Читать книгу Weihnachten - Bonnie C. Elgengard - Страница 4

Unter Wichteln

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Auf ungewöhnlich langen Beinen schlappte ein gedrungener, buckli­ger Körper durch den Tunnel in der Wand. Mit den trägen Augen im rundlichen Gesicht suchte der Wichtel Hamjux überall nach sei­nem besten Freund. Und das schon seit über einer Stunde!

„Na, so was!“, meinte Hamjux seufzend und rieb mit einem Fin­ger an der kantigen großen Nase entlang, „Wo ist er bloß? Ob er wieder die Menschen beobachtet?“

Zügiger als zuvor folgte er nun, da ihm dieser Einfall gekommen war, dem Tunnel. Vor einer verborgenen Tür von Teetassengröße hielt er an, denn jenseits dieser war die Küche, in der sich, nach letz­ter Auskunft der Wachwichtel, die Menschen aufhalten mussten. Im Gegensatz zu seinem furchtlosen Freund jedoch, brauchte Hamjux einen großen Teil Mut, um die Tür in einen Raum zu öffnen, in dem sich Menschen aufhielten. Und so zögerte er eine Weile, bis er dann aber doch die Hand auf die Tür legte und mit wenig Kraft dagegen drückte, wodurch die Tür mit einem kurzen Ruck aus ihrem Rah­men glitt und geräuschlos in den Raum hineinschwang. Hamjux hielt sich neben dem Türrahmen versteckt. Er musste sich ob seiner Größe ein wenig nach vorn beugen, wodurch sein Buckel noch runder wirkte, doch so konnte er seinen Körper weiterhin versteckt halten, während der rundliche Kopf achtsam in die Küche spähte. Zuerst fiel sein ängstlicher Blick zu den Menschen auf: Judith, die rotblonde Frau, stand gerade am Tisch und stellte auf ihm eine Rührschüssel ab. Anton lehnte an der Spüle, sprach einige Worte, derer Hamjux jedoch keine Beachtung schenkte, viel zu groß war seine Sorge, dass er bemerkt wurde, immerhin hielt ihm Anton sei­nen Körper zugewandt.

Hamjux zog den Kopf wieder fort von dem Loch des Türrah­mens und sog tief Luft in seine aufgeregten Lungen. Dann wagte er den zweiten Versuch, lugte wieder in den Raum hinein. Diesmal wollte er den Blick auf dem Boden halten, denn so dumm mochte er seinen besten Freund nicht einschätzen, dass er im Angesichte der Menschen auf die Möbel kletterte, wenngleich er wohl wusste, dass Wichtel leicht von ihnen übersehen wurden. Gelingen mochte es ihm kaum. Allenthalben hob er den Blick zu Judith und Anton, um zu erahnen, ob er bemerkt wurde.

Lange dauerte es zu seinem Glücke nicht, bis er im Augenwinkel eine kaum merkliche Bewegung wahrnahm. Erst erschrocken, zog er umgehend den Kopf in den Gang zurück. Wenn es nun der Hund war? Doch ihm fiel ein, dass er bei Natascha im Wohnzimmer sein sollte, weshalb die Wichtel dort zur steten Obacht aufgerufen waren. Trotzdem, es machte Hamjux Angst. Schließlich war er bereits lange Zeit unterwegs, die letzten Auskünfte der Wachwichtel konnten in­zwischen längst veraltet sein!

Ein drittes Mal, und das kostete ihn von allen Versuchen am meisten Mut, lugte er in die Küche, sah so rasch zu den noch reden­den Menschen auf, dass er kaum wahrgenommen hatte, ob sie ihn entdecken konnten, da fiel der Blick auch schon hinab zu den Bei­nen des Beistelltisches, von wo er die Bewegung bemerkt hatte.

Unter einer tief in die Stirn fallenden roten Zipfelmütze erkannte Hamjux das Gesicht seines besten Freundes, das gebannt der Unter­haltung lauschte. Hamgus hielt die Nase weit vorgestreckt, verbarg den kleinen Körper aber hinter dem Tischbein.

