viele Handlungen als Menschen“. Daraus folgt weiter die Unmöglichkeit, daß eine Menge etwas verspreche, Verträge eingehe, Rechte erwerbe oder übertrage, noch etwas tue, habe, besitze oder ähnliches, sondern dies alles immer nur jeder für sich, Mann für Mann, und es bleiben demnach so viele Versprechen, Verträge, Rechte, Handlungen wie Menschen. Eine „Massenhandlung“ gibt es also im Sinne dieser Theorie nicht. Was die Masse verübt, gilt als getan von jedem einzelnen, der zu ihr gehört. Und Hobbes findet nun von hier aus die Brücke zum Absolutismus. Wenn nämlich dieselbe Menge gegenseitig ausmacht, daß der Wille eines einzelnen Menschen oder der übereinstimmende Wille der Mehrheit von ihnen als der Wille aller gelten soll, so wird sie dann eine Person. Sie ist nun mit einem Willen begabt und kann deshalb freiwillige Handlungen vornehmen, Gesetze geben, Rechte erwerben usw. Nun aber reden wir nicht mehr von der Masse, sondern von einem Volk. Tut jedoch eine Menge Menschen oder das Volk etwas ohne den Willen dieses von ihr erkorenen einen Menschen oder des von ihr gewählten Parlaments, so ist das wiederum getan durch die verschiedenen Willen verschiedener Menschen, und ihnen spricht Hobbes einen Gesamtwillen ab.

Der Einzelwille ist nach dieser Lehre der einzige reale und ursprüngliche Wille. Das gemeinsame Wollen ist nur eine zufällige, teils durch äußere Einflüsse, teils durch einen freien Entschluß der Individuen herbeigeführte Übereinstimmung und mag in einem König oder einem Parlament u. a. repräsentiert sein, aber auch dort existiert kein „Gesamtwille“, sondern nur das Wollen vieler verschiedener Einzelner. Dieser krasse Individualismus ragt bis in die Gegenwart hinein, in dem, was sich „Liberalismus“ nennt in allen Lebensgebieten, Politik und Wirtschaft, Religion und Ethik; er liegt dem zugrunde, was unter dem Schlagwort „alte Schule und alte Erziehung“ bekämpft und mehr und mehr zurückgedrängt wird.

Denn auch die Erziehungslehre wird sich wesentlich wandeln, wenn die Masse als Eigenbegriff eigenen Wertes und eigener Macht erkannt und gewürdigt wird. Als John Locke von der Bedeutung und dem Einfluß der society schreiben sollte, da möchte er fast seine Feder wegwerfen, er weiß, daß sie mehr vermag als alle Vorschriften, Regeln und Unterweisungen, allein er kann nicht die Folgerungen daraus ziehen und sie als eine positive, eine miterziehende Macht recht würdigen2. Doch schon das 18. Jahrhundert konnte sich nicht so einfach um dieses Problem herumwinden; im Zeitalter der „Aufklärung“ erblüht die Volksschule und darüber hinaus die Sorge um die „Aufklärung der Massen“. Aber die großen geistigen Führer sind sich immer noch nicht klar über die Geistigkeit der Masse. Sie bleibt ihnen ein Wort, das zum Gegenbegriff dient gegen „Gebildete“, Aristokraten u. dgl. Rousseau3 sieht im Stile seiner Träume von der neuen Gesellschaft die Lage des Armen so romantisch, daß er keine Erziehung braucht, weil er aus sich selber ein Mensch werden kann. Und die Summe der Armen ist ihm die Masse. Anders sein Zeitgenosse und Gegner Voltaire4, der sich so gerne als Schüler Lockes rühmte. Er kann den Hochmut des Gebildeten der Canaille gegenüber nicht loswerden, findet Volksschulen bedenklich, schon ein Mindestmaß an Volksbildung und Volkshebung gefährlich. Dann aber erkennt er in der Masse die stärkste Bundesgenossin der Kirche, die er so leidenschaftlich bekämpft und wiederum nur durch Aufklärung der Massen glaubt erfolgreich bekämpfen zu können – allein das Problem der Bildung der Massen und ihrer Erziehung steigt nirgends vor ihm auf. Erst der große Menschenfreund, der diese Frage zeitlebens auf dem Herzen trug und mit dem Herzen anfaßte, erst Pestalozzi wird der Vater der Volksschule und der größte aller neueren Volkserzieher.

Die individualistische Einstellung der letzten Jahrhunderte war Nachwirkung der Welt- und Lebensanschauung der Renaissance. Ihr Höhenindividualismus ward zunehmend Gemeingut und Westentaschenphilosophie, bis er in unseren Tagen als liberalistische Theorie zur Stütze der ausbeuterischen Wirtschaftsformen in den Spalten der gemeinen Presse wohl sein wenig würdiges Ende gefunden hat. Diese Auflösung der Renaissancekultur wurde nur vorübergehend aufgehalten durch die große Epoche um 1800 und ihr Bildungsideal. Dieses hat schließlich die Schulorganisation und die Bildungsmittel der neuen bürgerlichen Schulen zersetzt und mitgeholfen, die Kultur aufzulösen. Vor allem deswegen, weil ihr edles Bildungsideal keine Einstellung auf die neu sich gruppierenden „Massen“ ermöglichte, die deren Eigengeistigkeit gerecht werden konnte. Diese neu sich formierenden Massen traten aber auf als bildungsbedürftig, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern um aller derjenigen Kreise willen, welche sie brauchten, um mit ihnen Macht und Ansehen zu erlangen, und so entstand hier derselbe Widerstreit wie zur Zeit Voltaires. Wissen ist nötig, aber gefährlich, nur daß der Egoismus der modernen Wirtschaftsmächte sich, wenn auch zögernd, so doch zu einer positiven Entscheidung zwang, im Gegensatz zum Bildungsaristokratismus eines Voltaire und seines Kreises. Zudem erlebte das letzte Jahrhundert Massenbewegungen, Massenkämpfe, Kriege, passive Resistenz, Revolutionen, so daß die Welt, auch die gelehrte, daran gewöhnt ward, Masse als Einheit und als Mittelpunkt eigentümlichen Lebens zu behandeln und zu versuchen, ihre eigentümliche psychische Struktur hineinzugrübeln, sie nach der psychologischen, soziologischen und ethischen Seite, nach der besonderen Problematik zu erforschen. –

Wann haben wir es nun mit „Masse“ zu tun? Masse als soziologischem Begriff. Die zahlenmäßige Umgrenzung ist möglich, ja es ist möglich, nach dem psychischen Befunde unter ganz bestimmter Konstellation der Umweltverhältnisse „Massenempfindung“ sogar in einem einzelnen zu erzeugen. Jedenfalls ist es nicht ohne weiteres richtig, zu meinen, Masse sei immer ein irgendwie ganz großer Haufen von Menschen. Wie kommt es z. B. zur Bildung von „Masse“? Die Menge, welche in schwarzen Scharen jene Großstadtstraße auf und ab eilt, ist keine Masse. Aber in dem Augenblick, wo sie sich um einen verunglückten Menschen schart, wird aus der Menge eine Masse. Alle, die sich um den Verunglückten scharen, sind in ihrem Gefühlserleben und in ihrem Vorstellungskreis auf dieses Ereignis eingestellt und aus ihren, bislang nach ganz verschiedenen Richtungen hin strebenden, Gedanken und Interessen, streben die hervor, welche allen gemeinsam sind. Dasselbe Bild kann ebenso gut wie ein Unglücksfall die sich um einen Straßenverkäufer scharende Menge liefern. Das Geheimnis des Erfolges dieser Verkäufer beruht darauf, daß sie es verstehen, um sich herum aus der Menge eine Masse herauszuschälen, die sich gleichmäßig auf ihre Waren einstellt. So entsteht in dieser Schar ein Massenbewußtsein, das gleichsam das sonst bestimmende Individualbewußtsein ersetzt. Und nun kauft der erste; der Kauf wirkt ansteckend; und wer den Ausrufer beobachtet, merkt, wie er geschäftig wird, sobald der erste gekauft hat, wie er eiliger anpreist, hinreicht unter stetem Reden usw. Er weiß, dieses Massenbewußtsein hat die Neigung, schnell wieder zu verschwinden, ausgeschaltet zu werden. Auf diese Tatsache eines solchen schnell sich bildenden Massenbewußtseins rechneten mit Erfolg die Straßenpolitiker aller Revolutionen, so im Palais Royal 1789 / 91, während der Bankette im Februar 1848 zu Paris, auf allen freien Plätzen der Großstädte während der Novembertage 1918 in Deutschland. Und wie Straßenverkäufer und Politiker, so sucht jeder Redner aus den Zuhörern eine Masse zu bilden oder sich doch unter ihnen aus der Mehrheit eine zu formen, die mit ihm ein gemeinsames Ziel habe, dasselbe denke, empfinde und wolle. Nur einer kann auf diese Massenbildung verzichten, der nüchterne Wissenschaftler, er kann die Masse entbehren, da es ihm nur auf die Sache ankommt und erst in zweiter Linie auf die Wirkung dieses Sächlichen auf Menschen. Darum sehen wir die ganz großen Denker und Forscher bewußt auf „Schulen“ verzichten, soweit dafür ihr persönlicher Einfluß in Frage kommt; sie überlassen die Schulbildung der Macht des Werkes; denn sie wissen, daß Massenwirkungen stets von kurzer Dauer sind, sie sind Erregungen, mit denen der Wissenschaft selten gedient ist, und jene Männer haben die schädigende Wirkung der, notwendig, erstarrenden Schulen zur Genüge erkannt. Schon hier aber erstehen auch die stärksten Bedenken gegen die Popularisierung der Wissenschaft und alle University Extension, da diese allzu leicht nur dazu dient, durch tüchtige Redner wissenschaftliche Meinungen in ein Massenglauben zu verkehren, wie das Beispiel des letzten Jahrhunderts zur Genüge lehrt. Und dann wird ein zweiter Feldzug nötig, um wiederum diesen Glauben, der sich nun „wissenschaftlich fundiert“ wähnt und sich auf „Autoritäten“ beruft, zu berichtigen, ja wohl als irrig zu erweisen und einen neuen an seine Stelle zu setzen – für aber ein Vierteljahrhundert!

