Читать книгу Was wir erben - Björn Bicker - Страница 5

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Im Café hast Du mich gefragt, ob ich zufrieden sei mit meinem Beruf. Ja, habe ich geantwortet, wie ein braves Mädchen, das gefragt wird, ob es gerne zur Schule geht. Ich habe mir immer gewünscht, Schauspielerin zu werden.

Der Vater hat mich nie auf der Bühne gesehen.

Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass ich zum Schauspielstudium nach Wien gehen werde, war sie nicht überrascht, obwohl ich ihr meine Bewerbung am Reinhardt-Seminar bis dahin verheimlicht hatte. Schön, schwärmte sie, Wien. Mein Berufswunsch interessierte sie nicht. Sie konnte sich unter Schauspielerei nichts Konkretes vorstellen. Sie dachte wahrscheinlich: Irgendwas mit Fernsehen. Von dem Renommee der Schule hatte sie keine Ahnung. Deshalb schien es ihr auch nicht sonderlich bemerkenswert, dass ich in Wien auf Anhieb angenommen worden war. Sie hatte keinen blassen Schimmer von diesen quälenden Aufnahmeprozeduren. Als wir jung waren, hat sie gesagt, dein Vater und ich, da hat er mir von Wien vorgeschwärmt. Wien, hat er immer gesagt, wir fahren nach Wien. Wenn sie mal wieder kraftlos gewesen sei, dann habe er von dieser gemeinsamen Reise geredet, um sie zu trösten, ihr ein Ziel vor Augen zu halten. Sie zwei. Ganz alleine. Aber er habe immer nur versprochen. Nie gehalten. Auf die Frage, warum sie nicht alleine hingefahren sei, ohne den Vater, fing sie schlagartig an zu heulen, das könne sie nicht erklären, die Zeit sei so schnell vergangen. Aber nun könne sie mich besuchen, ihre Tochter, darauf freue sie sich.

Als die Mutter ein halbes Jahr später tatsächlich anrückte, habe ich ihr die Stadt gezeigt, alles, Museen, Kaffeehäuser, Bellaria-Kino, Zentralfriedhof, Prater, wir sind ins Theater gegangen, und ich war stolz, dass ich mich schon so gut zurechtfand in dieser Stadt, ich war euphorisch, weil ich bis dahin nur die kleinen Käffer der Eifel gekannt hatte, aber die Mutter konnte nichts begeistern, kein Funke ist übergesprungen, sie war skeptisch, sie ist widerwillig mit mir durch die Stadt geschlichen, ihr Gesicht hat seinen säuerlichen Ausdruck drei Tage lang nicht verändert. So, als geschehe ihr ein schmerzhaftes Unrecht. Irgendwann habe ich sie zur Rede gestellt. Da brach es aus ihr heraus, warum ich eigentlich in diese Stadt zum Studieren gegangen sei, ob ich ihr damit etwas beweisen wolle. Warum ich so tue, als ob ich die Erfinderin der großen weiten Welt sei. Sie würde mich gar nicht mehr wiedererkennen. Ich wusste keine Antwort. Später, am Abend, als wir zusammen in meinem kleinen Zimmer saßen, da habe ich ihr versucht zu erklären, dass es keinen speziellen Grund für mich gegeben habe, ausgerechnet in diese Stadt zu gehen. Wien sei schlicht die erste Schule gewesen, die mich angenommen habe, mehr nicht. Das glaube ich dir nicht, hat sie geantwortet. Und dann hat sie mir noch einmal die ganze Geschichte vom Vater erzählt. Wien war darin das Synonym für Enttäuschung und hohle Worte. Irgendwann bin ich eingeschlafen.

Ich fahre heute nach Hause, hat sie gleich nach dem Aufwachen verkündet, obwohl sie eigentlich länger bleiben wollte. Wir lagen noch im Bett, ich auf meiner alten Federkernmatratze, die ich unter das undichte Fenster geschoben hatte, und sie auf dem Futon, das mir meine tschechische Mitbewohnerin Sarka für die Dauer des Besuchs überlassen hatte. Damit war der Boden des Zimmers bedeckt, nur ein kleiner Schreibtisch hatte noch Platz und eine alte, braune Schrankwand, die ich von meinem Vormieter übernommen hatte. Genauso wie die immergrüne Waldtapete um die weiß lackierte Tür herum. Ich habe nichts zu ihrer Entscheidung gesagt.

Wir standen am Bahnsteig und warteten auf ihren Zug Richtung Salzburg, da fing sie an zu heulen. Ihr liefen die Tränen das Gesicht herunter. Nichts und niemand konnte ihr helfen. Er wird bald sterben, er macht es nicht mehr lange, schluchzte sie so laut, dass sich der halbe Bahnsteig nach uns umdrehte. Und dann offenbarte sie mir, dass sie, kurz bevor sie losgefahren sei nach Wien, einen Anruf bekommen habe aus der Klinik, der Vater sei gestürzt, nachts, vor dem Haus, man habe ihn im Krankenhaus behalten müssen. Der Arzt habe versucht, sie am Telefon zu beruhigen, der Beinbruch sei nicht das Problem, sie wisse ja Bescheid, er werde jetzt entgiftet, aber danach, da müsse er halt wieder zu sich nach Hause und dann gehe alles wieder von vorne los, es sei denn, er entschließe sich, eine Therapie zu machen, stationär in einer Klinik. Aber auch das könne dauern, bis es einen geeigneten Platz gebe, außerdem müsse er das schon selbst wollen. Und. Und. Und. Ich kann nicht mehr, rief die Mutter. Warum rufen die mich an? Warum lassen die mich nicht in Ruhe? Willst du deshalb zurück, weil du es nicht aushältst, ihn sich selbst zu überlassen, habe ich sie gefragt, und ich weiß noch, wie stolz ich war auf meine kühle, beherrschte Art. Der Zug stand schon da. Die Mutter stieg ein. Ich bin eine Weile auf dem Bahnsteig stehen geblieben und habe dem Zug mechanisch hinterhergewunken. Als der letzte Wagen am Horizont verschwunden war, überfiel mich schlagartig ein erbarmungsloser Schüttelfrost. Zum Glück war der Weg vom Westbahnhof zu meiner WG in der Turmburggasse nicht weit. Fast hätte ich es nicht bis nach Hause geschafft. Während der zwei U-Bahn-Stationen bis zur Neubaugasse schoss das Fieber in meine Glieder, ich schwitzte, und als ich den Berg runterging, am Apollo Kino vorbei, verlor ich fast das Bewusstsein. Die Nacht unter dem undichten Fenster. Mutters Abreise. Die Nachricht vom Zusammenbruch des Vaters. Ich wollte mit all dem nichts mehr zu tun haben.