„Was macht er nur?“, fragte sich Hamjux. Er zog den Kopf in den Tunnel zurück, stellte sich bauchwärts gegen die Wand und griff blind, denn einen weiteren Blick wollte er nicht riskieren, nach der Tür, um sie alsbald zuzuziehen.

Erst atmete er tief ein, um so den Schreck mit der Atemluft zu er­sticken, doch dann rannte er auf seinen langen Beinen den Tunnel in der Hausaußenwand entlang, bis er in die Trennwand von Wohn­zimmer und Küche abbog, an der das grazile Beistelltischchen ange­schmiegt stand. Nun musste er nur noch die Treppe hinunter in den Zwischenboden – und er nahm dabei ob seiner Eile gleich drei Stufen mit jedem Schritt – unter der Menschentür hindurch und auf der anderen Seite die nächste Treppe wieder hinauf, bis er vor jener Tür zum Halten kam, durch die Hamgus zuvor in die Küche gegan­gen war.

Erneut musste er zögern.

Die Hand hielt er mit einem oder zwei Zentimeter Abstand vor die Tür. Seine Lunge war vom Laufen angestrengt und atmete sehr laut, daher wollte er warten, bis Ruhe in seine Brust einkehrte. Er wollte sich nicht trauen, mit lauter Atmung in den menschenvollen Raum zu treten, denn wer wusste schon, wie gut ihr Gehör tatsäch­lich war?

Nach einigen Augenblicken hatte sich die aufgeschreckte Lunge beruhigt, soweit zumindest, dass Hamgus die Eile, die ihn plagte, als unliebsamer empfand als die Angst vorm Entdecktwerden. Immer­hin stand Hamgus da draußen und keiner nahm ihn wahr, keiner bemerkte ihn, daher konnte es nichts geben, wovor er sich fürchten musste. Also drückte er endlich die Tür auf, spähte vorsichtig hinaus zu Hamgus, der ihm den Rücken zuwandte.

„Psst!“, wollte er rufen, doch es kam nur flüsternd aus seinem Munde.

Hamgus reagierte nicht.

„Psst, psst!“, wiederholte Hamjux etwas lauter, aber sein bester Freund reagierte wieder nicht.

Hamjux seufzte. Er musste wohl oder übel zu ihm hinausgehen, damit Hamgus ihn bemerkte. So spähte er zu den Menschen auf, die eng umschlungen in einer liebevollen Umarmung an der Spüle stan­den. Danach schweifte er den Blick über den Küchenboden. Als er keine Gefahr erkennen konnte, machte er einen ersten vorsichtigen Schritt hinaus, blickte sich nochmals um und ging dann langsam auf Hamgus zu.

„Psst!“, sagte er erneut, als er Hamgus sehr nahe war, und so lei­se, dass dieser sich nicht lauthals erschreckte.

Hamgus hatte es dieses Mal bemerkt und sah sich neugierig um.

„Hinter dir!“, meinte Hamjux.

Nun wandte sich Hamgus dem hochgewachsenen Wichtel zu: „Hamjux!“, sagte er.

Erschrocken griff sich Hamjux an den Kopf und sah sich um, denn ihm schien die Begrüßung seines besten Freundes sehr laut ge­wesen zu sein.

„Beruhige dich, Hamjux. Keiner kann uns hören oder sehen!“, meinte der furchtlose Hamgus.

Aber dem Großen war angst und bang, so sehr, dass er umkehrte, in den Tunnel ging und von dort aus den Kleinen zu sich herüber­winkte.

Er wollte nicht folgen, denn Hamgus war interessiert daran, ob die Menschen weiter über das Geschenk sprachen, damit er heraus­finden konnte, welcher Art es war, doch er folgte widerwillig.

„Hamjux, was ist denn?“, fragte er verärgert, als er im Tunnel an­gekommen war.

