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Von Wichteln und Grichteln

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Ein Schwindel zog durch den Kopf und pochend kämpfte ihr Bewusstsein ums Erwachen. Die Lider öffnend lag der angestrengte Leib da und ein Schmerz drang in die Augen ein. Judith stöhnte. Sie hielt eine Hand flach auf der Stirn, während die andere versuchte, den Oberkörper stützend aufzurichten. Bald saß sie auf dem rauen, unebenen Grund, von dem ein harziger Geruch aufstieg. Mit verschwommener Sicht blickte sie auf ein freundliches mattes Lampenlichtgelb, vor dem ein dunkles Grün zu erkennen war.

Ein erneutes Pochen im Kopf zwang sie, den Körper vorzubeugen und das Haupt mit beiden Händen festzuhalten, bis der Schmerz endgültig abebbte.

Nun konnte sie die Tannennadeln erkennen, die vor ihren Augen in den von Lampen erleuchteten Raum hineinragten. Vertraut war ihr der Anblick des Zimmers, doch gleichsam war er anders als gewohnt. Judith senkte die Arme. Sie blickte zur Seite und erkannte ein Wirrwarr aus Ästen und Tannennadeln, zwischen dem sich dicke Kabel der Lichterkette wanden und gelegentlich das Rot und Grün der Christbaumkugeln aufblitzte.

Die Christbaumkugeln!

Judith erinnerte sich an die rote Kugel, die sie auffangen wollte und sah zu ihren Händen hinab. Dort war sie nicht. Aber etwas anderes bemerkte sie, was sie von der Erinnerung ablenkte: Sie saß auf einem Ast des Weihnachtsbaumes! Erschrocken stand Judith auf, wobei sie kurz abzurutschen und die Tiefe zu stürzen drohte. Ihren Körper fangend musste sie feststellen, dass ihr Körper nicht größer war, als die Nussknackerfiguren, die am Baume hingen. In ihrer Benommenheit merkte sie erst jetzt, wie riesig die Figuren waren, die um sie herum am Baum hingen, und wie breit der Ast war, auf dem sie wankend stand.

Ein Schrei löste sich aus ihren verschreckten Lungen.

„Was schreist du denn so?“, rief eine grimmige Stimme hinter Judith, „Pass doch auf, damit die Menschen dich nicht hören!“

Judith drehte sich um und erkannte eine Gestalt, die mit beiden Armen um den Baumstamm geschlungen von diesem auf den Ast glitt, auf dem sich Judith befand. Er kam näher, sodass die erschrockene Frau ihn besser betrachten konnte. Er trug eine rote Zipfelmütze über einem dicknasigen und pausbäckigen Kopf mit dunklem Haar. Eine braune Weste trug er offen über einem grünen Pullover. Und eine braune Hose verdeckte die Blöße seiner Beine bis zu den sehr großen, schwarzen Schuhen. Als Judith den Blick wieder zu seinem Gesicht hob, erkannte sie einen überraschten Ausdruck darin.

„Wer bist du?“, fragte das Männchen im Baum.

„Ich…“, wollte Judith zögernd ansetzen, doch weiter kam sie nicht.

„Ach du heilige Weihnacht! Du bist ein Mensch!“, rief das Männchen erschrocken aus und hielt sich die Hände vor den Mund, ehe es sich sorgsam zu allen Seiten umschaute. „Hoffentlich hat das keiner gehört!“, murmelte er. „Du musst verschwinden!“, sagte er weiter und kam in Drohgebärde näher an Judith heran. „Verschwinden musst du!“, wiederholte er mit erhobenem Zeigefinger.

„Aber“, begann Judith zögerlich, „Wo bin ich denn überhaupt?“ Ihre Stimme bebte, während sie ihren Kopf und den Oberkörper nach hinten zog, um der unerwünschten Nähe des Zipfelmützenträgers zu entgehen.

„Wo du bist?“, fragte das Männchen überrascht und ging einen Schritt zurück. „Du bist im Weihnachtsbaum!“

„Im Baum? Wie kann das sein? Wie komme ich denn hierher und…“, fragte Judith mit steigendem Puls.

Nun fiel dem Männchen auf, dass die rote Kugel nicht da hing, wo sie hängen sollte. Er schob Judith achtlos beiseite und ging weiter am Ast nach vorn, um nach der Kugel zu sehen.