Eine ganze Woche habe ich fiebrig im Bett verbracht, erst als mein Rollenlehrer Thomas zu mir nach Hause kam, um nach mir zu sehen, fand ich die Kraft, die Wohnung wieder zu verlassen und einen Arzt aufzusuchen. Thomas bestand darauf. Du brauchst eine Krankmeldung, hat er mich gewarnt, sonst fliegst du von der Schule. Zuerst vermutete der Arzt das Pfeiffersche Drüsenfieber, aber da war nichts zu finden, alle Blutwerte waren in Ordnung, keine Entzündung im Körper, kein Mangel, nichts. Nur diese plötzliche Müdigkeit. Das Fieber. Der Schüttelfrost. Das ganze dauerte noch drei Wochen, Thomas, ein junger Schauspieler, der damals am Burgtheater engagiert war, besuchte mich jeden Tag und wir arbeiteten zu Hause weiter, so lange es ging, mal eine halbe Stunde, mal zwei Stunden, einen zusammengeschusterten Monolog aus Schillers Jungfrau von Orleans, den Schluss, voller Pathos, mit Wucht sollte das sein, das war die Aufgabe im ersten Jahr, die große Form, ich sollte mich trauen, die sterbende Johanna, am Ende ihrer Kräfte, ein letztes, bebendes Aufbäumen. Thomas schrie unentwegt bei den Proben. Ja, schrie er, jaaaa, lauter, los, du willst nicht sterben, du sollst nicht umsonst gekämpft haben. Schrei es heraus. Und ich hatte bis dahin alles gegeben bei den Proben, aber als ich da krank in meinem WG-Zimmer kauerte, da war mir nicht nach Schreien zumute, nach großer Form, da war mir nach Flucht, nach leisen Tönen, nach Rückzug, nach Kapitulation, aber Thomas ließ nicht locker. Ich habe ihm nichts von der Mutter erzählt, auch nicht vom alkoholkranken Vater, nichts, er wusste gar nichts und er setzte sich zu mir auf die Matratze und legte den Arm um meine Schultern, um mich, den Haufen Elend, das verschüchterte Ding, die deutsche Leblosigkeit, und er sprach sehr verständnisvoll mit seinem etwas behäbigen, aber gut geölten österreichischen Akzent. Ich verstehe dich, du hast Schwierigkeiten, dich zu öffnen, das ging mir auch so am Anfang. Weißt du, deshalb haben sie dir diesen Monolog gegeben, gleich zu Beginn, damit du aus dir raus kannst, deine Mittel kennenlernen kannst, deine Stimme, deine Bewegungen, deinen wunderbaren Körper, damit du eine Erfahrung machst mit dir selbst, da musst du jetzt durch, es gibt nichts, was du dich nicht trauen solltest, nichts, das ist das Wahnsinnige an unserem Beruf, wir können alles machen, alles, aber nichts zählt, alles ist gespielt, das ist das Größte, sei frei, sei einfach frei. Wenn du die Lähmung überstanden hast, und du wirst diese Lähmung überstehen, er nahm meinen Kopf in seine Hände, so als wollte er mich küssen, er sah mich lange an mit seinen wässrigen, grünen Augen, sein Atem roch gut, nach frischer Minze, dann nahm er mich bei den Schultern, freundschaftlich, ernsthaft, er stand auf, öffnete das Fenster meines Zimmers und schaute hinaus zur Straße. Er stand da, stramm, mit leicht durchgedrücktem Rücken, sein T-Shirt hing luftig an ihm herab. Der ausrasierte Nacken. Er glaubte wirklich, mein Problem sei die gewöhnliche Hemmung einer neunzehnjährigen Schauspielschülerin, die Angst vor ihren eigenen Gefühlen hat, Angst vor irgendeinem imaginären Tier in ihr drin, das nicht freigelassen werden durfte. Davon sprach er jedenfalls. Von diesem Tier. Die Vorstellung, dass man dieses Tier befreien müsse, erlösen, diese Vorstellung schien ihn anzuspornen, das machte ihm Mut. Damit lag er ganz auf der pädagogischen Linie der Schule. Vor allem, wenn es sich um junge Mädchen handelte. Ich ließ ihn in seinem Glauben und plötzlich gefiel mir der Gedanke, an meinem Coming-out zu arbeiten, mich zu entpuppen, mich als eine extrovertierte, die eigenen Grenzen verachtende Darstellerin zu erweisen. Damit würde ich alle überraschen, mich selbst allerdings am wenigsten. Das sollte eine leichte Übung sein. Ich konnte die Kontrolle über mein Leben, meine inneren Zustände zurückerobern. Ich konnte den diffusen Schmerz und die Schwere, die der Besuch der Mutter und ihre Nachrichten aus der Familienhölle hinterlassen hatten, einfach ersetzen, ich konnte so tun, als ob ich eine ganz normale, gut behütete junge Frau gewesen wäre, ich konnte meine Geschichte einfach abschütteln, indem ich tat, was Thomas sagte. Ich musste ihm einfach etwas vorspielen.

