Читать книгу Wenn Sie Sähe - Блейк Пирс - Страница 9
KAPITEL DREI
ОглавлениеEines der vielen Dinge, die Kate während ihres letzten Falls über DeMarco gelernt hatte, war, dass sie pünktlich war. An diese Eigenschaft erinnerte sie sich, als es exakt um Mitternacht an der Tür klopfen hörte.
Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ich so spät noch Besuch bekommen habe, dachte sie. Im College vielleicht?
Mit ihrer gepackten Tasche ging sie zur Tür. Aber als sie die Tür öffnete, sah sie, dass DeMarco keineswegs vorhatte, direkt wieder ins Auto zu steigen und zum Tatort zu rasen.
„Auch wenn es unhöflich erscheinen mag, ich muss mal aufs Klo“, eröffnete ihr DeMarco. „Das war keine gute Idee, zwei Cola während der Fahrt runterzukippen, um wach zu bleiben.“
Kate lächelte und trat zur Seite, um DeMarco vorbei zu lassen. Wenn man den Druck betrachtete, den Duran ihr gemacht hatte, erschien die Ruppigkeit der Situation als geradezu ungewollte Erleichterung. Auch gab es ihr ein Gefühl der Verbindung mit DeMarco, nachdem sie sich zuletzt vor fast zwei Monaten gesehen hatten; dass sie auf dem gleichen Level weitermachten, auf dem sie nach der Aufklärung des letzten Falls aufgehört hatten.
Mit einem verschämten Lächeln im Gesicht erschien DeMarco einige Minuten später aus dem Bad.
„Ach, und guten Morgen übrigens“, sagte Kate. Vielleicht lag es am Koffein, aber DeMarco schien zu dieser späten Stunde noch fit zu sein.
„Ja, mir scheint, dass es morgens ist“, meinte sie, als sie auf die Uhr schaute.
„Wann hast du den Anruf bekommen?“, fragte Kate.
„Zwischen 20 und 21 Uhr, würde ich sagen. Ich wollte früher losfahren, aber Duran wollte erst hundertprozentig sicher sein, dass du dabei bist.“
„Ja, das tut mir leid“, meinte Kate. „Ich hatte heute zum ersten Mal meine Enkelin zum babysitten hier bei mir.“
„Oh nein. Wise… das ist ja jetzt echt blöd. Dass dir der Fall so in die Quere kommt...“
Kate zuckte mit den Schultern und wedelte den Gedanken mit der Hand fort. „Es wird schon okay sein. Bist du soweit, dass wir loskönnen?“
„Ja. Ich habe unterwegs ein paar Anrufe getätigt. Einige Jungs in Washington DC haben mit für uns ein Meeting angesetzt. Wir treffen die Virginia State Police um 4:30 Uhr beim Haus des Ehepaars Nash.“
„Das Haus des Ehepaars Nash?“
„Das letzte Paar, das ermordet wurde.“
Sie gingen zur Tür hinaus und auf dem Weg schaltete Kate das Wohnzimmerlicht aus und schnappte sich ihre Tasche. Sie war aufgeregt hinsichtlich dessen, was jetzt wohl vor ihnen lag, fühlte sich aber gleichzeitig, als verlasse sie auf unüberlegte Weise ihr Zuhause. Schließlich hatte bis vor einigen Stunden noch ihre zwei Monate alte Enkelin friedlich auf ihrem Bett geschlafen. Und jetzt war sie gerade dabei, zum Tatort eines Doppelmordes zu fahren.
Sie sah den Zivilwagen des FBI am Kantstein direkt vor ihrem Haus parken. Er wirkte surreal und gleichzeitig einladend.
„Willst du fahren?“, fragte DeMarco.
„Klar“, sagte Kate und fragte sich, ob der jüngere Agent ihr die Fahrerrolle anbot, um ihr Respekt zu erweisen, oder ob sie einfach eine Pause vom Autofahren brauchte.
Kate setzte sich hinter das Steuer, während DeMarco die Wegbeschreibung zum letzten Tatort aufrief. Das Städtchen hieß Whip Springs, lag in Virginia und war ein verschlafenes Nest am Fuße der Blue Ridge Mountains vor den Toren der Stadt Roanoke. Unterwegs hatten sie nur wenig Small Talk – Kate beschrieb DeMarco, wie sie sich nun als Großmutter fühlte, während DeMarco kaum etwas sagte. Sie selbst erwähnte nur eine erneut in die Brüche gegangene Beziehung, nachdem ihre Lebensgefährtin sie verlassen hatte. Dies überraschte Kate, denn sie hatte DeMarco nicht für lesbisch gehalten. Das führte ihr vor Augen, dass sie sich wirklich mehr Zeit nehmen musste, um die Frau, mit der sie als Partnerin so viel Zeit verbrachte, besser kennenzulernen. Ihre Pünktlichkeit hatte sie bemerkt. Ihre Homosexualität nicht. Was sagte das über sie selbst als Partnerin aus?
