Читать книгу Was wir erben - Björn Bicker - Страница 4
ОглавлениеAuf dem Foto sieht man den Vater als sechsunddreißigjährigen Mann an der Seite einer blonden Frau, die ein buntes, eng geschnittenes Sommerkleid trägt. Sie legt ihren Arm um seine Hüfte, er schaut seitlich zu Boden. Sie posiert. Hinter der Scheibe ein paar kostümierte Hostessen. Das Gesicht des Vaters im Profil, ein dunkler Schatten schneidet den Kopf in zwei Hälften. Der Körperhaltung nach passt ihm die Situation nicht, aber das kann täuschen. Er trägt eine braune Anzughose mit Schlag und eines von seinen weißen, kurzärmeligen Sommerhemden. Dazu einen braunen Kunstledergürtel. Die Füße sind abgeschnitten. Wahrscheinlich hat er Sandalen und Socken an. Die beiden stehen neben dem Eingang der Olympiaschwimmhalle. Rechts das himmelblaue Piktogramm mit den zwei weißen Figuren beim Startsprung. Wenn man die Geschichte kennt, erahnt man bei Deiner Mutter einen kleinen Bauch unter dem knalligen Paisley. Auf der Rückseite der Originalfotografie hat Deine Mutter Ort, Datum und Anlass vermerkt. Du hast ihre Notizen kopiert. Fein säuberlich hast Du mit Kugelschreiber hinten auf dieses dünne Blatt Papier geschrieben: München, 29. August 1972. Entscheidung 200 M K.
Ich bin im selben Jahr am 28. Dezember auf die Welt gekommen.
Vier Monate vor meiner Geburt stand der Vater auf dem Gelände der Olympischen Sommerspiele 1972 und hat sich mit Deiner Mutter fotografieren lassen.
Als diese Aufnahme gemacht wurde, war meine Mutter im fünften Monat schwanger. Mit mir.
Er hat es gehasst, fotografiert zu werden.
Der Alphaville-Forever-Young-Klingelton, den Holger ein paar Tage vorher auf unserem neuen Telefon programmiert hatte, hat Dich angekündigt, mittags, an einem ganz normalen Dienstag, und ich habe gedacht: Bestimmt wieder so eine Umfrage für irgendeinen Marktforschungsscheiß. Ich habe den Hörer abgenommen, obwohl ich wusste, keiner von meinen Leuten ruft mich um diese Uhrzeit an. Deine ruhige Stimme, der amerikanische Akzent. Legen Sie bitte nicht auf, hast Du gesagt. Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen. Und ich habe gedacht, klar, Lotterie, Umfrage, was weiß ich, und ich habe Luft geholt und in meinen tiefen Atmer hinein hast Du gesagt: Ich glaube, ich bin Ihr Bruder. Wie bitte? Mein Bruder? Und dann hast Du es mir ganz langsam erklärt. Dass Deine Mutter gestorben sei. Dass sie Dir in einem Brief offenbart habe, wer Dein leiblicher Vater war. Dass Du erst nichts davon wissen wolltest, dass Du dann aber doch Nachforschungen angestellt hättest und dabei auf mich gestoßen seist. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass sich Dein Anruf als besonders raffinierter Marketinggag entpuppen würde. Oder als Trickbetrug. Jetzt gleich, habe ich gehofft, wird er anfangen von Geldproblemen und Verwandtschaft und Notlage zu reden, und dann hole ich aus zum Gegenschlag. Aber ich habe mich getäuscht. Haarklein hast Du mir erklärt, wie Du bei Deiner Recherche vorgegangen bist. Dass Du erst zum Hörer gegriffen hast, als Du Dir ganz sicher warst. Die muss es sein. Ich bin schon in der Stadt, hast Du gesagt. Am nächsten Tag haben wir uns getroffen.
Du hast gesagt, dass Du wieder zurück musst. Nach Amerika. Weil Deine Familie auf Dich warte. Der Job. Als ich Dich gefragt habe, was Du beruflich machst, hast Du etwas verlegen gelacht. Uni, Werbung, habe ich angefangen zu raten, nein, nein, bist Du mir ins Wort gefallen, ich bin Lehrer. Biologie, Chemie. Eigentlich hättest Du Forscher werden wollen, Arzneimittel, irgend so was, aber dazu habe Dir die Ausdauer gefehlt. Und dann hast Du gelacht. Und es sah aus, als hätte der Vater gelacht.