Judith sah ihm nach und erkannte hinter ihm die Riesenhaftigkeit des vertrauten Wohnzimmers. „Wer bist du?“, fragte Judith das Männchen nach einer Weile, als sie sich von ihrer Verwirrtheit etwas gefangen hatte.

Er drehte sich zu ihr um und musterte sie nachdenklich. „Hast du die Kugel berührt?“, fragte das Männchen.

„Sie ist gefallen und ich auch“, antwortete Judith schlicht und versuchte, ihre verwirrten Gedanken zu sortieren.

„So ein Mist!“, rief das Männchen aus und schob sich erneut an Judith vorbei hin zum Stamm des Weihnachtsbaumes. „Wir sind uns nie begegnet!“, sprach er und rutschte behände am Stamm hinab.

„Warte!“, rief ihm Judith nach, doch er war schon verschwunden. Sie folgte ihm zum Baumstamm und blickte in die Tiefe hinab. Wenige Bewegungen und rote Zipfelmützen konnte sie weit unten erkennen. Sie war keine Turnerin und obwohl sie als Kind oft auf Bäume geklettert war, fiel es ihr schwer, dem Zipfelmützenmännchen zu folgen. Langsam, abwägend kletterte sie am Stamm von Ast zu Ast hinab und erkannte überall mehr und mehr Männchen mit roten Zipfelmützen, die allesamt erschrocken innehielten, in dem, was sie taten, und die sonderbare Menschengestalt betrachteten. Tuscheln und Gemurmel brach unter ihnen aus, keiner machte seine Arbeit. Judith waren die Blicke unangenehm, doch sie bemühte sich, sie nicht zu beachten und nach dem einen Männchen von vorhin Ausschau zu halten.

Endlich hatte sie den Boden unter dem Baum erreicht, der ein Haltekasten aus Beton und Kieselsteinen war und den Baum aufrecht stehend hielt. Eisenstäbe führten von den Ecken des Kastens zur Mitte und zum Baumstamm hin und umwanden diesen mit einem Ring aus dunklem Eisen. Unter den Streben war der schmutzige Innenraum des Kastens, in dem Judith ein Loch in der Kastenwand entdeckte. Sie kletterte an einer Strickleiter hinab, die an einer Strebe befestigt war, und schlüpfte durch das Loch hindurch.

Weitere Männchen tummelten sich hinter dem Kasten auf dem hellen Holzdielenboden im Schatten des Baumes. Erst als Judith einen ersten Schritt nach vorn gemacht hatte, entdeckten die Männchen die Frau und erschraken.

Ein Tumult brach los, laut und kreischend, wirr und hektisch. Die Männchen liefen durcheinander und riefen: „Ein Mensch! Ein Mensch!“ - „Ruft Hamlin! Ruft ihn her!“ - „Versteckt die Kinder!“ - „Lauft um euer Leben!“ - „Hat sie uns gesehen?“ - „Sie hat uns gesehen!“

Und einen Augenblick später waren sie allesamt fort.

Judith stand allein da und war sprachlos. Sie sah sich nach allen Seiten um. Der Versuch, all das hier zu verstehen, brachte einen kleinen Kopfschmerz mit sich, während ihre ungewohnte geringe Größe nebst all den riesenhaft wirkenden Tannenzweigen einen Schwindel hervorrief. Was um alles in der Welt war bloß passiert? Sie wusste es nicht! Aber das Männchen von vorhin würde es womöglich wissen. Und nicht nur er, sondern alle diese zipfelmützigen Kreaturen könnten es wissen! Kurze Zeit später, als sie merkte, dass sie die Hilfe dieser Kreaturen brauchte, begann sie damit, ihnen nachzueilen. Hinter allen Ecken und im Kasten und in den Ästen des Baumes suchte sie nach ihnen, doch jeder, den sie entdeckte, huschte auf und davon und ward nicht mehr gesehen. Auch auf ihr Rufen wollte keiner hören.

Judith stand verschnaufend hinter dem Haltekasten in der Wohnzimmerecke. Was war nur geschehen? Und wie? Und warum flüchteten alle vor ihr?

Ein Knarzen war zu hören. Judith drehte sich dahin um.

