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DIE KAISERFRAUEN
UND DIE MACHT IN ROM Vorwort

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Natürlich hatte auch Nero nur eine Mutter: Julia Agrippina, genannt Agrippina die Jüngere. Ihre Mutter hieß Vipsania Agrippina, genannt Agrippina die Ältere. Deren Mutter war Julia, das einzige Kind des Augustus. Um diese drei Frauen, also Neros Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, geht es in diesem Buch. Sie waren die weiblichen Protagonisten der julischclaudischen Dynastie, die Rom und sein Weltreich von 40 v. Chr. bis 68 n. Chr. beherrschte. Fünf Männer dieses Clans waren in diesen gut hundert Jahren princeps, wie sich die römischen Kaiser selbst nannten: Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero. Männer, die mit ihren Eroberungen und der Verbreitung von Recht und Zivilisation, aber auch mit Willkürherrschaft und Grausamkeit Geschichte schrieben. Weniger bekannt ist, dass sie die Frauen der Familie verfolgten, verbannten und vernichteten.

Mit der damnatio memoriae sorgten die Herrscher von Rom dafür, dass auch das Andenken ihrer weiblichen Verwandten getilgt wurde. Die Geschichtsschreibung hielt sich über Jahrhunderte daran, indem sie über Neros Mütter zumeist aus der Perspektive der Verfolger berichtete. So wurde aus Julia eine triebhafte Ehebrecherin, die ihr tugendhafter Vater Augustus verbannen musste, um die Ehre der Familie zu retten. Die ältere Agrippina geriet zu einer streitsüchtigen Nervensäge, die Kaiser Tiberius eliminieren ließ, weil sie sein Regime bedrohte. Die jüngere Agrippina schließlich gilt bis heute als eines der größten weiblichen Monster der Weltgeschichte, eine Lady Macbeth des Altertums. Ob Gattenmord oder Inzest mit Bruder und Sohn – ihr werden seit zweitausend Jahren die schlimmsten Verbrechen angehängt. Dass Nero seine Mutter ermorden ließ, macht sie aus diesem Blickwinkel noch lange nicht zum Opfer. Das Verbrechen wird im Gegenteil als extremer Befreiungsakt dargestellt, mit dem das Muttersöhnchen die dominante Agrippina loszuwerden suchte.

Als die Leichtlebige, das Mannweib und die Machtgierige avancierten Neros Mütter zu Archetypen negativer Weiblichkeit, die ihr trauriges Schicksal durch Fehlverhalten angeblich selbst heraufbeschworen und letztlich verdienten. So steht es schon in den antiken Quellen, die auch die Grundlage für dieses Buch bilden. Dabei kann man dort auch ganz andere Dinge lesen, die mindestens genauso interessant sind. Denn die Frauen der Augustus-Dynastie waren Töchter, Ehefrauen und Schwestern von Imperatoren. Sie lebten im Mittelpunkt eines Weltreichs, das sich von Nordafrika bis nach England erstreckte, von Spanien bis nach Syrien. Neros Mütter waren selbstbewusst und weltläufig, von klein auf gewöhnt, über den Rand ihrer silbernen Teller zu schauen und Griechisch wie Latein zu sprechen. Sie ritten über die Alpen und segelten auf dem Nil, empfingen Könige, kommandierten Heerscharen von Sklaven und sogar Soldaten. Während die Propaganda ihrer Männer sie als brave und züchtige Matronen und als tapfere Mütter verklärte, waren die Frauen der Dynastie in Wirklichkeit role models einer fortschreitenden Emanzipation zumindest innerhalb einer winzigen Elite der Oberschicht. Weibliche Einflussnahme war bereits im Römischen Reich hart erkämpft, unerwünscht, aber möglich, und sie wuchs in den Jahrzehnten zwischen Augustus und Nero stetig weiter. Mächtige Frauen waren den Römern nicht nur als Göttinnen, sondern auch als Herrscherinnen in anderen Kulturen bekannt. Wenn Augustus die ägyptische Königin Kleopatra bekämpfte, verbündete Claudius sich mit der britischen Stammesfürstin Cartimandua. Ihre eigenen Frauen durften offiziell kein Amt bekleiden, waren aber mehr oder weniger stille Teilhaberinnen der Macht.

