Читать книгу Gesicht des Wahnsinns - Блейк Пирс - Страница 4

KAPITEL EINS

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Zoe ließ ihren Blick über die vertraute, abgenutzte Lehne des Sessels schweifen. Das Leder war durch die Griffe und Spuren vieler Hände und Finger in verschiedene Richtungen eingerissen, eine Tatsache, die ihren Verstand dazu brachte, sich zu überschlagen, Berechnungen anzustellen und Muster zu verfolgen. Ihre besondere Fähigkeit, die Kraft, in allen Dingen um sie herum Zahlen zu sehen, war so oft eher hinderlich als hilfreich gewesen. Wenn sie nun aber auf das Leder schaute, dann gelang es ihr, nur noch einen Sessel zu sehen – und keine mathematische Gleichung mehr.

Sie sah weg, immer noch konzentriert auf den Moment und die Frage, die ihr gerade gestellt wurde. „Ich freue mich auf heute Abend“, sagte sie und lächelte ihre Therapeutin, Dr. Lauren Monk, an. Die Frau hatte seit Kurzem eine neue Frisur. Sie trug nun einen Pony über ihren dunklen Augen und es stand ihr gut. Sie sah fünf Jahre jünger aus.

„Erzählen Sie mir von Ihren Plänen“, sagte Dr. Monk. Ihr Kopf lag schräg auf einer ihrer Hände und sie studierte Zoe genau. Zoe war es natürlich aufgefallen, dass ihr Notizbuch die ganze Sitzung über geschlossen geblieben war und der Stift lose in ihrer Hand baumelte.

„Ich mache etwas, was ich noch nie zuvor gemacht habe“, sagte Zoe und spürte, wie die Aufregung ihre Wangen leicht rot färbte. „Ich habe ein Doppeldate. John und ich treffen uns mit Shelley und ihrem Mann.“

„Haben Sie das Gefühl, dass Sie mit dieser Situation zurechtkommen können?“

„Ja.“ Zoe nickte, weil sie wusste, dass es die Wahrheit war. Das lag nicht nur an Dr. Monks Hilfe, sondern auch daran, dass sie mittlerweile Vertrauen zu John gefasst hatte, nachdem sie monatelang mit ihm ausgegangen war. Shelley, ihre Partnerin bei der Arbeit, hatte ebenfalls immer wieder bewiesen, dass sie Zoe unterstützen konnte, wann immer sie es brauchte. „Die Übungen, die Sie mir gegeben haben, haben geholfen, die Zahlen zu verdrängen. Ich glaube nicht, dass sie mich wieder überwältigen werden. Diesmal nicht.“

Dr. Monks Lippen zogen sich kurz nach oben während Zoe sprach, als hätte sie etwas gehört, das sie sehr glücklich machte. Einen halben Zentimeter über der rechten Seite ihrer Oberlippe hatte sie einen Schönheitsfleck, der sich ebenfalls nach oben bewegte. Mit einem Satz legte sie ihr Notizbuch auf dem Tisch ab und den Stift ordentlich darauf. „Zoe, ich werde jetzt etwas sagen und ich bitte Sie, es nicht falsch zu verstehen“, sagte sie. Ihr Gesicht sah fröhlich aus und sie gab sich alle Mühe, sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen, wie sehr sie sich freute. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir uns nicht mehr sehen.“

Zoe hob eine Augenbraue. „Meinen Sie, dass ich mir einen anderen Therapeuten suchen sollte?“

Dr. Monk lachte. „Nein, Zoe. Ich sagte doch, dass Sie es nicht falsch verstehen sollen. Ich denke nicht, dass Sie überhaupt noch zu einem Therapeuten gehen sollten.“

„Sind wir … fertig?“

Dr. Monk nickte bestätigend. „Sie brauchen mich nicht mehr.“

Zoe ließ ihre Augen durch den Raum wandern, den Dr. Monk für ihre Therapiesitzungen benutzte: die in schwarzem Holz gerahmten Zertifikate an der Wand, die Bücherregale voller Psychologiebücher, die Topfpflanze in der Ecke. Ein plötzlicher Anflug von Nostalgie überkam sie, etwas, das sie als FBI-Agentin nicht oft verspürte – sie war normalerweise nie lange genug an einem Ort, um sich an ihn zu gewöhnen, sondern immer nur so lange, bis der Fall abgeschlossen war. Es war das Gefühl, zum letzten Mal einen Ort zu verlassen. „Was, wenn ich wieder anfange, die Kontrolle zu verlieren?“

