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Der Mut zur Liebe

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Es war wie an jedem Morgen. Sie verließ das Haus mit Eile, da sie wie immer zu spät aufge­standen war, und musste sich sputen, um den Bus in die Schule nicht zu verpassen.

Zumindest lief es jeden Morgen seit drei Wochen so. Denn zuvor war sie eine Muster­schülerin gewesen, die sich nichts zu Schulden kommen ließ, außer gelegentlich ihren Frust zu laut zu äußern. Vor drei Wochen aber hatte sich etwas verändert. Tief in ihrem Herzen hatte es zu wurzeln begonnen und sich wie eine Schling­pflanze um ihr kleines Herz gewunden. Es war inzwischen nicht mehr zu entwirren, die Liebe hatte sie völlig überrannt und verein­nahmt. Die Noten waren ihr unwichtig gewor­den, die Haus­aufgaben hatte sie schleifen las­sen, die Hausar­beit machte sie halbherzig und mit ihren Freun­den wollte sie sich lange nicht mehr treffen, da sie viel lieber ihren Schwärme­reien nachhing.

Ja, sie war verliebt! Schwer verliebt, denn nichts konnte sie des morgens aus ihrem Bett holen, dort, wo sie immerzu an ihn dachte und sich in ihren Gedanken ausmalte, wie es wohl wäre, wenn sie beide zusammen wären. Ein Paar, ja, ein Liebespaar!

Aber sie erschauderte vor diesen Gedanken, wenngleich sie das Gefühl der Liebe mochte. Sie träumte von einem Leben in Glück, doch mit der Angst davor, selbst zu versagen und das eigene Glück durch ihre Schusseligkeit zu verlie­ren. Was, wenn er sie wegen ihr Fehler zurück­wies, wenn er irgendwann merkte, dass er doch nicht mit ihr zusammen sein mochte? Nein! Es war sicherer, diese Gefühle vor ihm zu verber­gen!

„Da ist sie ja!“, rief Bell und riss das verlieb­te Mädchen damit aus seinen Gedanken.

„Schön, dass du auch noch auftauchst!“, schimpfte Isa gleich mit vor der Brust ver­schränkten Armen.

Gerade hatte sie die Bushaltestelle erreicht, als sie ihre beiden besten Freundinnen entdeck­te. Doch sonst war niemand da. Sie wusste, sie hatte den Bus verpasst.

„Ihr müsst doch nicht jedes Mal auf mich warten, wenn ich den Bus verpasse“, meinte sie gerührt und doch frustriert.

„Sollen wir dich etwa allein zur Schule lau­fen lassen?“, fragte Isa wütend, „Gute Freunde ma­chen so was nicht!“

„Ja!“, stimmte Bell zu und fügte ängstlich an: „Du weißt doch, was Mama gesagt hat! Für einen jungen Schüler kann es gefährlich sein, ganz allein zur Schule zu laufen!“

Sie erinnerte sich gut an die Nachrichten, in denen von anderen Schülern erzählt wurde, die auf dem Weg zur Schule angegriffen wurden. Sie war schockiert gewesen und hatte sich ge­schworen, niemals allein zur Schule zu laufen.

Der Bus war weg, aber zumindest waren ihre Freundinnen da, sodass sie erleichtert auf­atmen konnte. Sie würde die erste Stunde auf jeden Fall verpassen, doch der nächste Bus wäre gera­de rechtzeitig zur zweiten Stunde da, daher musste sie nun zu Fuß zur Schule laufen. Dann wäre sie noch vor Beginn der zweiten Stunde da und könnte sich im Lehrerzimmer für ihr Feh­len entschuldigen, ohne die zweite Schulstunde ebenfalls zu verpassen.

„Bitte, entschuldigt!“, brachte sie es nun end­lich heraus.

Isa seufzte: „Lasst uns aufbrechen!“, meinte sie und drehte sich zum Gehen um.

„Ja, genau! Aber haltet die Augen auf! Man weiß ja nie!“, fügte Bell nervös an.

So brachen sie zu dritt auf. Schweigend folg­ten sie dem Weg, überquerten hier und da eine Straße und gingen eine Abkürzung durch den Stadtpark. Dort hielt sie an und schaute zum See hinüber. Wie oft hatte sie sich schon ge­wünscht, mit Lukas einen Spaziergang am See entlang zu machen? Sie hatte es früher geliebt, mit ihrem Vater und ihrer Mutter Spaziergänge zu machen und schwärmerisch und verträumt auf den See hinauszublicken. Doch mit ihrem Liebsten würde es bestimmt noch viel schöner sein! Aber womöglich mochte Lukas ja gar kei­ne Spaziergänge?

„Hast du vor, es ihm endlich zu sagen?“, er­klang Isas Stimme. Ihr war der schmachtende Blick des Mädchens nicht entgangen.