Aus einer Tür in der Wand, die gerade mal so groß war wie eine Teetasse, kam ein Männchen. Erst bemerkte es Judith nicht und den Tumult hatte es offenbar auch nicht mitbekommen. Es zog einen braunen Sack hinter sich, der sich in einem Splitter des Fußbodens verfangen hatte und den es grummelnd zu befreien versuchte. Es hatte der Menschenfrau daher den Rücken zugewandt. Erst als sich das Männchen nach der erfolgreichen Befreiung des Sackes umdrehte und erschöpft mit dem Arm den Schweiß von der Stirn wischte, erkannte es die Frau, die heimlich näher gekommen war und jetzt unmittelbar vor ihm stand.

„Du bist es!“, rief Judith auf, als sie das pausbäckige Gesicht erkannte.

Das Männchen erschrak und sah sich zu allen Seiten um, so als ob es einen Fluchtweg suchte oder Ausschau hielt nach irgendwem, der die beiden dort stehen sah.

Überall lugten neugierige Zipfelmützen hinter den Ecken und aus den Verstecken hervor und lauschten.

„Sei doch still!“, flüsterte das Männchen. „Sie sollen nicht erfahren, dass wir uns kennen.“

Doch es war zu spät, denn die Männchen waren nicht dumm. „Hamrog!“, rief einer und trat vorsichtig aus seinem Versteck hervor, „Was hast du mit dem Menschen zu tun?“ Auch andere kamen vorsichtig hervor und näherten sich langsamen Schrittes. Bald schon fand sich Judith in einem Haufen aus roten Zipfelmützen.

Hamrog, das Männchen, dem Judith auf dem Ast nach dem Erwachen begegnet war, sah sich sorgenvoll und verängstigt um. Es war ihm unangenehm, dass die anderen Männchen ihn mit einem Menschen ertappt hatten. „Entschuldige, Hamrog!“, sprach Judith eine Entschuldigung aus, doch das erregte nur noch mehr Aufsehen.

„Sie kennt seinen Namen!“, rief ein Männchen, obwohl Judith den Namen gerade erst aufgeschnappt hatte, und schon ging ein wildes Tuscheln um. Hamrog sah Judith grimmig an. Gerade wollte er zu sprechen beginnen, als das Tuscheln leiser wurde und sich eine Schneise unter den Männchen bis hin zur teetassengroßen Tür in der Wand bildete. Ein Männchen schritt gemächlich auf Judith und Hamrog zu und sah sich dabei in der Menge um.

Vor Judith kam das Männchen mit dem langen weißen Bart zum Stehen. Es trug eine geschlossene rote Weste mit einem grünen Pullover und eine lange und kerzengerade aufrecht stehende rote Zipfelmütze. Es musterte Judith von Kopf bis Fuß, ehe es zu sprechen begann: „Du bist ein Mensch!“, sagte es mit ruhiger tiefer Stimme.

Judith nickte.

„Das ist ungewöhnlich, höchst ungewöhnlich!“, sprach es fort und strich nachdenklich mit der Hand durch seinen Bart.

Judith wusste nicht, was sie sagen sollte und ob es unhöflich war, zu fragen, wer oder was diese Männchen waren. Sie selbst hatte noch nicht begreifen wollen, dass all dies tatsächlich passierte. Sie wollte glauben, es war nur ein Traum, aus dem sie irgendwann erwachen würde.

„Das ist nicht meine Schuld!“, platzte es vor Ungeduld aus Hamrog heraus. Der Alte und auch die anderen Männchen sahen ihn fragend an. „Sie muss den Staub berührt haben!“, versuchte er, sich zu rechtfertigen und seine Unschuld zu beteuern, „Ich kann nichts dafür! Es hat gewackelt. Ich wäre fast vom Baum gestürzt! Und plötzlich sitzt das Menschlein da! Die rote Kugel!“, fiel es ihm nun ein, „Sie ist Schuld! Weil sie gefallen ist.“

Weiter suchte Hamrog nach erklärenden Worten, während sich der Alte an Judith wandte: „Das ist ein Missgeschick!“, sagte er und sah sie erwartungsvoll an.

„Es war keine Absicht!“, beteuerte Judith. Sie fürchtete sich nicht vor den Kreaturen, doch die Situation brachte ein tiefes Unwohlsein in ihren Leib.

„Sicher war das keine Absicht!“, bestätigte der Alte, „Trotzdem müssen wir beraten, was wir jetzt tun. Menschen dürfen hier nicht sein. Sie dürfen nicht von uns wissen! So lautet der Kodex! Aber du bist ein Mensch und du weißt von uns.“

Das Murmeln in der Menge setzte wieder ein.