Der Angesprochene aber spähte vorsichtig noch mal aus dem teetassengroßen Türrahmen, lehnte sich danach erleichtert innen ge­gen die Wand und verschnaufte, bevor er endlich genug Ruhe fand, um sprechen zu können: „Du sollst doch nicht trödeln, Hamgus!“, sprach der Größere nach einer Weile, „Die anderen haben bereits mit ihren Arbeiten angefangen, nur wir, wir haben noch nichts ge­tan! Hammil ist sogar schon fertig mit seiner Aufgabe!“

„Ach, Hammil!“, spottete Hamgus, der eigentlich lieber den Men­schen lauschen wollte, „Der ist doch immer als erster mit allem fer­tig! Wir sollten ihn uns nicht zum Maße nehmen.“

„Das mag ja sein, aber unsere Aufgabe müssen wir trotzdem bald beginnen“, drängte Hamjux, dem die Worte seines Freundes ent­setzlich laut vorkamen.

„Ja, ja, du hast ja recht“, gab der Kleine zu, „Welche Aufgabe ha­ben wir denn bekommen?“

„Wir sollen uns um die Geschenke kümmern. Der Staub muss darum verteilt werden, damit er die diebischen Grichtel fernhält“, antwortete Hamjux.

Nun horchte Hamgus auf: „Die Geschenke?“

„Ja! Als ich ging, um dich zu suchen, war der Engelsstaub schon fast fertig. Wenn wir beim Christbaum sind, wird er bereitstehen!“

Hamgus aber hatte ihm nicht bis zum Ende zugehört. Er schaute zurück in die Küche und zu den Menschen hinauf: „Ein ganz be­sonderes Geschenk…“, flüsterte der Rotbemützte. Hinter den Men­schen nahe dem noch immer offen stehenden Fenster, dem sich Judith in diesem Moment widmen wollte, war ein hoher Schrank mit einer Ablage. Drei weihnachtliche Dosen standen hier nebeneinan­der und Hamgus wusste ganz genau, welchen Inhalt sie hüteten. „Für ein ganz besonderes Fest…!“ Verträumt, schwelgend gar, flüs­terte er fort: „Wie gerne würde ich einmal von diesen köstlich duf­tenden Keksen probieren!“

„Spinn doch nicht rum, Hamgus! Es ist viel zu gefährlich!“, em­pörte sich Hamjux lautstark, hielt sich aber kurz darauf den Mund mit beiden Händen zu, weil er noch immer fürchtete, sie könnten entdeckt werden.

„Ach! Ich habe keine Angst!“, prahlte Hamgus mit seiner wohl­bekannten Furchtlosigkeit, „Wenn ich den richtigen Moment genau abpasse, könnte ich hinaufschleichen und ein bisschen naschen. Ich muss nur Acht geben, dass die Menschen mich nicht erwischen!“

Hamjux ahnte, dass sein bester Freund das nicht nur so vor sich hinsagte, er wurde aufgeregt, seine Angst pochte mit wildem Her­zen: „Bist du verrückt, Hamgus?“

Da klingelte auf Mal das Telefon!

Laut ertönte es von der Platte des Beistelltischchens und so plötz­lich, dass Hamjux vor Schreck aufschrie, ein Stück von der Tür in den Tunnel fortlief und dort kauernd den Kopf mit zitternden Hän­den hielt. Das Telefon klingelte mit kleinen Pausen weiter.

Jetzt merkte Hamgus erst, welchen Schreck er dem Großen ver­setzt hatte, und gab nach: „Es war doch nur Spinnerei, Hamjux.“

Der Große aber verharrte in seiner Position. Mit jedem Klingeln des Telefons zuckte er zusammen und konnte seinem Freund nichts erwidern. Hamgus blickte verärgert davon zur Tür hinaus, da sah er auch schon, wie Anton auf den Tisch zukam. Endlich hob er ab und das Klingeln endete.

„Greta?“, fragte Anton in den Hörer hinein, „Du hast kein Taxi mehr bekommen?“ Eine Pause folgte, in der Anton schweigsam dem Anrufer lauschte. Hamgus wollte eigentlich zuhören, denn den Namen Greta hatte er schon mehrmals in Gesprächen gehört und es machte ihn unaufhörlich neugierig, nicht zu wissen, wer sie war. Doch jetzt wollte er lieber für seinen besten Freund da sein, der sich eine Weile nach dem Ende des furchtbaren Klingelns etwas ent­spannter gegen die Wand gelehnt hatte, um zu verschnaufen. Ham­gus griff nach der Tür, um sie zu schließen, als er die letzten Worte aus der Küche vernahm, die seine Bewegungen unmerklich lang­samer machten: „Was ist denn los?“, fragte Judith.