Ich habe Dir einen Abriss von seinem Leben gegeben. Die Kindheit. Der Krieg. Die Enteignung der Familie. Die Flucht in den Westen. Das abgebrochene Studium. Der Einritt in die neu gegründete Bundeswehr, um Frau und Kind zu versorgen. Die Trinkerei. Die Versetzung aufs Land. Die Abstinenz. Die Politik. Die Kirche. Der Tod. Ich habe Dir zu verstehen gegeben, dass es nicht leicht war mit dem Vater. Aber nicht so tragisch, Zeit heilt Wunden, habe ich abgewiegelt. Ich habe so getan, als ob mich Deine Geschichte nicht sonderlich bewegen würde. Der Vater hatte andauernd irgendwelche Affären, habe ich gesagt. Es würde mich nicht wundern, wenn da draußen noch mehr von Deiner Sorte rumliefen. Ich hatte Mühe, meine Tränen zu unterdrücken.
Ich habe Dich angelogen. Der Vater war kein Typ für Affären.
Wir sitzen uns in diesem Café gegenüber. Ich beobachte Dich. Wie Du sprichst. Wie Deine Hände aussehen. Ich vergleiche Dich. Mit mir. Mit ihm. Die Stimme, die Haare, aber ich kann nichts erkennen. Dein Hals ist kurz. Seiner war lang. Mein Hals.
Und dann sage ich: Wenn ich Dich einfach so getroffen hätte, auf einer Party oder im Theater, dann wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, dass Du mit mir verwandt sein könntest. Du lächelst verlegen. Du versuchst, Deine Hände vor mir zu verbergen. Ich höre meine Stimme: Eine Affäre. Weiter nichts. Das sieht ihm ähnlich. Deine Augen werden feucht.
Ehrlich gesagt, das Foto spricht eine andere Sprache. Das sieht nach Doppelleben aus, nach Liebe, nach großem Kino. Du bist einen Monat jünger als ich, das heißt, vier Wochen nach meiner Zeugung hat mein Vater mit Deiner Mutter Sex gehabt. Mit dieser forschen, gut aussehenden Frau auf dem Foto. Ihre Beine sind nach außen gespannt, leichtes O, aber die Füße sind abgeschnitten, wie beim Vater, man sieht die Schuhe nicht, der Rock ist kurz, die Beine sind stramm, ihre Oberarme kräftig, gebräunt. Eine Haarlocke fällt ihr ins Gesicht, ihr Mund ist links etwas nach oben verzogen, wahrscheinlich, weil sie die Locke aus dem Auge blasen will. Das sieht frech aus, selbstbewusst, überhaupt kommt mir diese Frau auf dem Foto so vor, als wüsste sie ziemlich genau, was sie will. Aber was sagt schon ein Foto.
Du streichst Dir die Tränen mit den Fingern von der Wange. Du schaust mich lächelnd an. Entschuldigst Dich für die Tränen. Meine kehlige Stimme: Warum hast Du nie richtig nachgefragt? Hast Du nie den Drang verspürt, nach ihm zu suchen? Nein, sagst Du. Ich war ja glücklich. Und wo hat sie all die Jahre dieses Foto versteckt? Musste sie nicht Angst haben, dass Du das Bild entdeckst? Was wäre eigentlich, wenn Deine Mutter ihre Wahrheit mit ins Grab genommen hätte? Wenn das Foto nie aufgetaucht wäre? Wenn Deine Mutter das Stückchen Papier in den Müll geworfen hätte? Das Bild wäre wahrscheinlich im Verbrennungsofen irgendeiner amerikanischen Halde gelandet, es wäre als kleiner Teil einer giftigen Wolke in den Himmel gestiegen und die Wahrheit über den Vater und Deine Mutter wäre als saurer Regen auf die Erde getropft. Deine Mutter hätte ein paar Tränen verdrückt, und Dein Leben würde genauso weitergehen wie vorher.