Die allgemeine Voraussetzung der Massenbildung ist demnach dies: mehrere müssen ein gemeinsames Interesse haben, irgendwelcher Art. Es braucht dies nicht einmal ein wirkliches Interesse derart zu sein, daß es ihnen auf Grund einer engeren Lebensgemeinschaft gemeinsam ist; es genügt, wenn sie nur für den Augenblick, wo sie in diese Masse eingehen, glauben, es sei ihnen gemeinsam. In der Masse ist demnach die Macht der Suggestion und der Gefühlsansteckung außerordentlich groß, so groß, daß dadurch das normale Individualbewußtsein ausgelöscht sein kann; das was klar und vernünftig ist, scheint verschwunden. Gegen die Macht dieses Massenbewußtseins ist der einzelne wehrlos, fast ganz widerstandslos. Es beeinflußt seine Zuneigung und Abneigung, läßt ihn Dinge tun und sagen, die er allein unter der Herrschaft seiner Vernunft vielleicht niemals tun würde.

In der Masse versinkt die Individualität, das Individuelle am Menschen, insonderheit daran erkennbar, daß die Intelligenz des einzelnen sinkt; die Fassungskraft ist absolut wie relativ begrenzt. Das kennzeichnet eben auch die Masse, an die heute noch mancher zuerst denkt: die werktätige Arbeiterschaft, die ganz besonders unter dem täglichen Einfluß des Massenbewußtseins leben muß, so wie nun einmal ihr Leben und ihre Arbeit abläuft. Daher auch ihre Unfähigkeit, sich schnell mit dem Neuen auseinanderzusetzen. H. Staudinger5 erzählt dafür ein Beispiel: Eine Firma bezahlte immer 120 Stunden, während die Arbeiter nur 112 arbeiteten. Es war nämlich zwischen den Organisationen der Industriellen und der Arbeiterschaft vereinbart, daß durch Zeitverkürzung keineswegs eine Lohnverkürzung eintreten dürfe. Daraufhin rühmte sich nun aber diese Firma ständig, sie bezahle mehr als eigentlich verdient würde; sie bezahle 120 Stunden à 70 Pf. gleich 84 Mk., und da verlangte der Arbeiterausschuß, daß der Wahrheit die Ehre gegeben werden solle, und die Firma 112 Stunden à 75 Pf. gleich 84 Mk. zahle. Die Arbeitermasse lehnte das Vorgehen gegen die Firma ab, weil die Führer sie nicht von dem Nutzen überzeugen konnten. Es dauerte Monate, bis diese einfache Tatsache verstanden wurde. Mit anderen Worten: die neue Tatsachenreihe mußte erst in das Massenbewußtsein aufgenommen werden, bis zu dem einzelnen durchgesickert sein, bevor er verstand, worum es ging. Diese eigentümliche Bedingtheit der Arbeiterschaft, wie aller gleichen Kreise, ist von der größten Bedeutung für alle Volksbildungsarbeit. Soll sie Wert haben und will sie nicht momentane Wirkung, so muß sie mit langen Perioden rechnen und ihre ganze Tätigkeit darauf einstellen. Sind dann aber wertvolle Gedanken durchgedrungen, so ruhen sie auf einer starken breiten Grundlage und sind zu einer Macht zum Guten geworden.

Heinz Marr hat vor allem wegen dieser unvermeidlichen Minderung der intelligenten Kräfte in jeder Masse die extensive Volksbildungsarbeit verworfen6. Vorträge vor großen Auditorien könnten keinen massenerzieherischen Einfluß haben, weil die kollektive Seele überhaupt kein denkendes Wesen sei. In der Kollektivseele verwischten sich die intellektuellen Fähigkeiten und überhaupt die Individualitäten, und es akkumulierten sich lediglich die unter dem Durchschnitt liegenden Verstandeskräfte. Marr glaubt, das hänge zusammen mit dem Nachlassen der intellektuellen Wachsamkeit der Zuhörer, aber nicht minder des Vortragenden. Wie die Verantwortlichkeit in Ausschüssen allzu bedenklich sich verteile, der einzelne werde zu wenig mitberührt, ein großer Teil verbleibe lediglich aufnehmend, so ergehe es auch dem Vortragenden: je größer der Zuhörerkreis, desto weniger gründlich und sachlich pflege der Vortragende zu sein. So richtig dieses Nachlassen der intellektuellen Wachsamkeit ist, so ist doch damit keineswegs die Geistigkeit der Masse irgendwie erschöpfend umschrieben.

Beginnen wir mit seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung. Räumlich sind der Ausbreitung eines Massenbewußtseins heute kaum noch Grenzen gesteckt. Die Öffentlichkeit ist die Voraussetzung dafür, und diese Öffentlichkeit ist heute im Zeitalter der drahtlosen Telegraphie diejenige der Welt. So kann sich ein Massenbewußtsein bilden innerhalb eines Dorfes, einer Gemeinde, einer Stadt, eines Landes, schließlich der Welt. Aus der politischen Welt sind solche Fälle die Polenschwärmerei seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die allslawische Idee, der Revanchegedanke in Frankreich, Deutschlands Schuld am Weltkriege, aus der Welt der Schule die Ausbreitung der Arbeitsschulidee, der Anschauung „Vom Kinde aus“ usw. Massenbewußtsein ist stark gebunden an die Entwicklung der Technik der Verknüpfung der Räume, des Verkehrswesens, der Presse. Und mit dieser Möglichkeit größter Raumumspannung in unseren Tagen hängt es gewiß auch zusammen, daß das Problem der Masse so unwiderstehlich stark empfunden wird. In früheren Jahrhunderten war die Öffentlichkeit enger, gar in der vorgeschichtlichen Zeit, und damit dürfte wiederum zusammenhängen die Zersplitterung in viele Volkssprachen und kleine Staaten. Eine unter den Voraussetzungen größerer Staatenbildung ist unbedingt diese, daß über dem ganzen Raume, den dieser Staat einnehmen soll, ein zusammenhängendes Bewußtsein erzeugt und erhalten wird. Und dafür sind heute günstig die vielen wichtigen Mittel der Öffentlichkeit in Parlamenten, Kongressen, Versammlungen, Messen, Ausstellungen, Presse. Alle diese wirken und wollen auf Massen wirken.

Die räumliche Ausdehnung verleiht dem Massenbewußtsein die äußere Macht, die zeitliche Ausdehnung jedoch gibt erst die rechte Kraft, die Intensität der Wirkung. Je tiefer zurück in die Vergangenheit gewisse Ideen gelagert sind, desto mächtiger pflegen sie zu sein. Man denke an das Familienbewußtsein etwa alt eingesessener Friesengeschlechter, jener Westfalenfamilien, die noch heute auf den, ihren Vorfahren vom Herzog Widukind verliehenen, Erbhöfen sitzen. Dergleichen ist auch die Macht des Gelehrtenideales, des humanistischen Ideales usw. Unter jenen Familien ist ein in Jahrhunderten gesteigerter Vorrat an geistiger Energie aufgewandt und für ganz bestimmte Gedanken aufgespeichert, und daran läßt man alles Neue sich hundertmal brechen, bevor etwas assimiliert wird, oder man läßt es zerreiben, geht unter Umständen lieber selber zugrunde. Daher die Zähigkeit aus grauer Vorzeit vererbter Anschauungen, sei es über Familienehre oder politische Notwendigkeiten, Regierungsformen, Steuerfragen, Erbrecht, Ebenbürtigkeit der Ehegatten. Man kann sich unter die Kraft traditioneller Mächte hineinleben, z. B. als Gelehrter. Solche traditionellen Werte werden von Kind auf, oder doch in früher Jugend, autoritativ hingenommen und anerkannte Oberwerte für alle diejenigen, in denen dies Massenbewußtsein lebendig ist. Daraus erklärt es sich auch, daß sich verhältnismäßig kleine Volksteile gegen ihnen numerisch überlegene jahrzehntelang politisch behaupten können. Den im Laufe des 19. Jahrhunderts neu heraustretenden Ständen, etwa dem sog. vierten Stand, fehlte die zeitliche Tiefe, die Tradition. Jeder neue Stand mußte sich diese erst neu erwerben, mit Schäffle zu reden, sich ein „immaterielles Kapital“ anlegen, welches nun von den Vätern ererbt ist und im Falle aufsteigender Entwicklung mit Zins und Zinseszins von der lebenden der nächsten Generation hinterlassen wird – hinterlassen in Reden, Schriften, Drucken, Bildwerken, Gedichten, Legenden, aber auch als politische Disposition. Über und aus diesem immateriellen Kapital erwächst dann das Massenbewußtsein innerhalb einer Volksschicht, eines Standes. Es bildet sich eine neue „Konvention“.

