Читать книгу Zwei Minuten Ewigkeit - Bo Katzman - Страница 8

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1. Teil

Worum geht’s hier eigentlich?

Hätte ich geahnt, dass ich an diesem Tag dem Gevatter Tod ins Auge blicken würde, wäre ich wohl gar nicht erst aufgestanden.

Hätte ich an jenem Tag brav den morgendlichen Kurs als Student des Lehrerseminars besucht, anstatt jene verhängnisvolle Spritztour auf meinem Motorrad zu machen, so hätte sich mein gesamtes Leben wohl komplett anders entwickelt. Ohne diesen kleinen, spontanen Entscheid hätte mein Lebensweg einen völlig anderen Verlauf genommen, ich hätte mich zu einer anderen Person entwickelt als zu der, die nun hier sitzt und diese Zeilen schreibt. Es wären mir zwar schreckliche Schmerzen erspart geblieben, aber ich hätte jene Erfahrung nicht machen können, die mich über den Tellerrand des Lebens blicken und mich eine Dimension erahnen liess, die alles übersteigt, was sich ein menschliches Gehirn ausdenken oder erfassen kann.

Diese Erfahrung, von der ich hier erzählen möchte, verschob meinen Standpunkt und meinen Blickwinkel auf das, was wir »das Leben« nennen. Obwohl ich nach wie vor mit vollem Einsatz im Spiel bin, hat sich seither etwas von mir losgelöst, das wie ein unsichtbarer Zaungast interessiert das Treiben am Set beobachtet. Und was hier vor meinen Augen gespielt wird, ist ein ausserordentlich interessantes Stück mit ebenso vielen beteiligten Akteuren, wie es Menschen auf diesem Planeten gibt. Der Dichter Calderón nannte es »Das grosse Welttheater«.

Jeder Mensch ist darin der Hauptdarsteller seines eigenen, lebenslangen Spielfilms, der nach einem scheinbar improvisierten Skript eine einzigartige Geschichte erzählt: die Geschichte seines persönlichen Lebens.

Es kommen darin natürlich auch Nebendarsteller vor, die in jedem dieser Stücke mitagieren, und zwar als Eltern, Geschwister, Nachbarn, Lehrer und als Kassiererin im Supermarkt oder als Postbote. Diese wiederum sind die Hauptdarsteller in ihrem eigenen Stück, in dem wir als Nebendarsteller auftreten.

So ist die gesamte Menschheit verknüpft und verwoben, jeder Einzelne spielt in das Leben anderer Menschen hinein, beeinflusst und verändert durch sein Agieren unzählige Leben und wird selber ununterbrochen beeinflusst und verändert. Durch dieses Verweben und Verknüpfen von Begegnungen und Ereignissen ergibt sich unter Mitwirkung aller beteiligten Faktoren jenes Ergebnis, das wir »persönliches Schicksal« nennen.

Wie viele Menschen haben schon einmal harte Lebensschläge erlebt – der Verlust von geliebten Menschen, schwere Krankheiten oder Unfälle –, bei denen sie sich fragten: Wieso passiert das ausgerechnet mir? Eine weitere beliebte Frage, die in solchen Momenten gestellt wird, ist: Wie kann Gott so etwas Schreckliches zulassen?

Sind solche Ereignisse schlussendlich Strafen Gottes, Schicksal, Zufall oder einfach nur Pech? Ich vermute, jeder Mensch hat in seiner Lebensgeschichte etwas erlebt, das ihm zu denken gibt und das grundsätzliche Fragen zu jenem unübersichtlichen Phänomen namens Schicksal aufwirft: Wieso treffen einen unvermittelt Dinge im Leben, die man weder gewollt noch geahnt hat? Kann man wirklich behaupten, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, oder waltet da hinter den Kulissen ein grosser Regisseur, der die Fäden zieht und nach dessen Pfeife wir tanzen?

Ein weiteres offenes Feld, bei dem grosse Verwirrung und Unschlüssigkeit herrschen, betrifft das Rätsel, was uns nach diesem Leben erwartet. Die einen verkünden Himmel und Hölle, die anderen vertreten die Meinung, dass da gar nichts mehr komme. Sollte das aber der Fall sein, warum bemüht man sich dann überhaupt, ein moralisches und sittliches Leben zu führen? Haben unsere Handlungen vielleicht doch Konsequenzen, die über dieses Leben hinausgehen, oder sind wir mit dem Tod von jeglicher Verantwortung entbunden, weil nachher sowieso Schluss ist? Und dann steht da schliesslich noch die grosse Kernfrage: Warum sind wir überhaupt hier?

Mit solchen Themen beschäftigen sich seit jeher Philosophien, Religionen und Naturwissenschaften und alle bieten unterschiedliche Antworten an. Aber gibt es überhaupt eine schlüssige, definitive Antwort?

Nun, ich habe eine Geschichte erlebt, die mich aus der Bahn des Lebens, wie ich es mir vorstellte, geworfen hat, und ich habe seither einen Grossteil meiner Zeit damit verbracht, befriedigende Antworten auf eben diese Fragen zu finden. So wurde mein Lebensweg auch zu einem Weg der Suche, auf dem ich auf Einsichten stiess, die mich überraschten und die vermutlich auch einige von Ihnen erstaunen werden.

Die Hinweise, die mich schlussendlich zu solchen Einsichten geführt haben, waren zum Teil buchstäblich »nicht von dieser Welt«. Sie offenbarten mir unerwartete Ansätze, auf die ich durch blosses Übernehmen von vorgefertigten Schulmeinungen und Lehrsätzen nicht gekommen wäre, auch wenn diese von wissenschaftlicher oder religiöser Seite her als unumstösslich deklariert werden.

Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass es nicht den genormten »rechten Weg« gibt, sondern nur den »eigenen Weg«, und der ist für jede Person ein anderer und geht in keinem Fall immer geradeaus. Im Gegenteil, im Nachhinein erwies sich in meinem Fall, dass gerade die Irrläufer, die Fehler und Entgleisungen die richtigen Abzweigungen waren, welche mich auf den Weg zu heilsamen Erkenntnissen führten, die mir ohne diese verborgen geblieben wären.

Vielleicht entdecken auch Sie in diesem Buch einen neuen Zugang zu Antworten auf Fragen, die Sie sich schon lange stellen und bei denen Sie nicht die Zeit oder die Gelegenheit hatten, ihnen gründlich nachzugehen.

Der erste Teil dieses Buches beschäftigt sich vorwiegend mit diesen Lebensfragen und dem Versuch, sie von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Der Kern dieses Teils ist das Erleben meines eigenen Todes anlässlich eines Verkehrsunfalls und meine erstaunlichen Erfahrungen in einer Sphäre, die wir als »das Jenseits« bezeichnen. In diesem Abschnitt werden auch Überlegungen und Gedanken entwickelt, die sich mit dem traditionellen Jenseits- und Gottesbild der heutigen Menschen kritisch auseinandersetzen.

Der zweite Teil erzählt die Geschichte von einem kleinen Jungen aus dem Industrieort Pratteln, der sich aufmachte, einmal berühmt zu werden, und wie er zu seiner grossen Leidenschaft fand: der Musik.

Im dritten Teil lernt dieser junge Mann, dass die Erfüllung seines Traumes mit harter Arbeit verbunden ist und dass auch seine Jenseitserfahrung nicht automatisch einen Heiligen aus ihm macht. Er begibt sich auf den Weg der Suche nach dem Sinn des Lebens, der ihn durch manche Höhen und Tiefen führt. Aber nicht nur der spirituelle Weg birgt seine Herausforderungen, auch die musikalische Entwicklung kommt nicht ohne Baustellen und Umwege aus.

Der vierte Teil ist der Zeit der Reife gewidmet, in welcher der ungestüme Wildbach zu einem kräftig fliessenden Strom wird, der endlich seine Bahn gefunden hat. Darin spielt jene Sängergemeinschaft eine grosse Rolle, die als Bo Katzman Chor in die Schweizer Musikgeschichte Einzug gehalten hat. Aber auch dieses Gewässer hat seine Turbulenzen und Strudel, und es werden noch einige Windungen zu bezwingen sein, bis es sich in den endlosen Ozean ergiessen darf.

Aber fangen wir von vorn an. Hier ist meine Geschichte.

Wie ich ums Leben kam

Es war der 17. Juni 1972, ein Samstag. Ein strahlendblauer Morgenhimmel lachte mich herausfordernd an, als ich das Rollo vor meinem Schlafzimmerfenster hochzog und die goldenen Sonnenstrahlen in mein Zimmer drangen. Wochenende!

Ich war kurz vorher zwanzig Jahre alt geworden und angesichts dieses perfekten Frühsommertags schlug mein Herz bis zum Hals vor lauter Lebensfreude und Abenteuerlust. Ein Blick auf meinen Stundenplan dämpfte meinen Übermut allerdings schlagartig: Von zehn bis vierzehn Uhr war das Absitzen von öden Unterrichtsstunden im muffigen Zimmer des Lehrerseminars angesagt, in dem ich mich zum Pädagogen ausbilden liess. Diese Aussicht passte nun überhaupt nicht zu den süssen Verlockungen, mit denen dieser junge Tag mich rief.

Widerstrebend fügte ich mich trotzdem meinem Schicksal, stülpte mir meinen goldenen Motorradhelm auf, schwang mich auf meinen Blechesel – eine zweihundertfünfzig Kubik Yamaha Strassenmaschine in Gold und Weiss mit dem Nummernschild BL 358 – und machte mich auf den Weg in das Unvermeidliche.

Kaum war ich jedoch an der ersten Kreuzung angelangt, begannen zwei Seelen in meiner Brust einen kurzen, aber heftigen Kampf auszufechten. Die pflichtbewusste, vernünftige Seite in mir drängte: nach rechts, Richtung Seminar und Berufsausbildung, wie es sich gehört. Die abenteuerlustige Seite hingegen rief: nach links, in die Freiheit der Jurahügel und auf zum Tanz in den Kurven!

Ach, was soll’s, entschied ich mich kurzerhand, was verpasse ich schon, wenn ich mal ein paar Stunden schwänze. So ein Prachttag will gefeiert sein! Du lebst nur einmal, also stürz dich hinein in die Ekstase des Lebens, man weiss ja nie, ob dieser Tag nicht der letzte ist. Ich liess den Motor zweimal kurz aufheulen, kippte den Blinker nach links, kickte mit dem Fuss den ersten Gang rein und gab Gas. Und so galoppierten der glorreiche Ritter und sein wackeres Rennpferd auf dem Weg zu neuen Abenteuern in einen sonnigen Frühsommermorgen, einem unerwarteten Schicksal entgegen.