Es geht nicht nur um den Vater. Es geht auch um Deine Mutter.
Erzählst du mir mehr von ihm, fragst Du mich, wir könnten skypen, mailen, alles Mögliche. Ich weiß nicht, sage ich. Lass mir Zeit. Ein paar Wochen vielleicht. Bei mir ist gerade viel los.
Wir verabschieden uns, ohne uns anzufassen.
Kein Händedruck, nichts.
Als ich nach unserem Treffen wieder zu Hause war, wusste ich nichts mit mir anzufangen. Ich bin ziellos durch die Wohnung getigert, von Raum zu Raum und an keinem Punkt der Wohnung hat es mich länger als ein paar Sekunden gehalten. Der Fernseher hat sein farbiges Gift versprüht. Die Augen taten weh. Das Sofa hat gebrannt unter meinem Hintern. Der Küchenboden stand unter Strom. Ich habe mit den Fingern in den Haaren gedreht, bis sie sich angefühlt haben wie Stroh. Ich habe das Radio eingeschaltet, um es ein paar Takte später wieder auszuschalten. Ich habe den Hörer der Gegensprechanlage aus der Wandhalterung genommen, kurz dem Rauschen der Straße gelauscht, ein paar Schritte, ein Auto, vorbei laufende Partyleute, ich habe den Hörer wieder eingehängt.
An Schlaf war nicht zu denken. Ich habe mich hin- und hergewälzt. Ab und zu bin ich weggedämmert. Am frühen Morgen, um kurz vor sieben, ist Holger nach Hause gekommen. Ich habe mich zu ihm in die Küche gesetzt. Wir haben Kaffee getrunken. Stumm. Das machen wir jedes Mal, wenn er von seinem Nachtdienst in der Klinik nach Hause kommt. Eine viertel Stunde sitzen wir zusammen. Der Kühlschrank brummt. Der Kaffee duftet. Und dann steht er auf, gibt mir einen Kuss, geht ins Bad, putzt sich die Zähne und legt sich hin. Ich hole dann die Zeitung von draußen. Neues vom Tag.
Ich habe unser Treffen nicht erwähnt.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Der Nachbar verstaut seine Kinder im Auto. Gegenüber hängt eine alte Frau ihr Bettzeug zum Lüften über die Fensterbank. Ab und zu fährt ein Wagen los. Aus der Ferne die Feuerwehr. Die Sirene verschwindet wieder. Der Unfall, der den anderen passiert. Holger schläft.
Gleich muss ich zur Probe. Letzte Woche ist es wieder losgegangen. Ich habe zwei Monate nach meiner letzten Premiere frei gehabt. Das heißt: nur Vorstellungen am Abend. Und jetzt wieder Probebühne. Jeden Tag. Morgens und Abends. Außer, es gibt eine Vorstellung zu spielen. Drei-, viermal die Woche. Am Nachmittag ein paar Stunden frei. Zwischen drei und sieben. Zwei Wochen noch und dann sind Theaterferien. Wir haben einmal im Jahr Urlaub. Sechs Wochen lang. Im Sommer.
Ich starre auf das Foto. Ich trage es durch die Wohnung wie eine Monstranz. Ich versuche, irgendetwas zu erkennen, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der mich weiterbringen könnte. Ein stinknormales Paar, denkt man. Ich kenne das Schwimmbad. Ich kenne das Olympiagelände. Ich kenne München. Ich lebe hier, seit Jahren. Bisher hatte die Stadt nichts mit dem Vater zu tun. Die Stadt war vaterfrei.
Du hast erzählt, dass Deine Mutter eine fröhliche Frau gewesen sei. Dass sie einen Arzt geheiratet habe, als Du fünf warst. Dass sie noch zwei Kinder bekommen habe, Deine beiden Schwestern, und dann habe sie ihren Job als Krankenschwester an den Nagel gehängt. Sie sei jeden Tag schwimmen gegangen, ihr Leben lang, hast Du gesagt. Und dann diese Diagnose. Darmkrebs. Dein Ziehvater sei viel älter gewesen. Er sei schon vor zehn Jahren gestorben. Hat er von den beiden gewusst?