„Greta hat kein Taxi mehr bekommen und steht am Flugplatz“, erklärte Anton.

„Können deine Eltern einen Umweg fahren…?“

Da schloss Hamgus mit Müh und Not, mit der er gegen seine be­drängende Neugierde ankämpfte, die Türe, noch ehe Judith ausge­sprochen hatte. Er ging auf Hamjux zu.

„Die Tür ist zu. Du musst dich jetzt nicht mehr fürchten.“

Der Große sah erleichtert zu seinem Freund auf, nahm einen tie­fen Atemzug und stand langsam auf. Noch immer zitterten seine Beine von dem Schreck.

„Irgendwann musst du mir doch mal erzählen, woher diese Angst kommt!“, begann Hamgus, doch der Große blickte beschämt zur Seite. „Wirst du es denn schaffen? Wir müssen schließlich ins Wohn­zimmer hinaus, um den Staub er Engel auszustreuen.“

„Das Telefon hat mich erschreckt!“, begann Hamjux, „Es kam so plötzlich. Und es sind auch keine Wachen in der Küche! Aber im Wohnzimmer ist das anders. Da fühl ich mich sicherer.“

„Obwohl dort der Hund ist?“

Hamjux blickte bei den Worten betrübt zum Boden. Warum nur hatte Hamgus solche Angst nicht? Meistens bewunderte er den Kleinen ja für seinen unbändigen Mut, er wünschte sogar, er wäre selbst so mutig, wollte ihm beweisen, dass er das auch könne, aber es klappte nie. Nicht ein einziges Mal hatte er einen Mut von Ham­gus’ Stärke gefunden, ohne ihn wieder so rasch zu verlieren, wie er gekommen war. Vielleicht fiel es dem Kleinen leichter, weil er kei­nen so riesenhaften Körper hatte und sich schnell in allen Ecken gut verstecken konnte. Für Hamjux war das nicht möglich, es hatte schon so manches Versteck gegeben, in das er mit den langen Bei­nen nicht gänzlich hinein passte. Und ohnehin, seine Größe war ihm ein Dorn im Auge, den Buckel hatte er sich selbst verschuldet, schließlich hatte er den Rücken allzeit gekrümmt, um nicht ständig über die Köpfe aller anderen hinauszuragen, oder um sich zu den anderen hinunterzubeugen. Trotzdem, er wollte es nicht aufgeben. Hamgus sollte ihn nicht ewig für einen Feigling halten! „Ich fürchte mich, aber ich will es versuchen“, sagte er in dem kläglich scheitern­den Versuch, entschlossen dabei zu klingen, „Du bist ja auch da, also muss ich nicht allein hinaus!“

„Ja, das stimmt“, bestätigte Hamgus, der von des Großen Versu­chen, Mut zu schöpfen, wenig mitbekam. Dennoch, er wusste ja von seinen Ängsten, wenngleich er ihre Herkunft nicht kannte, so wollte er ihm Mut machen: „Ich war schon oft im Wohnzimmer, obwohl Buddler dort herumlief. Er hat mich nie erwischt, war nicht mal nah dran!“

„Das ist wahr!“, fiel es Hamjux jetzt auch auf. Womöglich hatte er sich zu viele Sorgen gemacht. Tatsächlich schöpfte er Mut aus den wenigen Worten, aber dennoch empfand er Hamgus’ Furchtlo­sigkeit die meiste Zeit als waghalsig, obgleich ihm Bewunderung dazu ereilte. „Du wirst nicht wirklich zu den Keksdosen hinauf­schleichen, oder, Hamgus?“

„Es ist vermutlich zu riskant, aber wenn mal niemand im Haus ist und noch welche übrig sind, dann versuche ich es doch! Dann kann ja nichts geschehen!“

Es beruhigte ihn, das zu hören, aber damit der Kleine nicht auf weitere schlimme Ideen kam, sprach er in Eile: „Lass uns rasch zum Baum gehen und unsere Aufgabe erledigen. Es wird aufregend ge­nug, inmitten des Wohnzimmers umherzuwandern. Da, wo der Hund ist!“

