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Kapitel 2 Umzug nach München

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Ich hatte seit dem Vorfall im Mai nicht mehr gelesen und verbrachte meine Zeit viel im Freien und noch mehr Zeit verbrachte ich mit meinem Vater, welcher mich auf jede „Veranstaltung“ mitnahm.

Ich hatte gelernt, dass es meinem Vater Freude machte, wenn er mich bei sich hatte und wenn ich genau das tat was ihn begeisterte.

Und schließlich war es doch das, was ein heranwachsender Jugendlicher wollte, seinem Vater gefallen.

Ich muss zugeben, dass mich seine Begeisterung auch irgendwann ansteckte.

Wir hatten das Haus am Fuße des Pfänders verlassen.

Meine Großeltern waren jedoch dortgeblieben. Meine Eltern meinten, dass es im Sinne der Partei sei, wenn wir uns auf den Anschluss vorbereiten würden.

Eben genau das, was auch die Schreihälse bei den Veranstaltungen immer sagten.

Und ich zum damaligen Zeitpunkt nicht verstanden hatte, und Großvater, wie Vater meinte, wohl nie verstehen würde.

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass meine Eltern gar keine eigene Meinung mehr hatten, falls sie diese je hatten, nun war sie vollends verfolgen.

Und zunehmend merkte auch ich bei mir selbst, dass dies mit mir geschah.

Oft dachte ich an meine Großeltern, doch diese wurden von uns nur sehr selten besucht. Auch Großvaters Krämerladen mieden wir und kauften nur mehr in einem Laden eines gewissen Herrn Braun ein, welcher auch immer über die neuesten Nachrichten verfügte und alle nur wünschenswerten Zeitungen druckfrisch aufgelegt hatte.

Im Herbst, ich weiß heute den Monat oder gar den Tag nicht mehr, beschlossen meine Eltern nach München umzuziehen. Die Distanz sei nicht weit, man könne immer wieder zurück, und man könne ja die Großeltern besuchen, wenn es die Zeit zuließe, und man sei doch der Partei verpflichtet. Zumindest wäre man so näher beim Führer und könne den Wandel der Zeit wahrhaftig mitverfolgen.

Weihnachten 1934 feierten wir in einer kleinen, angemieteten Wohnung in Unterhaching bei München.

Der Vermieter war ein mürrischer Mann.

Nicht groß gewachsen und wirkte, zumindest auf mich, recht unsympathisch.

Vater fuhr täglich mit der Tram nach München Stadt. Er wüsste, so sagte er fast täglich, dass es viel zu tun gäbe für die Partei, und dass Menschen wie wir es sind hier nur allzu gerne gesehen werden.

Großvater geriet immer mehr in Vergessenheit.

Auch Großmutter und das Haus am Pfänder.

Meine Erinnerungen an die großen Erzählungen, welche ich als Kind so geliebt hatte, und mich in Gesundheit und Krankheit begleiteten und nie alleine ließen, verblassten immer mehr, bis ich mich schließlich gar nicht mehr an meine Helden aus meinen Kindheitstagen, in meinen geliebten Büchern erinnern konnte, und diese nur mehr verblassende Schatten meiner Vergangenheit waren.

Auf Wunsch meines Vaters schloss ich mich der Hitlerjugend an.

Mein Vater drängte darauf, da es sich für einen anständigen Deutschen gehöre.

Zudem sei dies ja Parteipflicht.

Und Parteipflicht war Gesetz!

So tat ich wie mir geheißen.

Neben der Schule und der HJ hatte ich kaum noch irgendwo zu Zeit. Ich verbrachte meine Tage mit der Lehre der Rassen und weltanschaulichen Schulungen, vor allem an Heimnachmittagen, meist mittwochs und mit Sport, welcher sich vor allem daran ausrichtete richtig mit einem Gewehr umzugehen.

Dies vor allem samstags.

Zunehmend bemerkte ich den Stolz meines Vaters, da ich kein kleiner kränklicher und schwächlicher kleiner Junge mehr war, sondern zu einem Manne heranwuchs.

Dies sei, so meinte Vater, einzig und allein der Partei zu verdanken. Denn ohne jene hätte ich nie im Leben selbst Sport betrieben und mich entsprechend den Lehren der NSDAP weitergebildet.

Es sei eine Schande, und dafür gebe er sich selbst die meiste Schuld, dass er mich so lange bei seinen liberalen Eltern hatte aufwachsen lassen, welche mich verweichlicht hätten und zu sehr mit befremdlichen Gedanken – damit meinte er meine geliebten Bücher, welche ich von den Großeltern geschenkt bekam – gefüttert hätten.

So hätte ja nie ein Mann aus mir werden können.

Zum Glück, oder eher Gott- oder noch mehr Partei-sei-Dank habe er mich aus ihren über-liberalen Fesseln durch eigene Kraft befreien können.

