Читать книгу Weihnachten im Baume der Familie - Bonnie C. Elgengard - Страница 2
Der gefallene Schmuck
ОглавлениеEin Duft von Weihnachten lag in der Luft. Frisch gebackene Kekse waren ordentlich auf dem Backblech verteilt und versprühten einen süßlichen und zimtigen Geruch in der ganzen Küche. Um das Blech herum war ein Chaos aus Zutaten, Stechformen und Gefäßen, in denen Teigreste klebten. Es war das letzte Blech mit Keksen, das sie gemacht hatten. Die anderen Plätzchen ruhten bereits sorgfältig gestapelt in den weihnachtlich verzierten Dosen und in einer angerichteten flachen Schale auf dem Wohnzimmertisch.
Während Judith eine der zahlreichen Schüsseln unter dem Wasserhahn vom Teig befreite, räumte Anton bereits alles andere in die Spülmaschine ein. Aus einem alten Rekorder erklang weihnachtliche Musik von einer Kassette und an den geschlossenen Fenstern haftete ein feuchter Dunst, der den Blick auf den verschneiten Hinterhof verbarg. Vor dem Fenster stand eine halbrunde Weihnachtsdekoration aus Holz, in der elektrische Kerzen in einer Reihe angebracht waren. Judith reichte ihrem Mann wortlos die vorgereinigte Schüssel und wandte sich der nächsten zu, während Anton in der fast bis oben gefüllten Maschine einen Platz dafür suchte.
Jedes Jahr machte es Familie Waidmann auf die gleiche Art: Alle zusammen standen sie stundenlang am Tag vor Weihnachten in der Küche und backten gemeinsam Kekse. Und sobald die Kekse gebacken waren, hatten sich die Kinder Robin und Natascha bereits in ihre Zimmer verkrümelt, um der Aufräumarbeit zu entfliehen.
Gerade hatte Judith die zweite Schüssel fertig vorgespült und wollte sich den nächsten zwei Rührschüsseln widmen, die ihr Mann Anton ihr neben die Spüle gelegt hatte, da klingelte das Telefon. Die beiden sahen einander stutzig an. „Wer könnte das sein?“, fragte Judith nachdenklich.
„Hoffentlich ist es nicht deine Mutter, die irgendwo abgeholt werden will!“, meinte Anton mürrisch, denn er wollte bei dem verschneiten Wetter lieber nicht Autofahren müssen. Er ging nach nebenan ins Wohnzimmer, um das drahtlose Telefon abzunehmen.
Diese Worte konnte Judith nur allzu gut verstehen. Ihre Mutter Greta sagte jedes Jahr kurz vor Weihnachten, sie sollten sich nicht um sie bemühen. Sie würde pünktlich auf der Matte stehen! Nicht selten rief sie an, wenige Stunden vor dem Zeitpunkt, zu dem sie sich angekündigt hatte. Und sie musste dann doch abgeholt werden.
Anton kehrte mit dem Hörer in der Hand und an sein Ohr gedrückt in die Küche zurück. Er lauschte angestrengt und nachdenkend dem Anrufer, warf seiner Frau jedoch einen entwarnenden Blick zu. Es war also nicht Greta am Telefon.
Anton schnappte sich einen Lappen und begann, mit der freien Hand über den schmutzigen Tisch zu wischen. Judith wandte sich der letzten Schüssel zu und schnappte einige Worte ihres Mannes auf, um zu erahnen, wer der Anrufer sein könnte.
„Ist es denn so schlimm?“, fragte der hochgewachsene Mann.
Judith kannte die Stimmlage Antons und wusste gleich, wer am Telefon sein musste. Und obwohl es Judith für ungewöhnlich hielt, dass am Vorweihnachtstag ein Anruf von dort kam, ließ sie ihr besinnliches Gemüt nicht mit Sorge oder Ärger betrüben.
Anton nahm den Hörer vom Ohr, drückte den roten Knopf, um das Telefonat zu beenden, und legte das Gerät auf der Anrichte ab.
„War es die Praxis?“, fragte ihn Judith.
„Ja“, antwortete Anton und strich nachdenklich mit der Hand über den schwarzhaarigen Kopf, ehe er anfügte: „Der Terrier schnauft ungewöhnlich laut und heftig. Du weißt doch noch. Ich hab dir gestern Abend von ihm erzählt.“
Judith überlegte. „Du meinst den Kleinen, den sie auf der Müllhalde gefunden haben?“, fragte sie, als die Erinnerung an die traurige Geschichte des Vorabends in ihr Gedächtnis zurückkehrte.