Komm her, befahl er mir, ohne sich umzudrehen, stell dich hier neben mich. Was siehst du da draußen? Ich sehe ein Haus, sagte ich, ich sehe geschlossene Fenster, ich sehe die schmutzige Hauswand, ich sehe, dass die Straßenbeleuchtung gerade angesprungen ist, ich sehe den Asphalt, wenn ich nach unten schaue, ich sehe Autos, einen Hund, eine alte Frau, zwei Punks, die behäbig vorbeilaufen, auf dem Weg zum Schnorren vor der U-Bahn-Haltestelle, ich sehe eine kleine Baustelle am Ende der Straße, ich sehe die Trafik, ich sehe den Verkehr auf der Wienzeile. Und wenn ich nach oben schaue, dann kann ich den Himmel sehen, einen Kondensstreifen, die schwache Silhouette des Mondes, ein paar Wolken. Du siehst die Welt, rief Thomas. Zwar nur einen Ausschnitt, aber doch die Welt. Das Wort Welt klang bei ihm wie eine Mischung aus dem englischen Word und dem deutschen Wild: Wöhld, oder so ähnlich. Er steigerte sich noch. Und dieser Welt hast du etwas mitzuteilen, du, Johanna, Königin, Kämpferin, Hoffnung deiner Männer. Ich weiß noch genau, wie ich mir plötzlich das Lachen verkneifen musste, ich wollte ihn ernst nehmen, ich wollte ihm folgen, ich wollte, dass er seine Arbeit an mir verrichten konnte, aber das fiel verdammt schwer. Stell dich auf das Fensterbrett, befahl er mir. Ich sah ihn kurz an, sein Blick verriet Entschlossenheit. Ich tat, was er sagte, und kletterte auf den schmalen Holzvorsprung und hielt mich mit beiden Händen am Fensterrahmen fest. Los, stell dich nach draußen, trau dich. Er griff meine Beine von hinten. Ziemlich weit oben. Ich ruckelte nach vorne, bis meine Füße auf dem äußeren Fenstersims angekommen waren. Und jetzt leg los, sagte Thomas ruhig, aber bestimmt. Loslegen? Womit? Text, schrie er, Text, jetzt sofort! Schrei es nach draußen. Ich tat es. Erst leise, dann, nach ein paar weiteren Aufforderungen zur Ekstase, immer lauter. Ich brüllte es heraus. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal, immer heftiger, gegenüber gingen schon die ersten Fenster auf, unten auf der Straße blieben ein paar Leute stehen und sahen mir zu. Ein Typ von der anderen Straßenseite riet mir, damit aufzuhören. Er wolle seine Ruhe haben. Spiel ihn an, nimm ihn, sag’s ihm, zischte Thomas von hinten. Und ich tat es. Der Typ schüttelte mit dem Kopf, hörte sich meine Tirade ein Weile an und rief laut zu mir herüber: Was für ein Dachschaden. Eine Frau von unten bellte zu mir hoch, Hilfe, Hilfe, ob ich Hilfe brauche, ob es mir gut gehe. Ich beschimpfte sie als Verräterin, die Hilfe anböte, aber Verrat meine, ganz in meiner Rolle, die Jungfrau, die Kämpferin, die Terroristin, die Unerbittliche, die Alleingelassene. Ich erfand neue Texte, auf niemanden könne man sich in diesem Leben verlassen, man sei nur auf der Welt, um wieder von ihr zu verschwinden, aber trotzdem solle man daran arbeiten, die Welt besser zu machen, gerechter, glaubwürdiger, Liebe, wir brauchen Liebe! Nieder mit den Lügen über das Leben! Das hatte mit der Jungfrau von Orleans so viel zu tun wie Thomas mit meiner Familie, aber das war egal. Plötzlich tauchten unten zwei Polizeiwagen auf. Die Polizisten sprangen aus ihren Autos und zwei von ihnen liefen ins Haus, es klingelte an der Tür. Scheiße, rief Thomas, die Bullen. Mach auf, schrie ich ihn an, los, geh zur Tür, was wollen die schon, wir machen doch nichts Verbotenes, ich stehe hier und brülle ein paar Wahrheiten in den Abend, die sollen nur kommen. Ich war richtig in Fahrt. Er zog mich vom Fensterbrett und schob mich durch mein Zimmer zur Wohnungstür. Das musst du machen, das ist deine Wohnung, sagte er ängstlich. Ich öffnete die Tür, verschwitzt, das T-Shirt halb über die Schulter gezogen. Der eine Polizist, ein kleiner Dicker, hatte seine Mütze in der Hand und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Der andere schob sofort einen Fuß in die Wohnung. Alles in Ordnung bei Ihnen, fragte er mich. Ja, alles okay. Wir proben. Theater. Das war nicht ernst. Das war Spiel, machen Sie sich keine Sorgen. Wir machen uns keine Sorgen, sagte der Dicke. Wir schauen nach dem Rechten. Die Nachbarn haben angerufen. Sie sind zu laut. Sie können sich gerne in Ihr Fenster stellen, aber bitte leise, schob der Dicke sichtlich genervt hinterher. Was proben Sie denn da, fragte der Jüngere belustigt. Der Dicke schaute seinen Kollegen verwundert an. Schiller, klärte ich ihn auf. Die Jungfrau von Orleans. Schiller, rief der Jüngere, Schiller! Das können Sie ja dann demnächst bei geschlossenem Fenster proben, zischte der Dicke und schüttelte den Kopf. Der Jüngere lachte. Bitte entschuldigen Sie meinen Kollegen, er ist ein Banause. Der Dicke fand das nicht lustig. Er wollte meinen Ausweis sehen und meine Aufenthaltserlaubnis. Sie sind also eine Studentin. Was studiert die Dame denn, wenn man fragen darf? Schauspiel. Reinhardt-Seminar. Und der Herr. Der Herr ist Schauspieler. Nur hier in der Wohnung, oder kann man Sie auch gelegentlich auf einer Bühne bewundern? Der Dicke kam in Fahrt. Burgtheater, sagte Thomas, nachdem er eine sehr gekonnte Kunstpause eingelegt hatte. Der Jüngere und der Dicke schauten sich an. Burgtheater? Sie sind also Schauspieler am Burgtheater? Nicht schlecht, sagte der Dicke. Warum sagen Sie das nicht gleich? Die beiden entspannten sich. Der Junge hob seine Fäuste wie zum Boxkampf und rief: Olé! Der Dicke setzte seinen Hut wieder auf. Na dann, sagte er, einfach ein bisschen leiser, wenn Sie so freundlich wären. Und lassen Sie sich nicht weiter stören, sehr interessant, Burgtheater. Habe die Ehre. Die Situation war mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrt. Eben waren wir noch Delinquenten, denen man allerhöchstens Arroganz und Verachtung entgegenbringen konnte, und plötzlich fühlten sich die beiden durch unsere Gegenwart geschmeichelt, es schien, als fühlten sie sich fast ein bisschen geehrt, mit wem sie es unerwarteterweise zu tun hatten. Die beiden wünschten uns noch einen schönen Abend und verschwanden wieder. Thomas war sichtlich stolz, dass seine Auskunft bei den beiden so einen Eindruck gemacht hatte. Er lachte. Siehst du, so funktioniert das bei uns. Ich lief in mein Zimmer, schloss das Fenster und sprang auf meine Matratze, ich hüpfte rauf und runter und fing wieder an mit meinem Text. Ich streckte meine Arme nach Thomas aus, er kam zu mir und sprang mit, bis wir beide hinfielen, auf die Federkernmatratze, und anfingen uns zu küssen, völlig außer Atem. Ein paar Minuten später lag ich nackt und röchelnd auf dem Rücken, zwischen mir und Thomas ein schmieriger Blutfleck. Das Bettlaken bedeckte die Matratze nur noch halb. Unter meinem Bein hatte sich eine Metallfeder durch den Stoff gedrückt. Ich drehte mich zu Thomas und flüsterte ihm ins Ohr: Jetzt brauche ich eine neue Matratze. Sie hat ein Loch. Thomas lachte. Noch stolzer als vorher. Er verrieb sich genüsslich den Schweiß auf seiner rasierten Brust. Er schaute auf den Blutfleck zwischen uns. War das wirklich das erste Mal, fragte er mich. Das allererste Mal? Ich glaube, ich habe in diesem Moment nur an meine Matratze gedacht und daran, dass ich kein Geld hatte, mir eine neue zu kaufen. Ich habe ihm keine Antwort gegeben damals. Thomas warf sich auf mich. Ich habe meinen Kopf zur Seite gedreht. Neben der Matratze lagen seine Kleider, T-Shirt, Hose, Unterhose, Socken. Du musst dich nicht schämen, sagte er. Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude! Das säuselte er mir triumphierend ins Ohr. Den letzten Satz aus meinem Jungfrau-Monolog. Ich versuchte, ihn von mir runterzuwerfen, dabei knallte ich mit meiner Stirn auf seine Nase, die sofort zu bluten anfing. Thomas sprang auf. Sein linker Fuß verfing sich in der herausgeplatzten Metallfeder, er stürzte nach vorne auf den Boden, sein Zeh blieb in dem Draht hängen, er schrie, laut, vor Schmerz, sein Fuß klemmte in der Feder, seine Nase blutetet immer stärker. Ein erbärmlicher Anblick war das. Wie ein Tier, das in die Falle gegangen war. In Sekundenschnelle hatte sich die Entjungferungsszene in eine scheinbare Gewaltorgie verwandelt. Ich musste lachen. Thomas wollte seinen Fuß aus der Falle bugsieren, der Zeh schwoll an, das Blut tropfte ihm aus der Nase auf die Brust. Ich blieb einfach zur Seite gedreht liegen und sah mir das Schauspiel an.