So gewährte Augustus seiner Frau Livia und seiner Schwester Octavia die Privilegien von Volkstribunen und ließ sie über ihre riesigen Vermögen frei verfügen. Sein Urenkel Caligula ging noch viel weiter, er machte seine Schwestern zu Göttinnen und eine von ihnen zur Thronerbin. Kaiser Claudius stattete die jüngere Agrippina mit einem Wagen und einer germanischen Leibwache aus – und ließ sie, nur notdürftig hinter einem Vorhang versteckt, an Senatssitzungen teilnehmen. Die mächtigen Frauen der Dynastie kämpften so selbstverständlich wie die Männer für ihre eigenen Einflusssphären. Sie knüpften Seilschaften und machten Politik, für, oftmals aber auch gegen die jeweiligen Herrscher. Diese wehrten sich: Fast alle weiblichen Nachkommen des Augustus wurden in die Verbannung abgeschoben und so unschädlich gemacht. Als Gefängnisort für die Frauen der Dynastie diente eine kaiserliche Villa auf der abgelegenen Insel Ventotene zwischen Rom und Neapel. Viele Jahrhunderte später nahm sich der faschistische Diktator Benito Mussolini daran ein Beispiel. Der duce ließ politische Gefangene auf das kleine Eiland deportieren, unter ihnen Altiero Spinelli, den Verfasser des Manifests von Ventotene für ein vereintes Europa.

Die erste Verbannte von Ventotene war die Augustus-Tochter Julia (39 v. Chr.–14 n. Chr.), zuvor der strahlende Mittelpunkt des höfischen und kulturellen Lebens in der Metropole Rom. Nach drei Zwangsheiraten rebellierte Julia, inzwischen Mutter von fünf Kindern, gegen ihren Vater. Sie wagte es, seine Allmacht in Frage zu stellen, und beteiligte sich vielleicht sogar an einer Verschwörung. Daraufhin ließ Augustus Julia als Ehebrecherin verurteilen und abschieben. Einsam und krank starb sie, ohne Rom und ihre Familie wiedergesehen zu haben – und erlitt damit ein ähnliches Schicksal wie ihr Bekannter, der zunächst gefeierte und dann geächtete Hofpoet Ovid.

Julias Tochter Vipsania Agrippina (14 v. Chr.–33 n. Chr.) war Augustus’ Lieblingsenkelin. Ihre Heirat mit dem designierten Thronfolger Germanicus verhieß eine strahlende Zukunft. Dabei beschränkte sich die ältere Agrippina keineswegs auf eine passiv-repräsentative Prinzessinnenrolle. Im Feldlager am Rhein beruhigte sie an der Seite ihres Mannes meuternde Legionäre, sie erlebte, wie Germanicus in Griechenland Olympiasieger wurde und in Ägypten als Krisenmanager glänzte. Doch der plötzliche Tod ihres Gatten beendete auch ihr öffentliches Leben. Die Witwe Agrippina war nun den Verfolgungen von Kaiser Tiberius ausgesetzt. Als Staatsfeindin verbannt, starb sie auf Ventotene den Hungertod.

Die jüngere Agrippina (15–59 n. Chr.) schaffte es, dieser Insel zu entkommen, auf die sie ihr Bruder Caligula als Verräterin verbannt hatte. Ihr Onkel Claudius befreite sie, kaum dass er die Nachfolge von Caligula angetreten hatte. Später heiratete Claudius Agrippina und machte sie zu seiner Mitregentin, die Truppenparaden abnahm, Außenpolitik betrieb und die Staatsfinanzen kontrollierte. Er verpasste ihr den kaiserlichen Titel »Augusta« und benannte ihren Geburtsort nach ihr: Colonia Agrippina – Köln. Agrippinas Macht schien unbegrenzt, als nach Claudius’ Tod ihr Sohn Nero neuer Kaiser wurde. Doch nach wenigen Monaten stellte Nero gemeinsam mit seinem Berater Seneca die Mutter kalt. Ebenfalls unter Senecas Mitwirkung ließ er sie später ermorden. Die jüngere Agrippina musste sterben, weil sie den Kaiser und seinen als Philosophen weithin gerühmten Berater öffentlich kritisierte und über genügend Mittel verfügte, um eine Revolte anzuzetteln. Geschickt interpretierte Seneca den Muttermord als Notwehr – eine Version, die bis in unsere Zeit übernommen wird, ebenso wie die Behauptung, Agrippina habe Claudius mit einem Pilzgericht vergiftet.