Der Alte überlegte eine Weile, bis ihm etwas einfiel. Er hob die Hand und deutete die Menge zum Schweigen an. Stille folgte seiner Geste. „Da du uns jetzt schon gesehen hast, sollten wir dir erklären, wer wir sind! Und ich denke, du möchtest wohl wieder in deine Größe zurückkehren, nicht wahr?“

„Ginge das?“, fragte Judith.

„Nun, ich werde in der Enzyklopädie für unerwartete Zufälligkeiten nachschlagen. Es könnte eine Weile dauern, aber ich bin sicher, wir kriegen es wieder hin. Schließlich ist Weihnachten und dieses Fest darf nicht ohne dich stattfinden, Judith!“, sprach der Alte zuversichtlich.

Judith erschrak. „Woher kennst du meinen Namen?“, fragte sie erstaunt.

„Och“, begann der Alte und wandte sich erst an die Männchen um ihn herum: „Auf, auf!“, rief er laut und alle horchten aufgeregt auf, „Zurück an die Arbeit! Wir müssen noch heute fertig werden!“

Wirr durcheinander laufend brach ein weiterer Tumult aus, in dem die Männchen rufend und hektisch zu ihren Arbeiten zurückkehrten. Auch Hamrog wollte in dem Chaos unbemerkt verschwinden, doch der Alte hielt ihn zurück: „Du nicht, Hamrog!“, ermahnte er ihn und Hamrog blieb mürrisch knurrend stehen. „Also dann, Judith“, sagte er und fuhr mit freudiger Stimme fort: „Wir sind die Wichtel. Wir leben in den Häusern der Menschen und helfen dabei, die Feste vorzubereiten, damit die Menschen sich voll und ganz daran erfreuen können. Wir leben im Verborgenen. Es ist wichtig für uns, dass die Menschen nichts von uns wissen, denn sonst verstoßen sie uns womöglich. Wir benötigen den Schutz des Hauses, deshalb wäre das furchtbar für uns.“

Judith lauschte aufmerksam und mit Wissbegierde für die winzigen Gestalten, die unbemerkt in ihrem Haus lebten. „Ihr seid die Weihnachtswichtel?“, wiederholte sie neugierig.

„Ähm, ja“, antwortete der Alte, „und nein! Alle Feste der Menschen liegen uns am Herzen. Wir erfreuen uns daran, dass die Menschen sie ohne Sorge und voll der Freude feiern können. Wir feiern sogar heimlich mit!“

Hamrog seufzte mürrisch und sah desinteressiert und gelangweilt zur Seite.

„Hamrog, mein Lieber“, sagte der Alte und wartete geduldig, bis dieser ihn ansah, „Ich werde in der Enzyklopädie nachsehen. Währenddessen wird dir die Strafe auferlegt, den Wichteln bei den versäumten Aufgaben zu helfen.“

„Was?“, rief Hamrog empört. „Aber, Hamlin…“, wollte er sich beschweren, doch der Alte hörte nicht auf ihn.

„Judith“, sagte er, „dürfte ich dich bitten, die Zeit damit zu verbringen, meinen Wichteln zu helfen. Sie sind mit ihren Arbeiten durch den Tumult in Verzug gekommen. Und da du ohnehin warten musst…“

Judith nickte. „Gern!“, sagte sie lächelnd, da die Freundlichkeit Hamlins und die Wärme seiner Worte Judith beruhigten.

Der Alte wandte sich Hamrog mit scharfem Blick wieder zu und verharrte damit einen Augenblick lang auf dem mürrischen Wichtel. „Bleib bei Judith, bis wir eine Lösung gefunden haben!“, sagte er kurz und knapp und ging dann einfach fort.

„Na, toll!“, erwiderte Hamrog und sah missmutig zu Judith, die ihrerseits Faszination an dem sonderbaren Völkchen der Wichtel gefunden hatte. Sie kannte Wichtel nur aus Weihnachtsgeschichten und hatte bisher immer geglaubt, sie seien ein Mythos oder Märchenwesen, die nicht wirklich existierten.

Ehe Hamlin in der teetassengroßen Tür in der Wand verschwunden war, wandte er sich noch einmal zu den beiden um und rief: „Räumt am besten zuerst die gefallene Kugel fort, damit sich keiner daran verletzt! Die Grichtel werden sich über die glitzernden Scherben bestimmt freuen!“

Mürrisch und wortlos wandte sich Hamrog um und ging los. „Die Grichtel?“, fragte Judith neugierig, doch Hamrog reagierte nicht darauf.