Als sie sich dem Tatort näherten, las DeMarco ihr aus den Berichten zu dem Fall vor, die Duran geschickt hatte. Während DeMarco las, suchten Kates Augen den Horizont nach den ersten Sonnenstrahlen ab, sahen aber keine.
„Zwei ältere Ehepaare“, begann DeMarco. „Moment… eines Anfang fünfzig, das andere Anfang sechzig… also, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Bist du nicht“, antwortete Kate, und fragte sich, ob dies DeMarcos merkwürdige Art von Humor war.
„Auf den ersten Blick haben die Ehepaare nichts gemeinsam, abgesehen von den Tatorten. Der erste liegt direkt hier im Herzen von Roanoke und der zweite liegt kaum vierzig Kilometer entfernt in Whip Springs. Es ist nicht erkennbar, ob der Mann oder die Frau das primäre Ziel war. Jeder der Morde war blutrünstig und extrem, was darauf schließen lässt, dass der Killer Spaß an seinem Werk hatte.“
„Und das wiederum lässt typischerweise darauf schließen, dass der Killer meint, dass ihm die Opfer zu irgendeiner Zeit Unrecht getan haben“, meinte Kate. „Entweder das, oder es handelt sich um ein krankes, psychologisches Verlangen nach Gewalt und Blutvergießen.“
„Die letzten Opfer, die Nashes, waren vierundzwanzig Jahre lang verheiratet. Sie haben zwei Kinder. Eines lebt in San Diego, das andere besucht derzeit die University of Virginia. Sie ist diejenige, die die Leichen entdeckt hat, als sie gestern nach Hause kam.“
„Was ist mit dem anderen Ehepaar?“, fragte Kate. „Hatten sie Kinder?“
„Davon steht nichts in den Berichten.“
Kate dachte daüber nach und aus irgendeinem Grund kam ihr das Mädchen, das ihr früher an diesem Tag auf der Straße begegnet war, in den Sinn. Oder genauer gesagt, ihr kam der Flashback in den Sinn, den das Mädchen ausgelöst hatte.
Als sie schließlich am Haus der Nashes ankamen, zeigte der Himmel sein erstes Licht, wenn auch noch keine Sonnenstrahlen zu sehen waren. Schwache Sonnenstrahlen stachen hier und da durch die Baumreihe, die das Haus der Nashes umgab. Sie sahen ein einzelnes Auto vor dem Grundstück parken. Ein Mann stand an die Motorhaube gelehnt, rauchte eine Zigarette und hatte einen Kaffeebecher in der Hand.
„Sie sind Wise und DeMarco?“, fragte der Mann.
„Ja“, sagte Kate und trat vor, um ihren Ausweis zu zeigen. „Und wer sind Sie?“
„Palmetto, Virginia State Police Department. Spurensicherung. Ich habe vor einigen Stunden den Anruf erhalten, dass Sie beiden den Fall übernehmen. Dachte mir, ich sollte hier sein, um das zu übergeben, was ich habe. Was übrigens nicht gerade viel ist.“
Palmetto nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, warf die Kippe auf den Boden und drücke sie mit seinem Fuß aus. „Die Leichen wurden bewegt und es gibt sehr wenig Spuren. Aber kommen Sie erstmal herein. Es ist… nicht ohne.“
Palmetto sprach mit dem Tonfall eines Mannes, der den Job schon eine ganze Zeitlang machte. Er führte sie den Pfad zu Nashes Haus entlang und auf die Veranda. Sobald er die Tür öffnete und sie hinein führte, konnte Kate es riechen: Der Geruch eines Tatorts, an dem eine Menge Blut vergossen worden war. Da hing etwas Chemisches in der Luft, nicht nur der kupferartige Geruch von Blut, sondern auch der von Bewegung und von Leuten, die mit Gummihandschuhen gerade erst den Tatort untersucht hatten.