Dieses lauerte keine zwei Kilometer vor mir in einer unübersichtlichen Kurve. Ich hatte diese Schleife schon oft befahren und sie war jedes Mal eine lustvolle Herausforderung. Ich bog also von der Hauptstrasse rechts ab in jene Unterführung, die in einem engen Rechtsradius unter der Hauptstrasse durchführt. Der Motor dröhnte und hallte von den Schachtwänden wider, als ich den Gasgriff durchzog, und die Maschine in Schräglage kippte, um wie auf einer Achterbahn meinen atemberaubenden Kreis durch den kurvigen Tunnel zu ziehen.

Mein Herz lachte im Leib in diesem Rausch von Geschwindigkeit und der Lust des Kräftemessens mit der Schwerkraft…

Rums! Was war das? Ich bekam plötzlich keine Luft mehr. Was machte dieser Auspufftopf vor meinem Gesicht? Warum lag ich auf dem Rücken und warum war mein Bein so merkwürdig abgedreht? Blitzartig realisierte ich, dass ich unter einem grossen Amerikanerwagen lag. Ich war mit voller Wucht von hinten in den Wagen hineingeprallt, der da mitten auf der Fahrbahn in einer Kolonne stand. Die Kurve in der Unterführung war so eng, dass die Sicht keine fünf Meter betrug, und ich in der kurzen Distanz nicht mehr hatte reagieren können. Mein Motorrad lag neben mir und heulte mit Vollgas, während Benzin aus seinem demolierten Tank rann. Es hatte sich wie ein Keil unter den schweren amerikanischen Wagen geschoben, dessen Hinterachse leicht angehoben und ich lag hilflos eingeklemmt dazwischen.

Ich spürte, dass mein Körper ähnlich zertrümmert war wie mein stählernes Reittier, das völlig verbogen und verbeult neben mir schrie. Durch den Schlag des Aufpralls auf meine Magengegend waren meine Innereien zu Mus zerquetscht und mein Brustkorb eingedrückt worden, das machte es mir unmöglich, zu atmen. Die Qual des langsamen Erstickens und die Schmerzen trieben mich zum Wahnsinn. Panik erfasste mich, als ich begriff, dass dies wohl das Ende wäre. Ein immenser Zorn wallte in mir auf. »Warum ich? Warum schon jetzt? Das muss ein fataler Irrtum sein! Ich bin doch viel zu jung zum Sterben!«, bäumte ich mich innerlich auf. Aber im Höhepunkt meiner Wut kam eine seltsame, tiefe Ruhe über mich. Sie kam in dem Moment, als ich die Ausweglosigkeit meiner Situation und die Sinnlosigkeit meines Aufbegehrens einsah und mich in mein Schicksal ergab.

Und genau in diesem Augenblick geschah etwas sehr Merkwürdiges. Wie durch Zauberhand waren meine Schmerzen verschwunden und mir war, als würde die Zeit stehenbleiben. Und nicht nur das: Die ganze Welt hielt inne, wie in dem Märchen von Dornröschen, in dem alle Bewohner des Königreichs in ihrer Bewegung erstarren und hundert Jahre in dieser Stellung verharren. In diesem Stillstand der Welt öffnete sich mir ein Zeitfenster, in dem ich mich als Einziger bewegen konnte.

Bestimmt haben Sie schon einmal gehört oder gelesen, dass viele Menschen im Angesicht des Todes ihren »Lebensfilm« gesehen haben sollen. Es mag wie ein Klischee klingen, aber genau das passierte mir auch, nur war es mehr als bloss ein Film. In diesem Zeitfenster lebte ich nämlich mein gesamtes bisheriges Leben noch einmal durch. Ich erlebte meine Geburt, meine Kindheit, alle meine Geburtstage, meine Kindergarten- und Schulzeit … Jeden Gedanken, jeden Geruch, jedes gesprochene Wort und jeden Traum erlebte ich noch einmal, aber nicht etwa in einem Zeitraffer, sondern in voller Länge und Intensität. Ich lernte noch einmal laufen, rechnen und schwimmen, ich las noch einmal alle Bücher, zankte mit meinen Geschwistern, verliebte mich und tat alle meine kleinen Gemeinheiten und Fehler noch einmal.

Bei dieser Retrospektive stand ich aber gleichzeitig als Beobachter dabei und schaute mir das ganze Geschehen aufmerksam an. Ich war also zwei Personen: eine, die es erlebte und eine, die es beobachtete, zugleich aber war es ein und dieselbe Person. Während dieses Erlebens und Beobachtens gewahrte ich zudem ein liebevolles Wesen neben mir, das ich zwar nicht sehen, dessen Anwesenheit ich aber ganz stark spüren konnte. Als ich am Ende des Rückblicks angekommen war, forderte mich das Wesen wohlwollend auf, nun mein Leben, und was ich daraus gemacht hatte, zu beurteilen. Es hatte nicht mit mir gesprochen, sondern direkt in mein Bewusstsein gedacht und ich nahm die Gedanken wie gesprochene Worte wahr, ein Phänomen, das ich in naher Zukunft noch einmal erleben sollte.

Mir war völlig klar, dass ich aus dem Lebensmaterial, das mir in den zwanzig Jahren zur Verfügung stand, nicht gerade ein Kunstwerk gestaltet hatte. Mit anderen Worten, ich hatte meine Lebenszeit eher vergeudet als genutzt oder gar gewinnbringend angelegt und gab mir die Note »Knapp genügend«. Das Wesen neben mir liess mich ein verständnisvolles Lächeln spüren, aber kein Anflug von Missfallen oder Bedauern ob meiner nicht gerade rühmlichen Leistung trübte seine liebevolle Ausstrahlung. Im Gegenteil, es gab mir das Gefühl, hundertprozentig geliebt und akzeptiert zu sein, und gab mir zu verstehen, dass meine Wertung lediglich meine persönliche Sicht der Dinge sei, die aber keine weiterreichende Bedeutung habe. Der einzige Zweck dieser Bewertung sei, dass ich die Einsicht gewänne, in welchen Momenten ich gut und liebevoll und in welchen ich schlecht und lieblos gehandelt hätte. In Wirklichkeit seien alle meine Erfahrungen wertvoll gewesen und unterlägen keiner negativen oder positiven Beurteilung.

Da schloss sich das Zeitfenster und ich wurde wieder in das irdische Zeitgeschehen zurückgeworfen. Wie von ferne vernahm ich eine grosse Aufregung um mich herum, entsetzte Menschen standen am Unfallort und liefen hilflos und händeringend hin und her. Autoschlangen blockierten den Verkehr in einem grossen Umkreis. Ich bemerkte, wie jemand einen Wagenheber anschleppte und versuchte, den schweren Wagen anzuheben, unter dem ich lag, um mich aus der misslichen Lage zu befreien. Ich badete in einer Lache von ausgelaufenem Benzin, das meine Kleider durchtränkte und dessen Geruch mir zusätzliche Übelkeit und Brechreiz bereitete. Ein verzweifelter Gedanke durchzuckte mich: Jetzt soll nur niemand einen Zigarettenstummel wegwerfen! Die Vorstellung, unter einem Wagen eingeklemmt zu verbrennen, steigerte meine Panik ins Unermessliche. Da erblickte ich das verschwommene Gesicht eines weisshaarigen Mannes über mir, offenbar ein Arzt, der mich zusammen mit anderen Helfern behutsam unter dem Fahrzeug hervorzuziehen versuchte. Ich hörte einen Mann fluchen, eine Frau weinen und wie durch einen meilenlangen Tunnel drang das Martinshorn eines Krankenwagens an mein Ohr. Blaulicht flackerte, Stimmen schrien durcheinander, alles schien so unwirklich, als würde ein absurdes Theaterstück aufgeführt, das gar nichts mit mir zu tun hatte. Mit schwindendem Bewusstsein und von sinnraubenden Schmerzen begleitet, fühlte ich endlich, wie mehrere Hände mich auf eine Bahre hoben. Dann fiel ich in eine erlösende Bewusstlosigkeit.

Erwachen in einer anderen Dimension

Mit einem Schlag war ich wieder bei hellstem Bewusstsein, einer geistigen Klarheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Bloss – irgendetwas war anders an dieser Situation und es dauerte einen Sekundenbruchteil, bis ich erkannte, was es war: Ich war nicht mehr in meinem Körper.

Ich sah meine leibliche Hülle von oben auf einem Operationstisch liegen, in grüne Tücher gehüllt und vom Brustbein bis unter den Bauchnabel aufgeschnitten. Der leblose Körper, den ich da auf dem Tisch liegen sah, war mir komplett fremd und auch völlig gleichgültig. Ich fühlte nicht die geringste Beziehung zu diesem leblosen Stück Fleisch, das ich zwanzig Jahre lang bewohnt hatte. Das war nicht »ich«.

Offensichtlich befand »ich« mich an der Decke des Raumes und konnte so die Szene überblicken, in der plötzlich Hektik aufkam. Ich hörte, wie der operierende Professor R. rief: »Jetzt hat es ihm die Pumpe abgestellt! Bringen Sie sofort den Elektroschock-Apparat!« Das war der Moment, in dem mir klar wurde, warum ich mich an der Decke, statt in meinem Körper befand: Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ich war tot.

Noch etwas war besonders an dieser Situation: Ich konnte wahrnehmen, was die anwesenden Personen, der Chirurg, der Anästhesist, die Assistenzärzte und Krankenschwestern dachten. Ihre Gedanken waren für mich wie ein lautes Gespräch und trotz des Durcheinanders konnte ich jedes dieser stummen Selbstgespräche klar und deutlich vernehmen.

Ich wunderte mich, dass hier so viel Aufhebens gemacht wurde, bloss weil ich gestorben war. Diese Tatsache war für mich total in Ordnung und genau das wollte ich dem gestressten Chirurgen auch mitteilen. Ich schwebte also von meiner Position an der Decke herunter, wollte ihn am Arm fassen und sagte laut: »Sie können aufhören. Sehen Sie denn nicht, dass ich tot bin?« Mit Staunen stellte ich aber fest, dass mein Arm, mit dem ich ihn packen wollte, durch seinen Körper hindurchfuhr und er mich offenbar nicht hören konnte. Logisch, dachte ich, ich hatte ja gar keinen Arm mehr, überhaupt keinen Körper und auch keine Stimme mehr, ich bestand ja nur noch aus Geist. Ich befand mich in einer anderen Dimension, in der geistigen Welt. Es war nur die Erinnerung an meinen Körper und die Gewohnheit, die mich wie ein körperliches Wesen agieren liessen.