Am nächsten Tag bin ich wieder in die Schule gegangen. Ich fühlte mich gesund. Ich spürte, wie die Mitschüler hinter meinem Rücken tuschelten. Die Lehrer waren erfreut, mich zu sehen, bis auf meinen Sprechlehrer. Er wisse nicht, wie ich das Versäumte nachholen könne. Ich glaube, Thomas hatte ihm von seiner Eroberung erzählt und der alte Sack war enttäuscht, dass er nicht der Erste gewesen war. Er war dafür bekannt, sich an seine Schülerinnen ranzumachen. Er profitierte von seinem, aus besseren Tagen herübergeretteten, Ruhm. Damals lud er seine Lieblingsstudentinnen regelmäßig zu sich nach Hause ein, gab ihnen Zusatzstunden und beeindruckte sie durch seine innere Ruhe und sein Verständnis für die Fragen der altersbedingten Sinnsuche. Eine waschechte Gratisinitiation, die die Schule ihren weiblichen Elevinnen da anbot. Seine Wohnung war der Hort des Tabus. Und natürlich des dazugehörigen Bruchs. Er wartete den richtigen Moment der Verunsicherung ab, meistens ein halbes Jahr nach Beginn der Ausbildung, dann schlug er zu. Bei mir hatte er den passenden Zeitpunkt sicher auch schon kommen sehen, aber Thomas war schneller. Und dreißig Jahre jünger. Thomas hatte nach unserer Rollenarbeit ein paar unansehnliche Probleme: seine Nase war mit Mull und Pflaster verklebt, der linke Fuß steckte in einer klobigen Schiene. Er hatte ein paar Vorstellungen am Burgtheater zu spielen, das Schminken vorher, nachdem die Nasenverhüllung jedes Mal aufs Neue entfernt worden war, musste die Hölle gewesen sein. Wir hatten uns auf die Version Probenunfall geeinigt, das rettete sein Ansehen und meine Reputation. Gleichzeitig nötigte die vermeintliche Intensität unserer Zusammenarbeit den Leuten auf der Schule eine ordentliche Portion Respekt ab. Eine Zeit lang konnte ich den Rückfall des Vaters und den Besuch der Mutter vergessen, ich war euphorisiert von meiner kleinen Neugeburt, aber dann, ganz langsam, sickerte dieses eigenartige Gefühl, ferngesteuert zu sein, unfrei, beschwert mit Zentnern von klumpiger, zotteliger Vergangenheit, wieder in mein Bewusstsein.