Du willst wissen, was für ein Mensch Dein Vater war. Wenn ich das wüsste. Ich kann keine Schublade öffnen, keine Festplatte aktivieren und das, was war, einfach herausziehen oder hochladen. Alles, was ich Dir bieten kann, sind meine durchlöcherten Erinnerungen.
Und dann ist da noch dieses Hörensagen, das die sechsunddreißig Jahre vor meiner Geburt betrifft.
Und die Jahre nach seinem Tod. Die gehören auch zum Vater.
Der Vater ist tot und die Vergangenheit ist ein Popanz.
Popanz ist ein altmodisches Wort, das ich schon lange nicht mehr benutzt habe. Popanz hat der Vater immer gesagt, wenn er sich von jemandem gekränkt fühlte, wenn ihm jemand zu nahe kam, wenn er sich vor jemandem schämte, dann hat er ihn als Popanz beschimpft. Menschen, die in seinen Augen von anderen Menschen abhängig und beeinflussbar waren, die aber dauernd versuchten, den Eindruck von Macht und Selbstbestimmtheit zu erwecken. Menschen, die ihm Angst machten. Einmal, ich war noch ganz klein, sechs oder sieben Jahre alt, da kam er nachts besoffen nach Hause und es dauerte nicht lange, bis sich ein Streit zwischen ihm und der Mutter entzündet hatte. Der Vater hat rumgeschrien. Das ist ein Popanz, hat er krakeelt. Was willst du von diesem Popanz! Zu diesem Popanz zu gehen. Das ist unwürdig. Ich lag im Bett. Den Kopf längst unter der Decke versteckt, ich schwitzte. Der Zorn glühte und schlug Funken. Ich hörte immer wieder dieses Wort. Popanz. Popanz. Immer wieder, immer lauter, bis die Türen knallten und die Mutter sich schluchzend im Badezimmer einschließen musste. Ruhe war erst, als der Vater im Wohnzimmer auf seinem Sessel eingeschlafen war. Morgens bin ich als Erste aufgestanden und da saß er noch in seinem Sessel, der Fernseher lief, sein Kopf zur Seite abgeknickt. Speichelfäden hingen aus dem Mund auf seine Schulter. Es roch nach verbranntem Holz. Und Schweiß. Und Alkohol. Ich legte mich vor ihn auf den Teppich. Wie ein Hund, der sein schlafendes Herrchen bewacht. Bis die Mutter kam, mich verscheuchte und den Vater aufweckte.
Erst viel später habe ich von der Mutter erfahren, dass er mit Popanz einen Therapeuten meinte, den sie eine Zeit lang wegen seiner Trinkerei konsultiert hatte. Weil sie ratlos war, sich nicht mehr zu helfen wusste. Als kleines Mädchen trug ich diesen Popanz immer bei mir. Popanz war mein Ungeheuer, mein Gespenst. Der Popanz machte mir alles streitig, was ich hatte. Wenn die Mutter wegging, ohne mich, eine Erledigung machen, einen raschen Einkauf, dann fürchtete ich, dass sie wieder diesen Popanz treffen würde. Das Gespenst namens Popanz saß in meinem Kopf. Es sitzt da immer noch.
Aber das Wort Popanz hatte ich längst aus meinem Wortschatz gekickt. Bis eben. Mit dem Wort steigt die Unruhe wieder auf. In mir brodelt es, mein Fleisch, meine Haut, die halten die Lava in Schach. Ein altmodisches Bild, das hinkt, so wie alle Vergleiche hinken. Ich weiß. Halber Bruder. Ich spreche das Wort aus, laut, immer wieder: Popanz. Die Vergangenheit hinterlässt dabei ihren rauchigen Geschmack auf meiner Zunge.
Ich weiß nicht, ob Du diesen Brief jemals lesen wirst.