Dr. Monk beugte sich vor und legte ihre Hand auf die von Zoe, die auf der Sessellehne ruhte. „Wenn Sie mich jemals wieder brauchen sollten, müssen Sie mich nur anrufen und einen Termin mit mir vereinbaren. Sie werden immer auf meiner Patientenliste stehen. Aber dies hier ist unsere letzte reguläre Sitzung.“

Zoe nickte und versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie hatte die Therapie abgeschlossen. Brauchte sie nicht mehr. In den letzten Monaten hatte sie viel Zeit hier in diesem Sessel verbracht und viel Arbeit in den Versuch gesteckt, sich zu ändern. Zu hören, dass sie es letztendlich geschafft hatte, war wirklich nur eine Bestätigung dessen, was sie innerlich bereits wusste. Sie wusste, dass sie die schlimmsten Teile ihres Verstandes bezwungen, sie gezähmt und trainiert hatte.

Als kleinen Selbsttest ließ sie ihre Augen erneut durch den Raum wandern. Wenn sie es wollte, konnte sie immer noch die Zahlen sehen. Sie erkannte sofort, dass in den Regalen ein Buch fehlte – vielleicht hatte Dr. Monk es zum Lesen herausgenommen oder jemandem mitgegeben. Sie wusste, dass die Bücherregale zwei Meter hoch waren und dass Dr. Monk wahrscheinlich auf etwas hinaufklettern musste, um die Bände ganz oben zu erreichen.

Aber als sie noch einmal hinsah und sich diesmal darauf konzentrierte, ruhig zu bleiben, sah sie einfach nur ein Bücherregal, das mit Büchern gefüllt war. Wie jeder andere auch.

Sie spürte, wie sich ihre Lippen ohne ihre Erlaubnis nach oben verzogen. Es war ein echtes, natürliches Lächeln, etwas, das sie nur selten überkam. Sie fühlte sich stärker als je zuvor. Besser als je zuvor. Bereit für alles, was auf sie zukommen konnte.

„Danke, Dr. Monk“, sagte sie, stand auf und streckte ihrer Therapeutin die Hand entgegen.

Dr. Monk schüttelte ihre Hand, drückte sie für einen kurzen Moment etwas fester und lächelte dabei sichtlich gerührt, bevor sie Zoe schließlich zur Tür begleitete.

„Bitte verstehen Sie das nicht falsch“, sagte Zoe scherzhaft, als sie sich auf der Schwelle umdrehte. „Aber ich hoffe, dass ich Sie jetzt für eine ganze Weile nicht sehen wiedersehen werde.“

Dr. Monk antwortete mit einem strahlenden Lächeln. „Geht mir genauso“, sagte sie und schloss die Tür schmunzelnd.

Zoe drückte ihre Schultern durch. Persönliche Erfolge mussten gefeiert werden. Da passte es doch nur zu gut, dass sie etwas Besonderes vorhatte.

***

Eine weitere Tür öffnete sich nach Zoes Klopfen, einige Stunden später und in einem anderen Stadtteil. Trotz Dr. Monks unterstützender Worte war sie jetzt hibbelig und nervös, ihre Hände schienen nicht mehr stillhalten zu können. Sie hielt den Träger ihrer Tasche zwischen den Fingern und verdrehte den dünnen Riemen erst in die eine, dann in die andere Richtung.

Dr. Francesca Applewhites schlanke Figur war in einen bequemen Morgenmantel gehüllt und ihr von grauen Strähnen durchzogenes, dunkles Haar wippte in einem ordentlichen Bob auf und ab, als sie Zoe von Kopf bis Fuß betrachtete. „Zoe“, sagte sie und versuchte offensichtlich, ihre Worte sorgfältig auszuwählen. „Mit dir habe ich nicht gerechnet. Du siehst reizend aus. Aber, ähm … was ist mit deinen Augen passiert?“

Zoe brach beinahe zusammen, ihr Blick auf den Boden gerichtet. Sie wusste, dass sie versagt hatte. „Ich brauche deine Hilfe“, sagte sie kläglich.