Im Voraufgehenden haben wir den Begriff der Masse absichtlich schon mehrdeutig verwendet. Wir sprachen zuletzt von einer Masse, die man als die „organisierte Masse“ oder als „Gruppe“ bezeichnen muß, ich werde sie auch die „reale Masse“ nennen –; eine Masse, die sich in derselben Kaste, derselben Berufsgruppe oder Bevölkerungsschicht findet: Junker, Bürger, Bauer, Arbeiter, technisch-industrielle Angestellte, kaufmännische Angestellte, in religiösen Sekten oder politischen Parteien – usw. Ihr gegenüber könnte man reden von einer „fluktuierenden Masse“, wie sie sich bildet im Hörsaal, Theater, auf der Straße. Menge aber wäre gleich „atomisierter Masse“, die es nicht zu einem Handeln, zu einem Gemeinsamen bringen kann. Wenn im Kampfe Heeresmasse gegen Heeresmasse steht, so ist der Sieg in dem Augenblick errungen, wo die eine der beiden Massen atomisiert wird, zur Menge wird, „sich auflöst“. Der Unterschied zwischen fluktuierender und organisierter Masse aber wäre zunächst ein rein äußerlicher: Die fluktuierende Masse ist immer räumlich beisammen, wenn sie zur Geltung kommen soll, und hat die Neigung, sich geradezu blitzschnell wieder zur Menge zurückzuverwandeln. Es fehlt ihr das zeitliche Moment und eben damit die Intensität der Dauer. Dennoch bleibt es im höchsten Grade kennzeichnend für die Macht des Geistigen im Grunde, daß Minuten ja Sekunden genügen können, um Menschen, die zu „anonymen heterogenen Massen“ (Le Bon) zusammenschießen und wieder auseinanderschnellen, durch ein gemeinsames Geistiges zu verbinden. Die organisierte Masse ist als ganze niemals räumlich beisammen oder doch nur in Teilen der Gruppe oder durch Repräsentanten. Hier wird nun die gewisse Überlegenheit der Arbeitermassen als organisierte Masse verständlich. An unzähligen Punkten eines Landes finden sich nämlich heutzutage numerisch starke Gruppen tagaus tagein auch räumlich zusammen, auf ihrem Arbeitsplatze; man denke an Werften, Fabriken, die Leunawerke, Krupps Arbeiterstadt usw. Sie leben aber auch in den Städten dichter zusammen, und die lieblose, oft menschenunwürdige Bauweise der modernen Arbeitervorstädte hat nur die Massenwirkungen verstärken helfen, und es ist richtig gesehen, wenn man daran geht, diese Massen zu durchsetzen, indem man die Arbeiterschaft siedeln läßt und sich davon auf die Dauer auch politische Wirkungen verspricht. Freilich ist zu erwarten, dass die bisherige Geschichte des vierten Standes bereits zu einer solchen traditionellen Macht geworden ist, daß er, auch in Siedelungen zerstreut, die Kraft einer jeden anderen organisierten Masse bewahren kann. Er besitzt Dauer.

Wie lange nun vermag diese geringere Fassungskraft, diese gewisse intellektuelle Einschläferung zu währen? Im fluktuierenden Zustande wie Stürme auf der See, wo Welle auf Welle kommt und vergeht. Ein ruhiger, besonnener Mensch kann, ohne etwas Besonderes zu wollen, über die Straße gehen und sich in weniger als einer Minute handeln sehen, wie er es sich nie zugetraut, kann etwas tun, was er bei ruhiger Überlegung niemals getan hätte und was er nach der Tat wohl gar alsbald bereut. Andererseits erkannten wir die lange Dauer dort, wo die Überlieferung zu Hilfe kommt. Wer mit einem solchen Gruppenmenschen in ein Gespräch kommt und auf Fragen eingeht, die diesem überlieferungsgemäß autoritativ beantwortet sind, der stößt auf Granit. Hier setzt jede Einsicht aus. Von bestimmten Überzeugungen und Lebensgewohnheiten ist er mit nichts abzubringen. Wie schnell verfliegt dagegen der Rausch der Begeisterung nach einer aufpeitschenden Rede, vor allem, wenn beim Verlassen des Saales draußen starker Regen niedergeht, durch den man den Heimweg machen muß, und die Gedanken sich schon auf den Kampf um einen Platz in der Straßenbahn zu drehen beginnen.

Es kommt demnach alles darauf an, Massen zu organisieren, wenn man sie schlagkräftig machen will, einerlei ob es sich um Arbeiter- oder Schülermassen handelt, um die Maurer einer Stadt oder die Mädchen eines Lyzeums. Und: Massen organisieren heißt das Geistige realisieren! Und diese Realisierung wird erst dann vollkommen, wenn es gelingt, lang nachwirkende Autoritäten zu schaffen, welche zur Mitherrschaft über das Individualbewußtsein gelangen und sich spontan in Kraft setzen, wenn es gilt. Auch im Schulleben. Wer kennte nicht aus der alten guten Schule den aufklopfenden Finger oder klopfenden Bleistift, der die Ordnung herstellte, weil in sie die Autorität verpflanzt war. Im öffentlichen Leben ist es schwieriger, allein überall sehen wir dasselbe Bestreben, den Massen „Oberwerte“ zu geben, unter die sie dann mühelos alles, was man von ihnen wünscht, unterordnen können, etwa Wiederaufbau, Klassenkampf, Sozialisierung, Rache, Reparationen, oder Begriffspaare wie Ausbeuter und Ausgebeutete, Arbeiter und Bourgeois, um allgemeine und dabei besonders komplizierte Oberbegriffe zu nennen. Und wenn wir von der Herrschaft oder dem Führertum dieses oder jenes Einzelmenschen reden, so vermag er nur zu führen, wenn er die Leitung, die Beherrschung des Massenbewußtseins einer Gruppe mit Hilfe von anderen übernommener oder von ihm selbst geprägter Oberwerte zu erhalten versteht. Bei der in der neuesten Zeit, und zwar infolge ihres Verkehrswesens, starken Durchsetzung aller organisierten Massen mit fluktuierenden und bei der starken Durchkreuzung der verschiedenen organisierten Gruppen im öffentlichen Leben erfordert die Stellung des Führers einen steten Kampf gegen fremde, in sein Reich eindringende Werte. Daraus wird z. B. die ununterbrochene Mahnung begreiflich, der betreffenden Parteipresse treu zu bleiben, nicht die Blätter der Gegner zu lesen, oder das Verbot der katholischen Kirche, die Bibel oder andere Bücher zu lesen, von denen man eine Erschütterung der eigenen Autorität befürchten muß, und das mit Recht. Alle Führer streben aus eigenstem Lebensinteresse danach, mit der Gefolgschaft engste Fühlung zu erhalten und zwischen sich und ihr alles auszuschalten, was die Oberwerte zu zersetzen droht, unter denen sie das Gefolge denken und handeln wissen müssen. Im Schulleben ist das nicht anders. Hierher gehört das Bemühen der Lehrer, die Jugend vor literarischen, wissenschaftlichen, philosophischen, religiösen Gegenwerten zu schützen, die ihnen gefährlich für die Kräftigung derjenigen Werte erscheinen, die sie zu Oberwerten machen möchten. Wie falsch dabei der an sich richtige Weg beschritten worden ist, das lehrt die Zersetzung eben der alten Schulautoritäten durch andere, der Jugend und nun schon auch den damals Jugendlichen unter den jetzigen Lehrern, genehmere. Die Folge einer falschen Psychologie des Kindes und des Jugendlichen. Denn auch die Jugend untersteht den Gesetzen der Masse, bildet eine räumlich zersprengte, aber in recht starken Teilgruppen auch räumlich oft versammelte, von einer fremden Macht, dem Staate, organisierte Masse. Wer kennte nicht die Klage mancher Eltern: „Wenn ich meinen Jungen allein habe, so ist er ganz vernünftig, kommt er aber mit andern zusammen, so ist er gar nicht wiederzuerkennen“; oder die andere: „Zu Hause ist mein Junge so ungezogen, daß ich mich wundern muß, wie er in der Schule so sehr gelobt werden kann“. Die Eltern haben keine Fühlung mit jener Kollektivseele, die in ihrem Jungen auch wirksam ist, darum können sie nur dann führen und die autoritativen Werte, die fast automatisch einsetzen, in Kraft erhalten, wenn sich das Kind in dem von ihnen beherrschten und geformten Lebenskreise bewegt. Von derselben Art ist der Kampf, der in jeder Epoche ausgefochten wird, zwischen den konventionellen Menschen und den intuitiven, den entschiedenen, die sich in den Dienst der neu aufkommenden Konvention stellen müssen, die das Neue heraufziehen sehen, ihm dienen müssen, das Neuland von der Bergesspitze aus über die Nebel in den Tälern sehen, aber kaum für ihre Schauungen und Deutungen Verständnis finden. Die Erbitterung aber, die solche Kämpfe stets und unvermeidlich begleitet, erklärt sich daraus, daß Geist wider Geist streitet, Wertreich gegen Wertreich steht. Und es wäre sehr zu wünschen, daß die Einsicht in diesen Tatbestand wenigstens allen Führern gemeinsam wäre, um die üble Herabsetzung des Gegners zu unterlassen und dem Streite die feinste Form zu sichern.