„Was?“, wollte Bell gleich empört wissen, als sich das verliebte Mädchen zu den beiden um­drehte. Sie wusste sofort, worum es ging. „Spinnst du? Sie weiß doch nicht mal, ob Lu­kas sie auch mag!“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, begannen die beiden wie eh und je einen Streit, dem das verliebte Mädchen nur stillschweigend lauschte.

„Sie sollte es ihm endlich sagen!“, bestand Isa auf einen mutfordernden Schritt, „Ist doch egal, ob wir wissen, was Lukas empfindet!“

„Das ist doch nicht egal!“, entfuhr es Bell, „Es könnte so peinlich werden! Stell dir nur mal vor, wenn er sie auslacht!“

Isa seufzte, denn es war dasselbe Argument, das Bell immer brachte. „Aber das wissen wir doch gar nicht!“, meinte Isa aufgebracht und fügte etwas ruhiger an: „Wir wissen nicht, ob er sie auslachen wird!“

„Genau deswegen soll sie's ihm ja nicht sa­gen!“, beharrte Bell weiterhin auf Heimlichkeit.

„Bell, du bist einfach zu naiv und kindlich“, meinte Isa und griff sich entrüstet mit der Hand an die Stirn, „Stell dir lieber vor, sie be­hält es für sich! Lukas wird nie wissen, was sie empfindet, und kann gar nicht überlegen, ob er sie mag! Es könnte auch schön anstatt peinlich werden.“

„Ich bin nicht naiv!“, entgegnete Bell, ohne auf die anderen Worte Isas einzugehen, ob­wohl sie unlängst in einem stillen Augenblick vor sich selbst zugegeben hatte, manchmal noch sehr naiv zu sein.

„Du bist naiv!“, trat Isa mit Strenge nach, „Sehr sogar! Und feige!“

Bell empörten die harschen Worte: „Ja, und? Du würdest den Mut doch auch nicht aufbrin­gen, einem Jungen so mir nichts, dir nichts dei­ne Liebe zu gestehen! Bei dir klingt es, als wäre das einfach!“

„Darum geht es doch gar nicht“, wollte Isa ansetzen.

„Wenn sie es ihm sagt, was wird er dann tun?“, meinte Bell verängstigt, „Er könnte sich über sie lustig machen! Oder was ganz Gemei­nes sagen! Willst du das nicht verstehen?“

„Das ist nun mal das Risiko!“, beharrte Isa, denn sie glaubte nun mal nicht, dass sich Pro­bleme durch Schweigen und Aussitzen von al­leine lösten.

Nun war Bell aufgebracht. Mochte Isa denn den Ernst dieses Risikos nicht verstehen? „Lu­kas könnte sie ärgern! Stell dir vor, er erzählt es den anderen Jungs! Dann macht sich doch die ganze Schule lustig über sie!“

„Aber das weißt du doch gar nicht!“, entgeg­nete Isa eindringlich, „Du weißt nicht, was pas­sieren wird und wie Lukas reagiert. Ich schätze ihn jedenfalls nicht so ein, dass er allen anderen davon erzählt. Oder sich lustig macht. Das traue ich ihm gar nicht zu! Er ist ein Ruhi­ger und Netter und er lässt sich nicht auf Un­fug ein wie viele andere.“

„Aber du weißt es nicht mit Sicherheit, stimmt’s?“

„Das ist wahr“, gab Isa zu, „aber wenn sie's ihm nie erzählt, wird sie auch niemals erfahren, wie es wäre, wenn er es erwidert! Hast du daran mal gedacht? Er könnte sie mögen!“, meinte Isa und da fiel ihr etwas anderes ein: „Und über­haupt! Die Wahrscheinlichkeit ist gar nicht so gering, dass er sie mag! Ich habe da neulich sol­che Blicke bemerkt!“

„Blicke?“, wollte Bell wissen.

„Ja! Er hat sie angesehen und er sah neugie­rig aus. Und ein wenig schüchtern und nach­denklich. Stell dir mal vor, womöglich mag er sie auch und weiß nicht, wie er es ihr sagen soll!“

„O, du meine Güte!“, entfuhr es Bell und sie kniff verlegen die Augen zu.

„Was ist jetzt wieder?“, wollte Isa wissen.

„Wenn er sie mag, und sie zusammen kom­men...“, begann Bell, doch die Gedanken ver­schüchterten sie noch mehr.

„Was dann?“, fragte Isa laut und beharrlich nach.

„Naja, sie hatte doch noch nie einen Freund. Woher soll sie wissen, wie es geht? Ich meine, es könnte so vieles schief gehen… Wenn sie irgen­detwas falsch macht, oder wenn sie sich fürch­terlich blamiert. Er würde vielleicht wie­der mit ihr Schluss machen…“, malte Bell die ungeahnt­en Ängste aus und verbarg dabei die Röte ihrer Wangen mit den Händen.

