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Der silberne Zauberstab

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Julian fand sich hinter dem großen Zirkuszelt zwischen lauter bunt bemalten Wohnwagen und Käfigen auf Rädern wieder. Er lief hin und her und schaute sich gründlich um. Aber er konnte nirgendwo einen schwarzen, bauschenden Umhang entdecken. Trotzdem gab er nicht auf. Einmal kam ihm einer der Artisten entgegen, dann lief ein Mann im Arbeitsoverall an ihm vorbei, aber keiner schenkte ihm Beachtung. Die Wohnwagen um ihn herum warfen im Schein der Fackeln unheimliche Schatten. Je weiter er sich vom Zirkuszelt entfernte, desto größer wurden die Abstände zwischen den Fackeln und desto dichter rückten die Schatten zusammen. Er ging langsamer und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Plötzlich fuhr er erschrocken zurück. Vor ihm riss sich ein Schatten aus den übrigen Schatten los und bewegte sich direkt auf ihn zu. Julian wurde eiskalt. Dann sperrte er erstaunt die Augen auf, als er sah, dass der Schatten eine lange, schwarz gekleidete Gestalt war. Es war niemand Geringerer als der große Hexenspezialist Posemuckelmats. Er hatte mucksmäuschenstill dagestanden und war mit den Schatten der Herbstnacht verschmolzen, eine Kunst, die er bis zur Vollkommenheit beherrschte, und die ihn für das menschliche Auge unsichtbar machte.

„Posemuckelmats!“, rief Julian aus.

Der große, alte Hexenspezialist hielt den Zeigefinger vor die Lippen. Wie üblich trug er neben seinem langen, schwarzen Umhang einen großen, schwarzen Hut. Sein eines Auge war mit einer schwarzen Augenklappe verdeckt. Und er hatte nur ein Ohr, das aber dafür so groß war wie ein Kaffeefilter. Er sah immer aus wie eine merkwürdige Kreuzung aus Seeräuber und Zauberer.

Julian wäre vor lauter Wiedersehensfreude am liebsten in die Luft gesprungen. Aber dann merkte er, dass der große Mann mit dem schwarzen Umhang ihn im Schein der flackernden Fackeln scharf musterte.

„Sieh mal einer an“, sagte er schließlich. „Wenn das nicht der kleine Schmachtlappen ist, der mir beim Kampf gegen die Hexe aus dem Zaubermoor geholfen hat! Was machst du denn hier?“

„Ich war in der Zirkusvorstellung“, setzte Julian an. „Und da ...“

Posemuckelmats bohrte seinen langen Zeigefinger in Julians Bauch. „So ein Luftikus“, sagte er streng und bedachte Julian mit einem durchbohrenden Blick seines sichtbaren Auges. „Wetten, dass du dich seit unserem letzten Treffen nur rumgetrieben hast!“

Jetzt wurde Julian aber langsam ernsthaft sauer.

„Ich hab mich nicht rumgetrieben“, schnaufte er. „Ich hab jeden Tag geübt, so lange wie möglich reglos in einer unbequemen Haltung stehen zu bleiben, mindestens drei Mal pro Tag. Und ich kann die vier geheimen Hexenregeln auswendig und werde sie niemals vergessen!“

An dieser Stelle streckte Julian seinen Zeigefinger aus und pikste energisch zurück. Er musste den Arm ziemlich weit nach oben strecken, um an Posemuckelmats’ Bauch zu reichen. Und so standen sie voreinander, der merkwürdige Mann und der hartnäckige Junge, und piksten sich gegenseitig mit den Zeigefingern in den Bauch, während sie sich um die Wette anfunkelten.

„Lass hören“, befahl Posemuckelmats streng.

„Die erste geheime Hexenregel lautet: hexenspucke trennt dinge. Die zweite geheime Hexenregel heißt: hexenschnodder pulverisiert dinge. Die dritte geheime Hexenregel: hexenblut macht unsichtbares sichtbar. Und die vierte geheime Hexenregel heißt: hexentränen machen geschehenes ungeschehen“, rappelte Julian wie aus der Pistole geschossen und klar und deutlich herunter, ohne ein einziges Mal Luft zu holen.

„Hm“, brummt der Hexenspezialist und kniff sein Auge zusammen. „Und wie sieht es mit den geheimen Zauberpraktiken der Hexe aus?“

„Wenn eine Hexe einen Menschen in ein Tier oder umgekehrt ein Tier in einen Menschen verhexen will, braucht sie zuerst etwas, das der Mensch berührt oder in das das Tier hineingebissen hat“, antwortete Julian. „Mit einem Tropfen Hexenschnodder verwandelt sie den Gegenstand in Pulver. Und das Pulver bläst sie demjenigen in die Augen, den sie verhexen will, wobei sie eine Formel aufsagt. Denn ohne Hexenpulver wirkt die Hexenformel nicht.“

Posemuckelmats stimmte ein leises, aber zufriedenes Lachen an.

„Du hast es wirklich ganz faustdick hinter den Ohren“, sagte er lachend. „Schon möglich, dass ich deine Hilfe noch mal in Anspruch nehme, da du zufällig gerade hier bist.“

Er legte seine Hand schwer auf Julians Schulter.

„Willst du noch einmal mein Gehilfe sein oder nicht?“, fragte er.

„Allzeit bereit“, sagte Julian und streckte den Rücken. Es gab nichts auf der Welt, was er lieber wollte.

Posemuckelmats beugte sich mit einer blitzschnellen Bewegung zu ihm runter. Sein sichtbares Auge funkelte im Lichtschein einer Fackel.