War ich in Wien, weil der Vater die Mutter dorthin einladen wollte, es aber nie geschafft hat?

Als ich das Foto gesehen habe, Deine Mutter mit dem Vater vor dem Olympiabad, da dachte ich, mich trifft der Schlag. Ich wusste nicht, dass der Vater jemals in München gewesen ist. Und dann auch noch vor dem Olympiabad. Holger und ich gehen regelmäßig dorthin. Vor ein paar Wochen das letzte Mal. Es war ein regnerischer Tag. Durch die Fenster sah man die künstlichen Hügel des Parks. Wenn du von dort oben hinunter auf die Schwimmhalle schaust, dann denkst du, die Halle fliegt. Die Dächer, das Stadion, alles aus Stahl und transparenter Plane, alles wirkt vorläufig, wie von Nomaden hingestellt. Das ist die neue Welt von gestern. Auf den Bildern von damals sieht man fröhliche Menschen in Trainingskleidung. Grün. Orange. Sommer. Sonne. Braune Haut. Fahnen, die aufgeregt im Wind flattern. Das Jahr unserer Geburt.

Die Schwimmbadblase war angefüllt mit warmer, feuchter Luft und diesen tausendfach verhallten Geräuschen. Kindergeschrei. Körper, die auf Wasser klatschen. Ein paar Jungs hielten den Fünf-Meter-Turm besetzt. Leiter rauf, Leiter runter, einarmiges Hangeln am Geländer, in die Hüften gestemmte Fäuste, Hände, die selbstverliebt über straffe Bäuche streichen, unterhaltsames Gepose an der Absprungkante, lautes Gejaule nach jeder Arschbombe, die schrillen Pfiffe des Bademeisters, die wie Blitze die Halle zerteilten, um dann als Echo über dem schmatzenden Wasser zu zerstäuben. Leise Musik aus der Ferne. Dire Straits, immer wieder dieselbe Platte, Brothers in Arms: Hallenbadsound. Ein paar Meter vor uns hatte sich eine Aquagymnastiktrainerin mit ihrer mobilen Lautsprecherbox platziert. Im Wasser tummelte sich ein Grüppchen Senioren. Die Alten hielten bunte Schaumstoffwürste um ihre Bäuche. Die zufällige Formation fleckiger Körper sah für einen Moment aus wie ein zerknittertes Alex-Katz-Bild. Farbige Flächen, kühl und distanziert. Keine Moral, keine Wahrheit, nichts, nur die Oberfläche. There is no story, hat Alex Katz gesagt.

Ich war mal mit Thomas in einer Katz-Ausstellung. Ein paar Jahre nach unserer Trennung. Ich war auf Gastspielreise in Hamburg und hatte am Nachmittag zwischen Probe und Vorstellung ein paar Stunden Zeit. Thomas war auch in der Stadt. Und dann haben wir uns verabredet. Thomas ist gelangweilt zwischen den Bildern rumgelaufen: Ist mir zu viel Comic, hat er gesagt. Nur weil er sich nichts vorstellen könne, jenseits seiner Einfühlerei als Schauspieler, solle er nicht so dümmlich über Kunst sprechen. Das sei halt keine Psychologie oder sonst irgendetwas aus seiner bürgerlichen Kunstmottenkiste, das seien einfach Abbildungen und das sei genau das, was wir im Theater nie hinkriegen, weil wir uns immer nur mit unseren mittelmäßigen Gefühlswelten beschäftigen. Ich bin laut geworden. Die Leute haben sich nach uns umgedreht. Er hat mich fassungslos angestarrt und wusste überhaupt nicht, was ich von ihm wollte. Thomas hat die Ausstellung fluchtartig verlassen. Danach haben wir noch ein letztes Mal telefoniert. Ich habe mich für meinen Auftritt entschuldigt.