„Ach was, es ist noch kein Meister vom Him­mel gefallen!“, beschwichtigte Isa, „Sie sagt ihm einfach, dass er ihr erster Freund ist und damit weiß er auch, worauf er sich einlässt. Das ist doch ganz einfach! Man kann schließ­lich über alles reden.“

„Na, ich weiß ja nicht“, meinte Bell unsi­cher.

Lange standen sie so da und ließen die Ge­danken auf sich wirken. Viel zu lange, denn der Mittag näherte sich bereits. Aber sie bemerkte es nicht und ihre Freundinnen wollten es nicht bemerken, sie verstrickten sich bald darauf wie­der in ihre Diskussion und während Isa heißblü­tig darauf bestand, dass sie ihrem Schwarm ihre Gefühle gestehen musste, wollte Bell nicht zu­hören und bestand ihrerseits dar­auf, dass alles fürchterlich schief gehen würde. Sie wollte, dass das verliebte Mädchen die wun­dersamen Ge­fühle für sich behielt und sie ge­noss, so lange sie währten.

„Isabell?“, ertönte urplötzlich eine bekannte Stimme hinter dem Mädchen. Sie drehte sich zu Lukas um. „Was machst du denn ganz allei­ne hier am See? Wir haben dich in der Schule ver­misst und deine Eltern sagten, du hättest das Haus längst verlassen. Wir suchen alle nach dir.“

Und tatsächlich: Als sich das erschrockene Mädchen umblickte, erkannte es andere Leute in der Nähe, die erleichtert schienen, die Schüle­rin gefunden zu haben. Langsam kamen sie auf Isabell zu, manche telefonierten eifrig mit dem Handy.

„Ist alles in Ordnung?“, wollte Lukas wis­sen, ohne zu merken, wie sehr seine Anwesen­heit sie verschüchterte.

„Ich habe… den Bus verpasst“, brachte sie beinahe flüsternd heraus und mied den Augen­kontakt zu Lukas, damit er ihre Gefühle nicht bemerkte und die verlegene und verliebte Röte ihrer Wangen.

„Und da bist du allein losgegangen?“, wollte der entsetzte Junge wissen, der sehr wohl die Verlegenheit des Mädchens bemerkte, „Isa-bell?“, begann er und wartete, bis das Mäd­chen ihm den Blick zuwandte, „Du verpasst in letzter Zeit ziemlich häufig den Bus. Ich steige nur we­nige Stationen vor dir ein, deshalb mer­ke ich es, wenn du nicht da bist. Wenn du willst, kön-nen wir zusammen zur Schule gehen. Na ja, es heißt, es ist gefährlich allein.“

In den Augen Isabells entfachte ein warmes Feuer, der Gedanke mochte ihr gefallen, und gleichsam mochte er sie ängstigen. Verschüch­tert ließ sie den Blick sinken. Sie konnte den Mut nicht aufbringen, es ihm zu sagen.

„Ich mag dich wirklich gern, weißt du…?“, sagte der Junge leise und verlegen. Und Isabell glaubte, ein leises Zittern in seiner Stimme ge­hört zu haben. Er mochte sie also! Seine Blicke! Isabell hatte sie also doch nicht falsch gedeutet. Lukas schien mutiger zu sein als sie, doch auch ihm war es sichtlich schwer gefallen. Nun stand er da, die schwitzigen Hände zuckten nervös, sein erwartungsvoller Blick war unstet und sei­ne Lippen wägten ab, ob sie etwas sagen sollten oder nicht.

Nun waren alle anderen bei ihnen angekom­men, ehe Isabell ihm eine Antwort hatte geben können, und wollten gleich wissen, was passiert war. Isabell schloss einen Moment die Augen. Er mochte sie. Es gab keinen Grund, jetzt noch ängstlich zu sein. Ja, sie musste ihm ein­fach nur sagen, dass sie unsicher war! Wenn er ihre Ängs­te kannte, hatte er die Möglichkeit, darauf zu reagieren.

Sie öffnete die Augen mit erfrischtem Mut: „Es tut mir leid“, sprach sie und wandte sich mit ihren Worten an alle umstehenden Leute: „Ich habe den Bus schon wieder verpasst und bin irgendwie hier hängen geblieben. Aber Lu­kas hat mir angeboten, mich von jetzt an zu be­gleiten. Ihr müsst euch also nicht mehr sorgen.“

Es war der einfache Weg: Ein Ja über Umwe­ge. So wusste er, sie wollte das Angebot anneh­men, doch sie musste dafür nicht den Mut auf­bringen, ihm in die Augen zu sehen. Erleichte­rung durchdrang ihren bebenden Kör­per, doch eine freudige Angst folgte sogleich. Sie blickte zu Lukas.

Er lächelte zufrieden und teilte die Röte auf Isa­bells Wangen.

[veröffentlicht am 14. Feb. 2018]

Frühlingslied 2018

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