Je weiter sie in das Haus vordrangen, desto mehr Lichter schaltete Palmetto ein – im Eingangsbereich, im Flur, im Wohnzimmer. Im hellen Schein der Deckenlampe sah Kate zuerst den Blutfleck auf den Holzdielen. Dann noch einen, und noch einen.
Palmetto führte sie zur Vorderseite der Couch und wies auf das Blut.
„Die Leichen waren hier, eine auf der Couch, die andere auf dem Boden. Es hatte den Anschein, als dass die Mutter zuerst umgebracht wurde, wahrscheinlich durch den Schnitt quer über ihren Hals, wobei dieser sehr nah am Herzen endete, aber auf der Rückseite. Theoretisch muss es einen Kampf mit dem Vater gegeben haben. Er hat Hämatome an den Unterarmen, aus seinem Mund ist Blut gedrungen, und der Couchtisch liegt auf der Seite.“
„Irgendwelche frühen Eingebungen, was den Zeitrahmen angeht, von den Morden bis die Tochter die Leichen entdeckte?“, fragte Kate.
„Nicht mehr als ein Tag“, antwortete Palmetto. „Eher zwölf bis sechszehn Stunden. Ich bin sicher, der Gerichtsmediziner wird im Laufe des Tages etwas Konkreteres für Sie haben.“
„Sonst noch irgendwas von Bedeutung?“, fragte DeMarco.
„Tatsächlich, ja“, sagte Palmetto, griff in die Innentasche seiner dünnen Jacke und zog ein unscheinbares Beweismitteltütchen hervor. „Ein Beweismittel. Das einzige. Ich habe es bei mir behalten. Habe mir auch die Erlaubnis geholt, also machen Sie sich keinen Kopf. Hab mir gedacht, Sie wollen es sicher haben und sich darum kümmern. Es ist die einzige Spur, die wir gefunden haben, und sie ist ziemlich unheimlich.“
Er übergab die kleine Plastiktüte an Kate. Sie griff danach und betrachtete den Inhalt. Es sah aus wie ein Stück einfachen Stoffs, zehn mal fünf Zentimeter. Es war dick, blau und flauschig. Die gesamte rechte Seite war voller Blut.
„Wo ist das gefunden worden?“, fragte Kate.
„Tief reingestopft in den Rachen der Mutter. Fast bis ganz runter in den Hals hinein.“
Kate hielt es gegen das Licht.
„Sieht aus wie einfach irgendein Fetzen Stoff.“
Aber da war sich Kate nicht so sicher. Ihre großmütterliche Intuition sagte ihr, dass dies nicht einfach irgendein Fetzen Stoff war. Nein… er war weich, hellblau, und sah flauschig aus.
Dies war das Stück einer Decke. Vielleicht von der Kuscheldecke eines Kindes.
„Haben Sie noch andere Überraschungsbeweise für uns auf Lager?“, fragte DeMarco.
„Nein, mehr gibt es von meiner Seite aus nicht“, meinte Palmetto und war schon auf dem Weg zur Tür. „Falls die Damen weitere Hilfe benötigen, dann melden Sie sich gern beim State Police Department.“
Hinter seinem Rücken tauschten Kate und DeMarco einen genervten Blick aus. Ohne dass eine von ihnen etwas sagen musste, war klar, dass ihnen beiden die Floskel „die Damen“ sauer aufgestoßen war.
„Kurz und knapp, der Mann“, meinte DeMarco, als Palmetto von der Haustür aus die Hand zum Gruß erhob und dann ging.
„Auch gut“, meinte Kate. „Dann können wir schon einmal anfangen, den Fall mit unseren eigenen Augen zu betrachten, ohne davon beeinflusst zu werden, war jemand anderes gefunden hat.“
„Glaubst du, wir sollten zuerst mit der Tochter sprechen?“
„Wahrscheinlich. Und dann untersuchen wir den ersten Tatort und sehen, was wir dort herausfinden können. Hoffentlich treffen wir dort auf jemanden, der etwas gesprächiger ist als unser guter Freund Palmetto.“
Sie verließen das Haus und schalteten nacheinander dabei alle Lichter aus. Als sie vor die Tür traten, ließen sich die ersten Sonnenstrahlen blicken. Kate steckte die Plastiktüte mit dem Inhalt, den sie für den Stofffetzen einer Decke hielt, vorsichtig in ihre Tasche und konnte nicht umhin zu denken, dass ihre Enkelin unter einer ganz ähnlichen Decke schlief.
Die Sonne konnte den kalten Schauer, der ihr über den Rücken lief, nicht unterdrücken.