„Ja, genau“, entgegnete Anton, „Ich muss noch mal in die Praxis und nach ihm sehen. Er kann so nicht über Weihnachten allein bleiben. Und Annika weiß nicht, was mit ihm ist.“
Judith hielt inne und drehte sich ihrem Mann zu. „Wird Annika denn die ganze Zeit in der Praxis bleiben?“, fragte sie besorgt, denn sie wusste, dass Annika, die Arzthelferin in der Tierarztpraxis ihres Mannes, keine Familie mehr hatte und Weihnachten meistens allein verbrachte. Judith mochte das nicht. Die Vorstellung, dass ein so liebenswerter Mensch wie Annika an Weihnachten allein war, betrübte sie.
„Mach dir keine Sorgen, Schatz“, sagte Anton tröstend, „Sie sagte, sie würde Weihnachten dieses Jahr mit ihrem Freund verbringen.“
„Sie hat einen Freund?“, fragte Judith neugierig, denn obwohl sie nicht eng befreundet waren, konnte sie sich nicht dagegen wehren, eine mütterliche Sorge für Annika zu verspüren.
Anton nahm grinsend das Telefon und ging auf Judith zu, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Davon erzähle ich dir später“, flüsterte er ihr ins Ohr und legte eine Hand um ihre Hüfte.
Judith erwiderte die zärtliche Umarmung. „Wie lange wird es dauern?“, fragte sie.
Anton ließ nachdenklich ab von seiner Frau. Lächelnd meinte er: „Ein paar Stunden könnten es schon werden.“
Judith wandte sich der Schüssel wieder zu. Sie wusste, die Arbeit als Veterinär war ihrem Mann sehr wichtig. Er hatte schon damals auf der Uni davon geträumt, eine eigene Praxis zu eröffnen und dort mit Spendengeldern auch Streunern wie diesem kleinen Terrier helfen zu können. „Kannst du auf dem Rückweg deine Eltern abholen?“, fragte Judith, als ihr einfiel, dass ihre Schwiegereltern zurzeit Probleme mit dem Auto hatten.
„Sicher!“, meinte Anton und wandte sich zum Gehen, doch da fiel Judith noch etwas ein: „Hast du gemerkt, dass sich Natascha die ganze Zeit in ihrem Zimmer aufgehalten hat? Sie ist sonst nicht zu bremsen, wenn wir Kekse backen. Sie liebt es!“
Der schwarzhaarige Mann drehte sich ernst seiner Frau zu. „Es ist mir aufgefallen“, erwiderte Anton, „Sie ist fünfzehn. Vielleicht ist es die Zeit, in der sie andere Dinge als Familie im Kopf hat?“, fügte er an, weil es die einzige Erklärung war, die er für das ungewöhnliche Verhalten seiner Tochter gefunden hatte.
Judith streifte die nassen Hände an einem Handtuch ab. „Schon“, begann sie, „aber Natascha liebt Weihnachten. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, aber sie will nicht mit mir darüber reden. Sie hat sich zurückgezogen.“
Anton überlegte. Was seine Frau sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Seine Tochter liebte Weihnachten. Selbst in dem Jahr, als der alte Familienhund Buddler kurz vor Weihnachten gestorben war, hatte sie sich nicht die Stimmung verderben lassen. Im Gegenteil: Das Fest hatte ihr über den Verlust des Hundes hinweggeholfen.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Anton schließlich, „Ich kann versuchen mit ihr zu sprechen, aber du weißt ja, ich habe da wenig Talent.“
Judith lächelte und ging auf Anton zu, der in der Tür zum Wohnzimmer stand. Sie legte liebevoll eine Hand auf seine Wange und meinte: „Du bist ein guter Vater. Versuche es!“
Anton erwiderte das Lächeln seiner Frau, obwohl er genau wusste, dass er bereits lange über das Verhalten Nataschas nachgedacht hatte und noch immer unsicher war, wie ein guter Vater mit dieser neuen Situation umgehen würde.