Nur Gott allein (oder die Partei) wüsste sonst was aus mir geworden wäre, sicherlich aber kein guter Mensch.

Und schon gar kein richtiger Mann!

Meinen 15. Geburtstag feierten wir – auf meinen ausdrücklichen Wunsch – und auf Vaters ausdrücklichen Widerwillen – bei meinen Großeltern.

Beinahe ein ganzes Jahr hatte ich die Beiden nun nicht mehr gesehen, und mir wurde richtig warm ums Herz, als mich meine Großmutter in den Arm nahm.

Großvater kam sehr spät nach Hause.

Er begrüßte mich überschwänglich, und ich war so unbeschreiblich glücklich ihn wieder zu sehen.

Vater und Großvater nickten sich nur zu, wie zwei Fremde, kein Lächeln auf den Lippen.

Sie sprachen auch während unseres gesamten Aufenthaltes nicht miteinander.

Großmutter erklärte mir, dass es nur damit zu tun habe, dass sie sich nicht streiten wollten, und dieses Schweigen von Beiden nur gut für uns alle sei.

Zu meinem Erstaunen hatte sich Großvater sehr verändert.

Er hatte sich einen Bart wachsen lassen.

Sein Gesicht war über uns über mit Haaren bedeckt.

Man könnte beinahe meinen der Nikolaus höchstpersönlich stünde vor einem.

Und abgenommen hatte er auch.

Stark sogar.

Wenn ich heute darüber nachdenke, wäre ich sogar geneigt zu sagen, er bestand nur mehr aus Haut und Knochen. Aus dem einstigen, mir so vertrauten Wirbelwind war ein leises Lüftchen geworden.

Die Sorgen stünden ihm ins Gesicht geschrieben meinte Mutter zu meinem Vater und ob dieser sich nicht nun endlich wieder aussöhnen wolle, mit seinem eigenem Vater.

„Nur, wenn dieser alte Idiot endlich zur Wahrheit steht!“ hatte er gemeint, und glaubte dabei meiner Mutter zuzuflüstern, ich bin mir aber sicher, dass jeder im Raum ihn gehört hatte.

Großvater sagte nichts.

Er lächelte nur gequält in meine Richtung.

In seinen Augen konnte ich erkennen, dass er Schmerzen empfand.

Ich erzählte ihm von der Hitlerjugend, vom Sport den ich nun machte, von meinen Erfolgen, davon, dass mein Vater mich immer mitnahm, und mich mit Stolz seinen Kameraden, oder wie er sie nannte, seinen Volksgenossen, vorstelle.

Doch ich hatte nicht den Anschein, als würde ihn das erheitern, vielmehr plagte mich das Gefühl, dass ich ihn damit belasten würde, sobald ich es ausgesprochen hatte, denn er lächelte nur gezwungen, nickte mit dem Kopf und sagte kein Wort dazu. Der Glanz in seinen Augen war verblasst und ich konnte ihm ansehen, dass er seinen eigenen Kampf verloren hatte.

Dann war es still.

Am nächsten Tag fuhren wir mit der Eisenbahn wieder nach München.

Im Zug meinte Vater noch, wie froh er doch sei, dass wir bald wieder nach Hause kommen würden. Wie froh er sei, dass er dieses leidige liberale Geschwätz und die Schwarzmalerei seines Vaters nicht mehr hören könne, und dass es in München doch so viel besser sei.

Mutter meinte nur, dass es doch nett war, dass es schön sei, wenn man eine Familie habe und wenn man sich mit dieser verstehen würde.

Vater verdrehte die Augen.

Frühling 1934

Sommerjugendspiele in München.

Und ich war anwesend.

Ich nahm sogar teil, rechnete mir aber keine großen Chancen aus.

Mutter meinte, dass ich mich nicht überanstrengen solle, denn ich wisse doch, wie es um meine Gesundheit bestellt sei, außerdem sei Dabeisein doch alles.

Das baute mich auf.

Vater tat dies ab und meinte, dass der zweite Sieger bereits der erste Verlierer sei.

Er erwarte weitaus mehr von eigenen Blute!

Das schlug mich nieder.

Wie dem auch sei.

Der Sommer war schön, die Sonne schien herrlich an diesen Tagen, und es wurde sogar davon gesprochen, dass der Führer höchstpersönlich den Beginn der Spiele einleiten werde, was mich unter diesen Umständen, meinen Vater aber noch viel mehr, erfreute.

Ich war aufgeregt, erstmals in meinem Leben nahm ich an einem sportlichen Wettkampf teil und dann auch noch an einem so Großen.

Die Nächte vor dem 3. Juni 1934 konnte ich kaum schlafen, ich wandelte des Nachts durch unsere kleine Wohnung in der Leipzigerstrasse in Unterhaching bei München.