Dr. Applewhite ging auf sie zu und berührte sie am Ellbogen. „In Ordnung, meine Liebe. Komm rein, komm rein.“

Zoe folgte ihrer geliebten Mentorin in ihr gemütliches Zuhause. Der Flur war gesäumt von gerahmten Errungenschaften: Sowohl Dr. Applewhite als auch ihr Mann hatten einiges erreicht und obwohl sie nie Kinder gehabt hatten, zeugten die Zertifikate und Auszeichnungen von akademischen Karrieren und einem Leben im Dienste der Forschung.

„Ich hab das noch nie gemacht“, klagte Zoe und verabscheute den hohen und niedergeschlagenen Klang ihrer Stimme. „Ich dachte, es wäre ein Kinderspiel. Ich hab mir YouTube-Tutorials angesehen, um zu sehen, wie es geht, aber …“

Dr. Applewhite hielt inne, drehte sich um, legte eine Hand zwischen Zoes Schulterblätter und führt sie weiter durch ihre Wohnung. „Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen dich schon wieder hin. Das geht ganz leicht. Heute ist ein großer Abend, nicht wahr?“

„Date-Abend“, sagte Zoe und fühlte sich  schon jetzt – angesichts der Aussicht, Hilfe von der einen Person zu bekommen, die immer für sie da war, wenn Zoe sie brauchte – deutlich besser.

Aber das war vielleicht nicht ganz fair. Im Vergleich zu Dr. Applewhite kannte sie Shelley zwar erst seit relativ kurzer Zeit, aber auch sie hatte Zoe noch nie im Stich gelassen. Selbst dann, wenn Zoe wegen vermeintlicher Kränkungen wütend auf sie gewesen war, hatte sie später immer wieder festgestellt, dass Shelley die richtige Entscheidung getroffen hatte. Vor einigen Monaten, als sie gemeinsam daran gearbeitet hatten, einen Serienmörder zur Strecke zu bringen, der es auf Menschen mit Holocaust-Gedenktätowierungen abgesehen hatte, hatte Shelley Zoe großes Vertrauen entgegengebracht, als sie sich darauf einließ, weiter mit voller Konzentration nach dem Mörder zu fahnden, obwohl sie bereits einen anderen Verdächtigen in Haft hatten. Diese Entscheidung hatte sich als richtig herausgestellt und sie arbeiteten jetzt besser denn je in zusammen. Sie kooperierten bei der Lösung ihrer Fälle instinktiv und vertrauten einander auch ohne Worte.

Als Zoe darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass auch John sie eigentlich noch nie im Stich gelassen hatte. Bei Verabredungen war immer auf ihn Verlass; er war oft als Erster am Treffpunkt und musste auf Zoe warten. Zudem reagierte er nie frustriert oder wütend, wenn Zoe eine Verabredung absagen musste, weil sie an einem Fall in einem anderen Teil des Landes arbeitete. Selbst dann nicht, wenn die Absage kurzfristig kam.

Irgendwie, schrittweise und ohne es zu merken, hatte Zoe es geschafft, sich mit der Art von Menschen zu umgeben, auf die sie sich verlassen konnte.

„Okay, setz dich mal auf den Rand der Badewanne“, sagte Dr. Applewhite, führte Zoe in ein weißes, mit Marmor verkleidetes Badezimmer und eilte zu einem Schrank hinüber. Er war voll von verschiedenen Make-up- und Hautpflegeprodukten. Sie zog eine Flasche hervor und gelschüttete etwas vom Inhalt auf ein Wattepad. Es war eine schnelle und geübte Bewegung.

„Was machst du da?“, fragte Zoe und betrachtete alarmiert die Flasche. Was gerade um sie herum geschah, ging über ihr normales Verständnis hinaus. Sie war nie die Art von Frau gewesen, die versuchte, hübsch auszusehen. Aus Bequemlichkeit ließ sie ihr braunes Haar kurz schneiden, denn ihr ganzes Leben drehte sich um den Job. Es musste praktisch sein. Bequeme, schlichte Kleidung, in der man sich leicht bewegen konnte, flache Schuhe zum Rennen. Ein sauberes Gesicht, denn sie musste immer einsatzfähig sein – und falls es regnete, konnte einem die Wimperntusche in die Augen laufen, wenn man einem Verdächtigen auf den Fersen war. Alles, was mit Make-up zu tun hatte, war ihr fremd, zumindest wenn man von ein paar Experimenten in der Uni absah, die nie gut gelaufen waren.