Er ging ins Wohnzimmer. Das Telefon stellte er zurück in die Ladestation, ehe er über den breiten, dumpf beleuchteten Flur die dunkle Holztreppe hinaufstieg und zum Zimmer seiner Tochter ging. Er hielt einen Moment inne, klopfte dann und öffnete, ohne auf Antwort zu warten, die Tür.
Natascha drehte sich zu ihm um, mied aber mit einem halbherzigen Lächeln den analysierenden Blick ihres Vaters. Sie hatte vor dem großen Stehspiegel gestanden und sich mit hochgezogenem Pullover von der Seite betrachtet, als die Tür aufging. Jetzt zog sie nervös ihren Pullover zurecht und nahm eine Haltung ein, die Unwohlsein suggerierte.
„Na, Engel!“, begann Anton locker. Ihm war das Missbehagen der Tochter nicht entgangen.
„Hey, Papa“, erwiderte Natascha. Sie strich ihr langes dunkelbraunes Haar hinter das rechte Ohr und ging auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch zu, auf den sie sich einen Moment später gesetzt hatte.
Anton sah ihr nachdenklich nach. Er suchte noch nach den passenden Worten, um nicht streng zu wirken. Seufzend schloss er die Tür hinter sich und setzte seinen großen schlanken Körper auf das Bett mit dem blauen Laken und dem blauen Überzug. „Wir haben jede Menge Kekse gebacken!“, begann er freudig, „Kannst du es riechen?“
„Ja“, antwortete Natascha knapp und fügte an, nachdem sie den erwartungsvollen Blick Antons bemerkt hatte: „Ich rieche es schon die ganze Zeit. Es duftet herrlich!“
„Du hast es letztes Jahr genossen, Kekse mit uns zu backen, oder habe ich das falsch in Erinnerung?“, versuchte Anton etwas aus dem Mädchen herauszukitzeln.
„Ja, schon!“, entgegnete Natascha, die noch immer eifrig bemüht war, den durchstöbernden Blicken des Vaters auszuweichen, „Mir geht es nicht so gut, weißt du.“
„Bist du krank, oder hat es was mit der Schule zu tun?“, fragte Anton nach, denn das Thema Schule bereitete beiden nach Nataschas Leistungsabfall große Kopfschmerzen und war demnach ein wahrscheinlicher Grund für Nataschas Rückzug. Zumindest gingen Anton und Natascha sich seit dem Geständnis der Tochter über die schlechter werdenden Noten meist aus dem Weg, da sich Natascha deswegen mies fühlte und weil Anton nicht genau wusste, was er sagen oder tun konnte, um Natascha zu helfen. Er wusste wohl, was sein Vater, Ludwig, sagen würde, denn Anton hatte es oft genug von dem alten Offizier hören müssen: „Streng dich mehr an!“ - „Sei disziplinierter!“ - „Wenn du einmal Offizier werden willst, musst du klug sein!“ - „Du bist ein Dummkopf, wenn du die Schule nicht schaffst! Und Dummköpfe haben wir genug im Land!“
Anton glaubte, die harschen Worte des alten Mannes waren keine Hilfe und erst recht keine Lösung. Er wollte den Ehrgeiz in seiner Tochter wecken, den ein Schulfreund trotz der niederschmetternden Worte Ludwigs in ihm hatte wecken können. Er wusste nur nicht, wie er das anstellen konnte.
„Mir ist schlecht“, meinte Natascha und riss ihren Vater damit aus seinen Gedanken, „Ich meine, es ist nicht so schlimm, aber“, erweiterte sie nervös ihre Antwort, „Ich, … ich wollte nicht die Stimmung verderben.“
Anton saß einen Augenblick da und musterte Natascha eingehend. Er hatte nicht das Gefühl, dass sie ihn anlog, sondern viel mehr, dass sie ihm einen Teil der Wahrheit verschwieg. „Ausgerechnet an Weihnachten, was?“, meinte Anton mitfühlend, „Na ja, ich werde deiner Mutter sagen, sie soll dir einen Tee machen. Damit geht es dir bald hoffentlich besser!“
„Nein!“, entgegnete Natascha rasch und fügte nervös an: „Ich meine, ich will lieber ein wenig ruhen. Ich mag jetzt keinen Tee.“
„Ist gut“, sagte Anton, dem die Ausflucht in den Worten der Tochter nicht entgangen war, „Dann leg dich hin. Oma Greta wird bald hier sein. Vielleicht kennt sie ja ein exotisches Heilmittel für dich!“, sagte er und erwartete ein Lächeln von seiner Tochter.