Dank dieser Einsicht verlor ich das Interesse an der Szene und verliess sie. Das heisst, ich wurde durch die Decke hindurch weggezogen und in eine Umgebung hineinkatapultiert, die mir völlig unbekannt war, ich hatte keinerlei Erfahrungswerte, die einen Vergleich ermöglichten. Ich befand mich in einer Art Nebel und raste für mein Empfinden mit Lichtgeschwindigkeit in eine Richtung, wie von einem gigantischen kosmischen Staubsauger angezogen. Dieser Nebel, durch den ich mich bewegte, war aber keine Ansammlung von kleinen Wasserpartikeln, wie wir es von der Erde her kennen, sondern es war, als würde das gesamte Wissen des Universums in diesem Nebel gespeichert. Es war das Allwissen, das hier in geistiger Form um mich herum vorhanden war, und ich als Geistwesen war ein Teil davon. Es war, als würde man einen Tropfen Wasser ins Meer geben: Er wird selber zum Meer. So war ich ein Tropfen Bewusstsein, der im All-Bewusstsein aufging: Ich wusste alles.

Mein gewohnt kleiner Verstand erweiterte sich schlagartig um ein Gigafaches seines bisherigen Inhalts. Mir war blitzartig klar, warum, wie und wann das Universum erschaffen wurde, und ich wusste, wann es untergehen würde. Ich wusste alle Antworten auf alle Fragen, die je gestellt werden konnten. Sie waren einfach da!

Diese unermessliche Erkenntnis war wie eine Explosion und traf mich mit unvorstellbarer Wucht. Ich war nicht mehr nur ich, sondern ich war ein Teil von ALLEM, ich war alles. Der Tropfen war zum Meer geworden. Dabei hatte ich aber immer noch die Gewissheit, ein eigenständiges Individuum, ein Ich zu sein.

Liebe Leserin, lieber Leser, bitte seien Sie nicht enttäuscht, wenn ich Ihnen nichts über diese Allwissenheit erzählen kann, an der ich in jenem Moment teilhatte. Leider konnte ich nichts davon mitnehmen und die Erinnerung verblasste, als ich wieder in meinem Körper erwachte, so wie ein Traum nach dem Erwachen verblasst. Wenn es nicht so wäre, hätte ich längst bei Günter Jauch und seiner Sendung »Wer wird Millionär« Furore gemacht mit meiner umfassenden Kenntnis.

Das war das Eine, was mich in dieser Dimension völlig überraschte: die Gegenwart des Allwissens. Das Zweite war die Erfahrung der Zeitlosigkeit: Ich befand mich in der Ewigkeit.

Wir Menschen stellen uns in der Regel unter »Ewigkeit« eine unendlich lange Zeit vor und setzen Ewigkeit mit »Endlosigkeit« oder »Unendlichkeit« gleich, eben einer Zeit ohne Ende. Das sind aber alles menschliche Zeitbegriffe, die davon ausgehen, dass es eine Zeit gibt.

Die Ewigkeit ist jedoch das Gegenteil von zeitlicher Endlosigkeit, sie ist die Abwesenheit von Zeit.

»Zeit« ist ja ein Phänomen, das nur im Zusammenhang mit Materie auftritt. Sie ist gebunden an Abläufe wie Planetenbewegungen, Jahreszeiten, Beschleunigung und Distanzen, die zurückgelegt werden müssen. »Zeit« ist ein Phänomen, das von der Materie erzeugt wird. In der geistigen Welt fällt die Zeit schon deswegen aus, weil da keine Materie ist, die sich in Abläufen bewegen könnte. »Geist« bewegt sich nicht, Geist ist.

Es gab also keine Zeit in dieser Dimension. Alles war gleichzeitig vorhanden: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft waren verschmolzen zu einem »Alles-ist-immer«-Zustand, und zwar einschliesslich aller möglichen Varianten und Optionen. Das bedeutet, dass alles, was in der Vergangenheit je hätte geschehen oder in der Zukunft je wird passieren können, als realer Entwurf vorhanden war.1 (Anmerkung Seite 343)

Diesen Zustand in Worten zu beschreiben – das spüre ich jetzt, da ich es versuche –, ist selbstverständlich ein Ding der Unmöglichkeit. Es war ein richtiger Tsunami an Wissen und Erkenntnis, der da über mich hereinbrach und mich geradezu überschwemmte. Ich wurde aber nicht behutsam von der einen zur nächsten Bewusstseinsebene geführt, sondern einfach in dieses Wissensmeer geworfen und musste irgendwie darin zurechtkommen. Ich erinnere mich, dass ich mich aber nicht überfordert gefühlt habe, das alles aufzunehmen. Ich war einfach ein Teil davon und als solcher ganz natürlich integriert, genauso wie ein Wassertropfen sich auch nicht überfordert fühlt, weil er ein Teil des Meeres ist. Nur: Wie soll ein solcher Tropfen beschreiben, wie es sich anfühlt, das Meer zu sein?

Ich sah aber nicht nur alle Möglichkeiten von Ereignissen, diese unendliche Vielfalt betraf auch sämtliche Erscheinungsformen und Gestalten: Gegenstände, Lebewesen, Materialien, kurz: Alles, was in der materiellen Welt in irgendeiner Form existiert oder existieren wird, ist in der Ewigkeit bereits als Entwurf »auf Lager«, bereit zur Materialisierung. Oder anders gesagt: Alles, was in der materiellen Welt in Erscheinung tritt, existiert bereits zuvor als gedankliche Vorstellung in einer geistigen Dimension.2 (Anmerkung Seite 344)

Wenn wir denken, erfinden oder sonst wie geistig tätig sind, machen wir eigentlich nichts anderes, als das grosse geistige »Wissensmeer« anzuzapfen, in welchem sämtliche Ideen bereits gedacht sind, wir zupfen uns eine Variante heraus, die wir dann umsetzen. Da unser Geist nicht materiell ist, kann er mit der geistigen Welt jederzeit korrespondieren. Jeder kreative Künstler kennt diesen Moment der Inspiration, in dem ihm aus heiterem Himmel eine Idee »einfällt«.3 (Anmerkung Seite 345)

Mir wurde in jenem Augenblick zweifelsfrei klar, dass der Geist über der Materie steht, oder, auf eine kurze Formel gebracht: Geist erschafft Materie. Die Wissenschaft ist allerdings gegenteiliger Meinung und vertritt die Umkehrung dieses Prinzips: Materie erschafft Geist.4 (Anmerkung Seite 346)

Nun kann man sich aber fragen: Wenn unsere Gedanken und Ideen aus dem grossen geistigen Wissenspool stammen (C. G. Jung nannte einen Teil dieses Bereichs das »Kollektive Unbewusste«), sind dann unsere Gedanken überhaupt »unsere« Gedanken oder sind wir lediglich Wiederkäuer von bereits vorhandenem Gedankengut? Oder, um diese Frage zu erweitern: Was ist denn eigentlich noch originär an unserer Person, wenn sogar unsere Gedanken nicht von uns sind, sondern wie in einen Radioempfänger eingegeben werden? Sind wir tatsächlich nichts anderes als eine Art Computer, der zuerst mit Daten gefüttert werden muss, um Ergebnisse von sich zu geben? Was macht ein Individuum aus, wenn nicht seine ureigenen, persönlichen Gedanken?

Oder stimmt vielleicht die wissenschaftliche These, dass es die Gehirnwindungen sind, die aufgrund chemischer Prozesse »Geist« erzeugen, und somit Gedanken, Ideen und Gefühle nichts anderes sind als chemische Produkte? Dass wir also eine Art Bioroboter sind mit einem Biocomputer darin – dem Gehirn?

Diese Fragen hatten mich vor dem Unfall an jenem 17. Juni herzlich wenig interessiert und sie erwachten erst allmählich, als ich nach meiner Genesung wieder mühsam versuchte, in unserer Welt Fuss zu fassen – aber ich möchte der Geschichte nicht vorgreifen. Gehen wir also zunächst zurück zu dem Moment, als ich meinen Körper verlassen hatte und die geistige Welt betrat. Jene Welt, in der es keine Zeit gibt und in der das Allwissen so selbstverständlich gegenwärtig ist wie die Luft, die uns Erdenwesen umgibt.

Auf meiner Reise im »Jenseits« begegnete ich als Nächstes jenem Phänomen, das in praktisch allen Nahtodberichten erwähnt wird und darin eine zentrale Rolle spielt: dem »Licht«.

Das Licht

Der Jüngling, der ich damals war, könnte am besten als immer fröhlicher, unbekümmerter Springinsfeld beschrieben werden. Viele Gedanken um die Zukunft machte ich mir eigentlich nicht, vielmehr nahm ich die Dinge, wie sie kamen, und lebte frisch drauflos. Als Kind war ich ziemlich eigenwillig und wusste meinen Wünschen und Forderungen gegen die Konkurrenz von fünf Geschwistern durch Quengeln und, falls nötig, auch mit Wutanfällen Nachdruck zu verleihen. Heute würde man meine Art wahrscheinlich als »hyperaktiv« bezeichnen. Meine mit ihren sechs Kindern ziemlich überforderte Mutter nannte mich einen Trotzkopf und hielt meine ungestüme Natur mit Zucht und Strenge im Zaum, der Teppichklopfer war meinem Hinterteil ein vertrauter, wenn auch nicht besonders geschätzter Bekannter.

Mein Elternhaus war nach katholischer Tradition sehr religiös geprägt. Wir sechs Kinder wurden angehalten, jeden Sonntag die Kirche zu besuchen (wozu wir Sonntagskleider angezogen bekamen), am Samstag zur Beichte zu gehen und nach Möglichkeit die zehn Gebote einzuhalten. Falls uns das nicht gelang, bot ja die katholische Kirche zur Entsorgung der Sünden und Entlastung der Seele die Beichte an. Diese katholische Ritualwelt faszinierte den leicht zu beeindruckenden Buben, der ich damals war. Das geheimnisvolle Geflüster im Beichtstuhl, das ganze Brimborium mit Weihrauch, Orgelmusik und Gesängen während des Gottesdienstes und das feierliche Auftreten des Pfarrers, der, in opulente Kleider gehüllt, in lateinischer Sprache verheissungsvolle Formeln sprach – das alles machte einen grossen Eindruck auf mich und schlug mich in seinen Bann. Vor einem vollen Kirchenschiff zu stehen (damals waren die Kirchen noch voll) und mit ausgebreiteten Armen zu einem gebannten Publikum zu sprechen und zu singen – das musste ein Traumleben sein! Das wollte ich haben! Ich wollte Priester werden.