Die Köpfe, die Hälse, die Schultern, die Brustkörbe der Alten schauten aus dem Wasser. Die Badekappen waren bunte Punkte. Wenn die Sonne durch die Wolken drang, leuchteten die Farben vor schwimmbadblauem Hintergrund. Das Licht schickte ab und zu von unten einen Reflex in die Gesichter. Holger lag auf der Liege neben mir und hatte ein amerikanisches Fachmagazin aufgeschlagen, Plastic and Aesthetic Surgery. Ich habe ihm mit meiner besten Gruselstimme ins Ohr geflüstert: Ich wette mit dir, wenn du an denen vorbeischwimmst, riecht alles nach Tod. Ich habe meine Schwimmbrille angezogen und bin zum Becken. Im Wasser bin ich wie eine Verrückte losgekrault, mit hektischem Beinschlag, dicht an den Alten vorbei. Beim Atmen habe ich gesehen, dass Holger mich beobachtet hat. Durch die beschlagene Schwimmbrille sah es aus, als würde er unentwegt den Kopf schütteln. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Nach ein paar Bahnen hatte ich mich beruhigt und meine Atmung wurde flacher. Ich glitt sanft durch das Wasser. Mit jeder Wende wurde die Welt außerhalb des Beckens immer unbedeutender. Ich zähle beim Schwimmen die Bahnen und beim Zählen vergesse ich alles. Mit jedem rechten Armschlag sage ich mir die Zahl vor, bei der ich gerade bin. Das ist wie ein Gebet. Einundzwanzig. Einatmen. Einundzwanzig. Einatmen. Einundzwanzig. Einatmen. Wende. Zweiundzwanzig. Einatmen. Zweiundzwanzig. Einatmen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich das Zählen verselbständigt und meine Fantasie in Gang kommt. Dann entsteht ein neues Draußen, eine andere Welt; wenn ich im Olympiabad schwimme, stelle ich mir vor, wie die Ränge voll besetzt sind, wie die Leute meinen Namen rufen, wie sie mich anfeuern, von ihren Sitzen aufspringen, weil sie wollen, dass ich als Erste anschlage. Beim Einatmen geht der halbe Kopf aus dem Wasser, das linke Ohr liegt in der Luft und ich höre sie hysterisch schreien. Und dann die Stimme in meinem Kopf, die euphorische Stimme des Kommentators: Sie wird es schaffen. Sie kann den Weltrekord knacken, den ewigen Rekord, damit hat wirklich niemand gerechnet, nicht in diesem Rennen. Damit wird sie sich unsterblich machen. Es ist nicht zu glauben, meine Damen und Herren, wir sind hier und heute Zeugen einer absoluten Sensation. Der Schwimmsport wird von diesem Tag an ein anderer sein. Der Kommentator schreit meinen Namen. Immer wieder. Sie hat es geschafft, sie hat es geschafft. Niemand hatte sie auf der Rechnung. Wirklich niemand. Das ganze Training, all die Entbehrungen, jetzt zahlt es sich aus. Mit jedem Beinschlag, mit jedem Armzug tauche ich tiefer ab in diesen Film. Gold, Gold, Gold, schreit der euphorisierte Mann in meinem Kopf. Die Stimme füllt mich an mit Glaube, mit Stolz, mit Hoffnung. Die Stimme des Reporters wird leiser und verlangsamt sich. Neunundzwanzig. Einatmen. Neunundzwanzig. Einatmen. Wende. Dreißig. Einatmen. Dreißig. Einatmen. Noch elf Bahnen, dann habe ich es geschafft, dann sind die zwei Kilometer voll. Bis dahin gleite ich in einen neuen Film, ich sehe die Bilder von 72, die Bilder aus dem Fernsehen, aus den Büchern, und ich denke an seine Rekorde, ja, ich denke an die Rekorde von Mark Spitz, ich denke an seinen Bart, die dunklen Haare auf dem Kopf, unter den Achseln, ich denke an diese knappe Schwimmhose, Stars and Stripes, den Ansatz der Bauchmuskeln, der links und rechts als helle Linie in der Badehose verschwindet, ich denke an die Goldmedaillen, die er 72 geholt hat, ich höre die Stimme des Vaters, ich höre, wie der Vater mich, seine Tochter, tatsächlich Mark Spitz nennt. Immer wieder: Mark Spitz. Das hat er gesagt, wenn ich vom Schwimmtraining nach Hause gekommen bin: Mark Spitz. Er hat kurz gelacht und sich wieder zum Fernseher gedreht. Abends lag ich im Bett und habe mir immer wieder diesen Namen vorgesagt: Mark Spitz. Mark Spitz. Mark Spitz. Laut. Leise. Gebrummt. Gehaucht. Fröhlich. Traurig. Schnell. Langsam. Roboterhaft. Gesungen. Geleiert. In allen möglichen Variationen. Mein beruhigender Vers zum Einschlafen. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, nachzufragen: Wer ist dieser Mark Spitz? Es gab keine Fragen, die ich dem Vater gestellt hätte. Ich stellte mir die Fragen selbst.

Auf Youtube findest Du ein paar von den Starts. Das Rennen vom 29. August gibt es nicht als Film. Ich habe die letzten Tage alles durchsucht. Ich hatte die idiotische Hoffnung, den Vater und Deine Mutter auf einem der Videos ausfindig zu machen. Die 100 Meter Kraul und die 200 Meter Schmetterling und die 100 Meter Freistil-Staffel kannst Du ganz anschauen. Du findest im Netz etwa zwanzig Varianten von Mark Spitz’ Bart-Geschichte. Die baut er in seine Vorträge ein, die er vor irgendwelchen Managern hält. Er berichtet, dass er sich den Bart eigentlich abrasieren wollte, auch die Trainer hätten ihm dazu geraten, aber dann habe er noch vor dem ersten Start in der Olympiahalle ein Interview gegeben. Ein Journalist habe ihn gefragt: Warum tragen Sie diesen Bart, Mr. Spitz? Stille. Er habe die freudigen Gesichter der Journalisten gesehen, aber auch die neugierigen Blicke der russischen Trainer, die sich zu der Interviewtraube dazugestellt hatten, weil sie scharf darauf gewesen waren, seinem Geheimnis schon vorab auf die Schliche zu kommen. Er habe diesen Typen nicht verraten wollen, dass er eigentlich beabsichtigt habe, das Ding abzurasieren, obwohl es ihm gefallen habe, alle hätten damals schließlich lange Haare und Bart getragen, und dann dachte er, warum die Gelegenheit nicht nutzen und die Russen verunsichern, und er habe den Journalisten in die Mikrofone gesagt, dass er den Bart trage, weil er ihn schneller mache, und er habe gesehen, dass alle russischen Trainer wie wild in ihre Blocks kritzelten, und das habe ihn angespornt und er habe angefangen zu fantasieren. Der Bart ließe das Wasser schnittiger und eleganter um seinen Mund herumgleiten, das verschaffe ihm hinten, ab der Hüfte, mehr Auftrieb und so sei seine Wasserlage schlicht viel, viel besser als die der Konkurrenten. Nach dieser Geschichte habe er sich den Bart natürlich nicht mehr abrasieren können, er hätte sich lächerlich gemacht. Plötzlich sei der Bart zu einer Waffe der psychologischen Kriegsführung geworden. Die Russen habe gewurmt, dass man sich so schnell keinen Oberlippenbart wachsen lassen konnte. Ein Jahr später jedoch, bei anderen Wettkämpfen, Mark Spitz genießt die Pointe, hätten alle russischen Schwimmer Oberlippenbart getragen. Mark Spitz erzählt diese Geschichte mit einem überlegenen, arroganten Siegerlächeln. Man sieht in dem Film, wie er sein Publikum bedient, das Publikum, das immer wieder die gleichen Geschichten hören will. Seht her, das ist lange vorbei, aber so dumm waren diese Typen damals, diese Russen, denen haben wir’s ordentlich gezeigt. Give me five! Die mutwillige Reduktion von Komplexität macht ihn zum Helden. Diesen Schwimmer, der mit Einundzwanzig so aussah, als würde er in München mit Freddy Mercury zusammen in die Sauna gehen. An diesen Typen dachte der Vater, wenn er mich Mark Spitz nannte, diesem Mark Spitz musste der Vater an jenem Tag sehr nahe gekommen sein, an diesem 29. August 1972, dem Tag der Entscheidung über 200 Meter Freistil, der Tag, an dem das Foto entstanden ist, der Tag, an dem Deine Mutter freudig in die Kamera geblickt hat und der Vater sein Gesicht zu verbergen suchte, der Tag, an dem Mark Spitz in 1:52,78 seine dritte Goldmedaille geholt hat, der Tag, an dem Mark Spitz den gesamten Sport für alle Ewigkeiten revolutioniert hat, weil er am Abend bei der Siegerehrung seine grünen, ungetragenen Adidas-Turnschuhe in die Kameras gehalten hat, in alle Kameras, die auf ihn gerichtet waren, der Tag, an dem die Spiele der Amateure beendet waren und das Zeitalter der Profis und ihrer Sponsoren eingeläutet wurde, der Tag, als der Protest der Ostblockdelegationen gegen diesen kapitalistischen Gestus vergeblich aufbrandete, der Tag, an dem Mark Spitz zum Boten der neuen Welt und ihrer neuen Bilder geworden war.