Natascha erkannte den Witz darin, denn Oma Greta reiste seit Jahren mit ihrem eigenen Kleinflugzeug um die Welt und brachte besonders zu Weihnachten die exotischsten Dinge mit. Natascha lächelte, doch noch immer wich sie dem Blick des Vaters aus.
„Danke, Papa“, sagte sie, als sich Anton erhob und zur Tür ging.
Er drehte sich mit der Klinke in der Hand noch einmal zu seiner Tochter um: „Wenn es schlimmer wird, sag deiner Mutter Bescheid. Sie macht sich Sorgen.“
„Ja!“, antwortete das Mädchen verständnisvoll, „Mache ich!“
Damit verließ Anton das Zimmer seiner Tochter und stieg die knarzenden Stufen der hölzernen Treppe hinab, an deren Absatz Judith bereits erwartungsvoll stand. Sie sah ihren Mann ungeduldig an.
„Hat sie mit dir gesprochen?“, fragte die rotblonde Frau besorgt.
„Sie sagt, ihr sei schlecht. Sie will ausruhen“, antwortete Anton in knappen Sätzen, ging zur Garderobe hin und zog sich den Mantel an.
Judith reichte ihm den Autoschlüssel, der auf einer Kommode nahe der Haustür aufbewahrt wurde, die als Ablage für Schlüssel und, an Weihnachten, für Handys diente. „Und welche Diagnose stellt der Herr Doktor?“, fragte Judith ironisch nach.
Anton lächelte, nahm den Schlüssel an und blickte seiner Frau dann ernst in die dunklen blauen Augen: „Sie ist tatsächlich etwas blass und sieht müde aus, aber da ist etwas, dass sie mir nicht erzählen wollte.“
„Eigenartig“, meinte Judith darauf, „Was kann das bloß sein?“
„Ich weiß es nicht, aber ich muss jetzt los“, entgegnete Anton in Eile, „Vielleicht braucht sie Zeit, um es uns zu sagen. Ich glaube, es hat mit der Schule zu tun und sie will es uns erst nach dem Fest beichten. Du weißt doch, wie sie ist.“
„Ja“, sagte Judith mit leiser Stimme und seufzte. Natascha würde keinem das Fest mit schlechten Nachrichten verderben wollen.
Anton gab ihr einen Abschiedskuss auf den Mund und ging hinaus auf den gepflasterten Weg vor der Tür, der zur Straße hinführte. Links daneben stand unter einem Carport das Familienauto, rechts davon war ein hoher Eisenzaun auf einem zwei Fuß hohen Steinsockel, der den Garten vor dem Haus umschloss. Es schneite gemächlich auf den großen Baum im Garten und war bitterkalt. Der Weg vom hinteren Garten um das Haus herum zum vorderen war ganz mit Schnee bedeckt und geziert mit blassen Pfotenabdrücken.
Judith hielt sich frierend die Arme, als sie zusah, wie Anton ins Auto stieg und mit einem Winken die Auffahrt vor dem Carport verließ. Die Arme zog Judith zur Brust heran, während die winterliche Eiseskälte unter ihren Pullover kroch und ein Zittern durch den Körper jagte.
Eine Weile stand Judith nachdenklich in der Haustür und blickte in den weißen nebligen Nachmittagshimmel hinein, ehe der Blick über den großen verschneiten Baum mit seinen kahlen Ästen und Zweigen zum Türkranz fiel. Sie legte eine Hand auf den Weihnachtsschmuck, die sie langsam über die Tannenzapfen und -zweige und die sternförmigen Strohgestecke gleiten ließ. Natascha liebte Weihnachten. Sie hatte es schon geliebt, als sie noch ganz klein war, und Judith hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Freude ihrer Tochter an dem Fest mit jedem Jahr größer wurde. Eine Übelkeit würde sie nicht davon abhalten, sich der weihnachtlichen Stimmung hinzugeben, da war sie ganz sicher.
Judith seufzte.