Als Bub hatte ich ein unverkrampftes Verhältnis zum lieben Gott und tief in mir hegte ich die Hoffnung (die schon fast an Ahnung grenzte), dass er mich zu etwas Besonderem ausersehen hatte. So war es für mich nichts Aussergewöhnliches, dass ich meinem Schöpfer in einer nächtlichen Absprache nach dem Nachtgebet das Versprechen abnahm, dass er mir den Wunsch, Priester zu werden, erfüllen solle. Und dass er mich, falls ich mich irgendwann einmal aus noch nicht absehbaren Gründen von ihm abwenden sollte, mit allen Mitteln wieder auf den rechten Weg bringen müsse. Es mag ein wenig absonderlich klingen, dass ich mich an dieses kindliche Gebet erinnern kann, aber jener Moment hat sich mit solcher Klarheit in mein Gedächtnis eingebrannt, wie es nur besondere Momente im Leben machen.

Ich bat den »lieben Gott« inbrünstig, in mir das heilige Feuer, das mich damals beseelte, nie zum Erlöschen kommen zu lassen. Als Gegenleistung versprach ich, ihm mein Leben zu widmen und als sein PR-Mann tüchtig für ihn Reklame zu machen, am liebsten vor möglichst vielen Zuhörern. Ich ahnte damals noch nicht, mit welchen Konsequenzen dieser Deal verbunden sein sollte und dass er, jedenfalls von seiner Seite her, ziemlich präzise erfüllt werden würde, wenn auch auf eine andere Weise, als ich sie mir damals vorstellte.

Mit ungefähr zwölf oder dreizehn Jahren eröffnete ich also meinen erstaunten Eltern, dass ich mich entschieden hätte, Priester zu werden, und dass ich meine schulische Ausbildung bis zur Matura in einem Priesterseminar zu geniessen gedenke. Meine Eltern, obwohl in traditionellem Sinn tiefreligiös, hatten allerdings ihre Bedenken, ob ihr wilder Sprössling für das zölibatäre Amt des Seelsorgers genügend Eignung besass. Kurz, sie stellten sich gegen mein Ansinnen.

Besonders bemerkenswert war die Reaktion meines Vaters. Er war von seiner Art her ein eher introvertierter Mann, der sich normalerweise schwertat, über persönliche Themen zu reden. Auch war er ein linientreuer Katholik, der nichts auf seinen Glauben kommen liess. Dass ausgerechnet er gegen mein Vorhaben war, erstaunte mich deshalb ziemlich. Wohlwollend meinte er hinter einem zurückgehaltenen Schmunzeln: Wenn ich einmal siebzehn oder achtzehn sei und entdeckte, dass nicht nur der liebe Gott, sondern auch die Mädchen über eine gewisse Anziehungskraft verfügten, würde ich ihm noch dankbar sein für seine ablehnende Haltung. Wie recht er doch hatte!

Obwohl ich schon vom zarten Kindesalter an mit dem »lieben Gott« plauderte und meine Gebetlein aufsagte, hatte ich nur eine vage Vorstellung, wer das eigentlich sein könnte. Mein Gottesbild wurde von Eltern, Religionslehrern, Priestern und ihren Predigten geformt und entsprach in etwa jenem ziemlich Furcht einflössenden Richter und Erbsenzähler, der die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen befördert, und mit dem man sich besser gut stellte.

Ich hatte also jene ambivalente Gottesvorstellung eingebläut bekommen, die ihn zwar als liebenden und alles verzeihenden Vater, aber gleichzeitig als unerbittlichen Rächer und zornigen Verdammer darstellt. Ich sah ihn als eine Art Übermensch, der von den Menschen fordert, dass sie gut und lieb sind, sie aber letztendlich den grausamsten Höllenqualen überantwortet, wenn es ihnen nicht gelingt, ein Leben nach seinem Gusto zu führen: Einer, der seine geliebten Schäfchen aufs Hinterlistigste in Versuchung führt, um sie dann händereibend ins ewige Feuer zu werfen, sollten sie in seine Falle tappen. Damit er aber trotz so viel Gemeinheit noch gut dastand, wurden diese Schikanen nicht ihm angelastet, sondern seinem Kettenhund, dem Teufel. Ich lernte also Satan als mächtigen Gegengott kennen, vor dem sich viele Gläubige mehr fürchteten, als sie den lieben Gott zu lieben vermochten.

Wie sollte ein Kind mit so unterschiedlichen Informationen umgehen und ein ungezwungenes Verhältnis zu seinem Schöpfer aufbauen können? Ich entschied mich daher schon früh, den Teufel aus meinem Glauben auszusparen, weil er so ganz und gar nicht zu dem passte, was ansonsten über die angeblich grenzenlose Liebe Gottes berichtet wurde.

Als ich dann mit wachsendem Interesse und Verstand vernahm, dass der Vatergott aus lauter Liebe zu seinen missratenen Kindern seinen Sohn (der eigentlich gar nicht sein Sohn war, sondern er selber) als Mensch verkleidet auf die Erde schickte, um seine Geschöpfe aus der Misere zu retten und von den Sünden zu erlösen, in die er sie mit seiner »Versuchung« geritten hatte, war meine Verwirrung komplett. Diese himmelschreiende Diskrepanz, die einem da als Glaubensinhalt vorgesetzt wurde und die ich beim besten Willen nicht verstand, quälte mich. Die Vorschrift, dass man einfach glauben müsse, dass Jesus Christus Gottes Sohn sei und man damit fein raus sei aus der Bredouille, machte die Sache nicht einfacher. Wenn er uns von unseren Sünden erlöst hatte, sodass man sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte, wieso musste man dann trotzdem für seine Fehltritte im Fegefeuer oder in der Hölle braten? Hatte er uns nun eigentlich erlöst oder nicht? Und wieso erlöste er nur jene seiner eigenen Kinder, die an die Jesus-Gottmensch-Erlösergeschichte glaubten und alle, die ehrliche Zweifel hatten oder in einer anderen Religionskultur aufgewachsen waren, nicht? Ist er nun eigentlich der Gott aller Menschen oder nur einer auserwählten Minderheit? Die Sache ging für mich einfach nicht auf.

Hier begann meine Forschung nach der Wahrheit, die mich seither antreibt und mich zu einem unermüdlich Suchenden machte. Sie hat mich dazu gebracht, Hunderte von Büchern zu lesen, mit unzähligen Menschen Diskussionen zu führen und mich mit zahlreichen Religionen und Konfessionen einzulassen – doch davon später. Mein Bild von Gott war an jenem Tag, als mich die Fahrt mit meinem Motorrad an ein Ziel führte, das man gemeinhin als »das letzte« bezeichnet, ein gelinde gesagt zwiespältiges.

Nun befand ich mich also in einem geistigen Zustand, in dem ich zwar keinen Körper mehr besass, aber ein Bewusstsein und eine Wahrnehmungsfähigkeit. Dieses Bewusstsein übertraf in seiner Klarheit und Grenzenlosigkeit alles, was man sich vorstellen kann. Nachdem ich einigermassen verkraftet hatte, dass es in dieser ungewohnten neuen Dimension keine Zeit gab und ich ein Teil des gesamten Wissens war, gewahrte ich eine Art Morgenröte, die wie an einem fernen Horizont zu schimmern begann. Dieses zarte Licht hatte eine Wirkung auf meinen Gefühlszustand, der nicht zu beschreiben ist. Ich bemerkte sofort, dass dieses Licht nicht einfach ein heller Schein war, sondern eine Energie, die so stark war, dass sie gar nicht anders konnte als leuchten.

Es war nicht der Anblick des Lichts, die mich so beglückte, sondern das Spüren der Energie, die von ihm ausging. Diese Strahlung, in deren Wirkungskreis ich geraten war und die mich förmlich überschwemmte, war pure, ungetrübte, konzentrierte Liebesenergie. Ich fühlte mich als das Wesen, das ich war, vollkommen geliebt und bis in die tiefsten Abgründe meiner Persönlichkeit akzeptiert. Es war ein Gefühl, wie ich es von einem Zustand völliger Verliebtheit her kannte: Als Verliebter, der seiner Angebeteten gegenübersitzt und ihr in die Augen schaut, liebt man einfach alles an diesem Wesen. Nicht die geringste Kritik stört den euphorischen Austausch von Empfindungen, die einem das Herz bis zum Halse schlagen lassen und einen auf Wolke sieben befördern. Es ist die Ausstrahlung, das Aussenden von Verliebtheitsenergie der beiden Beteiligten, die solche Emotionen zu stimulieren vermag.

So ein Gefühl erfüllte mich nun, allerdings bis ins Millionenfache, schier Unerträgliche gesteigert. So viel Liebe war fast nicht auszuhalten und mir war klar: Sollte ich noch ein wenig mehr davon abbekommen, dann würde ich explodieren. Ich kam mir vor wie ein fünfundzwanzig Watt Glühlämpchen, dem man ein Gigawatt Strom zuführen will. Dabei war dieses »Licht« nur ganz schwach zu »sehen« und die ursprüngliche Quelle in unerreichbarer Entfernung. Trotzdem empfand ich es als persönliche Ausstrahlung von jemandem, der mich bedingungslos liebte.

Je näher ich mich darauf zu bewegte, desto stärker wurde die Intensität. Ich dachte: Noch näher heran kann ich nicht, da meine Kapazität, diese Energie zu verkraften, viel zu klein ist, um noch mehr davon aufzunehmen. Es war, als wollte man einen Ozean in einen Fingerhut pressen, und mein seelisches Gefäss war einfach zu winzig, um diese Riesenmenge aufzunehmen. Allein meine Fähigkeit, diese gewaltige Liebesenergie zu ertragen, entschied über die Nähe, in die ich mich zu der Quelle hinbewegen konnte. In der Entwicklungsstufe, in der ich mich befand, war ich noch unvorstellbar weit davon entfernt und wusste doch mit aller Klarheit, dass dies das Ziel meiner Existenz war, immer näher zu dem Ursprung zu gelangen.

Ich erkannte, dass meine langfristige Aufgabe darin bestand, im Verlauf von Äonen mein Liebesgefäss so zu vergrössern und meine Liebesfähigkeit zu entwickeln und zu steigern, dass ich irgendwann mit dieser Liebesquelle verschmelzen konnte. Ich hatte den Sinn des Lebens entdeckt!

In dem Moment empfand ich aber die Gewissheit, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht nur nicht näher zu dieser Lichtquelle hinbegeben konnte, ja, ich wollte es nicht einmal! Zu schäbig kam ich mir vor, etwa so, als wäre ich von einem König zu einem strahlenden Ball eingeladen und würde nun mit schmutzigen Lumpen bekleidet vor dem Tor stehen. In dieser seelischen Aufmachung kam ich mir völlig fehl am Platze vor. Ich konnte da nicht hin, weil ich so nicht dahingehörte!