„Leg den Kopf zurück und mach die Augen zu“, sagte Dr. Applewhite. Ohne nachzudenken, tat Zoe wie ihr geheißen. Dr. Applewhite war ganze vier Zentimeter kleiner als sie und musste sich nicht weit nach unten beugen, jetzt, wo Zoe auf dem Badewannenrand saß. „Ich mache diese Panda-Augen, die du dir selbst gemalt hast, wieder weg und fange von vorn an. Lass mich raten – du hast sie nicht gleichmäßig hinbekommen, also hast du immer mehr aufgelegt, um das wieder auszugleichen?“

Zoe nickte, dann erstarrte sie, als sie die Feuchtigkeit des nassen Wattepads auf ihrem geschlossenen Augenlid spürte. „Ich habe Eyeliner dabei“, sagte sie. „Es tut mir leid, dass ich einfach so vorbeigekommen bin. Ich wusste nicht, wen ich sonst um Hilfe bitten sollte.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte Dr. Applewhite, ihre Stimme war etwas distanziert, weil sie sich konzentrierte. „Ich bin immer für dich da, Zoe. Das weißt du. Jetzt gib mir den Eyeliner.“

Zoe fummelte in ihrer Tasche herum, um ihn für sie herauszuholen, dann schloss sie wieder gehorsam die Augen. Dr. Applewhites sichere und ruhige Hand strich erneut über ihre beiden Augenlider. Mit leichtem Druck zeichnete sie geübt eine Linie – erst auf das eine und dann auf das andere.

„So“, sagte Dr. Applewhite und klang dabei ziemlich zufrieden mit sich selbst. „Schau’s dir mal an.“

Zoe öffnete die Augen und musste im hellen Licht des Badezimmers blinzeln, weil sich ihre Augen erst an die Helligkeit gewöhnen mussten. Sie stand auf, ging zum Badezimmerspiegel und schnappte nach Luft.

Dr. Applewhite hatte mit der schwarzen Farbe elegante, dünne Linien gezogen, die den Bogen ihres Augenlids entlangliefen und dann an den Rändern ein wenig nach oben gezogen worden waren. Der Lidstrich betonte die Dunkelheit ihrer braunen Augen und setzte sie in Kontrast zu den helleren Farbflecken ihrer Iris. So hatte sich Zoe noch nie zuvor gesehen. Sie sah exotisch aus. Weiblich.

„Zufrieden?“, fragte Dr. Applewhite. „Ich kann es auch noch verändern, wenn du willst.“

Zoe nickte und biss sich auf die Lippe. „Sehr zufrieden“, sagte sie.

„Heute Abend muss wirklich etwas Besonderes sein“, sagte Dr. Applewhite und setzte sich auf den geschlossenen Deckel der Toilette.

Zoe setzte sich wieder auf den Badewannenrand und hockte dort wie ein Teenager. „Ich gehe auf ein Doppeldate mit John, Shelley und ihrem Mann“, erklärte sie. „Dafür wollte ich mir Mühe geben, gut auszusehen.“

„Du siehst wunderschön aus“, sagte Dr. Applewhite und deutete auf das dunkelrote Kleid, das Zoe ausgesucht hatte. „So etwas habe ich dich noch nie tragen sehen.“

Zoe schaute an sich herab. Zuerst hatte sie sich in dem Kleid unwohl gefühlt. Es war tief ausgeschnitten und zeigte ihr Dekolleté. Außerdem lag es eng an ihren Hüften und hatte einen Schlitz im Stoff, der bis zu ihrem Unterschenkel verlief. In den Schuhen hatte sie sich noch unwohler gefühlt, obwohl der Absatz kaum mehr als einen Zentimeter hoch war. Das war alles neu für sie. „Ich wollte ihm zeigen, dass ich auch …“, sie suchte nach einem passenden Wort, „… weiblich sein kann.“

Dr. Applewhite beugte sich vor und nahm Zoes Hand in ihre. „Das weiß er bereits. John ist schon so lange mit dir zusammen. Du musst dich nicht für ihn ändern.“

„Ich weiß.“ Zoe zögerte und versuchte, das Gefühl zu beschreiben. „Es ist eher so, dass … ich es will.“

Dr. Applewhite lächelte, ein breites und ehrliches Lächeln, das in ihren Augen zu beginnen schien und erst danach ihren Mund erreichte. „Es wird ernst mit ihm.“