Hamgus seufzte. Er war sicher, dass die Grichtel es niemals schaffen konnten, die Geschenke zu stehlen, weil alle Wichtel zur­zeit im Wohnzimmer beschäftigt waren und es merken würden, wenn ein Geschenk durch ihre Reihen bewegt wurde. Vermutlich machte es gar keinen Unterschied, ob sie jetzt oder in einer Stunde den Staub verstreuten, denn bevor die Lichter bei den Menschen ausgingen, würde es kein Grichtel wagen, hineinzuschleichen und ei­nes der Geschenke zu stehlen, oder sonst welchen Schabernack zu treiben. Er hatte keine Eile damit, die Aufgabe zu erledigen.

Mit gemütlichem Schritt, sinnierend darüber, welchen Inhalt das blaubeschleifte Geschenk haben mochte, ging Hamgus voraus, durch den Tunnel in der Wand hin zur Treppe, an deren Fuß ein Gang unter der großen Menschentür hindurch führte. Eine Abzwei­gung dort würde sie in den Zwischenraum des Wohnzimmerbodens bringen, wo die Wichtel die meiste Zeit lebten. Hamjux wollte die Geschwindigkeit anziehen, weil sie eigentlich in Eile waren und weil er die Aufgabe lieber schnell hinter sich bringen wollte, doch er hielt sich an das gemütliche Tempo seines Freundes mit starker innerer Unruhe.

„Weißt du“, begann Hamjux auf der Treppe, „ich würde auch gerne mal von den Keksen naschen. Aber das dürfen wir nicht. Es ist gegen die Regeln. Wir müssen das alles so hinnehmen, schließlich schützen uns unsere Regeln.“

„Ach, das ist doch Unsinn!“, erwiderte Hamgus, „Die Regeln sa­gen, wir sollen unsere Verstecke niemals verlassen, wenn die Men­schen im Haus sind, aber letztlich gehen wir doch ständig raus. Heu­te, zum Beispiel! Wir sollen die Geschenke mit dem Engelsstaub umrunden, damit die Grichtel sie nicht stehlen; wir sollen uns um den Christbaum kümmern, damit er funkelt und strahlt; wir sollen viele Aufgaben heut erfüllen. Aber dafür müssen wir hinaus.“

Hamjux hatte aufmerksam zugehört und konnte nichts finden, was er darauf erwidern konnte. Die Regeln waren ihm wichtig, doch immerzu fand Hamgus Worte, die ihm die Regeln weniger streng einhalten ließen. Vielleicht war es nur seine Furchtlosigkeit, bewun­dert wie gefürchtet, die seine übertriebene Angst in ein Lot brachte.

„Wir Wichtel sollten hin wieder mehr riskieren, finde ich!“, rief Hamgus laut aus.

Hamjux aber, der gerade mehr Mut gefunden hatte, regte sich darüber auf: „Das ist gefährlich, Hamgus! Bitte, mach so was nicht!“

Einen Moment wurde es still, dann fing Hamgus an zu lachen: „Das war doch bloß ein Scherz! Ich würde so etwas niemals wirklich tun.“ Das war es nicht! Es war seine ernste Meinung, denn dieses Schattendasein störte ihn. Er wollte am liebsten direkt mit den Men­schen sprechen, um mehr über sie zu erfahren und ihnen vielleicht sogar Hilfe oder Trost zu spenden. Aber, ja, die oberste Regel war Heimlichkeit. Daran würde er sich halten und dennoch machte es ihn rasend. Schließlich mussten die anderen Wichtel und auch der Älteste unweigerlich zugeben, dass man sich an die genauen Regeln gar nicht mehr so recht erinnerte.

Er seufzte, um den Ärger zu unterdrücken. Hamjux war sein bes­ter Freund seit langem, er wusste, wie sensibel und ängstlich er auf die Menschen reagierte, wenngleich er sie ebenso sehr mochte, also war es ihm wichtig, dass er sich keine Sorgen machen musste. Daher behielt er seine Meinung fortan lieber für sich.