In der anderen Welt

Nachdem also mein Herz bei der Operation zu schlagen aufgehört hatte, befand ich mich bei dem Licht, das ich im Nachhinein als die persönliche Energie Gottes bezeichnen möchte. Ich hielt mich in jenem Zustand auf, der viele Namen hat: Himmel, ewige Seligkeit, Reich Gottes – der aber auch in anderen Kulturen bekannt ist als Nirwana, Elysium, Olymp, Walhalla, Paradies, die ewigen Jagdgründe und wie sie alle heissen.

Ich habe mich seither oft gefragt, wie es kommt, dass in allen, auch uralten Kulturen einhellig eine solche Sphäre der Glückseligkeit in einem Jenseits angenommen wird. Wer hat das den Menschen erzählt? Kann es sein, dass auch früher schon Menschen solche Kurztoderlebnisse hatten und zurückkamen? Dass auch vor Tausenden von Jahren Menschen von diesem »Licht« berichteten, das sie auf der anderen Seite erwartete?

Ich habe seitdem in vielen Berichten von Nahtoderlebnissen gelesen, dass betroffene Menschen »drüben« wunderbare Landschaften erblickten, überirdische Musik vernahmen, sogar Dörfer und Städte sahen, die von Menschen bewohnt waren. Oft wurden solche »Überläufer« auch von verstorbenen Verwandten abgeholt und begrüsst. Wie ist das zu erklären? Gibt es »dort drüben« tatsächlich Gärten und Städte wie hier auf der Erde? Spazieren dort unsere Vorausgegangenen gemütlich herum und warten auf Neuankömmlinge, die sie begrüssen können?

Nun, der Mensch ist ein schöpferisches Wesen. Er ist – »nach dem Ebenbild Gottes geschaffen« – ein mit Schöpferqualitäten begabtes Individuum. Er kann nicht nur Werkzeuge und Kunstgegenstände erschaffen, Autos und Atombomben, er kann auch Strategien entwickeln, Gedankengebäude auftürmen, Geschichten erfinden, kurz, er kann alles, was in der geistigen Welt zur Hand ist, in diese Welt holen und mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Gegenstände, Umstände oder Situationen kreieren. Der Mensch ist also zweifellos ein Abbild des Schöpfers, selber ein Schöpfer, ein Erschaffer.

Diese Fähigkeit, zu erschaffen, erlischt nicht mit dem Übertritt in die andere Welt. Im Gegenteil! In jener Welt fallen sämtliche Schranken weg, die von der umständlichen Materie auferlegt werden, und man kann alles, was man sich vorstellt, sofort umsetzen. Du stellst dir eine goldene Stadt vor? Hier ist die goldene Stadt! Sie war schon immer da. Alles, was du dir ausdenken kannst, war schon immer da. Auch als Geistwesen greifen wir bloss auf das Allwissen zurück, den unendlichen Vorrat, in dem alles vorhanden ist, was man sich nur denken kann, und noch viel mehr. Da gibt es tatsächlich nichts, was es nicht gibt. Erfindungen, die vielleicht erst in tausend Jahren der Menschheit zugänglich werden, ruhen in diesem unerschöpflichen Reservoir und warten auf den Moment, dass jemand sie aus ihrem Schlummer holt.

Der Mensch, der frisch aus der materiellen Welt kommt, trägt immer noch seine materiellen Vorstellungen in sich. Er hat davon gehört, dass das Paradies ein wunderschöner Garten sei. Er kommt also dort an und sieht seine eigene Vorstellung von einem Paradies. Er hat es soeben erschaffen. Er sieht die Gestalten seiner Lieben, die ihn abholen und begrüssen: Er hat ihnen soeben Gestalt verliehen. In der geistigen Welt gibt es keine Gestalten, es gibt auch keine Gärten, weil da alles pure Energie ist. Auch die Personen sind rein energetische Gebilde, die jedoch jederzeit Gestalt annehmen können. Seit jeher vorhanden ist aber die energetische Idee eines Gartens oder einer Menschengestalt, einer Musik oder einer Farbe. Nun liegt es am Individuum, durch seine Schöpferkraft diese Energiekomponenten so zu verdichten, dass sie Gestalt annehmen und »sichtbar«, »hörbar« oder »fühlbar« werden. Diese Kraft, Dinge erschaffen zu können, ist eines jener Geschenke, die wir vom mächtigsten Kreator bekommen haben und die einerseits ein Vermächtnis seiner Liebe ist, andererseits eine Bestätigung, dass wir nach seinem Ebenbild geschaffen sind.

So findet jeder Neuankömmling im Jenseits sein eigenes Paradies oder seine eigene Hölle vor. Die individuelle Wahrnehmung des »Jenseits« ist durch den Reifegrad der Seele bestimmt, den wir uns nach dem Verlassen dieser Welt angeeignet haben. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man die unterschiedlichen Berichte der unzähligen Menschen liest, die aus einer sogenannten Nah-Toderfahrung zurückgekommen sind.

Allerdings bin ich mit dem Zusatz »Nah-« ganz und gar nicht einverstanden. Es war sowohl für mich als auch für Millionen von Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, eindeutig ein totaler Übertritt in eine andere Dimension, die durch den Umstand, dass man wieder zurückkam, nicht vermindert oder nur halbwertig war, sondern ganz und komplett. Ich hatte damals eindeutig die Seiten gewechselt: Das Jenseits war zum Diesseits geworden und das Diesseits zum Jenseits.

Wenn jemand in ein anderes Land reist, zum Beispiel nach Spanien, und sich dort nur zwei Minuten aufhält, käme niemand auf die Idee zu behaupten, er habe sich nur fast jenseits der spanischen Grenze befunden. Auch ein kurzer Aufenthalt ist ein richtiger Aufenthalt in Spanien, obwohl man natürlich in dieser knappen Zeit nicht das ganze Land besichtigen kann. Als Reisender in der anderen Dimension kann ich mit Gewissheit behaupten: Ich war nicht nur fast da, sondern ganz und gar.

Es gibt immer wieder Skeptiker, die behaupten: »Es ist ja noch keiner zurückgekommen!« Wie tot muss denn einer sein, bis man ihn als Zurückgekommenen bezeichnen kann? Wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen, ist man doch schon ziemlich tot oder etwa nicht?

Selbstverständlich habe ich mich im Zuge meiner Forschungen und Erklärungsbemühungen auch über die wissenschaftlichen Kommentare zu diesem Thema orientiert. Allerdings kamen mir diese Analysen eher unbeholfen vor. Da las ich von »extremen Endorphinausschüttungen« im Augenblick des Todes, die solche Halluzinationen hervorrufen und die betreffende Person in einen drogenähnlichen Rausch versetzen würden. Ich las von »Blitzgewittern im Gehirn«, von Sauerstoffmangel, der Glücksgefühle erzeuge, einem letzten Aufzucken der Nerven, einem psychischen Trick des Nervensystems, welcher der Todesangst die Schärfe nähme, indem er ein beglückendes Licht vorgaukle, und so weiter.

Wie man später in diesem Bericht erfahren wird, hatte ich einige Zeit nach diesem Erlebnis selber einige Erfahrungen mit halluzinogenen Drogen gemacht und kann also die Zustände durchaus vergleichen. Aus dieser Position heraus kann ich unvoreingenommen und quasi als Experte sagen, dass der geistige Zustand nach meinem Herzstillstand sich grundlegend von chemisch herbeigeführten Halluzinationen unterschied. Er war buchstäblich übersinnlich, also nicht mit menschlichen Sinnen erfahrbar, auch nicht unter dem Einfluss von Endorphinen und nervlichen Blitzgewittern. Im Gegenteil, der Eindruck der Realität war in jenem Zustand unvergleichlich stärker und konkreter als im irdischen Lebenszustand. Dieser wirkte im Vergleich wie eine Illusion oder ein Traum, aus dem man aufgewacht ist.

Wenn nun Wissenschaftler, die diese Todeserfahrung nicht selber gemacht haben, sie zu erklären versuchen, wirkt es auf mich, wie wenn ein Blinder versucht, den Sehenden die Farben zu beschreiben. Für mich ein höchst theoretisches und fragwürdiges Vorgehen.

Das Jenseits ist demnach nicht absolut, sondern subjektiv: Jeder erlebt es anders. Je besser wir mit der Liebesenergie umgehen können, desto heller und beglückender erfahren wir die geistige Welt. Dazu ist dieses (oder besser gesagt: sind alle unsere) Leben da, damit wir uns in Sachen Liebe verbessern und uns »drüben« näher zu Gott begeben können.

Ich persönlich sah weder einen Garten Eden noch eine goldene Stadt, als ich im Jenseits ankam. Ich war eingehüllt in die schrankenlose Liebe, die keine Manifestation, keine Fetische benötigt. Sie war einfach da und strahlte und sonst nichts. Dieses Paradies kam ohne schöne Landschaften und blühende Wiesen aus, es brauchte keine goldenen Städte und silbernen Flüsse. Es gab nichts, das mich noch glücklicher hätte machen können, als dieses bodenlos tiefe Gefühl des Geliebtwerdens. Es war genug. Mehr jedenfalls, als ich ertragen konnte.

Allerdings – und das ist ein Umstand, der mich noch heute beschäftigt – war diese Energie nicht irgendeine anonyme Wohlfühlatmosphäre, in der ich badete, sondern sie war persönlich: Sie meinte mich. Es war eindeutig eine Gegenliebe – jemand liebte mich da, und ich konnte nicht anders, als selber von überströmender Liebe erfüllt zu sein. Für mich war klar: Der Ursprung dieser Ausstrahlung war eine »Person«, die religiöse Terminologie würde sagen: ein persönlicher Gott.

Das war die letzte der verblüffenden Erfahrungen, die ich in jenem Zustand machte. Die Liebe war zwar eine Energie, aber sie ging eindeutig von jemandem aus. Dieser Jemand war für mich nicht in seinem Ursprung zu sehen, aber seine Ausstrahlung war dermassen gigantisch, dass schon der kleinste Schimmer ausreichte, um mich fast zum Explodieren zu bringen vor Glück.

Der Lebensplan

Ich sagte vorhin, dass der Mensch – wenn auch in eingeschränktem Masse – ein mit Schöpferkraft begabtes Wesen sei. Diese Fähigkeit macht auch vor dem eigenen Leben nicht halt. Jeder Mensch erschafft nämlich sein persönliches Leben.

Ich weiss, dass diese Aussage vielen unvorstellbar erscheint, weil sie der Auffassung sind, der Mensch sei ein Spielball des Zufalls und des Schicksals, denen sie ausgeliefert sind. Aber gemäss den Einsichten, die ich mitgebracht habe, haben wir alle unsere Lebensumstände selbst gewählt. Eine andere Erklärung für die unterschiedlichen Lebensumstände der einzelnen Individuen würde auch keinen Sinn ergeben, es sei denn, man erachtet das Chaos und den Zufall als Grund für das Zustandekommen eines Lebensschicksals. Da aber das gesamte Universum kein Chaos, sondern ein wohlgeordneter Kosmos ist, verläuft auch das einzelne Schicksal der Bewohner dieses Universums nach einem geordneten, ich würde sogar sagen: vorgesehenen Plan. Diese Vorsehung ist der Pfad, der für unseren Lebensweg ausgelegt wird.