Jede Masse hat ihre besonderen Werturteile. In der zufällig geballten Masse entstehen sie, um im Fluge zu vergehen. Typisch ist aber auch hier, daß im Momente der Hingabe, der Ansteckung, des Überwiegens jenes Massenbewußtseins, der suggerierte Wert in seiner vollen Unbedingtheit erkannt wird. Im Augenblick der Fesselung der normal tätigen intellektuellen Kräfte erscheint das neue Wollen und sein Ziel als allgemeinverbindlich und muß vollführt und erreicht werden, sei es eine Hilfsaktion für kranke Kinder oder der Mord an politischen Gegnern, sei es ein Vortrag über Relativitätstheorie, der gehört werden muß, oder die neueste unübertreffliche Stiefelwichse, die auf der Karre gekauft werden muß. In der realen, der organisierten Masse bekundet sich dagegen die Macht der Werturteile weniger in dieser plötzlichen, oft gewalttätigen Natur, sondern hier liegt die Macht eben in ihrer Unausrottbarkeit, also in dem geraden Gegenteil: Ehrbegriff im Offizierkorps, in der Schülerschaft, Feindseligkeit gegen Streikbrecher; dies und das darf man sich nicht bieten lassen, sonst ist man ein feiger oder schlapper Kerl usw. Eine Zwischenstufe zwischen beiden bildet die „öffentliche Meinung“, die ein Massenmeinen ist. Sie hat längere Dauer, kann sich Monate, ja Jahre halten, man denke an die öffentliche Meinung im Auslande über Deutschlands Kriegführung oder seine Schuld am Kriege. Ob es vielleicht mit zur Niederlage Deutschlands im Weltkriege beigetragen hat, daß die Gegner erheblich weniger aufgeklärte Völker, also stärker zum Massenmeinen veranlagte, zu bearbeiten hatten? Die Tatsache, daß sich Massen beeinflussen lassen und daß es geringerer Intelligenz bedarf, um eine öffentliche Meinung zu erzeugen, ermöglicht es ja gerade auch immer den Durchschnittsgeistern mehr als den Genies, die zu gleicher Zeit leben, diese öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Was vermag ein begnadeter Dichter gegen die Feuilletonaufsätze eines Kritikers, der sein bißchen Geist geschickt aufzustutzen und einem Publikum seine Weisheit mundgerecht zu machen versteht und dabei auf viele Zehntausende in regelmäßigen Zeitabständen einwirken kann! Und es ist ja nicht nur die höhere Intelligenz, die sich den Massen gegenüber durchsetzen soll, sondern im Genie vor allem das Neue, von dem wir schon hörten, daß es erst verstanden werden kann, wenn es bis zum einzelnen durchgesickert ist. Dann freilich ist Ibsen „göttlich“ und Strindberg „himmlisch“, der Expressionismus „entzückend“ und Nolde „unerreichbar“ für jedermann. Dasselbe lehrt die Erfahrung aus der Schulwelt; es sind auch hier keineswegs immer die höchsten Intelligenzen, welche den meisten Einfluß haben, sondern ein gewisser Durchschnitt wirkt am meisten wohltuend und führt am ehesten. Kein Wunder, wenn die öffentliche Meinung von den Großen aller Zeiten gehaßt worden ist. Für Dante ist sie die „Wetterfahne“ aller derjenigen, welche im Vorhofe der Hölle im Sturmwind herumfliegen, für Goethe „Wirbelwind und trockener Kot“. Es ist ein ewiger Kampf zwischen dem schöpferischen Menschen und dem gemeinen Werturteil. Und alle Flüge gen Himmel nützen dem Genius nichts, er muß, will er auf Volk und Menschheit wirken, selbst oder durch andere für sich dieses harte Ackerfeld auflockern. Auch hat Schäffle nicht ohne Recht ausgeführt, daß das Bleigewicht des gemeinen Werturteils dem Genius zwar lästig sei, aber daß die geistige Massenhemmung auch für den Genius unentbehrlich sei. „Wenn die Fürsten des Geistes über die Fesseln der gemeinen Meinung klagen, so hätte, wenn ihre Ideen sofort Wirklichkeit werden könnten, umgekehrt das gemeine Volk sich noch mehr über das zu beklagen, was die Feuergeister ihm zumuten. Es wäre ein großes Übel, wenn der platonische ldealstaat oder ein Fichtescher Handelsstaat von den Philosophen oktroyiert, wenn die soziale Welt von einem Hegel panlogistisch konstruiert werden könnte“7.

Der geistige Führer muß die Massen für seine Ideen „erziehen“ und das kann immer und überall nur geschehen, wenn der Erzieher die psychische Beschaffenheit der Masse, die Psychologie der Kollektivseele kennt: er sei Politiker oder Lehrer, Künstler, Redakteur oder Werkleiter. Wo Erziehung ausgeübt wird, da ist sie Massenerziehung. Der Privatunterricht und die Privaterziehung sind keine Ausnahmen; denn der Unterrichtende und der Schüler stehen nicht als Individuen einander gegenüber, sondern es wirkt durch den Lehrer jener Gruppengeist, dem er dient, auf die in dem Schüler wirksamen Gruppenvorstellungen, -triebe usw. Auch hier steht Massengeist gegen Massengeist.

Welches sind nun, zusammenfassend und gleichzeitig erweiternd, die seelischen Eigenschaften der Masse? Nach Le Bon sind dies die Hauptmerkmale des in der Masse befindlichen Individuums: Schwund der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft der unbewußten Persönlichkeit, Orientierung der Gefühle und Gedanken in derselben Richtung durch Suggestion und Ansteckung, Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen8. Das psychologische Gesetz, das in der Masse herrscht, ist nach ihm das „der seelischen Einheit der Massen“. Die mittelmäßigen Allerweltsqualitäten werden vergemeinschaftlicht; die intellektuellen Fähigkeiten und die Individualitäten der Individuen verwischen sich, und in der alleinstehenden Kollektivseele herrschen die unbewußten Elemente, die Triebe, Leidenschaften und Gefühle. Wenn wir nun in einem Willensvorgang einen Affekt sehen, der durch seinen Verlauf seine eigene Lösung herbeiführt, und demnach von der Stärke des Affekts die Affektlösung abhängt, so wird es begreiflich, wie bis zur Siedehitze glühend gemachte Volkshaufen, zu Massen zusammengeballt, unter der autoritativen Vorstellung eines suggerierten Werturteils die scheußlichsten Taten vollbringen können, was die Geschichte aller Revolutionen aller Länder lehrt. Das Handeln der Kollektivseele ist überall das nämliche, vom Temperament der Nationen wenig beeinflußt, verstärkt oder ermäßigt, ob es sich um „kühle“ Engländer oder „leidenschaftliche“ Iren, um „bedächtige“ Holländer oder „ritterliche“ Franzosen handelt. Bei der Ausschaltung der klaren Verstandestätigkeit kann auch das Verantwortlichkeitsgefühl nicht aufkommen; denn darunter verstehen wir ja ein Gefühl, das von Einsicht und Überlegung beherrscht wird, sich selber ein Halt zuruft und die Affektlösung nicht im Sinne eines blinden Sich-Ausrasens zuläßt, sondern diese Lösung abmildert, wohl gar in einem, dem normalen Ablauf entgegengesetzten Sinne herbeiführt, den Affektverlauf anhält; man nimmt sich zusammen, man beherrscht sich.