In der Mitte des Ganges unter der Türe bogen die beiden Wichtel durch eine Öffnung in den Zwischenboden ab. Genau hier, unter dem Wohnzimmer, befanden sich die Schlaf- und Arbeitsräume aller Wichtel, abgetrennt voneinander meist nur von dünnen Pap­pen, die sie heimlich aus dem Müll des leerstehenden Hauses ge­fischt hatten, und selten von Hölzern, die eher ungeschickt zusam­mengeschustert waren, aber dennoch hielten. Hunderte Wichtel lie­fen hektisch umher, verschwanden hier und da in die Wände oder in Räumen und tauchten an anderen Orten wieder auf. Es war das Weihnachtsfest, was sie so hektisch machte. Sie wollten, dass alles perfekt wurde, hatten Angst, dass sie die Feinheiten verlernt oder et­was Wichtiges vergessen hatten. Und es war sogar so viel Hektik, dass man zudem noch Acht geben musste, wo man hinlief, um Kol­lisionen zu vermeiden. Besonders Hamgus, der mit seinen kurzen Beinen zu den kleinsten seiner Art gehörte, musste Acht geben, dass ihn keiner über den Haufen rannte. Trotzdem ließ er sich von dieser Hektik nicht anstecken, im Gegensatz zu Hamjux, der allenthalben versuchte, eiliger voranzukommen, sich aber stetig nach dem Klei­nen umsah und auf ihn wartete.

„Ach, Hamgus! Wollen wir nicht schneller gehen?“, fragte er nach einer Weile.

„Wir haben es nicht eilig, Hamjux. Und wir sind ja auch bald da“, erwiderte Hamgus, der sich von der allgemeinen Unruhe nicht be­eindrucken ließ. So schritten sie langsam voran durch den laby­rinthartigen Zwischenboden.

Alsbald hielt ein Wichtel sie auf: „Hamgus! Hamjux! Habt ihr mit der Arbeit schon begonnen?“, fragte der quirlige Wichtel.

„Ach, sorge dich nicht, Hamnur! Wir sind eben auf dem Weg zu den Geschenken! Es ist ja nicht eilig.“

„Aber natürlich ist es eilig! Es muss getan werden. Rasch!“, erwi­derte Hamnur aufgeregt und lief dann eilig seinem eignen Werke nach.

Hamgus sah ihm überrascht hinterher. So unruhig hatte er die meisten Wichtel wahrlich nicht gesehen, dass sie zu vergessen schie­nen, wo sie ihren Kopf trugen.

Nun starrten die anderen Wichtel, denen die Unterhaltung nicht entgangen war, den Kleinen an. Sie mochten nicht verstehen, dass er ruhig bleiben konnte, bei allem, was Aufregendes vor ihnen lag.

„Hamgus, er hat recht“, meinte Hamjux darauf, „Wir sollten uns wirklich sputen!“

„Unsinn! Wir haben es nicht eilig!“, beharrte Hamgus darauf, dass er Recht behielt, „Ich lasse mich doch nicht hetzen. Weihnachten ist erst morgen und bis dahin schaffen wir es ohne Mühen, den Engels­staub zu verteilen.“

Ohne sich von der Hektik der anderen im Mindesten anstecken zu lassen, schritt er voran. Eine Viertelstunde später hatten sie die andere Seite des Wohnzimmers erreicht, stiegen eine Treppe hinauf und verließen den Wandtunnel durch eine weitere teetassengroße Tür. Nun standen sie in der Ecke des Raumes, unterhalb des Weih­nachtsbaumes.

„Hamjux, wird es gehen?“, fragte der Kleine vorsichtshalber nach, denn ihm war die anhaltende Blässe im rundlichen Gesicht des Großen nicht entgangen. Hamjux sah sich um, Angst lag in sei­nen Blicken, obwohl er wusste, dass von allen Orten im Haus dieser derjenige war, an dem entdeckt zu werden höchst unwahrscheinlich war. „Wird es gehen, Hamjux?“, fragte der Kleine noch einmal.

Hamjux nickte, wortlos folgte er Hamgus im Dunkel unterm Baume hin zu den Geschenken. Hier und da liefen Wichtel umher, manch einer rief etwas im geschmückten Geäst des Baumes und die Anwesenheit so vieler anderer Wichtel tröstete die Angst Hamjux’ noch mehr.