Ihr fiel ein, dass bald die Großeltern da sein würden und sie besser noch einmal alles herrichtete, damit ihre Schwiegermutter dieses Jahr nichts zu meckern haben würde. Jedes Jahr hatte Ome Irmgard etwas zu meckern, denn für die alte Dame musste alles perfekt sein. Judith schloss die Haustür und begab sich über den dunklen Flur und mit einem besorgten Blick, der die Treppe hinaufstieg, ins Wohnzimmer.
„Robin!“, rief sie laut und empört aus, als sie ihren Sohn an der Schale mit dem Weihnachtsgebäck naschen sah.
Erschrocken und ertappt drehte sich der Elfjährige zu seiner Mutter um, sodass Judith erst jetzt sehen konnte, dass auch Quaki, der zweijährige Familienhund, einen Keks im Gebiss zermalmte. Er war leise die Treppe hinuntergestiegen, als seine Eltern in der Tür standen, und versehentlich war er gegen den Tisch gestoßen. Ein Keks war von der Schale gerutscht und Quaki hatte ihn blitzschnell ins Maul genommen. Da hatte auch Robin nicht länger widerstehen können. Sprachlos stand der Elfjährige jetzt da und suchte nach einer Ausrede.
„Na los, junger Mann“, rief Judith aus, „Geh in die Küche und füll die Schale wieder auf! Wenn Oma Irmgard das sieht, gibt es ein Donnerwetter!“
Robin erschrak bei den Worten, denn er hatte nicht mehr daran gedacht, wie Oma Irmgard reagieren würde, wenn an Weihnachten nicht alles im Wohnzimmer perfekt war. Er beruhigte sich und tat, wie ihm geheißen. Nur Quaki blieb hungrig und fiepend bei der Schale stehen, setzte sich kurz darauf hin und starrte unruhig auf die Köstlichkeiten auf dem Wohnzimmertisch.
„Nein, Quaki. Aus!“, befahl Judith und der Hund gehorchte.
Er ging zu seinem Körbchen, der zwischen dem Sessel und einem der beiden Sofas lag. Aufmerksam lauschend und beobachtend sah er seinem Frauchen dabei zu, wie es die Tischdecken und Servietten zurechtzupfte, hier und da Krümel in die Hand kehrte und damit letztlich in der Küche verschwand.
Dort stand Robin am Tisch und suchte aus den darauf verteilten Dosen Kekse heraus, mit denen er diejenigen ersetzen konnte, die er und sein Hund zuvor heimlich verspeist hatten. Er wusste, dass Oma Irmgard sehr penibel war und dass für die alte Hausfrau alles perfekt sein musste. Nirgends durfte ein Staubkorn fliegen und nirgends durfte eine Falte in jedwedem Stoff sein. Der Weihnachtsschmuck musste gut hergerichtet sein und ein warmes, wenngleich in den Augen Judiths sehr kitschiges Gesamtbild ergeben. Andernfalls, das wussten alle hier, würde sie sich darüber beschweren und der Familie Vorhaltungen machen, weil sie sich für ein so bedeutendes Fest zu wenig Mühe gab.
Judith hatte die Krümel und den Staub in den Mülleimer gekippt und sah neugierig zu ihrem Sohn hin. Er hatte eine weitere Keksdose dazugeholt, in der mit Schokolade und runden bunten Zuckerstreuseln verzierte Kekse waren.
„Robin“, begann Judith und stellte sich abwartend neben ihn.
Der rothaarige Junge sah zu seiner Mutter hin, als diese nicht weitersprach. „Was ist?“, fragte er und senkte den Arm mit dem Keks in der Hand, den er ob seiner Tauglichkeit für Oma Irmgards strenge Vorstellungen gerade geprüft hatte.
„Hat deine Schwester in den letzten Tagen mit dir geredet?“, fragte Judith unverblümt und wühlte ihrerseits in einer der Keksdosen herum, um dem durchschauenden Blick ihres Sohnes auszuweichen. Sie wusste, wie nahe sich ihre Kinder standen und wie oft sie schon Geheimnisse miteinander geteilt hatten, von denen die Eltern erst Wochen später erfuhren.
Robin blickte mit seinen braunen Augen nachdenklich zu dem Kekshaufen hin, den er für die Wohnzimmerschale zusammengesucht hatte. „Wir reden oft!“, antwortete er geschickt.