Allein was Le Bon und viele nach ihm als Masse untersucht haben, das ist so gut wie ausschließlich die, wie wir sagten, fluktuierende oder die atomisierte Masse, die Menge. Mit der realen, der organisierten Masse steht es doch wesentlich anders, als Le Bon meint, wenn eben diese nicht zersplissen wird und nun im Sinne einer atomisierten Masse handeln muß. In der realen Masse scheint alles sich eher umgekehrt zu verhalten. Die in ihr vorhandenen geltenden Autoritäten bewirken, daß sich die organisierte Gruppe verantwortlich weiß in einem für sie höchsten Sinne. Der Streikbrecher muß verprügelt werden; der die Ehre verletzte, muß gefordert werden; die ebenbürtige Erbfolge in der Familie muß gewahrt werden usf. Und hinzu kommt, daß in diesen Gruppen irgendeine Vorstellungsklarheit über diese Dinge besteht. Was sein muß, das erscheint auch in seinen Gründen vor jeder Vernunft ausgemacht und gerechtfertigt. Ja diese Gründe werden mitüberliefert, sie gehören mit zur Tradition und werden wie heilige Worte nachgesprochen. Forscht man freilich tiefer nach, so kommt dennoch auch hier das allgemeinste Kennzeichen jeder Massenbestimmtheit heraus: die letzten Gründe verfliegen vorschnell im Gefühlsleben, in einer Art Subjektivität. Wohl ist es richtig, daß schließlich alle letzten Gründe ins Dunkle, ins Metaphysische herabgehen, hier aber allzu rasch; die Diskussion bricht vorschnell ab, wenn versucht wird, solchen Gruppengründen andere entgegenzusetzen: „Lassen Sie mich damit in Ruhe! Das ist so und das bleibt so!“ Also treffen wir auch hier auf ein überstarkes Massenmeinen und damit zusammenhängend für jeden Menschen, der unter der Macht anderer Oberwerte und einer anderen Gruppentradition lebt, auf den Schein einer herabgeminderten Intelligenz, und zwar oft nur für diese betreffenden Fragen, bei denen ein Mensch innerhalb der Kollektivseele denkt. Man sagt dann wohl: „Sonst ist er ein ganz gescheiter Mensch, aber kommt man auf dies oder das zu sprechen, dann: …“

Von hier aus fällt Licht auf den Kampf der Generationen, der stets ein Geisteskampf realer Massen ist. Der Gegensatz der Generationen verschärft sich notwendig jedesmal dann, wenn es nicht mehr gelingt, die junge Generation reibungslos oder doch ohne allzu starke Schwierigkeiten den bis dahin geltenden Werten einzuordnen, sie für deren Anerkennung zu gewinnen. Dann sehen die „Alten“ ihre Welt untergehen oder empfinden es, als ob die Welt überhaupt unterginge; die Sehnsucht nach der „guten, alten Zeit“ steigt auf. Und doch haben zu allen Zeiten Männer im grauen Haar, selbst Greise jugendliche Weltstürmer geführt, und der Jugendliche meidet durchaus nicht das Alter, den Alten, weil dieser an Jahren alt ist, sondern nur dann, wenn er kein Verständnis für das hat, was die Jungen durchkämpfen müssen, weil sie um eine neue Rangordnung der Werte ringen. Der Ältere aber wird gern zum Führer genommen, wenn er ihren eigenen Kampf versteht und mitzuerleben vermag. Denn er verbindet alsdann eigene Reife, d.i. er besitzt Ordnung all seines Handelns um eine Sonne, also das, worum die Jugend ringt, um die Sonne, um die sie ihr Leben lang kreisen darf, mit jener versöhnenden und gewinnenden Milde des verständnisvollen Menschen, der sich des Kampfes aus der eigenen Jugendzeit noch voll bewußt ist und darum instinktsicher den jugendlichen Menschen weisen kann. Das klärt auf über den Typ, der ganz besonders Jugenderzieher in Epochen sein kann, in denen ein bis dahin herrschender Konventionalismus abgebaut und die Wertewelt umgeschichtet wird, wie in der Gegenwart.

2. Der Begriff der organisierten oder realen Masse leitet hinüber zum Verständnis des Begriffes der Gesellschaft9, dem keineswegs eindeutigen Hauptbegriffe der Soziologie. Von Hegel angeregt haben im 19. Jahrhundert zuerst Lorenz von Stein und Robert von Mohl eine Wissenschaft zu begründen versucht, deren Gegenstand diejenigen Abhängigkeitsverhältnisse sein sollten, welche zwischen Volkswirtschaft und Staat liegen, also diejenigen persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse, welche hauptsächlich durch Besitz, Arbeitsweise und Familie gegeben sind, etwa das, was wir unter „bürgerlicher Gesellschaft“ verstehen. A. Schäffle erweiterte diesen Begriff der Gesellschaft im Sinne einer ideellen Verbindung der Menschen schlechthin und bezeichnet als Gesellschaft im soziologischen Sinne die „Völkerwelt“, so daß der Begriff der Gesellschaft nach ihm den Begriff des Volkes voraussetzt. Simmel hat sodann in seiner viel benutzten „Soziologie“ 1908 die Möglichkeit geleugnet, die Gesellschaft als Ganzes einer eigenen wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen und will in ihr nur eine Lehre von den sozialen Formen sehen, wie Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Vertretung, Parteibildung usw., demnach eine rein formale Soziologie. Im engeren Sinne pflegt man wohl auch heute gelegentlich Staat gleich Gesellschaft zu setzen, unter der Nachwirkung der antiken Philosophie, der beide zusammenfielen. Außerdem besteht dafür nach unserer Auffassung eine gewisse innere Berechtigung, weil der Staat die mannigfachen Formen und Erscheinungen der Gesellschaft zu einer Einheit zusammenfaßt und demnach zu den „Einheitserscheinungen der Gesellschaft“ (Spann) gezählt werden kann. In unserm Zusammenhange wird unter Gesellschaft der Inbegriff sämtlicher sozialer Erscheinungen verstanden, die „menschliche Gesellschaft“; demnach sind Staat und „bürgerliche Gesellschaft“ im Begriffe der Gesellschaft, so wie wir ihn verwenden werden, mit einbeschlossen10.

Diese mannigfachen Formen und Erscheinungen innerhalb der Gesellschaft nun bilden und gestalten sich eigentümlich auf dem Wege über sich organisierende Massen, sie sind unregelmäßige, nach Größe und Kraft denkbar verschiedene Atomballungen, die als solche eine Einheitstendenz besitzen, und solange diese Tendenz die Atome beisammenhält und sie anzieht, hält diese gesellschaftliche Bildung stand. Der Zusammenschluß, die Vergenossenschaftung aber hat überall den nämlichen Zweck: aus dem vagen Gefühlsleben und dem Zustand vereinzelter Intelligenz zum Massenhandeln zu kommen, zum geordneten, planvollen Handeln. Wir sehen, daß auch die fluktuierende Masse handeln kann, aber es ist ein momentanes, oft ja zumeist unüberlegtes. Im Gegensatz dazu steht nun das Streben nach Ordnung und Plan im Handeln bei einer verhältnismäßig stabil gewordenen Gruppe. Hier herrscht ein Wille zur Form. Und daher trafen wir in der organisierten Masse bereits immer auf eine stärkere Inanspruchnahme gerade auch der Intelligenz. Als solche Formen für gemeinsames Handeln wären zu nennen Berufsvereine, Gewerkschaften, Fabriken, Handelskompagnien, Militär und Polizei, aber auch Rechtsverbände, Wissenschafts- und Kunstvereine, Kirche, Staat und Volk. Denn überall finden wir unsern obersten Grundsatz wieder: es handelt sich um soziale Formen, durch die und in denen ein planvolles Massenhandeln ermöglicht werden soll.

Die Geschichte der Gesellschaft zeigt uns, wie solche Formen entstehen und vergehen. Etwa die Entwicklung des Ritterstandes, die abgeschlossen ist im 13. Jahrhundert, worauf der Stand mit dem aufkommenden geldwirtschaftlichen Zeitalter verfällt, sich wandelt in den fortlebenden Resten zum Großgrundbesitzer und Junker oder zum Hofadel und Offizier usf. In der jüngsten Zeit erlebten wir die Herausbildung des vierten Standes, in den Anfängen mit allen Merkmalen der fluktuierenden, dann der realen Masse, heute einer festen gesellschaftlichen Form, oder des neuen „Mittelstandes“ aus den Kreisen der Angestellten in Handel und Industrie; gleichzeitig die Auflösung des alten Bürgerstandes, den wir heute nur noch in einigen sehenswerten, im Aussterben begriffenen Exemplaren vorfinden. Die Gegenwart wird die Umgliederung der alten Beamtenschaft zu neuen gesellschaftlichen Formen erleben. Bei allen Umschichtungen innerhalb der Gesellschaft ist stets zu beobachten, wie die verfallende Form bei ihrer Auflösung in den Atomzustand zurückfällt. Nach starken Erschütterungen ist das u. a. in der allgemeinen Ratlosigkeit bei politischen Wahlen typisch festzustellen, man denke an die Unsicherheit der Wähler auf dem Lande oder sog. Mittelstandswähler in der Stadt nach der Revolution 1918. Sie fühlten sich einstweilen ohne rechte Vertretung ihrer eigensten Interessen und wurden, wie immer in solchen Fällen, vor allem das Opfer der geschickten Agitation, d. h. verfielen der örtlich stärksten Massensuggestion. Ganz anders die Sicherheit des Arbeiterstandes, der immer weiß, wen er wählt und wozu. War daher um die Mitte des 19. Jahrhunderts und bis hart in die Gegenwart hinein der Bürgerstand im Vorteil der größeren Geschlossenheit und Zielsicherheit, so heute die Arbeiterschaft. Daraus wird erklärlich, daß und wie Minderheiten schließlich siegen. Minderheiten sind stets gebildet aus entschlossenen, das Neue intuitiv stark erkennenden und sich im Kampf darum klärenden Menschen. Den Kampf aber brauchen sie unbedingt, einmal für sich selber, weil sie erst im Gegensatz zu den anders denkenden Gruppen sich selbst erkennen und über sich selber klar werden. Das Neue kann für sie noch nicht kristallklar sein, wie es das Alte ist, für das der Gegner streitet. Jene fühlen es nur als ein Neues, und allmählich erst im Kampfe selber wird es zu dem Neuen. Sodann ist der Kampf notwendig, um Breschen in die Stellungen der Gegner zu legen; denn siegen können Minderheiten nur dann, wenn sie vorstoßen gegen im Abbröckeln, im Absterben, wie man sagt, befindliche Massen, mögen diese zunächst noch so kompakt und unerschütterlich erscheinen. Aber das stolze Wort ist richtig: Jede neue Idee war einmal ein Mann! und ebenso jede soziale Form, welche jene Idee sich schuf.