Bald standen sie am Rande des Schattens, den der Weihnachts­baum warf. Neben ihnen ragten die ordentlich platzierten Geschen­ke auf und vor ihnen erstreckte sich das riesenhafte Wohnzimmer, in dessen Größe sich Hamjux klein zu fühlen begann.

Hamgus merkte wohl, welch tiefe Atemzüge sein bester Freund einsog, um seine Nervosität zu vertreiben, also schaute er sich nach etwas um, was den Großen beruhigen könnte. Weit über seinem Kopf erspähte er eine der Engelsfiguren, die verteilt am ganzen Bau­me hingen. Ihr sanfter Blick, umspielt von einem lieblichen Lächeln, lag gebannt auf dem Kinde, das noch immer auf dem Teppich saß. Zwischendurch hörte man immer mal wieder ein kleines kurzes La­chen von ihr oder einen Schlag ihrer Flügel.

„Siehst du oben die Engel, Hamjux?“, fragte er. Der Große hob den zitternden Kopf und erkannte die zauberhafte Figur. „Das gan­ze Weihnachtsfest hindurch sind sie da oben!“, sprach der Kleine fort, „Sie verstecken sich nie, werden auch niemals von den Men­schen entdeckt. Ist ihnen denn jemals was passiert?“ Er machte eine kurze Pause, in der Hamjux bedächtig zu Boden sah. „Und vergiss nicht die Wachwichtel! Sie verstecken sich im Baum und auf den hohen Möbeln und oben auf der Deckenlampe, immer wachsam! Wenn etwas sein sollte, werden sie’s bemerken und uns sofort alar­mieren. Sieh mal, Hamjux!“, fügte der Kleine noch an, „Falls etwas schief geht oder dir die Angst zu groß wird, dann kannst du ganz ge­schwind unter den Baum laufen.“

All dies beruhigte Hamjux. Es gab wahrlich keinen Grund für Furcht. So machten sie sich auf. Die Staubbeutel lagen zwischen den Geschenken bereit, Hamjux und Hamgus hoben sie auf. Ehe sie je­doch damit begannen, den Staub in einem dichten Kreis um die wohl verpackten Kostbarkeiten zu verteilen, spähten sie zu einem Wachwichtel hinauf, der ihnen mit einem Fingerzeig andeutete, dass die Luft rein war.

Hamgus sah sich zu Hamjux um, der tief Luft, und damit eine gute Portion Mutes, holte, bevor er seinem besten Freund zunickte. Achtsam und leise schlichen sie an der Vorderseite entlang und streuten sorgfältig den Engelsstaub aus, den ein anderer Wichtel, vermutlich Hammil, zuvor aus den Flügeln der Engelsfiguren am Baum gebürstet hatte.

Vom Teppich her hörten sie immerzu Nataschas Lachen, sie spielte nämlich ausgiebig mit dem Welpen, wodurch beide von den Werken der Wichtel abgelenkt waren. Während Hamjux sehr nervös war, beim Auflachen des Mädchens zuckte und so eilig den Staub verstreute, dass er so bald wie möglich auf der anderen Seite, der si­cheren, wie er es empfand, in den Sichtschutz vor den Menschen gelangte, war Hamgus damit beschäftigt, sich nicht von den Spielen­den ablenken zu lassen. Doch immer wieder spähte der Kleine zu Natascha hinüber, die vergnügt so tat, als hielte sie etwas Leckeres in den Händen, wonach der Hund mit seiner feuchten Schnauze ständig zu gelangen suchte. Die Cowboys und das Spielzeugauto da­hingegen lagen ringsum die beiden auf dem Teppich verstreut.

Heimlich musste Hamgus schmunzeln. Zu gerne würde er jetzt zu ihr hinüber gehen und dem wundervollen Spiel beiwohnen, doch die Regeln verboten es ihm. So wollte er sich gütlich daran tun, dass eine junge Familie in das Haus gezogen und seine vormals sehr triste Welt in ein buntes Fest verwandelt hatte. Er wies sich selbst dazu an, dass ihm dies genügen sollte. Nein, Unsinn! Es gab noch etwas, an dem er sich in höchstem Maß erfreuen konnte: das besondere Geschenk!

