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Fafr am Rande seiner Ewigkeit

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Er hob den schweren, alten Kopf und die Lider seiner trägen Augen, die bereits seit längerem die Schönheit seiner Welt nicht erkennen mochten. Weit schweifte er den Blick umher, erkannte die Berge um ihn herum, in denen er sein ganzes Leben verbracht hatte; erkannte die Wälder zu den Füßen der Berge und die Flüsse, die sich schlängelnd durch das triste Blättermeer und die trüben Auen zogen. Ein Nieselregen hielt Einzug über den Weiten und ein Schleier aus grauem Nebeldunst lag tief in den Wäldern. Er strömte wie verbrauchte Luft aus den Baumkronen und reckte sich hinauf zu der niedrig hängenden Wolkendecke, unter der die einst so blühende Landschaft beinahe vor dem Blick Fafrs verborgen war.

Er war alt, fürwahr, doch unsterblich! Das Altern konnte ihn nicht dahinraffen, aber trotzdem spürte er einen Tod in seinen Körper schleichen. Wieder und wieder nagte eine Kälte an seinen Gebeinen, die ihn lähmte. Er mochte nicht mehr hinaus und in die Lüfte fliegen, wie er es einst jeden Tag und jeden Moment getan hatte.

Früher, er erinnerte sich genau daran, früher war die Welt ein grüner Ort ohne grauen Schleier gewesen, durch den wie Lebensadern die Flüsse rauschten und wo Vögel und Drachen die Lüfte beherrschten, spielend, tobend, lebensfroh.

Am Beginn der Zeit, als Fafr geschaffen wurde, um als unsterblicher Wächter die Welt zu bewahren, da gab es für ihn kein Halten. Fafr war noch jung gewesen, kein kleiner Drache, sondern bereits zur Hälfte ausgewachsen. Dennoch, er war neu in dieser Welt und so unbeherrscht und neugierig wie Jungtiere es sind. Überall, an jeder Ecke, hinter jedem Berg und Baum hatte er sonderbare, wundersame Dinge entdeckt. Voll der Neugier und Verzückung hatte er keinen Moment ruhen oder rasten wollen. Und die anderen Drachen taten es ihm gleich. Wie eine Meute neugieriger Kinder waren sie ohne Zügel auf die Welt losgegangen und hatten alles sich besehen. Und das, obwohl alle unter ihnen geschaffen waren und sie dadurch niemals eine Kindheit besessen hatten.

Geschaffen, ja, nicht geboren, wie die anderen, wie seine eigenen Kinder. Von mächtigen Gestalten, die von den Völkern als Arkadda verehrt wurden, waren er und viele andere Drachen erschaffen worden und wurden mit Unsterblichkeit gesegnet. Damals herrschten unruhige Zeiten, durchpflügt von den ersten Kriegen der Völker gegen unheilvolle Dämonen und Monster aus einer Anderswelt. Zeiten, in denen die Welt, so wie sie war, sich erwehren musste, und in denen die Völker gerade erst geboren waren, um in diesen Kriegen zu kämpfen.

Jetzt wollte er sich nicht an die unheilvollen Kriege zurückerinnern. Wenngleich ein stiller Stolz die Erinnerungen allzeit begleitete, so wollte Fafr sich lieber an die ruhigen und friedvollen Zeiten erinnern.

Und da dachte er an den ersten seiner unzähligen Flügelschläge, an den ersten Flug unterm Himmelsdach. Es war ein sonniger Morgen gewesen, als sein riesenhafter Körper zum ersten Mal die Augen geöffnet und die frische kühle Luft in seine Lungen gesogen hatte. Wild und unbedarft hatte er einen Schritt nach dem nächsten getan. Erst als die Sonne hochgestanden und Fafr zu ihr hinaufgeblickt hatte, da spreizten sich seine ledernen Flügel vom schlanken karminroten Schuppenkörper. Er schlug sie auf und nieder, spürte den Druck, der seinen echsenartigen Körper vom Erdboden hievte. Wankend und unsicher, aber mit Entschlossenheit hatte er es wieder und wieder versucht, bis er endlich an Höhe gewonnen hatte. Über die Wipfel der Bäume war er hinausgeflogen, näher und näher zur Sonne hin, bis der Wald unter ihm zu einer grünen fleckigen Masse geworden war. Es war ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit und Frohsinn gewesen, so unbeschreiblich, dass er mit Freude diese atemberaubende Welt behüten wollte.