„Hast du sie gesehen?“, flüsterte er.

„Äh, wen?“, fragte Julian verwirrt.

Posemuckelmats’ Auge sah aus, als ob es aus der Höhle treten würde. „Die Hexe natürlich“, platzte er ungeduldig heraus. „Wen denn sonst?“

Julian zuckte zusammen und sah sich hastig nach allen Seiten um, ohne dass ihm etwas Verdächtiges aufgefallen wäre.

„Die Hexe?“, murmelte er. „Was für eine ...?“

„Hast du nicht gesagt, du wärest eben in der Zirkusvorstellung gewesen?“

„Äh, doch, ja, aber ...“

„Verflixt gerissene Hexentarnung“, unterbrach Posemuckelmats ihn mit einem von einem Kopfschütteln begleiteten Schnaufen und zeigte mit einer ausladenden Bewegung zum Zirkuszelt hinüber. „Ein Wanderzirkus! Äußerst gerissen. Mit das Gerissenste, was mir seit langem untergekommen ist. Wir haben es hier mit einem ganz besonders gerissenen Exemplar der Hexengattung zu tun. Hexen sind natürlich grundsätzlich gerissen. Aber einige sind eben noch gerissener als andere. Eine Zirkushexe! Also wirklich! Was wird sie sich wohl als Nächstes einfallen lassen!?“

Er schüttelte den Kopf so heftig, dass sein Hut herunterfiel. Julian beeilte sich, ihn aufzuheben und Posemuckelmats zurückzugeben. Im gleichen Augenblick fasste sich der Hexenspezialist mit einem unterdrückten Fluch ans Ohr und zog Julian blitzschnell mit sich in den Schatten eines kunterbunten Wohnwagens.

Da ging jemand durch die von Fackeln erleuchtete Dunkelheit. Es war die Zirkusdirektorin in ihrem Paillettenkostüm. Sie pfiff eine Melodie und balancierte den Silberzauberstab elegant auf der Spitze ihres Zeigefingers. Dann verschwand sie in einem großen, leuchtend roten Wohnwagen, der mit hohen, schwarzen Zauberzylindern bemalt war, aus denen weiße Kaninchen hüpften.

Gleich hinter ihr kam noch jemand: der Glückspilz, der während der Zaubernummer den silbernen Zauberstab hatte halten dürfen. Er sah sich suchend um, bevor er auf den roten Wohnwagen zuging.

„Verdurrichnocheins“, murmelte Posemuckelmats. „Genauso war es gestern auch.“

Er sprang mit einem großen Satz hinter dem Jungen her, der just in diesem Moment laut gegen die Tür des roten Wohnwagens klopfte, worauf Posemuckelmats sich mit einem großen Satz zurück in den Schatten rettete.

„Verdurrichnocheins“, murmelte er zum zweiten Mal.

Die Tür des Wohnwagens öffnete sich, und aus dem Innern des Wagens fiel Licht auf die dunkle Treppe.

„Verdurrichnocheins“, murmelte Posemuckelmats zum dritten Mal, diesmal ganz langsam.

In der offenen Tür stand die Zirkusdirektorin. Sie hielt noch immer den Silberzauberstab in der Hand. Julian blieb fast das Herz stehen. Er sah von dem Jungen zu dem silbernen Zauberstab und wieder zurück zu dem Jungen. Und plötzlich ahnte er, mehr als dass er es wusste, was als Nächstes geschehen würde.

Die Zirkusdirektorin lächelte. Ihre weißen Zähne strahlten im Schein der nächsten Fackel.

„Herzlich willkommen, mein Guter“, sagte sie mit übertriebener Freundlichkeit. „Jetzt sollst du, wie versprochen, deine Belohnung dafür bekommen, dass du den silbernen Zauberstab für mich gehalten hast.“

Der Junge nickte erwartungsvoll.

„Was ist denn das!“, platzte die Direktorin plötzlich heraus und zeigte mit ihrem sehr langen Zeigefinger auf den Boden. „Hast du dir etwa Ketschup auf die Schuhe gekleckert?!“

Der Junge blickte erstaunt auf seine Schuhe, und die Zirkusdirektorin nutzte den Augenblick, um eine kleine Flasche mit einem Tropfenzähler aus ihrem Kostüm hervorzuzaubern. Julian schluckte entsetzt, als die Direktorin einen Tropfen aus der Flasche auf den Zauberstab träufelte, der sich augenblicklich in braunes, leicht phosphoreszierendes Pulver verwandelte.

Als der Junge wieder nach oben schaute, blies sie ihm das Pulver mit einem koketten Puster direkt in die Augen. Dann murmelte sie ganz langsam ein paar unverständliche Worte, worauf der Junge in einer grün-violetten Rauchwolke verschwand, die sich aber schnell wieder auflöste.

Im Gras vor dem roten Wohnwagen im Schein der Fackel saß jetzt neben einem Paar großer, ausgelatschter Sportschuhe eine weiße Maus, die augenblicklich begann, gehetzt im Kreis herumzulaufen.

„Husch, zu den anderen“, tirilierte die Hexe und zeigte zu einem großen grünen Wohnwagen mit einer Stalltür.

Sie gab ein abgehacktes, aber perlendes Lachen von sich und verschwand in ihrem eigenen Wagen. Die Maus trippelte auf unsicheren Beinen in die Richtung, in die die Hexe gezeigt hatte. Julian starrte wie gelähmt hinter ihr her. Auf einmal beneidete er den Jungen überhaupt nicht mehr, der den silbernen Zauberstab hatte halten dürfen.

Julian und der Hexenrekord

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