Weil die Gesellschaft die Summe der Formen ist, in denen Gruppen zu planvollem Handeln gelangen, so ist damit schon gesagt, daß die Gesellschaftsformen in erster Linie dienende Funktion besitzen. Der Aufbau der gesellschaftlichen Welt ist demnach ein leistungsmäßiger, d. h. ein funktioneller, sie ist ein System gegliederter Dienste. Das Handeln kann dazu dienen, die Mittel zur Verwirklichung von Zwecken herbeizuschaffen, es kann lediglich der Mitteilung dienen oder dem Zusammenschluß, der Organisation als der Zusammenfassung und Ordnung von Kräften. Jede soziale Form hat ihren Ursprung in vitalen Interessen des Menschengeschlechts, dient deren Erhaltung und Förderung, sich versteigend bis zum Selbstgenuß und zu brutalster Knechtung anderer. Überall aber im Grunde der dienende Charakter. Und je nach der Stellung der Gruppen zueinander, nach ihren Abhängigkeitsverhältnissen untereinander, ergibt sich eine Abstufung, eine Hierarchie der Gruppen.

Woher kommen jedoch die Antriebe zum Zusammenschluß? Der Wille zur Form? Wer und was will diese Form und gerade diese? Da wir die Formantriebe nicht innerhalb der Gesellschaft, wie wir sie verstehen, finden können, so werden wir auf die reale Masse zurückgehen müssen, welche aus sich auch diese sozialen Formen heraustreibt. Die Antriebe entstammen derselben Quelle, die Massen sich organisieren und dadurch real werden läßt. Die soziale Form ist demnach ein Zweig der Urorganisation.

3. Wo sich ein Massenbewußtsein bildet und Handlungen vollführt, da ist in den vielen einzelnen ein gemeinsamer seelischer Inhalt vorhanden. Denn Massenbewußtsein setzt die Möglichkeit eines Gemeinbewußtseins voraus, d. h. eines mehreren gemeinsamen Bewußtseins. Und wir sind wie so oft in der Psychologie einfach genötigt, diesen Befund anzuerkennen, ihn als unmittelbares Erlebnis hinzunehmen, das lediglich nachträglich der Analyse zugänglich ist. Seine Grundlage bildet die Tatsache, daß zwischen mir und dem andern von Ursprung her die Möglichkeit gegeben ist, Erfahrungen voneinander zu machen, einer vom andern. Allbekannt ist es, wie schon kleine Kinder die Gabe besitzen, sich unmittelbar in den andern einzufühlen, ihn seelisch zu durchdringen, und für diese seelische Urtatsache noch bezeichnender, daß dieselbe Gabe auch bei geistig Rückständigen vorhanden ist. Übrigens nehmen auch Tiere, welche ganz bei uns leben, unser Gepräge an bis zu dem Grade, daß sie unsere Absichten verstehen und durchdringen. Das zunächst Einwirkende sind die Eindrücke durch die äußere Wahrnehmung des Gesichts, Gehörs, Getasts, Geruchs und Geschmacks. Von Kind auf begnügt sich der Mensch nicht mit dem bloßen Anblick, der bloßen Empfindung vom andern, sondern vom ersten Erwachen des irgendwie tätigen Bewußtseins, der Apperzeption, macht der andere Eindruck auf uns, und wir ordnen den andern in unsere Erlebnisse ein. Das Kind schreit beim Anblick des fremden andern, den es nicht irgendwie mit Vater oder Mutter oder Amme und Kindermädchen zusammenbringen kann. Es lacht und freut sich, wenn der andere Bewegungen ausführt, die ihm Lust zu verschaffen scheinen, etwa hochgenommen zu werden. Je reicher sich nun das Bewußtsein entwickelt, über desto mehr Kategorien verfügen wir, den andern schon rein äußerlich einzuordnen: klein und groß, Mann und Weib, schön und häßlich, Freund und Feind, Volksgenosse und Ausländer, und zwar das alles schon beim ersten Anblick. Damit hängt zusammen die Wirkung der Tracht, der Uniform, heller bzw. dunkler Kleidung, also schon der äußeren Erscheinung eines Menschen.

Dies und noch manches mehr vermittelt uns den andern, wobei uns hier nicht die Frage angeht, ob es immer ein richtiges Wissen um den andern ist, das so entsteht. Uns kümmert nur die Tatsache, daß uns der andere unmittelbar gegeben wird. Und wie durch das Gesicht, so durch den Händedruck oder durch das Gehör, etwa an seinem eigentümlichen Schritt und Gang, woran er sofort als dieser oder jener erkannt wird. Und das Wichtigste bei dem allen ist nun, daß uns mit diesem Äußeren der Mitmenschen eben auch ihr Inneres gegeben ist. Selbst dann, wenn das Äußere irreführt, so ist das nur ein Beweis für die sog. Oberflächlichkeit der Menschen bei der Beurteilung des andern, die soweit geht, daß sie das Äußere ohne weiteres als ein Zeugnis für das Innere nimmt. Aber diese oberflächliche Beurteilungsweise bestätigt ebenfalls die Wahrheit, daß wir mit dem Äußeren ohne weiteres auf das Innere schließen. Wir sind von Natur imstande, vom Äußeren auf ein Inneres zu deuten. Es muß demnach wohl unser Äußeres irgendwie auf das Innere hindeuten, und die Fehlurteile erfolgen nur darum, weil diese Deutung nicht einförmig erfolgen kann. Niemand aber bezweifelt, daß ein Händedruck z. B. mir unmittelbar etwas über die Gesinnung des Begrüßenden aussagt. Der Händedruck kann Herzlichkeit, Verachtung, Liebe, Gleichgültigkeit bedeuten, der Schritt Ruhe oder Erregung, die Stimme Müdigkeit oder Frische, vor allem aber die Sprache des andern sympathisch oder unsympathisch berühren und dadurch meine Erfahrungen vom andern beeinflussen.

Unter den Erfahrungen vom andern sind auch solche Eigenschaften, die wir als den unsern gleich oder ähnlich erkennen. Auf diese Weise bildet sich ein bestimmtes „Wirbewußtsein“, deren es so viele geben kann, als es Gemeinsamkeiten mit anderen gibt11. Seine Bedeutung ist die allergrößte. Wichtiger als neue Gründe des Verstandes ist in den allermeisten Fällen und für die allermeisten Menschen die bloße Erfahrung, daß auch andere ihre Meinung teilen. Damit werden sie in der Richtigkeit ihrer Meinung bestärkt, ja von ihr überzeugt. Die Genügsamkeit kann so weit gehen, daß einer sich in seinem Vorhaben, seinem Schaffen sicher und beruhigt weiß, wenn nur ein anderer, dann freilich immer ein anderer, auf dessen Meinung er viel geben zu dürfen glaubt, die Handlung nicht für verwerflich hält oder an sie glaubt. Oder dieses andere wird oft genug vergrößert, um sich und sein geistiges Selbst zu behaupten, dadurch daß man in diesen andern Größe hineinlegt, ja hineinlügt um seiner eigenen Existenz als Mensch willen (Lebenslüge). Jeder Mensch braucht im Lebenskampfe mindestens einen, an den er sich hält und dem er vertraut. Hieraus folgt die große vitale Bedeutung der Freundschaft, aber auch der Ehe, und erklärt sich die bei oberflächlichem Nachdenken und Urteilen oft rätselhaft erscheinende Tatsache, wie der oder jener zu dieser Frau bzw. sie zu diesem Manne kommen konnte, was er bloß an dieser Frau oder sie an diesem Manne haben kann. Ein großes Beispiel solcher Bindung zweier Ehegatten aneinander ist ja die Ehe Bismarcks, und die Bedeutung mancher Dichter- und Künstlerliebe wird so erhellt, auch die Bindung des frommen Herzens an seinen Gott, die einem Menschen in Perioden völliger Einsamkeit Lebensmut und Seelenstärke und Schaffenskraft gegeben hat. Es ist ein wunderbarer Beweis für die Wesensstärke des Menschen, daß er imstande ist, diesen andern im Jenseits, in einem Himmel oder wie immer zu erkennen und sich an ihn zu binden, so fest, daß zwischen beiden ein tragendes und über das Schwerste hinleitendes Wirbewußtsein entsteht.