Weit war er damals geflogen über blühende Länder und unendliche Ozeane. Seine großen karminroten Schwingen hatten ihn in ungeahnte Höhen getragen und ihm allzeit ein Gefühl von Freiheit gegeben. Und die Feuer, die er aus seinem Rachen gespieen hatte, malten warme Bilder an den Himmel, die rasch verloschen waren. Er hatte sich stark und mächtig gefühlt, und war in den Kriegen durch die Reihen der Dämonen gewütet. Nichts und niemand hatte ihn stoppen oder seinen wilden Feuern standhalten können.

Er war gefürchtet, noch lange nachdem die ersten Kriege geendet hatten. Man fürchtete ihn als Feuerdrachen ob seiner Zerstörungswut, man verehrte ihn ob seiner Kraft und man ersuchte ihn um Rat ob seiner Weisheit. Er liebte die Welt und liebte das Leben. Und er behütete beides, wie ihm geheißen. So hatte er sich in die Belange anderer eingemischt, auf Seiten der Völker in unvermeidbaren Kriegen gekämpft und war stets bemüht gewesen, einen Frieden herbeizuführen.

Mit der Zeit aber begann er zu verstehen, dass die Kriege zwar endeten, aber neue fort und fort folgten. Die Völker der Welt lagen in ständigem Zwist. Erst vor fünfundvierzig Jahren hatte in der Landschaft vor seinen trüben alten Augen ein Krieg getobt. Die verfeindeten Menschen hatten allesamt seinen Rat und Beistand ersucht, doch Fafr hatte ob seiner Müdigkeit abgelehnt. Niemanden wollte er je wieder in einem Krieg unterstützen, denn er hoffte inständig, wenn er keinem seine Gunst schenkte, würde man früher oder später die Streitereien unblutig beenden. Verlassen von der Gunst des unsterblichen Drachen sollten sie die Hoffnung auf einen Sieg verlieren und den Streit auf andere Art beilegen.

Es hatte nichts genutzt. Irgendwie hatten die Menschen den Mut gefunden, ohne drachischen Beistand in den Krieg zu ziehen und Verwüstung und Leid heraufzubeschwören.

Nach all den Jahren seit dem letzten Krieg, den er von seinem Berg aus beobachtet hatte, waren kein Mann und keine Frau mehr zu Fafr auf den Steinriesen gestiegen. Und jetzt sah Fafr auch keine Vögel und keine Drachen mehr am Himmel. Seine sterblichen Kinder hatten sich in die Höhlen der Gebirge und in ihre Nester zurückgezogen, denn auch sie mochten in dem Grau nicht fliegen.

Die wundersame Landschaft, die er von hier aus sehen konnte, die ihn lange Jahrhunderte hindurch erfreut und begeistert hatte, war in dieses Grau eingetaucht, als ob das Leben selbst aus ihr schwände. So, wie es aus seinen alten Knochen schwand. Eine Trägheit gleich einer unkontrollierbaren Lähmung mochte ihn lange Zeit nicht aufstehen lassen. Sie hatte sich ganz unscheinbar zu ihm gesellt, und wollte nicht mehr gehen. Kalt war sie und sie sang ein Lied vom Tod. Wundersame Melodien und ein wiegender Rhythmus lockten Fafr in einen endlosen Schlummer.

Wieder waren seine Gedanken zu den Kriegen gewandert. Womöglich war es für ihn an der Zeit, dem singenden Gast nachzugeben, doch der mächtige Drache wehrte sich dagegen. Wie ein Feuer, das in einem Regenguss gierig nach jeder Luft schnappte, um nicht zu erlöschen, so war es auch dem Drachen Fafr nicht möglich, den Kampf ums Fortbestehen zu vermeiden.