Die geschrumpfte Frau folgte dem mürrischen Wichtel unter dem dunklen Baum und zwischen den Geschenken hindurch bis zu der Stelle, an der die rote Kugel auf dem Boden aufgekommen und tausend Stücke zerbrochen war.

Während Hamrog wortlos und grummelnd begann, die rot glitzernden Scherben aufzusammeln und in seinem braunen Sack zu verstauen, blickte Judith hinauf ins Wohnzimmer. Riesig groß wirkten die Geschenke und der niedrige Tisch war für sie so groß wie ein Haus. Die Sofas waren gigantisch, die Decke mit der grellen Lampe war so fern wie der Himmel und der Teppich war wie eine beigefarbene Wiese mit hoch wachsenden dicken Grashalmen. Einen leichten Schwindel spürte Judith, doch nachdem sie einen Moment reglos auf der Stelle verharrt hatte, versiegte der Taumel.

„Judith, hilf mit!“, rief der mürrische Wichtel und Judith folgte dem Ruf. Sie griff nach einigen Scherben und stopfte sie in den Sack.

Als sie weitere Scherben aufgesammelt hatte, hörte sie mit lautem Lärm eine heruntergedrückte Türklinke und eine sich öffnende Tür. Sie schaute auf und entdeckte Natascha, die in der Tür stand und ihren von Übelkeit geplagten Bauch mit einer Hand hielt, während ihr Blick vorsichtig durch den herrlich geschmückten Raum schweifte.

Hamrog erschrak, als er den schweifenden Blick des Mädchens bemerkte, und zog Judith am Arm hinter die Geschenke. Unruhig lugte der Wichtel hervor und spähte nach Natascha, um herauszufinden, ob er von ihr entdeckt wurde oder ob sie das Zimmer bald wieder verlassen würde.

„Kann sie uns sehen?“, fragte Judith mit leiser Stimme.

„Sie könnte!“, antwortete Hamrog, „Aber sie darf nicht! Der Kodex verbietet es! Wir müssen uns hinter den Geschenken versteckt halten. Es ist schlimm genug, dass du von uns weißt!“

Ein Bellen folgte, während Natascha die Tür zum Wohnzimmer ein Stück weit öffnete. Der Blick des Mädchens fiel zur Haustür und wartete geduldig darauf, dass sie geöffnet wurde.

Hamrog rümpfte indes seine Knollennase: „Dieser Köter schon wieder!“, meinte er mürrisch, „Sein Bellen erschrickt mich immerzu!“

Natascha war einen Schritt in den Flur hineingegangen, als sich die Haustür öffnete und Quaki ihr fröhlich entgegen lief. Sie begrüßte den Hund freudig. „Ist es sehr kalt draußen?“, fragte Natascha ihren kleinen Bruder, der herein kam, die Tür hinter sich schloss und sich den Schnee von den Schuhen klopfte.

„Ach“, meinte der Junge und zog die warmen Sachen aus, „Wenn man sich bewegt, ist es nicht kalt.“

Natascha spähte unruhig ins Wohnzimmer hinein. „Wo ist Mama?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht!“, antwortete Robin und ging an seiner Schwester vorbei ins Wohnzimmer, wohin ihm Quaki und Natascha folgten. Während sich der braunweiße Pitbull Terrier müde in sein Körbchen legte, setzte sich Natascha auf das Sofa.

„Ist Oma Greta schon da?“, fragte sie ihren Bruder.

„Ich glaube nicht“, meinte Robin, der sich zu seiner Schwester setzte.

Hamrog stieß Judith mit seinem Ellenbogen an, um ihr geräuschlos zu vermitteln, dass sie Arbeit zu tun hatten, und ging dann schleichend und schweigend aus dem Versteck. Nur wenige Scherben lagen noch verstreut, die der Wichtel und Judith rasch aufzusammeln begannen.

Natascha sah sich um im Raum, ohne das Treiben vor dem Baum zu bemerken, und beugte sich anschließend nach vorn zu ihrem Bruder. „Glaubst du, Mama und Papa ahnen etwas?“, fragte sie ihn flüsternd.