Allerdings wird dieser Lebensentwurf nicht von einer abgehobenen Gottheit verordnet, sondern wir dürfen als Hauptprotagonisten selber daran mitgestalten. Auch unser eigenes Schicksal dürfen wir von vornherein mitplanen und uns unsere Aufgaben und Lernziele selber stecken. Dieses Programm ist jedoch nicht bis ins einzelne Detail festgelegt, sondern – wie das Wort sagt – ein Entwurf, der uns die Freiheit lässt, abzuweichen und je nach selbst gesetzten Rahmen einen anderen Kurs zu wählen. Aber welche Seitenwege wir auch immer einschlagen, wir können uns auf unser »eingebautes GPS« verlassen. Genauso wie ein Navigationsgerät augenblicklich eine Alternativroute errechnet, wenn wir den vorgesehenen Weg verlassen, so funktioniert auch das Schicksal, das sofort reagiert und sich auf jede neue Lebenssituation einstellt.

Auf welche Abwege wir auch immer während unserer Lebenszeit geraten, das »himmlische Navigationsgerät« führt uns geduldig und ohne den geringsten Vorwurf wieder auf Bahnen, auf denen wir zum gewählten Zielpunkt gelangen können. Das Ziel ist festgelegt, aber die Route, die dorthin führt, ist jederzeit änderbar.

So ein Lebensplan hat also nichts Fatalistisches an sich, nichts ist wirklich vorbestimmt und unausweichlich, aber auch nicht zufällig oder unvorhergesehen. Wie im Navigationsgerät, in dem nicht nur alle Autobahnen, sondern auch sämtliche Seitenwege gespeichert sind, so sind auch in unserem Lebensplan alle Abweichungen einkalkuliert und als Möglichkeit vorgesehen.

Über allem steht aber jederzeit unser freier Wille. Sogar Gott fügt sich unseren Entscheidungen und schreibt uns nichts vor. Wir haben mit den Zehn Geboten lediglich eine Anweisung bekommen, wie wir unser Ziel auf schnellstem Weg erreichen können. Die Zehn Gebote sind ja keine Verbote, sondern liebevolle An-Gebote oder Vorschläge, die uns die Arbeit erleichtern sollen. Die Entscheidung, ob wir sie befolgen wollen, liegt bei uns.

Mit dem freien Willen haben wir aber auch die volle Verantwortung für unsere Entscheidungen übernommen – ein Faktor, der einerseits befreiend wirkt, aber uns andererseits auch Steine in den Weg legt, weil wir uns immer wieder für den »guten« oder den »schlechten« Weg entscheiden müssen. Das ist der Lerneffekt, der aus diesem Leben resultieren soll.5 (Anmerkung Seite 347)

Bevor wir ein Menschenleben antreten, planen wir also mithilfe von beratenden Geistern den »Level« oder den Schwierigkeitsgrad, in dem wir dieses Leben absolvieren wollen. Dabei müssen wir verschiedene Faktoren einbeziehen: In welchem Mass möchte ich die angestauten (oder religiös ausgedrückt: ungesühnten) Fehlleistungen aus vorangegangenen Leben abarbeiten? Das heisst: Wie viel Leid, welches ich anderen angetan habe, traue ich mir zu, in einem Leben selber zu erleiden, um den kosmischen Ausgleich wiederherzustellen?

Es gibt Individuen, die entscheiden sich während der Planungsphase dafür, in ihrem bevorstehenden Leben möglichst viel abzuarbeiten und bürden sich daher ein schweres, leidvolles auf. Andere nehmen sich vielleicht eine Auszeit und bereiten sich auf ein gemütliches Leben in Reichtum und Wohlergehen vor, das sie unter Vermeidung von Problemen und Hindernissen verplempern. Aber mit einem leichten Leben kann man keine grossen Fortschritte machen, und man schiebt die zu erledigenden Aufgaben nur vor sich her. Ich nehme an, dass Jesus sich auf diesen Umstand bezog, als er sagte: »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel.«

Ein weiteres Kriterium, das es in die Lebensplanung einzubeziehen gilt, ist der Faktor der Versuchungen, bei denen wir unsere Standhaftigkeit und unsere Entscheidung zu Ehrlichkeit und Gerechtigkeit unter Beweis stellen können. »Du sollst nicht stehlen« empfehlen unter anderem die Zehn Gebote. Wenn es also zum Beispiel dazu kommt, dass wir uns bei einer Gelegenheit für eine unehrliche Bereicherung oder einen Verzicht entscheiden sollen, dann programmieren wir unser Lebens-GPS für einen Umweg oder für die Abkürzung. »Gelegenheit macht Diebe«, heisst es, und genau solchen Versuchungen zu widerstehen, ist eine weitere Aufgabe in unserem Leben.6 (Anmerkung Seite 348)

Ebenso gehört zur Lebensplanung die Möglichkeit, Gutes zu tun: Tatkräftige Hilfe ist da ebenso gefragt wie Verzicht auf eigenen Profit zugunsten anderer, Anteilnahme, gute Erziehung unserer Kinder und vieles mehr. Geld kann – als Prüfstein – in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen: Einerseits kann es zu Geiz und Habsucht verführen, andererseits ein heilbringendes Mittel sein, um Grosszügigkeit und Freigebigkeit zu üben und damit Elend zu lindern und Freude zu bereiten.

»Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon« (Lk 16,9), hat sogar Jesus geraten.

Wenn wir also den gewünschten Schwierigkeitsgrad unseres zukünftigen Lebens definiert haben, werden in dem riesigen Welttheater Zeitpunkt, Ort und passende Umstände ausgesucht, in denen wir auf die Herausforderungen treffen, die wir bestehen möchten, und wir werden in diese hineingeboren. Wir sind also ausnahmslos selber zuständig für unser Leben und alles, was darin passiert, und alle unsere Entscheidungen tragen dazu bei, unsere weitere Existenz über dieses Leben hinaus zu beeinflussen. Es hat also keinen Sinn, ein böses Schicksal oder einen ungerechten Gott anzuklagen, wenn einem etwas Unangenehmes widerfährt. Gerade wenn man sich in einer leidvollen Situation befindet, hat es nämlich etwas Tröstliches, zu wissen, dass man soeben dabei ist, eine selbst gewählte Aufgabe zu erledigen oder eine alte Schuld abzulegen. Dass diese Prüfung mit Leid verbunden ist, liegt in der Natur der Sache und darf uns nicht gegen unser eigenes Schicksal aufbringen oder uns dazu führen, einen Gott anzuklagen: »Warum lässt du so etwas zu?«

Gott lässt das zu, was wir gewählt haben!

Diese Erkenntnisse durchströmten mich in jenem Moment, als ich von dem Licht der Weisheit und der Liebe umhüllt wurde.

»Nun weisst du es. Geh wieder zurück. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.« Diese Durchsage drang im Augenblick der wunschlosen Glückseligkeit in mein Bewusstsein. Dann riss der Film.

Zurück im Leben

In der Zwischenzeit war es dem Ärzteteam nämlich gelungen, mein Herz wieder zum Pumpen zu bringen. Mit dem ersten Herzschlag war ich wieder in meine sterbliche Hülle gefahren und in die tiefe Bewusstlosigkeit zurückgefallen, in der ich mich vor meinem Exitus befunden hatte. Im Operationssaal beschäftigte man sich nun fieberhaft damit, meine geborstenen Knochen und zerrissenen Innereien zusammenzuflicken. Davon bekam ich aber nicht das Geringste mit, da der Anästhesist gute Arbeit geleistet hatte.

Stunden später erwachte ich allmählich aus meinem Koma. Aber was war mit mir geschehen? Wo war das warme Licht, die atemraubende Erkenntnis der Allwissenheit, wo war das befreiende Schweben in der Zeitlosigkeit?

Ich blinzelte unter meinen geschwollenen Lidern hervor, und was da in mein Bewusstsein drang, traf mich wie ein Keulenschlag. Ich lag in einem grünlich gestrichenen Raum, der mit Apparaturen, Kabeln und Schläuchen vollgestopft war, eingebunden wie eine Mumie, Beine und Arme eingegipst, aus meinen Armen und meinem Bauch ragten zwei Schläuche, die an eine Vakuumpumpe angeschlossen waren, um Blutreste aus meinem Bauchraum abzupumpen. Ein Katheter besorgte den Harnabfluss und durch das eine Nasenloch hatte man einen dicken, grünen Schlauch den Hals hinunter bis in meine Lunge gestossen. Das andere Ende des Schlauchs steckte in einer Maschine, die sich neben meinem Bett befand und regelmässig zischte. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, dass diese Maschine meine neue Lunge war, die behutsam Luft in mich hineinpresste und wieder heraussog. Da meine Rippen gebrochen und die Bauchmuskeln zerschnitten waren, war ich nicht in der Lage, selber zu atmen. Ich kam mir vor wie ein Cyborg – halb Mensch, halb Maschine.

Mein Zustand war mehr als jämmerlich. Wie ich später erfuhr, war ausser den zahlreichen Knochenbrüchen und einem Beckenbruch auch meine Leber zum Teil zerquetscht, meine Milz war so zermalmt, dass man sie hatte entfernen müssen. Ich hatte literweise Blut verloren, das innerlich ausgelaufen war. Meine Lunge war durch die geborstenen Rippen arg in Mitleidenschaft gezogen, Hüfte und Knie zerschmettert, Muskeln und Sehnen gerissen – kurz, ich war lediglich noch ein armseliges Häuflein Elend, dessen Lebenslichtlein nur noch schwach flackerte und von Minute zu Minute zu erlöschen drohte.

Und dann kamen die Schmerzen.

Wer schon einmal versucht hat, zwei Stunden lang absolut unbeweglich auf dem Rücken zu liegen, der weiss, dass irgendwann langsam die Panik hochkriecht und man nur noch schreien möchte. Ich konnte mich keinen Millimeter bewegen, mich nicht kratzen, nicht schlucken (ich hatte ja einen Schlauch im Hals), nicht einmal selber atmen. In so einer Situation wird jeder Augenblick zur Ewigkeit, man kämpft sich von einer Sekunde zur nächsten und ist heilfroh, wenn wieder eine überstanden ist – um sofort mit der nächsten zu ringen. Wenn dann noch unerträgliche Schmerzen dazu kommen, als wäre man aufs Rad geflochten, von Speeren durchbohrt und von hundert Kampfstiefeln getreten worden, dann lauert die grinsende Fratze des Wahnsinns im unteren Bereich des Bewusstseins.