Langsam und mit Mühe hob er den geschundenen Leib. Sich schüttelnd machte er ein paar Schritte von dem Platz vor seiner Höhle hin zu einem flachen Grund, von dem aus sein Blick über die Landschaft weiter sein würde. Ein Balkon, wie er es empfand, denn dort ragten keine zerklüfteten Felsen in sein Blickfeld. Er stellte sich auf die kräftigen Hinterbeine und streckte die ledernen Schwingen, die mit seinen Vorderläufen verbunden waren, weit von sich. Den stacheligen und vielfach gehörnten Kopf hob er mit dem schlangenartigen Hals ihn die Luft. Ein Schrei, ein Brüllen entwich seinem spitzen und zahnbewährten Maul. Donnernd brach es in die Landschaft. Ein heißes Feuer folgte ihm aus dem Rachen und so verstummte das Lied des ungebetenen Gasts ein weiteres Mal.

Als Fafr in die folgende Ruhe lauschte, setzte er die Vorderläufe wieder auf. Er sank zu einer liegenden Pose zurück und legte den Kopf auf seinen Vorderläufen ab.

Einige Stunden mochte er so geschlafen haben, als er wieder erwachte. Sein noch schläfrig trüber Blick schweifte umher und erkannte Bewegungen in einem glitzernden Sonnenstrahl.

Gähnend weckte er seine Augen, um genauer hinsehen zu können.

Da erkannte er den Sonnenstrahl, der durch den aufklarenden Himmel und die schwere Wolkendecke gebrochen war. Ihm folgten weitere Sonnenstrahlen.

Licht!

Es fiel in breiten glänzenden Strahlen auf die Wälder und Felder und die Flüsse und die Berge. Überall erkannte es der uralte Drache, wie es den Grauschleier lüftete und Grün und Blau und Goldgelb preisgab.

Farben!

Fafrs Augen erinnerten sich an diese Farben. Weit riss er die schuppigen Lider von den schwarzen Pupillen fort. Da sah er auch die Drachen, die im blühenden Lichte flogen. Frei und fröhlich, spielend und tobend. Seine Kinder, seine Nachkommen, die alle schlimmen Zeiten überdauert hatten.

Wärme schlich zurück in seine Knochen. Nun berührte das Licht auch ihn.

Wie hatte er es vergessen können? Es war immer so gewesen: Ein Krieg brach aus, grau und rot färbte sich die Welt um ihn herum. Er hasste es, fürwahr, denn er mochte Frieden lieber und die Freude, die ihm innewohnte. Doch wenn die Kriege endeten und die Welt eine Weile brach gelegen hatte, dann erhob sie sich aus ihrem Grau und erstrahlte in einem Blühen, das die vormals schöne Welt erneuerte und sie noch schöner und heller strahlen ließ. Zumindest, so dachte Fafr, zumindest hatte er immerzu dieses Gefühl gehabt. Aber tatsächlich, und das wusste er mit all seiner Jahrtausende alten Erfahrung, war die Welt durch die Kriege nicht schöner geworden. Sie hatte sich verändert. Aber das langanhaltende Grau ließ alle glauben, dass die Welt nachher viel schöner blühte als vor dem Krieg. Schließlich freute man sich über alles, was das Schlechte von zuvor in die Vergessenheit rückte.

Nichts destotrotz, und obwohl sich auch Fafr kein einziges Mal dagegen wehren konnte, den Anblick einer wieder erstarkenden Welt faszinierend zu finden, so wusste er, die Menschen und auch andere Völker würden sich niemals in Frieden begegnen. Missverständnisse und Andersartigkeiten machten sie sich gegenseitig spinnefeind. Sie waren stets auf der Suche nach der einen Wahrheit und liefen dabei jeder Lüge hinterher in ein verworrenes Labyrinth. Fafr wusste, welche Konsequenz daraus folgte. Aber er hatte gelernt, mit der Weisheit seines Alters, dass es niemals nur eine Wahrheit gab. Es gab viele davon und jede einzelne Kreatur auf der Welt erschuf sie sich selbst.

Fafrs Wahrheit war, dass ein neuer Sturm heraufziehen würde, ein neuer Krieg. Da senkten sich seine Lider. Langsam begab er sich zurück zu seiner Höhle, legte sich davor auf den kargen Boden nieder und schlief ein. Er wusste, wenn er wieder erwachte, würde sich die Welt erneut verändert haben.


[veröffentlicht am 5. Januar 2018]

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