„Sicher!“, erwiderte Judith lächelnd. Er hatte noch niemals ein Geheimnis seiner Schwester verraten. Er legte immer Wert darauf, dass die Menschen in seiner Nähe sein Vertrauen wertschätzten. Er log selten und obwohl er ein elfjähriger Junge war, der eigentlich nur Flausen im Kopf haben sollte, erledigte er die ihm aufgetragenen Aufgaben immerzu und sogar sehr pedantisch. Trotzdem verriet seine ausweichende Antwort, dass er etwas wusste. „Ich werde noch die letzten Dekorationen aufhängen und ich möchte, dass du mir dabei hilfst, Robin!“, meinte sie.
Robin aber hatte andere Pläne mit dem Tag gehabt. „Was?“, fragte er wenig begeistert. Zugegeben, Robin mochte keine Aufgaben und versuchte immer, sich irgendwie vor ihnen zu drücken, indem er Ausreden fand. Meist jedoch funktionierte das nicht und sobald er es merkte, erledigte er die Aufgaben gewissenhaft. „Ich will aber noch mit Quaki Gassi gehen!“, versuchte er eine Ausflucht.
„Du kannst danach mit ihm raus!“, blieb Judith streng.
„Was ist mit Papa? Wo ist der?“, fragte er in einem zweiten Versuch, die Aufgabe von sich zu weisen.
„Er musste noch mal in die Praxis und kommt erst in ein paar Stunden zurück“, antwortete Judith schlicht.
„Und Tascha? Warum muss sie nicht helfen?“, fragte er und fischte die letzten der fehlenden Kekse aus der Dose heraus.
„Deiner Schwester geht es im Augenblick nicht so gut“, meinte Judith. „Sie ist schon die ganze Zeit in ihrem Zimmer.“
Robin wurde still. Er nahm die Kekse und ging ins Wohnzimmer, wohin ihm Judith aufmerkend folgte.
„Weißt du, was mit deiner Schwester los ist?“, fragte sie, denn Judith hatte mehr Widerstand von ihrem Sohn erwartet, ehe er beim Dekorieren helfen würde.
„Ach, Mama“, begann Robin frech, „Sie ist fünfzehn! Du weißt doch, wie Fünfzehnjährige sind.“
Judith seufzte. Irgendwann musste Robin diese Worte von seinen Eltern aufgeschnappt haben und nun wandte er sie geschickt gegen seine Mutter. „Robin!“, ermahnte sie ihn trotzdem, denn Nataschas ungewöhnliches Verhalten ließ ihr keine Ruhe, „Wenn es etwas Ernstes ist, musst du es mir sagen!“
Robin hatte in der Zeit die Kekse ordentlich und nach den Wünschen von Oma Irmgard zurechtgelegt. Er sah zu seiner Mutter. „Wo sind die Dekorationen?“, fragte er ausweichend, denn er wusste sehr wohl, wo der Weihnachtsschmuck aufbewahrt wurde.
Judith sah ihn mit einem ernsten Blick aus den dunkelblauen Augen an und erwartete eine Antwort von ihrem Sohn.
Robin merkte, dass sie nicht nachgeben würde. „Sie wird sich schon wieder einkriegen“, sagte er besänftigend.
„Gut!“, meinte Judith und legte dem Jungen beruhigt eine Hand auf den Rotschopf. Robin war jung, aber wenn er sagte, dass ein Geheimnis sich von allein klären ließ, dann bedeutete das stets, dass sich bereits um eine Lösung bemüht wurde oder es geplant war, das Geheimnis bald zu enthüllen. „Sag deiner Schwester, dass sie jederzeit mit ihren Eltern reden kann“, meinte Judith dennoch, um ihrer Sorge Nachdruck zu verleihen.
Robin verzog nur den Mund zu einem halbherzigen Lächeln und blickte zu Boden. Er mochte es nicht, beim Geheimnishüten erwischt zu werden, es verärgerte ihn. Es war eine Niederlage und Niederlagen mochte der angehende Sportler nicht. „Wollen wir dann jetzt dekorieren?“, fragte er nach einer Weile.