Als ich mit vierzehn oder fünfzehn das erste Mal mit dem Vater über Politik gestritten habe, nannte er mich danach Rosa Luxemburg. Auch später immer wieder: Rosa Luxemburg. In seiner Stimme lag eine Mischung aus Anerkennung und Ekel, aus Witz und Schmähung. Wenigstens eine Frau, habe ich gedacht. Vor einer Weile, Holger und ich waren gerade dabei, unsere Wohnung umzuräumen, hat Holger gesagt: Wenn wir ein Kind bekommen, eine Tochter, dann nennen wir sie Rosa. Ich habe gesagt, dass ich diesen Namen hasse. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr über Kindernamen reden will. Nicht bevor ich schwanger bin.

Als ich nach meinen zweitausend Trainingsmetern und dem imaginierten Weltrekord erschöpft zu unseren Liegestühlen zurückkam, drehte ich Holger beim Abtrocknen den Rücken zu. Als ich mir das Handtuch als Turban um den Kopf gewickelt hatte, sagte Holger: Das Muttermal auf deiner Schulter ist rot. Am Rand sieht es entzündet aus. Holger kratzte fachmännisch an dem Fleck herum. Lass das, habe ich ihn gebten, das ist vom Chlor, das kenne ich schon, kein Grund zur Besorgnis. Er strich, wie zur Entschuldigung, mit seinem Handrücken über meine Haut. Deine Wirbel sind spitz, sagte er sanft, du hast Gänsehaut. Holger nahm meine Hand und wollte meine Finger küssen. Ich habe ihm den Zeigefinger in die Nase gesteckt. Er hat den Kopf nach hinten gerissen, sein Magazin genommen und schnaufend darin herumgeblättert. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er manchmal an seinen Job denke, wenn er diese alten Leute sehe. Überlegst du, wo du sie überall operieren könntest? Straffen, Fett absaugen, Lifting? Holger ließ sein Magazin fallen und richtete sich auf. Wieso sollte man alte Leute operieren, denen es offensichtlich gut geht. Er verzog keine Miene, er wollte streng aussehen. Ich mache diesen Facharzt nicht, damit du eine bessere Optik im Schwimmbad hast. Da gibt’s wirklich Sinnvolleres. Hier, schau dir diese Bilder an. Er nahm sein Magazin vom Boden und wedelte mir damit vor der Nase rum: Gaumenspalten. Fetttaschen. Demolierte Fressen. Brandopfer. Schau mal hier, so sieht jemand aus, in dessen Garten eine Streubombe eingeschlagen ist. Ich habe nicht hingesehen. Ich habe seine Hand genommen und sie auf meinen Bauch gelegt und dann habe ich ihn ganz leise gefragt, ob er mir denn helfen werde, wenn ich mal alt und runzlig sei, ob er sich vorstellen könne, mich dann zu operieren. Nur mich. Er schaute an mir vorbei Richtung Becken und stand ruckartig von seiner Liege auf. Was ist denn da los, fragte er. Die Choreografie der alten Körper hatte sich aufgelöst, die bunten Schaumstoffwürste schwammen herrenlos zwischen den anderen Badegästen herum. Die Alten waren im Wasser plötzlich zu einer Traube verklumpt, einige gestikulierten wild in Richtung Beckenrand. Die Trainerin zog hastig ihr T-Shirt aus und sprang ins Wasser. Die Alten öffneten die Traube und gaben die Sicht frei. Sie standen alle um einen ihrer Mitturner herum. Er lag flach auf dem Wasser, gehalten von zwei Männern und einer Frau. Die Frau hielt seinen Kopf in ihren Händen, eine andere verpasste ihm ein paar Ohrfeigen, immer wieder mit der Rechten ins Gesicht. Der Mann reagierte nicht. Die Trainerin, bei den Alten angekommen, beugte sich über den Kopf des reglosen Mannes und rief seinen Namen. Keine Reaktion. Sie schob ein paar Gaffer zur Seite und fasste ihn von hinten mit beiden Händen am Nacken, so wie es Rettungsschwimmer tun. Sie zog ihn zum Rand. Sie drehte den reglosen Körper parallel zur Wasserkante und rief zwei junge Kerle herbei, die ihr helfen sollten, den massigen Alten aus dem Wasser zu hieven. Die jungen Männer zogen ihn an Arm und Bein aus dem Becken, die Trainerin schob von unten nach. Der Mann glitt in eine Pfütze. Er lag da wie ein gestrandeter Wal. Sein melonenförmiger, behaarter Bauch ragte in die Luft, seine kurzen Arme hingen hilflos an ihm runter, Hände und Unterarme in der Wasserlache. Die Beine waren nach innen verdreht. Die Krampfadern an seinen Waden traten bunt schimmernd hervor. Die Trainerin kniete sich hinter ihn und legte seinen Kopf auf ihre Oberschenkel. Einer der Männer rief nach einem Arzt. Ein Arzt! Ist hier irgendwo ein Arzt? Ich gab Holger von hinten einen Schubs. Holger. Du bist gemeint. Du bist Arzt! Er stand da wie versteinert, die Hände vor der Brust verschränkt. Er drehte den Kopf und schaute mich kurz an. Sein Blick war leer. Los, mach schon, rief ich. Er setzte sich in Bewegung. Nach ein paar