Nachdem Anton die blaue Schleife erwähnt hatte, war es Hamgus wieder eingefallen. Er hatte im Baum gestanden und den jungen El­tern gelauscht, als sie das Geschenk unter den Baum gelegt hatten. Für einen kurzen Moment war ein Streit unter ihnen ausgebrochen, denn Judith war der Meinung, dass dieses eine Geschenk trotz sei­ner Größe ganz vorn liegen sollte, doch Irmgards Vorstellungen ge­boten, dass die kleinen vorn und die großen ganz hinten lagen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hamgus noch nicht verstanden, weshalb sie um dieses Geschenk stritten, aber nun war es klar. Es war besonders und so sollte es nun mal auch präsentiert werden, vermutlich, so glaubte Hamgus, damit Natascha es als erstes öffnete.

Trotzdem hatte Anton seine Frau überreden können, dass sie den Vorstellungen Irmgards folgen sollten, und Judith ihrer Tochter das Geschenk einfach als erstes in die Hand drücken konnte, wenn es soweit war. Zu diesem Zeitpunkt war die blaue Schleife noch nicht am grünverpackten Geschenk befestigt gewesen. Erst später war Anton zum Baum zurückgekehrt, um das besondere Geschenk auf­fällig zu schmücken, so war es auch von allen das einzige mit hell­blauer Schleife.

Nun blickte sich Hamgus nach den Geschenken um, derer hier weniger als zwanzig standen, suchte mit den begeisterten Augen nach der auffälligen blauen Schleife. Für die Wichtel war es unge­mein wichtig, dass die großen Geschenke hinten standen, denn sie bildeten eine Art Wand, hinter der das Gewusel und die Arbeiten der kleinen Männchen nicht bemerkt werden konnten, eine Sicher­heit, ohne die sie womöglich gar nicht ihren Aufgaben nachgehen könnten.

Hamgus schüttelte bei dem Gedanken den Kopf, wähnte das Glück der Wichtel, dass die alte Frau auf solche traditionellen Vor­stellungen pochte. Dann aber endlich wollte er das blaubeschleifte Geschenk sehen. Vielleicht würde er an der Größe und Form erken­nen oder zumindest erahnen können, was darin sein mochte. Zu sei­nem Erstaunen konnte er es aber nicht finden. So ging er näher her­an, zwischen den rot und grün verpackten Geschenken hindurch, hielt aufmerksam Ausschau, doch es war nicht hier!

Hamjux kam gerade mit zaghaften Schritten an jener Stelle an, an welcher der Kleine seine Arbeit unterbrochen hatte, denn er hatte in der Zwischenzeit die Geschenke beinahe umrundet, aber gemerkt, dass Hamgus ihm nicht entgegen kam. Vorsichtig und auf seinen zittrigen langen Beinen war er den Weg weiter gegangen, jetzt sah er den Kleinen mit seinem prallen Staubsäckchen zwischen den Ge­schenken stehen. „Hamgus, was trödelst du wieder!“, meinte er im Flüsterton, obwohl er ob seines Ärgers lieber laut geworden wäre.

Hamgus drehte sich dem Großen zu, kreidebleich und mit erns­tem Blick: „Es ist weg!“, sagte er, doch Hamjux sah ihn fragend an, so wiederholte er präziser: „Das Geschenk! Das mit dem blauen Band! Es ist fort!“

Nun blickte Hamjux zu den Geschenken auf, jeder Wichtel hatte von der auffälligen Schleife bereits gehört und so manch einer hatte sich über diese Unart empört. Tatsächlich! Es war nicht an der Stel­le, an der es sein sollte, stattdessen klaffte dort eine Lücke.

„Wir müssen sofort Alarm schlagen, Hamjux!“, rief Hamgus laut aus, doch dieses eine Mal regte sich Hamjux ob der Lautstärke nicht auf. Sie beide ließen die Säckchen fallen und rannten eilig unter den Baum.

„Alarm!“, rief Hamjux.

„Es ist gestohlen!“, rief Hamgus dem hinterher.

Weihnachten

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