Da mein Hals von dem Lungenschlauch ausgefüllt war, war es mir nicht nur unmöglich, zu schlucken, sondern ich konnte auch weder essen, trinken noch sprechen. Alle paar Stunden kam eine Schwester mit einer kleinen Saugsonde. Sie koppelte den Luftschlauch von der Lungenmaschine ab, sodass ich sofort panische Erstickungsängste bekam, weil keine Luft mehr zugeführt wurde. Die Schwester führte die Saugsonde in die Luftröhre ein und schob das Schläuchlein nach, bis es zuunterst in die Lunge gelangte. Dort saugte sie das angesammelte Wasser ab. Diese Sonde rief schrecklichen Würge-, Husten- und Brechreiz hervor, den ich aber irgendwie aushalten musste, da ich wegen meiner operierten Innereien gar nicht würgen oder husten konnte. Die Todesangst trieb mir die Augen aus den Höhlen und den kalten Schweiss aus den Poren, ich konnte nur noch weinen vor Qual und Hilflosigkeit.

Das Schlimmste aber war der Durst. Meine einzige Flüssigkeitszufuhr tröpfelte aus einem Plastiksack, der an einer Stange neben meinem Bett hing, in meine Vene. Es war ein schwüler und heisser Sommer und nach zwei Tagen war mein Durst so gross, dass ich mein Herz herausgerissen hätte für einen kleinen Schluck Wasser. Meine Gedanken schrien immer nur das eine Wort: Wasser! Wasser! Es sollte aber fast vier endlose Wochen dauern, bis ich mein erstes Tröpfchen bekam.

Um meine Schmerzen ein wenig zu betäuben, verabreichte man mir alle vier Stunden eine starke Spritze mit einem Opiat, das in mir einen seligen Flash auslöste, der zirka eine halbe Stunde anhielt und dann langsam abflaute. Danach war ich wieder dreieinhalb Stunden dem zermürbenden und qualvollen Kampf gegen die Sekunden ausgeliefert und wurde nur noch von der verzehrenden Gier nach dem nächsten Schuss am Leben gehalten.

Meine Überlebenschancen standen so schlecht, dass die Ärzte meinen Eltern mitteilten, es wäre gut, wenn sie mich noch einmal besuchen kämen, so wie es aussehe, werde der Überlebenskampf nicht zu meinen Gunsten ausgehen.

Da kamen sie also an mein Bett, um Abschied zu nehmen, in grüne Überkleider gewandet mit Mundschutz vor dem Gesicht, meine von Mitleid und Kummer zerrissene Mutter, mein betretener, schweigsamer Vater, der sichtlich gegen die Tränen kämpfte, meine fünf Geschwister, die eines nach dem andern herantraten und mit verwirrtem Blick verlegen meine Hand tätschelten und leise Tschüss sagten, um sich dann befangen abzuwenden. Ich glaube, dieser Moment bewegte mich mehr als sie. Ich wollte sie so gerne trösten, ihnen sagen, dass ich weiterleben würde. Ich erinnerte mich an die Worte: »Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen«, die ich in der geistigen Welt vernommen hatte, aber ich konnte sie meiner Familie nicht mitteilen. Dieser verfluchte Schlauch in meinem Hals verhinderte jede Kommunikation. So weinte ich stumme Tränen der Verzweiflung und lag einfach nur da. Als sie gegangen waren, winkten mir meine jüngeren Schwestern noch einmal zaghaft durch die Glastür zu und diese kleine Geste war so rührend, dass ich vor innerer Aufgewühltheit litt wie ein Hund.

Die einzigen Lichtblicke in jenen qualvollen Wochen waren die Besuche von meiner Freundin Marianne. Sie kam in jeder freien Minute und sass dann neben meinem Bett, hielt meine Hand und sprach mir Mut zu. Marianne symbolisierte das blühende Leben: Kerngesund und schön, voller Optimismus und Lebensfreude strahlte sie genau das aus, was ich so dringend benötigte. Das Zusammensein mit ihr gab mir so viel Kraft und Zuversicht, dass ich schon allein ihretwegen wieder gesund werden wollte. Diese tapfere junge Frau zog mich durch ihre liebevolle Anwesenheit wieder ins Leben zurück. In jenen Momenten wusste ich, dass Marianne die Frau war, mit der ich mein Leben verbringen wollte. So gern wollte ich ihr sagen, wie sehr ich sie liebte, aber ich konnte ihr nur schwach die Hand drücken und sie ansehen, aber Marianne verstand. Sie drückte mir auch die Hand und sah mich mit einem so herzigen Lächeln an, dass mir ganz weh ums Herz wurde vor Sehnsucht.

»Wenn du gehst, dann geht ein Teil von mir«, heisst es in einem Lied und genau so fühlte ich mich, wenn Marianne mich wieder verliess. Ich wollte leben, um mit ihr zu leben!

Jedenfalls überlebte ich die meisten meiner Leidensgenossen in der Intensivstation. Alle paar Tage wurden bei anderen Patienten die Schläuche abgehängt, wurde das Leintuch über das Gesicht gezogen und leise das Bett aus dem Raum geschoben. Es war ein Kommen und Gehen in dieser Station. Stöhnende, schreiende, weinende Menschen wurden hereingefahren und nach ein paar Tagen wieder hinausgeschoben, entweder um in ein Krankenzimmer verlegt zu werden oder um zur ewigen Ruhe gebettet zu werden. An Schlaf war jedenfalls nicht zu denken. Die Schmerzensschreie und das verzweifelte Gestöhne der Mitpatienten bildeten eine permanente Geräuschkulisse, die sich nicht verdrängen und mich ununterbrochen mitleiden liess.

Endlich wieder vier Stunden überstanden. Die Spritze nahte. Wo bleibt denn die Schwester? Was macht sie denn so lange, meine Spritze ist doch überfällig! Masslose Wut, rasende Ungeduld und Schweissausbrüche begleiteten die letzten Minuten vor der erlösenden Morphinspritze. Nach einer Woche unbewegten Liegens und unter dem regelmässigen Einfluss der Droge, begann ich zu halluzinieren. Der unerträgliche Durst, das ewige Geschrei und Gestöhne, die unaufhörlichen Schmerzen, die Gier nach der nächsten Spritze und die quälende Unbeweglichkeit trieben mich langsam, aber sicher an den Rand des Wahnsinns. Die Schwestern verwandelten sich vor meinen Augen in menschengrosse, eisgekühlte Colaflaschen, an denen die Kondensationstropfen langsam herunterperlten. Trinken, trinken! Wo bleibt die Spritze? Wasser!

Meine Organe begannen, laut miteinander zu streiten. Die Lunge jammerte, sie sei wieder voll Wasser, das sei eine Zumutung, man solle sofort Abhilfe schaffen. Die Leber keifte, sie solle gefälligst die Schnauze halten, wenn es jemandem dreckig gehe, dann sei sie es, schliesslich habe man die Hälfte von ihr weggeschnitten. Das Herz mischte sich ein und herrschte die beiden an, sie sollten sich zum Teufel scheren mit dem Gequengel und es seine Arbeit tun lassen, schliesslich habe es die anstrengende Aufgabe, diesen jungen Mann am Leben zu erhalten, und könne nicht auf der faulen Haut liegen, wie Madame Lunge, die sich komfortabel beatmen lasse. Die gebrochenen Knochen wimmerten vor Schmerzen, der Rücken stöhnte, er habe nun genug gelitten, man solle diesen elenden Körper endlich mal in eine andere Position bringen, das Hirn explodierte schier, weil dieses ganze Gekeife und Gezeter seine Kapazität überlastete.

Alles in mir war in Aufruhr, in meinem Körper war ein Krieg ausgebrochen, der unerbittlich und pausenlos geführt wurde, und ich musste mir das alles anhören, ob ich wollte oder nicht. Schlichtungsversuche meinerseits fruchteten nicht das Geringste, man nahm meine Interventionen nicht einmal zur Kenntnis. Ich war in die Hölle geraten und sie fand in mir drin statt. Jahre später las ich, dass die inneren Organe eines Menschen Stationen sind, die, ähnlich wie das Gehirn, über eine eigene Intelligenz verfügen und darum genau wissen, was sie tun müssen. Diese Intelligenzen nahm ich in meinem hypersensiblen Zustand offenbar überdeutlich wahr, sodass ich sogar ihre Stimmung »hörte«. Es war ein Zustand, der dem Irrsinn nahe kam.

So vegetierte ich ein paar Wochen lang vor mich hin, ein schmerzendes, lebensunfähiges Stück Fleisch, dessen Bewusstsein sich nur noch darauf konzentrierte, den Panikimpuls einigermassen zu unterdrücken, den Lärm seiner ausser Kontrolle geratenen Innereien, den alles überlagernden, omnipräsenten Schmerz und den schreienden Durst zu ignorieren und einfach bloss die nächste endlose Sekunde zu überstehen.

Nach vier Wochen in diesem apokalyptischen Zustand verkündete eine perlende Spriteflasche, meine Wunden seien nun zufriedenstellend zusammengewachsen, sodass man als Nächstes den Luftschlauch aus der Lunge ziehen werde. Die Chance sei gross, dass ich wieder selber atmen könne. Ich solle anfangs nur nicht zu tief Luft holen, sondern lediglich oberflächlich hecheln, damit sich mein Zwerchfell wieder an seine Arbeit gewöhnen könne.

Eine freundliche Rivellaflasche machte sich dann an mir zu schaffen, kappte den Kontakt zur Lungenmaschine und begann, langsam den Schlauch durch meine Nase aus der Lunge zu ziehen. Das dauerte endlos und ich bemühte mich krampfhaft, bei dieser unangenehmen Prozedur nicht zu ersticken. Das selbstständige Atmen erwies sich in den nächsten paar Stunden als einziger Überlebenskampf, der äusserst erschöpfend war. Mithilfe eines Sauerstoffschläuchleins, das man mir an der Nase befestigte, bekam ich es nach zwei anstrengenden, schlaflosen Tagen hin, dass ich nicht jeden Atemzug willentlich ausführen musste, sondern diese Arbeit allmählich dem vegetativen System übergeben konnte.

Nachdem ich diesen wichtigen Schritt in mein neues Leben überstanden hatte, wurde ich endlich in ein helles Krankenzimmer verlegt.

Genesung

Dieses Zimmer sollte für die nächsten zwei Monate mein zu Hause sein. Aber wenn ich gedacht hatte, das Schlimmste sei nun überstanden und von nun an könne es nur noch bergauf gehen, dann lag dieser Irrtum hauptsächlich daran, dass ich bis anhin noch nie von Mister Murphy und seinem Gesetz gehört hatte.