Es war keine Frage, aber Zoe fühlte sich trotzdem gezwungen, sie zu beantworten. „Vielleicht. Heute Abend …“ Zoe holte tief Luft. Das war es, was sie wirklich nervös machte, was sie dazu getrieben hatte, sich mehr Mühe mit ihrem Aussehen zu geben. „Heute Abend möchte ich mit ihm reden. Ernsthaft reden. Über unsere Zukunft und darüber, wohin sich die Beziehung entwickelt.“

Die Augen von Dr. Applewhite, um die deutliche Lachfalten zu erkennen waren, glänzten vor Feuchtigkeit. In letzter Zeit schien das einigen Personen in ihrer Gegenwart zu passieren. Zoe fragte sich, ob die Grippesaison dieses Jahr früher begonnen hatte. „Und was für eine Reaktion erhoffst du dir?“

Zoe blickte auf ihre abgekauten Fingernägel herab. Sie hatte morgens versucht, etwas Nagellack aufzutragen, aber das hatte nicht gut funktioniert. Letztlich hatte sie alles wieder weggeschrubbt und sich entschlossen, sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu. „Es läuft gut zwischen uns, aber früher oder später muss es entweder weitergehen oder aufhören. Ich habe …“

Dr. Applewhite ergriff das Wort und vervollständigte den Satz für sie. „Angst?“

Zoe neigte den Kopf. „Ein bisschen.“

„Und was ist mit den Zahlen?“, fragte Dr. Applewhite und traf direkt den Kern der Sache, so, wie sie es immer tat. „Weiß er es schon?“

„Nein“, seufzte Zoe. Die Zahl der Menschen, die von ihrem Geheimnis wussten, ihrer Fähigkeit, überall Zahlen zu sehen, konnte sie an einer Hand abzählen. Shelley, Dr. Monk, Dr. Applewhite und ihr Hausarzt. Diejenigen, die es wissen mussten und diejenigen, die es selbst herausgefunden hatten.

„Glaubst du, du kannst es ihm sagen?“, fragte Dr. Applewhite sanft.

Zoe drehte ihre Hände und betrachtete die Linien auf ihren Handflächen. Einige Leute, so wusste sie, glaubten, dass man dort in den Linien und Winkeln das Schicksal ablesen könne. Es war die Art von Denken, der sie vielleicht verfallen wäre, wenn sie denn nunr irgendetwas daran glauben könnte. „Vielleicht“, sagte sie und zeichnete die Linie nach, von der man dachte, sie hätte etwas mit Liebe zu tun. „Das hängt von heute Abend ab.“

Dr. Applewhite stand abrupt auf und begann, aufzuräumen. Sie beschäftigte sich mit dem Badezimmerschrank, um ihr Gesicht vor Zoe zu verbergen. „Ich hoffe, es geht gut“, sagte sie, ihre Stimme klang seltsam nervös. „Das hoffe ich wirklich.“

„Danke“, sagte Zoe. „Ich meine, für alles.“

Zu ihrer Überraschung drehte sich Dr. Applewhite rasch um und zog sie in eine Umarmung. Sie umklammerte Zoe leicht und drückte ihre Schultern. Als sie Zoe losließ, wischte sich Dr. Applewhite über die Augen und stieß Zoe mit einem sanften Schubser in Richtung Tür. „Ich weiß nicht, warum du deine Zeit bei einer alten Frau wie mir vergeudest“, sagte sie. „Du hast eine wichtige Verabredung, zu der du gehen musst. Jetzt geh schon. Geh und amüsiere dich.“

Innerlich fragte sich Zoe, ob es wohl doch noch Spaß machen würde. Es hing viel vom Ergebnis ihres Gesprächs mit John ab und es war auch eine Chance, einen besseren Eindruck auf Shelleys Mann zu machen, als bei ihrem letzten Treffen.

Als sie auf die Straße trat und auf ihr Auto zusteuerte, spürte Zoe, wie der Druck auf ihren Schultern lastete. Dazu kam noch ihre Nervosität. Sie dachte fast, sie könnte direkt nach Hause fahren.

Aber als sie auf dem Fahrersitz saß, entspannte sie ihre Schultern noch einmal und sah nach vorne. Sie wollte es unbedingt schaffen, selbst wenn es sie umbringen würde.

Es war einfach zu wichtig, um jetzt einen Rückzieher zu machen.

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