Ich habe gestern die Abendprobe abgesagt, weil ich Holger von Dir erzählen wollte. Ich wusste, dass er nichts vorhatte. Meistens ist er verplant. Er hat keine Lust, die Abende alleine zu verbringen. Er geht zum Sport. Ins Kino. Manchmal mit Freunden zum Essen. Ich habe der Regieassistentin gesagt, dass ich mich krank fühle und Schonung brauche. Und bevor ich richtig flachliege, habe ich sie beruhigt, bleibe ich heute Abend zu Hause. Die Assistentin hat die Schnute verzogen, aber mein schlecht gelaunter Blick, kurz davor, ins Ungehaltene abzugleiten, hat sie sofort einlenken lassen. Du hast ja einen Arzt zu Hause, hat sie beschwichtigt.
Am Theater ist Krankheit ein Problem. Die knappen Probenzeiten. Vorstellungen, die ausfallen könnten.
Ich habe Holger aus der Garderobe angerufen. Und ohne vorher nachzudenken, habe ich losgequatscht. Holger, wir müssen reden, es ist etwas passiert, das du unbedingt wissen musst. Stille am anderen Ende der Leitung. Nein, nein, nichts Schlimmes, habe ich gleich hinterhergeschoben, damit er sich keine Sorgen machen musste. Das hält er nicht aus, wenn er Dienst hat. Nicht solche Anrufe, hat er mich ganz am Anfang unserer Freundschaft gebeten, nachdem ich ihm am Telefon wegen einer versäumten Verabredung eine Riesenszene gemacht hatte. Ich kann mir solche Sorgen in der Klinik nicht erlauben, hat er mir damals erklärt. Es gehe da nicht um ihn, sondern um die Patienten. Und denen gehöre seine ganze Aufmerksamkeit.
In Ordnung, hat er gesagt, ich bin um acht zu Hause.
Ich habe gekocht, Kartoffeln und Forelle, habe Wein auf den Tisch gestellt, Kerzen angezündet und Holger ist nach Hause gekommen und hat die Küche betreten und hat gelächelt und dann hat er mich in den Arm genommen. Er hat mich ganz fest an sich gedrückt. Er hat nach Desinfektionsmittel und Zigaretten gerochen. Muss ich aufhören zu rauchen, hat er mich leise gefragt. Ich habe gar nicht verstanden, was er gemeint hat. Nein, habe ich gesagt, bloß nicht, dann hast du ja überhaupt kein Laster mehr. Aber, wenn du schwanger bist und wir ein Kind kriegen, ist es doch besser, ich höre auf. Nein, nein, habe ich gerufen, ich bin nicht schwanger, ach so, du hast gedacht, ich mach das hier alles, weil ich dir sagen wollte, dass wir ein Kind kriegen, nein, bitte, entschuldige, daran habe ich gar nicht gedacht, es geht um etwas ganz anderes. Holger hat mich von sich weggeschoben und seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Soweit ich weiß, hat das mit Daran-Denken nicht viel zu tun, hat er gesagt und sich an den gedeckten Tisch gesetzt. Er sah traurig und enttäuscht aus. Er wünscht sich so sehr ein Kind. Wir haben es eine Zeit lang darauf angelegt, aber es hat nicht geklappt und dann haben wir entschieden, nicht mehr daran zu denken, vielleicht funktioniert es ja dann. Holger fing an, den Korkenzieher in den Hals der Weinflasche zu drehen. Hätte ja sein können, hat er gelacht. Holger lacht immer so bizarr, wenn es ernst wird. Und ohne den Kopf zu heben, hat er in das fette Ploppen des Korkens hinein gefragt: Was ist es denn dann?
Ich habe ihm von unserem Treffen erzählt.
Während ich sprach, hat er sich mit beiden Händen an seinem Weinglas festgehalten, wie an einem Glühwein, den man draußen trinkt, wenn es eiskalt ist. Wissend, dass einem danach noch kälter wird. Seine Augen waren klein, müde, wie nach einer großen Anstrengung, nach einem langen Tag im Freien. Er hat mich angeschaut, als wollte er sagen: Jetzt weißt du endlich, was Dir die ganze Zeit gefehlt hat. Als sei ihm soeben bestätigt worden, dass seine Diagnose, die er niemals vor den Kollegen auszusprechen gewagt hätte, die zutreffende gewesen sei. Kein Triumph, aber Genugtuung. Er sah mich an und blieb stumm. Also habe ich geredet: Ich weiß überhaupt nicht, ob das stimmt, was der Typ behauptet. Er sagt zwar, dass er mein Bruder ist, aber es ist nichts bewiesen, gar nichts.