Aus dem Wohnzimmerschrank nahm Judith den Christbaumschmuck und reichte ihn ihrem Sohn mit der Aufgabe, vor allem alle Figuren irgendwo aufzuhängen, sodass die Großmutter zufrieden sein würde. Die Figuren, Engel, Nussknacker, Lämmchen und Trompeten, waren alter Familienschmuck der Waidmanns und Oma Irmgard legte Wert darauf, dass sie jedes Jahr allesamt am Weihnachtsbaum hingen. Judith selbst fand sie kitschig und nach all den Jahren zunehmend langweilig. Ihre Mutter, Greta, hatte von einer ihrer Reisen einmal tierische Schnitzfiguren aus einem fernen Land mitgebracht, doch als sie an Weihnachten am Baum hingen, hatte Oma Irmgard deswegen einen Streit angefangen. Sie fand es fürchterlich, doch Oma Greta war da ganz anderer Meinung gewesen. Zum Glück Judiths aber konnte sich Oma Greta davon überzeugen lassen, nachzugeben und den Streit zu beenden. Seitdem zierten die Schnitzfiguren die Fensterbank neben der Ecke, in der der Baum jedes Jahr an derselben Stelle stand.
Während Robin die Figuren an den Tannenzweigen zwischen dem sporadisch aufgehängten Lametta und den leuchtenden roten und grünen Christbaumkugeln sowie den orange-gelblich leuchtenden Lämpchen der Lichterkette verteilte, hängte Judith wenige weihnachtliche Gierlanden und Lichterketten auf. Oma Irmgard wollte es so, dass die grünen Gierlanden am oberen Wandabschluss die Zimmerdecke einrahmten und von den Ecken zur mittig hängenden Deckenlampe führten. Die Lichterketten sollten die Fenster einrahmen und ein Gefühl von Licht und Wärme versprühen. Der niedrige Wohnzimmertisch sollte mit Leckereien und Kerzen und dem Adventskranz in der Mitte verziert werden und Besteck und Geschirr für das Naschen bereithaben. Zuletzt sollten wenige Kerzen im Raum verteilt werden, damit sie die elektrischen Lampen ausmachen und im flackernden Schein der Kerzen das Weihnachtsfest begehen konnten.
„Ich bin fertig!“, sagte Robin nach einer Weile und stand in Erwartung weiterer Aufgaben neben seiner Mutter.
Judith sah ihn lächelnd an. „Gut gemacht, mein Junge“, entgegnete sie, „Du kannst jetzt mit Quaki rausgehen.“
Robins Augen leuchteten vor Freude. „Super!“, rief er und wandte sich dem Hund zu, der erwartungsvoll in seinem Körbchen lag und sich aufsetzte, als er die vertrauten Worte hörte: „Komm, Quaki! Wir gehen raus!“
„Bleibt aber nicht zu lange! Oma Greta wird bald da sein!“, rief Judith dem Jungen hinterher, der zügig mit dem bellenden Hund in den Flur gerannt war und hastig seine warme Kleidung anzog. „Ja, ist gut!“, rief der Junge noch, ehe Judith die Tür zufallen hörte.
Sie war allein im Wohnzimmer und sah sich noch einmal gründlich um. Der Tisch sah perfekt aus, die Gierladen hingen an den Haken, die Anton nach ihrem Einzug in das Haus am ersten Weihnachtsfest angebracht hatte, und der Weihnachtsbaum stand prächtig in seiner gewohnten Ecke und leuchtete und glitzerte. Sie wusste, dass Robin seine Aufgabe gut gemacht hatte. Trotzdem ging sie zum Baum hin und schaute sich alles mit weihnachtlicher Vorfreude an. Sie bemerkte gleich, dass Robin die Geschenke unterm Baum versehentlich verschoben hatte. Selbst dafür hatte Oma Irmgard Vorschriften! Seufzend ging Judith in die Hocke, um die Geschenke zurechtzurücken. Die Roten zu den Roten, die Grünen zu den Grünen, und andersfarbiges Geschenkpapier war nicht erlaubt. Ordentlich aneinandergelehnt und die größten am Stamm, die kleinsten ganz vorn, so war es richtig!
Spöttisch lachend nahm Judith ein wenig Dreck vom beigefarbenen Teppich auf, dessen Ecke unmittelbar vor dem Baum lag. Es war ein kleiner trockener Erdklumpen, den vermutlich Quaki ins Haus getragen hatte. Sie erhob sich und indem sie das tat, streifte sie einen Zweig des Baumes, von dem eine Christbaumkugel sich löste. Judith bemerkte, dass die rote Kugel fallen würde und griff eilig danach, um sie zu fangen. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel gegen den Baum.