Also beruht auf diesem Wirbewußtsein Glück und Zufriedenheit, Sicherheit und Mut. Und das Wirbewußtsein ist ein sehr starker Träger der Liebesgefühle aller Art zum andern in Freundschaft, Liebe, Hilfsbereitschaft, und sein Umfang ist ungeheuer verschieden: Mutter und Kind können diese „Wir“ bilden, zwei Freunde, Mann und Frau, die Verwandtschaft, die Berufsklasse, selbst alle Menschen. „Wir sind alle Menschen“, „wir sind alle sterblich, dem Zufall preisgegeben“, dieses Wirbewußtsein ist die Triebfeder mancher Hilfsaktion gewesen, und in der Gegenwart die Überlegung, „auch uns kann die Besetzung treffen“.

Diesem Wirbewußtsein entspricht das „Ihrbewußtsein“, und es ist unmöglich auszumachen, welches von beiden zuerst bewußt wird. Oft mag das Bewußtsein des Wir erst durch den zuvor empfundenen Gegensatz zum andern erwachen, ein Gegensatz, der keineswegs von Natur und von Anfang an oder immer ein feindseliger zu sein braucht. Wir Volksschüler – ihr Realschüler; wir Kanadier – ihr Europäer, dann meist getragen von Haß, Verachtung, Feindseligkeit; anders im Verhältnis: wir Kinder – ihr Eltern; wir Männer – ihr Frauen, hier kann das Ihrbewußtsein sich ebensogut mit Liebe und Hochachtung, Rücksicht und Schonung verbinden.

Aus dieser Betrachtung des Wirbewußtseins und des Ihrbewußtseins, die beide nicht weiter ableitbare, sondern unmittelbare Tatsachen sind, wird helleres Licht über die Zusammenballung veränderlicher Massen gebreitet. Der Straßenredner, der Verkäufer, das verunglückte Kind, sie alle erzeugen von sich aus mitten in einer bis dahin atomhaften Masse ein Wirbewußtsein; es entsteht damit eine Gemeinsamkeit der Überzeugung über dies oder jenes, das getan werden muß. Und da jedes Wirbewußtsein leicht als seinen Gegenpol ein Ihrbewußtsein erfaßt, so wird es möglich, gegen jene „Ihr“ Mitleid und Zuneigung, Verachtung und Haß bis zum Tode zu erregen. Im Zustande des Handelns in der fluktuierenden Masse ist zudem alles, was Antrieb zum Handeln wird, konkret, anschaulich, greifbar, zu sehen, zu hören. Daher die starke Arbeit der Gesten des Gesichts und der Hände, der Sprache, um eine Verlebendigung dessen zu erreichen, wozu aufgefordert wird. Der Verkäufer zeigt die Ware, er erprobt sie, zeigt derb anschaulich ihre unübertreffliche Güte. Nicht anders der Redner, der wirken will: er muß die Herzen der Zuhörer packen, wie es ganz richtig heißt, einen ans Herz greifen. Damit erklärt sich ferner die derbe Sprache aller Volkszeitungen und aller, die sich redend oder schreibend an Massen wenden. Und wo ein Unglück einen gemeinsamen seelischen Inhalt erzeugt und ein gemeinsames Handeln bewirkt, nun da ist es eben auch der konkret vor einem liegende Verunglückte oder der durch die Beschreibung oder die eigene Phantasie unmittelbar anschaulich vorgestellte Unglückliche, der in den meisten Fällen die Hilfstätigkeit verursacht. Nicht der Ruf „Feuer!“ erzeugt die Panik, nicht das Wort als solches, sondern die Summe der damit verbundenen Vorstellungen und weit mehr noch die züngelnde Flamme selbst, etwa am Bühnenrande eines Theaters. Wer keine Vorstellung von der Gefahr des Feuers hat, dem ergeht es wie jenem Kinde, das vor Entzücken in die Hände klatschte, als das Feuer in der Wohnung brannte, und weinte, als man es hinaustragen mußte. Selbst die sogenannte Roheit von Kindern und Schülern Tieren wie Kameraden gegenüber beruht ja oft nur darauf, daß sie kein Erlebnis von diesem andern haben, das mit ihm die Bildung eines Wirbewußtseins ermöglicht. Welch starkes Wirbewußtsein verbindet den Landmann mit seinen Tieren, überhaupt mit der Natur! Auf ihm beruht auch die Kraft der sog. „Nachbarschaft“.

Das Handeln realer Massen und seine Motivationen unterscheidet sich von dem fluktuierender vornehmlich dadurch, daß sich hier das Gemeinsame mehr und mehr in der Sphäre des Verstandes festsetzt, mithin durch eine lange Gedankenreihe von Gründen hindurchgehen kann. In den sozialen Formen der Gesellschaft wird es sodann zu einem fest gefügten, oft von langer Überlegung gelenkten Planen, das unter Abwägung des Für und Wider den zweckvollsten Weg für die Durchführung einzuschlagen versucht. In allen Gesellschaftsformen ist so recht auch das Herrschaftsgebiet der Ratio, des klugen und klügelnden, des rechnenden und berechnenden Verstandes. Die bestmöglichen Wege zum Handeln, den Antrieben zu genügen, werden abgewogen und schließlich die erprobten festgehalten, traditionell. Denn durch die Wiederholung wird jedes Handeln leichter und leichter und schließlich automatisiert. So wird das Gebiet der Gesellschaft zu einem Reich des Verstandes und des Mechanistischen. Massen fanden sich ja deswegen zusammen, um ein, in ihrem Wirbewußtsein, das sie einigte, als gemeinsam erkanntes nützliches und notwendiges Handeln auszuführen. So wurden die einzelnen Genossen, d. h. Genießer desselben Gutes, desselben Nutzens, und durch die Vergenossenschaftung erleichterten sie ihr Vorhaben. Ist dieses Vorhaben in sich abgenutzt, veraltet, so wird es zum alten Eisen geworfen, und die Genossenschaft löst sich auf, der Verfall in Atome, die Umschichtung beginnt. Was man in der realen Masse konventionell nennt, dem entspricht in der sozialen Form das Automatische, Mechanische.

Aber jeder Verfall führt eben doch zu einer neuen Zusammenfassung, und diese erfolgt durch ein neues Handeln. Woher dieses Neue?

Jenes ursprüngliche Erleben des andern, ja das Leben im andern, bedeutet keineswegs, wie nach Ansicht der Milieutheorie, ein Aufgehen des Menschen in seiner Umwelt. Der Mensch ist keineswegs schlechthin das Erzeugnis der Umstände. Das anzunehmen, wäre ebenso falsch wie die Annahme, der Mensch sei nichts anderes als ein Quell, der bis zum Versiegen aus sich selbst quillt, ein Bild, das ja auch nur flüchtig hingenommen richtig ist, wenn es die absolute Eigenständigkeit des Individuums bezeichnen soll; denn kein Quell fließt aus eigenem Besitz unerschöpflich, sondern bedarf steter unterirdischer Zufuhren, und so steht es mit dem Menschen. Es sind die Empfindungen, Gedanken, Gefühle und Strebungen der andern, die der Mensch als fremde Mittel aufnimmt, um aus seiner Kraft damit zu bauen und sie zu gestalten. Dieses Übernehmen, von fremden Gedanken etwa, ist keineswegs bloßes Übernehmen, vielmehr ruft das fremde Streben oder Fühlen und Denken unser Streben, Fühlen und Denken wach, ein gleiches oder ein widerstrebendes. Wir werden erst am andern unser selbst inne, leben nicht mit ihm, sondern leben an ihm erst auf. Und so ist der fremde Gedanke, das Fühlen und Denken des andern zunächst niemals in uns wie ein fremdes, sondern wie ein eigenes, und das kann immer nur heißen, wir haben es irgendwie nachgeschaffen. Der andere war für uns nur Anlaß und Anstoß, und so begann das Wachstum des Selbst, das stets das Wachstum eines Eigentümlichen, eines von allen anderen unterschiedenen Selbst ist.

Wir müssen es voll und ganz begreifen, daß fremdes Seelenleben vom Ursprung her unsere Seele nährt, daß wir auf Gemeinsamkeiten und aus Gemeinsamkeiten leben, und daß wir erst schöpferisch werden in dem Augenblick, wo das fremde Seelenleben auf uns einwirkt. Und da dies vom ersten Atemzuge an geschieht, so steht demnach jeder Mensch vom Ursprung her auf Gemeinschaft, und fragen wir, was im höchsten Sinne der Kern und das eigentliche Wesen der Gemeinschaft ist, so dies: „Die schöpferische Wirkung der Menschen aufeinander, jene Auferweckung, Bereicherung, Neuschöpfung, Anregung, die innerer Widerhall notwendig erzeugt“ (Spann). Damit ist zugleich ausgesagt, daß alle Gemeinschaft im Grunde eine geistige ist. Mag es sich um Geistiges in so niederen Regionen handeln, wie bei einem Straßenauflauf, es ist hier doch die Gemeinsamkeit einer „Überzeugung“, welche für den Augenblick vereint, mag es sich handeln um das Einende unter den höchsten sittlichen Ideen bei Freundschaft, Religion, Vaterland. Darum werden nun auch Gesellschaft und Gemeinschaft etwas wesenhaft Verschiedenes für uns: Gesellschaft ist in all ihren Formen auf ein Handeln eingestellt unter der Herrschaft des abwägenden Verstandes und besitzt den Trieb zum Mechanischen, Gemeinschaft ist allseitiges geistiges Verbundensein mit einwohnendem Naturtrieb zum stetigen Wachstum an Fähigkeiten und Kräften, ein unaufhörliches Zeugen und Erzeugen. Dort die Tendenz zum schließlichen Verfall, wenn sich der Zweck der Vergenossenschaftung abschwächt, hier der Mutterboden aller Zwecke überhaupt, auch derjenigen, die sich in sozialen Formen erfüllen, das ewig fruchtbare Erdreich des Geistes.