Ja, ich habe Dich Typ genannt, ich wollte Holger gegenüber nicht zeigen, wie nah Du mir schon bist, nach so kurzer Zeit. Ich habe so getan, als sei ich noch im Modus des Überprüfens, als gäbe es für mich noch Zweifel an Deiner Glaubwürdigkeit.
Und dann hat Holger gesagt: Macht doch einfach einen Test. Er wollte mir helfen, er hat tatsächlich geglaubt, der Zweifel würde mich umtreiben. Pass auf, habe ich gesagt, ich brauche diese Art Beweise nicht. Ich glaube an das, was ich sehe, was ich fühle. Genauso wenig wie ich irgendeine künstliche Befruchtung brauche, um schwanger zu werden, genauso wenig brauche ich einen Gentest, um zu glauben, dass das mein Bruder ist. Wenn überhaupt, dann Halbbruder, hat Holger gespielt unbeteiligt vor sich hin gemurmelt, aber egal – ihr seid aus einem Fleisch und Blut. Ihr seid Verwandte. Dagegen könnt ihr nichts machen. Das hat Holger gesagt. Und ich habe gesagt: Ich bin mehr als mein Blut. Ich bin ein Mensch mit einer Geschichte. Entscheidend ist doch: Wer hat mich als Kind ins Bett gebracht, wer hat mich zum Schwimmen lernen ins Wasser geworfen, mit wem habe ich das erste Mal geschlafen, wer waren meine Lehrer, wer hat mich schlecht behandelt, wer nicht. Wir sind nur miteinander verwandt, wenn wir das wollen, nur dann. Ich habe versucht, gegen die Biologie anzureden.
Also glaubst Du ihm doch, hat Holger gefragt. Ja, ich glaube ihm. Es gibt keinen Zweifel. Und dann habe ich das Foto, wie ein Full House beim Poker, vor ihm auf den Tisch gelegt. Und Holger: Die stehen vor dem Olympiabad. Vor unserem Olympiabad.
Später am Abend hat Holger von Zwillingsforschung angefangen. Von telepathischen Beziehungen. Er hat von Leuten gesprochen, die nach der Geburt getrennt wurden und dreißig Jahre lang nichts voneinander gewusst haben. Wie unvollständig sich diese Leute all die Jahre gefühlt haben. Dass es bei allen diese Ahnung gegeben habe, dass da noch jemand sei. Die unfreiwillige Ähnlichkeit: Die gleichen Lieblingsspeisen, derselbe Sport, ihre Ehepartner trügen dieselben Namen, bei einem Paar habe man sogar festgestellt, dass sie über Jahre denselben Urlaubsort besucht hätten, allerdings jeder von beiden zu einer anderen Jahreszeit. Sonst wären sie sich wahrscheinlich schon früher begegnet, hätten einen lustigen Abend in einem Strandrestaurant miteinander verbracht, hätten die Adressen ausgetauscht und sich ein paar Jahre lang zu Weihnachten per Mail eine von diesen Grußkarten geschickt.
Wir sind keine Zwillinge.
Holger und ich haben noch lange in der Küche gesessen. Holger erzählte mal wieder von seinem Urgroßvater, der angeblich auf einer Reise durch die amerikanischen Südstaaten in einem Whiskey-Fass ertrunken ist. Wir haben gelacht, wir wurden immer ausgelassener, später haben wir in der Küche getanzt. Holgers Augen funkelten, sein Gesicht glühte. Alles fühlte sich plötzlich neu an. Wir haben uns geküsst wie lange nicht mehr. Später lagen wir erschöpft und glücklich im Bett.
Ich habe von Deinen Händen geträumt, tatsächlich, von Deinen Händen. Sie sehen aus wie seine Hände, die Hände des Vaters. Lange, schmale Finger, Fingernägel, die sich wölben, und diese Hauthöcker auf den Gelenken. Eure Hände gibt es nicht oft.