großen und viel zu hastigen Schritten rutschte er auf dem Schwimmbadboden aus und fiel auf die Knie. Auf allen vieren kauerte er auf halber Strecke und versuchte, sich wieder aufzurichten. Er merkte gar nicht, dass sein rechtes Bein blutete. Eine Platzwunde. In null Komma nichts hatte sich eine rote Lache auf den weißen Kacheln gebildet. Das Blut lief ihm seitlich am Schienbein entlang über den Fuß auf den Boden. Und dann richtete er sich wieder auf. Die Zuschauer standen unfreiwillig Spalier. Holger kniete sich neben den Mann. Ich ging hinterher und stellte mich zu den Zuschauern. Was ist passiert, fragte er die Trainerin. Er war weg, plötzlich war er einfach weg. Was ist das? Herzinfarkt? Schlaganfall? Machen Sie doch was. Holger zitterte. Er versuchte, den Mann anzusprechen. Keine Regung. Das haben wir doch schon alles probiert, sagte eine der Alten. Lassen Sie mich mal machen, zischte Holger nach oben. Erst mal Seitenlage, wies er an. Sie drehten ihn auf die Seite, er und die Trainerin, dabei stützte er den Mann mit seinem verletzten Knie und verschmierte das Blut auf Bauch und Rücken des Bewusstlosen. Als Holger merkte, dass das Blut von ihm stammte, zuckte er zusammen. Es tut nicht weh, sagte er laut, wie um sich selbst zu beruhigen. Woher wissen Sie das, schrie ihn die Trainerin an. Ich meine das Knie, das Knie, mein Knie tut nicht weh. Holger sah sich hilfesuchend um. Unsere Blicke trafen sich kurz. Ich sah, dass Holger verzweifelt war. Wie ein Kind, das sich noch nicht selbst die Schuhe binden kann, aber weiß, dass es mit offenen Schuhbändern nicht loslaufen darf. Mama! Holger griff mit der Hand in den Mund des alten Mannes. Er kramte die Zunge hervor und mit der Zunge kam eine ganze Ladung Kotze raus. Los, schrie er, auf den Rücken drehen. Es geschah, wie er befahl. Holger fing sofort damit an, den Brustkorb des Mannes rhythmisch zu bearbeiten. Immer wieder: Herzmassage. Das Blut, das aus Holgers Wunde lief, mischte sich mit dem Erbrochenen und dem Schwimmbadwasser auf den Kacheln. Um ihn herum hatte sich ein rosafarbener See mit grünen Kotzschlieren gebildet. Holger beugte sich zum Gesicht des Mannes, er hielt sein Ohr an dessen Mund. Er wollte spüren, ob er noch atmet. Er nahm schließlich das fahle Gesicht des Alten, presste dessen Wangen mit Daumen und Mittelfinger zusammen und drückte ihm seinen Mund auf die blauen Lippen. Dabei hielt er dem Mann mit der anderen Hand die Nase zu, damit die Luft, die er ihm in die Eingeweide pumpte, nicht aus den Nasenflügeln wieder entweichen konnte. Er blies mit voller Wucht in den Alten hinein. Ein Mal, zwei Mal. Drei Mal. Nichts passierte. Ich sah, dass Holger immer unruhiger wurde. Er versuchte es immer und immer wieder. Dann zuckte der Mann plötzlich, er röchelte. Ein flüchtiger Anflug von Hoffnung zog über Holgers Gesicht wie der Schatten einer Wolke. Holger setzte wieder an mit der Reanimation. Das Röcheln schien nur ein trügerisches Lebenszeichen gewesen zu sein, ein letztes Aufbäumen. Der Kopf des Mannes war längst knallrot angelaufen. Die Augen platzten hervor, gelber Sud quoll aus dem Mundwinkel. Er zuckte nicht mehr. Er lag regungslos da, sein Gesicht wechselte die Farbe. Von Rot nach Grün. Ende. Holger nahm seine Hände vom Körper des Mannes und sank nach hinten. Die Unterarme ruhten schlaff auf seinen Oberschenkeln. Keiner sagte ein Wort. Absolute Stille. Selbst die aufgeregten Rentnerinnen hielten die Klappe. Kein Kindergeschrei, nichts. Kurz darauf traf der Notarzt ein. Er versuchte es noch ein paarmal mit Stromstößen aus dem Defibrillator, aber die Sache war gelaufen.

Am Abend beim Essen stocherte Holger mit der Gabel in seinen Nudeln herum. Dann hob er den Kopf und schaute mich an. Er hatte wässrige Augen. Der ist mir unter den Fingern weggestorben, sagte er. So hilflos wie in diesem Moment hatte ich Holger noch nie zuvor erlebt. Du hast dein Bestes gegeben, wollte ich ihn trösten, selbst der Notarzt konnte nichts mehr machen. Holger schob den Teller mit den Nudeln und der Steinpilzsauce in meine Richtung. Er war blass. Ich fragte ihn, wie der Alte geschmeckt hat. Wie hat sich das angefühlt, einen Toten zu küssen? Mein Knie tut weh, antwortete Holger. Ich will ins Bett. Wir sollten bald wieder ins Olympiabad gehen, sagte ich, damit wir die Bilder loswerden.

Das ist drei Wochen her. Und jetzt sitze ich da mit dem Foto, das Du mitgebracht hast. Der Vater vor der Schwimmhalle. 72.

Was wir erben

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