Wo nun Gemeinschaft erfaßt wird in diesem ihren Urgrunde und verstanden wird als Quellbereich aller schöpferischen Kraft, da wird sie zugleich selbst als Ziel des Lebens und Strebens begriffen, als eine dem Menschen gesetzte Aufgabe. Man will sie in ihrer Vollkommenheit, d.i. als Idee. Und wiewohl sie Anfang ist, das Prinzip des lebendigen Schaffens der Geister, in dem einzelnen wie in den sozialen Formen, so wird sie zugleich ans Ende der Reihe aller Handlungen gerückt und damit gesteigert zu einer Sehnsucht des einzelnen Strebenden wie ganzer Gruppen, den Gliedern im Reiche der Gemeinschaft. Aus etwas, das ist, wird sie zu etwas, das sein soll, zu einer Idee, einer letzten gedachten Einheit. Und als solche Idee erhebt sie sich zur Unabhängigkeit über alle Erfahrung, wird Richtung gebend, Ziel setzend für Erfahrung, erlangt konstitutiven samt regulativen Charakter. –

Unser Weg von der Analyse der Masse im gemeinhin soziologischen Verstande bis zur Erfassung der Idee der Gemeinschaft hat in allen Teilen darüber belehrt, daß in der „Masse“ in keinem Sinne rein materialistisch nur das Stumpfe, rein Sinnliche, das Dumpfe, Ungeistige und Chaotische gegeben ist. Solcher Zustand ist am stärksten möglich in einer sozialen Form, wenn sie ihrem Zwecke mechanisch bis zum Anklang von Stupidität entspricht und vor dem Verfall steht. Daß aber in dem, was wir die „fluktuierende Masse“ nannten, die geistige Gemeinsamkeit nur gering sein kann, das erklärt sich nun ungezwungen daraus, daß in ihr Angehörige verschiedenster realer Massen versammelt sind, die nur über geringe Flächen ihres gemeinsamen augenblicklichen Erlebens hin zu einer Gemeinsamkeit, einem Wirbewußtsein, kommen können. Jene Auffassung aber von der dumpfen ungeistigen Masse ist nur Kennzeichen einer Beurteilung von einem streng individualistischen Standpunkte aus, und dazu entsprungen jenem Aufklärungsstandpunkte, der die Masse mißt an einem Begriffe wie hohe Intelligenz, einem Begriffe von Geist, der so viel ist wie: großes Wissen, Bildung, Reichtum an Kenntnissen u. dgl. Allein wer kenntnisreich, wer hoch intelligent ist und das Wissen der Welt sein eigen nennt, kann dabei ein kleiner Geist sein. So ist jene Beurteilung der Masse eine unzulässige Rationalisierung des Geistigen. Zu solchem Urteil verleitete ein derbes Wirbewußtsein einer Klasse, Berufsschicht, politischen Partei, einer Gelehrtenzunft. Noch bei Paul Natorp12 begegnen wir dieser Anschauung, die Masse als Masse sei ungeistig. „Die Suggestion der Masse selbst, die Abschleifung der individuellen Unterschiede zugunsten der abstrakten Allgemeinheit ist es gerade, die den Geist totschlägt. Aber keineswegs müssen darum die Einzelnen vom Geist verlassen sein. Der Geist weht, wo er will, er weiß seine Träger gerade in der noch unberührten, unverbildeten Unterschicht zu finden. Der Funke des Geistes glimmt doch in allen. Daß er nicht in allen zur Flamme auflodert, liegt nicht bloß daran, daß ihm nicht die nötige Luftzufuhr von außen zuteil wird, so daß man hoffen dürfte, durch Mehrung und Stärkung der Zufuhr eine sonderlich erhöhte Geistigkeit breiter Volksmassen zu erzielen. Sondern darauf kommt alles an, daß das Eigenleben eines jeden in naturgewordener, selbst auf Eigengrund erwachsender Gemeinschaft sich so entfalten darf, daß die schlummernden Keime von selbst zum Leben aufwachen und das ihnen selbst gemäße Wachstum frei hervortreiben können.“

Dieser Abschnitt ist außerordentlich bezeichnend für die uralte Ansicht vom Verhältnis des Einzelnen und der Masse zum Geiste. Dieser wird nach einer Art Gastheorie vorgestellt als ein frei wehendes luftförmiges Etwas, das der Menschheit gegenüber durchaus selbständig ist, so frei und unabhängig wie der Wind. Und wie die Menschen einzeln die Anlage besitzen, von der Temperatur des Windes oder seiner Stärke eine Empfindung zu bilden, so eignet auch allen Menschen ein Funke des Geistes, eine Anlage zum Geistigen, die bei günstigem Anhauch des Allgeistes zum lodernden Feuer werden kann, und des Feuers Größe ist abhängig von der vorhandenen Anlage, dem Vorrat an Brennstoff. Es zündet aber stets nur im einzelnen; und bildet sich geistige Gemeinschaft, so geht sie vom einzelnen aus. Darum führt auch Natorp im anschließenden Abschnitt aus, wie der Einzelne zur Gemeinschaft stehe als ein Schenkender, Gebender, Mitteilender, wenn hier verlangt wird, daß jedes Individuum seine eigene freie Leistung betrachten solle, als Leistung, die der Gemeinschaft gehöre. Für uns aber ist das Verhältnis geradezu umgekehrt. Wir haben gesehen, daß der Einzelne der Empfangende ist, wenn er auch Träger der Offenbarungen und Gestalten des Geistes ist, daß er der Gemeinschaft bedarf, um überhaupt geistig aufleben zu können, daß Geist undenkbar ist ohne die reale Masse, welche die Form seiner Erscheinung, sein Träger, ist. Natorps Standpunkt ist trotz seiner Sozialpädagogik und seines Sozialidealismus individualistisch im Grunde. Und das beweist auch seine Charakterisierung der Masse im Sinne des Aufklärungsstandpunktes als ungeistig, vor allem aber als „unverbildete Unterschicht“, mag darin auch das Wohlwollen des „sozial empfindenden“ Menschen liegen und eine menschlich hohe und reine Gesinnung, wir müssen ja eben diesen Standpunkt ablehnen, weil er die Masse nimmt als Gegensatz zu einem Bildungsbegriff, der im Geistigen einseitig das Rationale betont, und von dem engen Gesichtspunkt einer Berufsgruppe aus urteilt, demnach Masse nur noch auffaßt in ihrer soziologischen Bedeutung, d. h. sie nimmt rein als eine der sozialen Formen, als ein Stück der Gesellschaft. Uns aber ist die „reale Masse“, im Vergleiche zu sprechen, das Molekel [= Molekül] der Gemeinschaft, der Einzelne dem Atom vergleichbar, das seine Vollgeltung erst im Verbande des Molekels empfängt. Die Krafteinheit ist die reale Masse oder die Gruppe und sie sind die, die Gemeinschaft bildenden Teile, die Erscheinungsformen des geistigen Seins, und als solche wieder erzeugen sie, um der Lebensnot willen, die sozialen Formen, nehmen sie in sich zurück und gestalten neue aus sich heraus; unter diesen mag auch eine soziale Form erscheinen, die soziologisch genommen als „unverbildete Unterschicht“, und dann ungenau als Masse bezeichnet wird, allein für das

Problem der Gemeinschaft darf dieser Begriff von Masse nicht zugrunde gelegt werden, weil er zu schiefen Urteilen verführt und vor allen Dingen weder die Eigengeistigkeit der Masse erfaßt noch erkennen hilft, wie überhaupt geistige Gemeinschaft sich gliedert und welches die Bedeutung der Gemeinschaftsgruppen für die Entstehung des geistigen Einzeldaseins ist.

Es ist vielmehr die reale Masse der Mutterschoß allen Geistigen, und es gibt keinen andern, auch nicht für den höchstintelligenten Einzelnen, der schließlich bis zur Vereinsamung unter seinen Mitmenschen wohnt. Denn überall und für jeden ist die Masse die Voraussetzung zur Selbstentfaltung des Geistigen im einzelnen, sei dieses Selbst ein noch so bescheidenes, gemessen an irgendwelchen Barometern intellektueller Kultur. Keine Neuschöpfung, keine Erneuerung der geistigen Menschheit ist ohne sie möglich.

Peter Petersen

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