Während die Lebensweisheit des Stoikers Seneca gerade wieder eine Renaissance erlebt und die Biographien lang verteufelter Herrscher wie Caligula und Nero Rehabilitierung oder zumindest nüchterne Neueinschätzung erfahren, hält die Verdammung der jüngeren Agrippina an, und es reicht für Julia und die ältere Agrippina weiterhin nur zur Fußnote. Eine weitreichende »Entmystifizierung«, wie sie beispielsweise für Augustus längst erfolgt, steht für die Frauen der Dynastie noch aus. Sie werden noch immer nicht als politische Akteurinnen wahrgenommen, in einer offenkundigen Verwechslung ideologischer Rollenvorgaben mit der historischen Realität.

Tatsächlich sind diese Geschlechterrollen über die Jahrtausende tradiert worden und uns deshalb seltsam vertraut. Zurückhaltung, Verzicht und Bescheidenheit waren weibliche Tugenden, die im Kaiserreich eine große Rolle für die Legitimation von Herrschaft spielten, weil sie in die untergegangene Epoche der Republik wiesen. Später wurden sie von der römischkatholischen Kirche übernommen, um neue Hierarchien zu rechtfertigten und Jenseitsverheißungen zu nähren. Die Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts stellte sie weitestgehend nicht in Frage – dabei hat kein Geringerer als Theodor Mommsen die Mitregentschaft von Livia und der jüngeren Agrippina nachgewiesen. Die meisten Althistoriker müssen sich jedoch in abgewandelter Form die alte Brecht-Frage des lesenden Arbeiters gefallen lassen: »Augustus erbaute Rom neu. Hatte er nicht wenigstens eine Frau dabei?« Tatsächlich waren es zwei, seine Gattin und seine Schwester, die den Herrscher nach Kräften unterstützten, Bauwerke finanzierten und Baustellen beaufsichtigten.

Das wurde jedoch in Jahrhunderten, da so viel weibliches Engagement, so viel ökonomische Eigenständigkeit von Frauen undenkbar waren, geflissentlich übersehen. Frauen wie die ältere und die jüngere Agrippina, die sich offensiv in politische Entscheidungen einmischten und nicht davor zurückschreckten, Soldaten Befehle zu erteilen, waren nicht nur den alten Römern, sondern auch so manchem modernen Historiker ein Graus. Man wollte dann lieber nicht erörtern, dass die römischen Kaiserfrauen in vielerlei Hinsicht nicht nur emanzipierter waren als die Königinnen des Mittelalters, sondern auch als die First Ladies des Nachkriegs-Westens.

Wichtige Beiträge zu einer zeitgemäßen Geschichtsschreibung über die Nero-Mütter leistete in den vergangenen Jahrzehnten immerhin die angloamerikanische Forschung. Als Standardwerke gelten die Julia-Biographie (2006) von Elaine Fantham und die Biographie der jüngeren Agrippina (1996) von Anthony A. Barrett.

Darüber hinaus finden kritische Auseinandersetzung und Hinterfragung der Quellen besonders umfänglich in Italien statt. Die Rechtshistorikerin Eva Cantarella befasst sich seit Jahrzehnten mit Mythos und (juristischer) Realität von Frauen in der Antike. Die Althistorikerin Francesca Cenerini thematisiert, ausgehend von ihrer umfassenden Monographie über Frauen im alten Rom (2002), immer wieder die Möglichkeiten weiblicher Machtausübung. Vielbeachtete und thesenstarke Biographien über Julia (2012) und die ältere Agrippina (2015) veröffentlichte der Altphilologe Lorenzo Braccesi, während die Althistorikerin Alessandra Valentini insbesondere die machtpolitischen Ambitionen der älteren Agrippina untersuchte (2019).

Die antike Überlieferung steht auf drei tragenden Säulen: Tacitus, Sueton und Cassius Dio. Alle drei Chronisten sind Nachgeborene, betrachten also die Geschehnisse einerseits aus einer gewissen Distanz und andererseits aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Zeit. Tacitus (58–120 n. Chr.), einer der bedeutendsten Redner und Schriftsteller seiner Zeit, erlebte die fünf Kaiser Vespasian, Titus, Domitian, Trajan und Hadrian. Seine Schriften sind das Resultat fleißiger Archivrecherche und großer Gelehrtheit, doch dem eigenen Wahlspruch »Sine ira et studio« (ohne Wut und Parteinahme) ist Tacitus nicht immer gerecht geworden. Als stolzer Senator und überzeugter Republikaner bewertete der Geschichtsschreiber die Herrscher der Vergangenheit nach ihrem Umgang mit republikanischen Institutionen, insbesondere dem Senat. Entsprechend negativ ist das Bild, das er von Tiberius, Caligula, Claudius und Nero übermittelt. In Tacitus’ Augen war der Untergang der Republik mit einem allgemeinen Sittenverfall einhergegangen, für den die »Machtgier« der Kaiserfrauen ein ebenso untrügliches Anzeichen bildete wie die Willkürherrschaft ihrer Männer.