Kennen Sie Murphy’s Gesetz? Bestimmt kennen Sie es. Dieses Gesetz, das der amerikanische Ingenieur Edward A. Murphy herausgefunden und formuliert hat, lautet verkürzt etwa so: »Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es auch schief.«

Nun, ich bekam eindrücklichen Erfahrungsunterricht, was dieses Gesetz betraf. Es fing damit an, dass ich entdeckte, dass meine Stimme weg war. Der Schlauch in meinem Hals hatte meine Stimmbänder so stark gedehnt, dass sie nur noch flatterten. Es kam nichts als warme Luft aus meiner Kehle. Der Arzt erklärte mir verständnisvoll, dass dies halt eines der Opfer sei, das ich habe bringen müssen, als man mir den lebensrettenden Schlauch in die Lunge gestossen habe. Stimme oder Leben, alles kann man nicht haben. Mit etwas Glück und Training würden sich aber meine Stimmbänder mit der Zeit wieder ein wenig straffen, sodass ich mich wenigstens sprachlich verständlich machen könne.

Danke, da beerdigte dieser freundliche Weisskittel gerade meine ganze gloriose Zukunft als Sänger. Ich habe gehört, dass es blinde Maler geben soll. Auch gelähmte Sprinter, die auf den Rollstuhl gewechselt haben und nun auf diesem Medium ihr Sprinter-Gen ausleben, gibt es. Da gab’s sogar mal einen gehörlosen Komponisten, der es zu Weltruhm gebracht hat. Aber ein stummer Sänger? Wozu hatte ich ein Talent bekommen, wenn es so mir nichts, dir nichts wieder weggenommen wurde?

Ich konnte immer noch ein schweigsamer Handwerker werden. Mit viel innerer Gefasstheit versuchte ich, dieses neue Element der Stimmlosigkeit in mein Leben zu integrieren, aber es gelang mir nur schwer. An manchem Morgen konnte man mein Kissen auswringen, aber nicht, weil ich geschwitzt hatte.

Als Nächstes zog man mir die beiden Vakuumschläuche aus dem Bauch und nähte die Löcher zu. Dann kam der Katheter dran, der aber in der langen Zeit irgendwie angewachsen war und nur mit einem brutalen Ruck aus der blutenden Harnröhre gerissen werden konnte. Die Folge war, dass das Wasserlösen jedes Mal zu einer höllisch brennenden Folter wurde, die ich so lange wie möglich hinauszögerte. Umso grösser waren dann der Druck und die Qual, wenn ich es nicht mehr zurückhalten konnte.

Zum Glück hatte ich aber immer noch meine vierstündlichen Spritzen, die ich mit zunehmender Inbrunst herbeisehnte. Um die Intervallzeit zu verkürzen, begann ich, laut zu stöhnen und unerträgliche Schmerzen zu veranschaulichen. Leider hatte ich das Pech, von einem Arzt betreut zu werden, der dieses Verhalten richtig deutete und Lunte roch. Zu meinem Leidwesen vergrösserte er die vier Stunden Abstand zwischen den Spritzen auf sechs. Schlimmer noch: Als es eines Tages wieder so weit war, hielt ich den Arm hin, die Schwester band ihn ab und fixte mir die beglückende Droge ins Blut. Aber nichts geschah.

Ich wartete noch zwei Minuten. Nichts. Sonst war der Flash immer nach kurzer Zeit eingefahren. Ich gab bedrohliche Laute von mir und bedeutete der Schwester, sie habe mir das falsche Zeug gespritzt, da passiere überhaupt nichts. Schweigend ging sie hinaus und kam mit dem Arzt wieder, der mir behutsam beizubringen versuchte, dass ich durch den monatelangen Drogenkonsum in eine Abhängigkeit geraten war und dass man mich nun wieder entwöhnen müsse. Man habe mir aus diesem Grund eine Salzlösung injiziert.

So war das also! Man hatte mich zum Junkie gemacht, weil man gedacht hatte, der kratzt sowieso ab, erleichtern wir ihm die letzten Tage und dröhnen ihn mit Drogen zu. Ich tobte, ich schrie, was meine zerfledderten Stimmbänder hergaben, ich verdammte innerlich die ganze verlogene, weiss gekleidete Bande und wand mich wie ein Wurm vor Entzugsschmerzen. Ohne die Spritzen wollte und konnte ich nicht weiterleben. Sie waren die einzigen Lichtblicke in meinem armseligen Dasein. Jetzt hatte man mir auch dieses letzte Glück noch genommen. Ich war ein Junkie auf Turkey und ich konnte mich nicht wehren, weil ich immer noch ans Bett gefesselt war. Selbstverständlich tat ich meinem ärztlichen Team mit diesen Vorhaltungen Unrecht, aber damals war mir das egal.

Mittlerweile wog ich bei meinen hundertdreiundneunzig Zentimetern noch knappe vierzig Kilo. Essen war nicht drin, aber ich durfte ab und zu aus einer Schnabeltasse etwas dünnen Tee schlürfen.

Nach zirka einer Woche im Krankenzimmer spürte ich plötzlich einen höllischen Stich beim Atmen, als würde ein Messer zwischen meinen Rippen stecken. Ich schrieb die Symptome auf die Schreibtafel, die man mir zwecks Kommunikation bereitgestellt hatte. Nach einer kurzen Untersuchung vernahm ich die Diagnose Lungenembolie. Ich hatte keine Ahnung, was das war, aber nach dem Schmerz zu urteilen, war es kein Kinderkram. Erst später erfuhr ich, dass diese Embolie mir trotz der gesundheitlichen Fortschritte um ein Haar das Leben gekostet hätte. Mein Blut wurde nun so stark verdünnt, dass wahrscheinlich nur noch hellrotes Wasser durch meine Adern rann. Zwar nahm der Schmerz beim Atmen mit der Zeit zum Glück ab, aber die Atemzüge waren von einem röchelnden Geräusch begleitet. Da war wieder Wasser in meinen Lungen und aus diesem Anlass durfte ich eine neue Variation der Folter kennen lernen, die zum Ziel hatte, mich von dieser überflüssigen Flüssigkeit zu befreien. Sie versuchten zwar, das Instrument vor mir zu verbergen, aber es war zwecklos: Ich sah das riesige, spritzenähnliche Ding. Man stach mir die dicke, cirka 30 Zentimeter lange Nadel durch den Rücken direkt in die Lunge, um dort die Brühe abzusaugen. Zweimal täglich. Vom wochenlangen Liegen war mein Rücken wundgescheuert und jede noch so kleine Bewegung war eine Strapaze, die ich mir lange überlegte, bevor ich mich ihr aussetzte.

Hörte denn diese Schinderei nie auf? Dauernd kamen wieder neue Komplikationen und Torturen hinzu. In meiner Verzweiflung dachte ich oft, ich hätte liebend gern mit Jesus am Kreuz getauscht. Der konnte wenigstens nach ein paar Stunden seinen Geist aufgeben, aber bei mir schien die Qual kein Ende zu nehmen. Es kam mir vor, als wolle das Schicksal mich total zerbrechen, mir jeglichen Stolz und jegliche Lebensfreude entreissen.

Als Rettungsanker in der Not hatte ich eine Technik entwickelt, die es mir erlaubte, mich tief in mein Inneres zurückzuziehen und in meine Gedankenwelt zu versenken, um mich diesem maroden, schmerzenden Körper zu entziehen und die innere Verbindung zu ihm zu unterbrechen. Ich begab mich im Geiste in eine Fantasiewelt, wanderte durch schöne Landschaften, sass an sprudelnden Bächen und genoss einen tiefblauen Himmel. Ich träumte mich in meine Kindheit zurück und beschwor die Szenen meiner frühen Lebensjahre herauf, die ich in aller Intensität wieder und wieder durchlebte.


Noch keine Zähne, aber lächeln wie ein Grosser: Der 1. Geburtstag


Die Familie Borer 1959: Iwan, Ingo, Mutti, Ines, Bo mit der attraktiven Zahnlücke, Vati, Pia.


Bo als Erstkommunikant. Er sieht frömmer aus, als er ist.


Schon als Teenie ein Herz für Kinder. Bo 1964 mit seiner jüngsten Schwester Nadja.


1967: Elvis, zieh dich warm an, jetzt komme ich!


Von jetzt an wird die Welt verbessert! Der bärtige Protestsänger (1971).


Auch in einem Jazzbassisten kann ein Rocker stecken (1974).


Make love not war! Mit ganzem Herzen bei der Sache.


Der Bart ist ab, aber der Schnauzer hält sich tapfer. Bei einem Konzert im Basler Komödientheater 1975 als Protestsänger.


Das Nesthäkchen an der weissen Bassgeige. Die Bourbon Street Jazzband 1973.


Auch ein Weltverbesserer muss seine Brötchen verdienen. Und die Brusthaare werden offenherzig zur Schau getragen. Hans Hingerl and the Hit Singers 1977.


Die ganz coolen Jungs! Monroe mit Quickly, Noby, Chris und Bo 1977.


Das schönste Gefährt der Welt: Die geliebte Harley Davidson Electra Glide.


Der Tiger ist los! Die Bo Katzman Band mit Sally Solomon, Ditschgi Gutzwiller, Benny Stadelmann, Ueli Gasser und Marco Cerletti.


Ein richtiger Rocker muss cool schauen. 1980 stilgerecht bis zur Gürtelschnalle.


Der nette Junge von nebenan ist in Wirklichkeit ein Macho. Bo Katzman 1982.


»Wer andern eine Wanne hinstellt, fällt selbst hinein.« Die beiden unzertrennlichen Dschungelbuch-Fans Bo und Flaps.


Working on the Galley: Die bösen Piraten auf grosser Fahrt. Die Gang 1986 mit Philipp, Christian, Bo, Felix und Penthouse.


I’m in love with my Typewriter… Die Bo Katzman Gang 1983 mit Benny, den beiden Hohl-Brüdern Philipp und Felix und Christian Ploesser.


My Name is Katzmann… Beau Katzmann. Wo »Katze« draufsteht, ist auch Katze drin.


Zwei Katzenmänner auf einem Bild. Bo mit Kater E.T.


Kopflos ins Abenteuer gestürzt: Das Motiv des Plattencovers des ersten Solo albums »The Kat«, 1979.


Die beste Band der Welt: Marc Portmann, Lisa Scannell, Felix »Big Z« Zindel und Tom Gisler.


The serious side of Bo – In einer Unterrichtsstunde am Progymnasium 1985.


Die Soul Cats 1998 mit Sandy Chiesa und Werner Wirz.


Erholung in der Natur. Bo holt sich Energie und Ruhe auf langen Spaziergängen.

Zwei Minuten Ewigkeit

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