Judith horchte auf. Sie hob die Scherbe, nach der sie gerade gegriffen hatte, auf und packte sie vorsichtig zu denen, die sie im Arm trug. Ihren Körper wandte sie in die Richtung des Sofas, um ganz sicher nichts von der Unterhaltung zu verpassen.

Robin überlegte kurz. „Sie denken, dir ist schlecht!“, sagte er daraufhin.

„Du hast ihnen doch nichts verraten, oder, Robin?“, fragte Natascha mit Furcht in der Stimme.

„Natürlich nicht!“, beteuerte Robin mit leichtem Ärger darüber, dass sie das überhaupt fragte.

Judith konnte das Zittern in der Stimme ihrer Tochter deutlich hören. Sie trat wenige Schritte vor, um besser verstehen zu können, worüber ihre Kinder sprachen. Sie war umhüllt von Sorge.

„Geh nicht zu weit!“, flüsterte Hamrog und zog Judith zurück. „Sie sehen dich sonst.“ Der Wichtel öffnete den Sack, in den die Frau die Scherben fallen ließ, und spähte zu den Kindern auf dem Sofa. Er merkte sogleich, dass die beiden von dort aus nichts von der Aufräumarbeit mitbekommen konnten und war beruhigt. „Wir sind fast fertig“, flüsterte er dann, „Aber wir sollten uns schnell verstecken, sonst sehen sie uns doch noch!“

Hamrog sah sich hektisch um und sammelte eifrig die letzten zwei Scherben auf, doch Judith half ihm nicht. Sie stand weiterhin da und lauschte auf die Stimmen ihrer Kinder, die nach einer kurzen Pause weitersprachen.

„Weißt du schon, wie du es Papa sagen willst?“, fragte Robin, ohne den Blick zum Gesicht seiner traurigen Schwester zu drehen.

„Nein“, sagte sie seufzend. „Er war vorhin bei mir, aber… “, begann sie besorgt und mit Ängstlichkeit in der Stimme, doch ließ den Satz dann unbeendet.

Die Kinder wurden still.

„Natascha…“, murmelte Judith vor sich hin. Hamrog stand neben ihr, er hatte die Menschenfrau zum Verstecken ermahnen wollen, doch das Gespräch der Kinder hatte jetzt auch ihn berührt. Die sorgenvolle Frau sah zu Hamrog hin: „Ich wusste, sie hat ein Geheimnis. Aber warum hat sie Angst, mit Anton und mir darüber zu reden?“, fragte sie unsicher.

Hamrog erwiderte den fragenden Blick Judiths für einen Augenblick, wandte sich danach aber mürrisch ab: „Was kümmert es mich?“, fragte er kaltherzig, „Komm jetzt! Wir müssen die Scherben zu den nichtsnutzigen Grichteln bringen!“

Judith spähte über die Tischkante und zwischen den Dekorationen hindurch zu den Kindern, und konnte einen kurzen Blick auf ihre traurigen Gesichter werfen. Sie saßen beide mit betretenen Mienen da und schwiegen in eine unangenehme Stille hinein. „Was bedrückt dich nur?“, fragte sich Judith selbst, doch im Augenblick und auf diese Größe geschrumpft konnte sie nichts ausrichten und es sah so aus, als wollten die beiden das Gespräch nicht fortsetzen. So folgte sie Hamrog zurück unter den Baum und durch die teetassengroße Tür hindurch in die Wand des Hauses hinein. In einem Tunnel führte die Tür zu einer weiteren, die in den hoch eingezäunten Garten vor dem Haus mündete.

„Wo genau bringen wir die Scherben hin?“, fragte Judith neugierig, als die eisige Winterkälte sie empfing.

„Na, zu den Grichteln!“, antwortete Hamrog mit Selbstverständlichkeit.

„Du hast sie schon einmal erwähnt. Was sind Grichtel?“, fragte sie, obwohl viel eher die Frage in ihr wachte, wovor ihre Tochter sich derart fürchtete.

„Grichtel sind Nichtsnutze!“, rief Hamrog aus und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, „Sie leben in den Gärten der Menschen und treiben bösen Schabernack mit ihnen. Diesen Müll horten sie in ihrem Bau, oder was weiß ich, was sie damit machen…“, fügte er mürrisch an.

Judith lächelte voll der Verzauberung über die wundersame Anderswelt und blickte auf zu den kargen Ästen des Baums, die wie ein gigantisches Wurzelwerk an einem wolkenkratzergroßen Stamm aussahen.

Weihnachten im Baume der Familie

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