Cassius Dio (163–229 n. Chr.) war unter den Kaisern Commodus, Septimius Severus und Severus Alexander ebenfalls Senator und brachte es sogar zum Konsul, was ihm Zugriff auf Archive und offizielle Dokumente verschaffte. Wie Tacitus gilt er als Vertreter der senatorischen Geschichtsschreibung, doch erlaubte er sich in weitaus größerem Maßstab eine fiktionale Darstellung, etwa mit erfundenen oder zumindest stark ausgeschmückten Reden.

Auch bei Sueton (70–130 n. Chr.), dem unerreichten Meister der phantasievollen Anekdote und des Sex-and-Crime-Klatschs, weiß man nie so genau, was wahr ist oder erfunden. Sueton war kein Senator, sondern als Archivar der beiden Kaiser Trajan und Hadrian ein hoher Beamter. Unter Hadrian stieg er zum Kanzleichef auf, schrieb also etwa im Namen des Kaisers Briefe. Seine Position war nicht nur extrem einflussreich, sie verschaffte auch Zugang zu privaten Nachlässen früherer Regenten. Sueton verdanken wir die Überlieferung von Briefen des Augustus an seine Familienangehörigen, aber auch plastische Anekdoten, die den Tratsch der römischen Gesellschaft über die Kaiser und deren Frauen widerspiegeln. Seine Darstellung ist dabei erfrischend unideologisch. Sueton ging es in erster Linie um die Qualität der Geschichte, die er erzählt. Er ist zweifellos der Journalist unter den antiken Chronisten.

Zu diesen großen Drei gesellen sich viele andere, von denen hier nur die wichtigsten erwähnt sein sollen. Augustus selbst hat mit Res gestae einen Rechenschaftsbericht über seine Herrschaft verfasst – Frauen erwähnt er dabei mit keinem Wort. Velleius Paterculus (19. v.–31. n. Chr.) war Teilnehmer der Feldzüge von Tiberius und ein glühender Anhänger dieses Kaisers. Ganz anders Flavius Josephus (37–100 n. Chr.), der als jüdischer Chronist Roms Herrscherhaus mitsamt seinen Frauen aus der Distanz bewertet. Der große Naturforscher Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.) beschreibt in seinem Hauptwerk Naturalis historia römische Weltsicht und Wissenschaft, aber auch so manchen gesellschaftlichen Spleen. Sein Neffe, der jüngere Plinius (um 61–um 113 n. Chr.), vermittelt in Briefen, wie die Oberschicht dachte und lebte. Und die Dichter, allen voran Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.), überliefern jene archaischen Mythen, die das Fundament für die römische Kultur bilden, aber auch die raffinierte Lebensart der Kaiserzeit und die Rolle der Frauen jenseits aller strikten Vorgaben.

So verschafft uns die Vielzahl der Quellen einen sehr lebendigen Eindruck des Frauenlebens in der frühen Kaiserzeit. Nur die Protagonistinnen selbst kommen nicht zu Wort, von ihnen überdauerten keine Schriften und keine Akten. Dabei hat zumindest eine von ihnen ihre Sicht der Dinge aufgeschrieben: Tacitus erwähnt als eine der Grundlagen für seine Annalen ein inzwischen verschollenes Tagebuch der jüngeren Agrippina. Welchen Zeitraum diese Aufzeichnungen umfassten und inwieweit er selbst auf sie zurückgreifen konnte oder Sekundärquellen konsultieren musste, teilt er leider nicht mit. Dem älteren Plinius scheint das Original vorgelegen zu haben, denn er gibt Agrippina als Quelle an, indem er sie unter die von ihm studierten Schriftsteller listet. Agrippina hatte ihre Memoiren also veröffentlicht, was beweist, dass sie sich selbst als historische Akteurin begriff und die Oberhoheit über ihre Lebensgeschichte haben wollte. Leider hat sich dieser Wunsch nicht erfüllt.

Das alte Rom war nicht nur eine Welt der Männer. Wer die Spuren der Frauen sucht, wird sie ohne große Mühe finden. Und entdecken, dass die Wurzeln weiblicher Selbstbestimmung weit zurückreichen in die Anfänge Europas.

Neros Mütter

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