Unsere Wohnung war durchwegs sehr bescheiden, kaum zu vergleichen mit dem Haus am Pfänder meiner Großeltern, sie bestand kaum mehr als aus einem kleinen Raum, den wir als Esszimmer nutzten, einer kleinen Küchennische, einem kleinen Zimmer in dem meine Eltern schliefen und ein noch kleineres Zimmer, welches ich nutzte.

Durch die Enge unserer Wohnung war es mir des Nachts nicht möglich mich weit zu bewegen, doch es genügte mir um meinen Kopf frei zu bekommen, frei von Gedanken an meine, und da war ich mir sicher, bevorstehende Niederlage.

Die Spiele gingen vorüber, und ich hatte nicht gewonnen.

Um ehrlich zu sein, hatte ich auch nicht teilgenommen.

Auch wenn ich mich in den folgenden Jahren allzu gerne an einen ruhmreichen Tag erinnert hätte, so muss ich jedoch zugeben, dass ich an jenem Tag an einem heftigen Asthmaanfall litt.

Zum ersten Mal in meinem Leben.

Weitere würden jedoch folgen.

Vater war an diesem Morgen, als ich wegen meiner heftige Hustenanfälle immer wieder nach Luft ringen musste und sich Mutter schon Sorgen um mein Wohl und mein Leben machte, als sie meine bereits blau angelaufenen Lippen sah, so wütend, wie ich ihn noch zuvor nie erlebt hatte.

Er beschimpfte lauthals meine Mutter und ihr unreines Blut, ihre Herkunft und ihre lasche Art, denn nur von Ihrem „Gengut“ könne ein so miserabler, missratener und schwächlicher Junge abstammen, der sich gleich seiner Gram, seiner Angst und seiner Schande hinter einem lausigen Hustenanfall verstecken würde, um nicht bei den Spielen teilnehmen zu müssen.

Dergleichen sei eine Schande, die man niemandem erzählen dürfe.

Außerdem sei der Hustenanfall, und das würde jeder Arzt bestätigen, nur gespielt, damit ich mich nicht der Schande des Verlierers ergeben müsse. Es stünde eindeutig und ohne Widerrede fest, meinte er, dass wenn ich teilgenommen hätte, ich sicherlich der schlechteste von allein Teilnehmern gewesen wäre, schwache Mädchen eingeschlossen.

Sicherlich wäre ich eine Schande für Vaterland und Nation und nur weil ich das gewusst hätte, und mich eben dafür schon heute schämte, sei ich derart nahe dem Tode.

Was vermutlich sowieso besser für alle wäre.

Mit diesen Worten schmiss er die Türe hinter sich zu.

Mutter kochte mir einen Tee, den ihr Großmutter für mich mitgegeben hatte, dieser sei ein Geheimrezept ihrer Mutter, und diese hatte das Rezept wieder von Ihrer Mutter, usw. Er würde bei jeder Krankheit sofortige Linderung versprechen.

Mutter sollte aber Vater ja nichts davon sagen, so repetierte meine Mutter Großmutters Worte und lächelte dabei zart, denn sonst würde er sie gleich als Hexe beschimpfen und eben das wolle doch niemand.

Wochen vergingen und Vater hatte mich auf keine Veranstaltung mehr mitgenommen, da er sich wegen meiner Feigheit schämen würde, und um sich und letztlich auch mich vor dem Gespött der Parteigenossen zu schützen, da er diese auf keinen Fall ob meiner Feigheit und meinem vorgetäuschten Hustenanfall, oder was immer das wohl gewesen sein wolle, belügen werde.

Zumindest hatte er es mir so erklärt, als ich ihn fragte, ob ich ihn denn wieder begleiten dürfe.

Im Juni und auch noch im Juli dieses Jahres war mein Vater sehr aufgeregt.

Ich hatte ihn noch nie in einem solchen Delirium gesehen, und wenn ich heute darüber nachdenke, dann kam er mir mehr vor wie ein aufgeregtes Schulmädchen, welches über ihren ersten wirklichen Schwarm berichtete, als ein gestandener Mann, welcher sich über die politischen Ereignisse hätte unterhalten wollen.

Am 31. Juli standen die Reichtagswahlen an.

Hitler müsse nun endlich Gehör finden.

Die NSDAP werde diese Wahlen gewinnen, ein anderer Ausgang sei ja schon fast Blasphemie.

Vater sollte Recht behalten, Hitler gewann diese Wahl, wenn auch unter sehr fragwürdigen Umständen, wie meine Mutter mir im Geheimen erzählte. Vater dürfe von dieser Unterredung selbstverständlich nichts erfahren.

Vater war glücklich.

Und das war es, was für mich tatsächlich zählte.

Er nahm mich wieder mit auf Veranstaltungen.

Die Sommerspiele waren vergessen.

Und ich durfte meine Freunde bei der Hitlerjugend wieder besuchen.

Alles war nun gut.

Dachte ich!

Briefe an Lisa

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