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L. Brief von Frl. Lucy Westenraa an Frl. Mina Murray

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Liebste Mina!


Dank, Dank und tausendmal Dank für Deinen lieben Brief. Nun bin ich doch froh, dass ich es Dir erzählt habe und weiß, dass Du mir zustimmst.


Liebst, es regnet nicht, es schüttet. Wie passend die alten Redensarten oft sind. Hier bin ich, die ich im September zwanzig werden soll, und hatte bis heute noch keinen Anbeter, wenigstens noch keinen ernsthaften, und heute kamen gleich ihrer drei. Denke nur, drei Bewerber an einem Tag! Ist das nicht unheimlich? Es tut mir wirklich und wahrhaftig leid um zwei der lieben Menschen. O Mina, ich bin so froh, dass ich mich fast nicht mehr fassen kann. Drei Bewerber! Aber, Mina, ich bitte Dich, um des Himmels willen, sag’ es keinem der jungen Mädchen; die bekommen sonst allerhand extravagante Ideen und fühlen sich beleidigt und zurückgesetzt, wenn nicht gleich am ersten Tage, da sie wieder zu Hause sind, mindestens sechs kommen. Manche Mädchen sind so eitel. Du, Mina, und ich, die wir gebunden und nahe daran sind, bald alte verheiratete Frauen zu werden, wir sind doch wahrlich darüber hinaus. Nun muss ich Dir aber von den Dreien erzählen, Schatz, aber Du musst es geheim halten vor allen – außer natürlich Jonathan. Du wirst es ihm sicher ausplaudern, wie ich es an Deiner Stelle ja auch Arthur gegenüber machen würde. Eine Frau muss ihrem Manne doch alles erzählen, – nicht wahr, Herzchen –, und ich möchte offen sein. Die Männer haben es gern, wenn die Frauen – besonders ihre Frauen – eben so offen sind wie sie selbst. Ich fürchte aber, die Frauen sind nicht immer so aufrichtig, als sie es eigentlich sein müssten. Also, meine Liebe, Nummer Eins kam gerade vor dem Lunch. Ich erzählte Dir schon von ihm, Dr. John Seward, der Irrenhausarzt mit dem strengen Kinn und der gütigen Stirne. Äußerlich war er sehr kühl, aber innerlich doch nervös. Er hatte sich alles bis ins Kleinste einstudiert und vergaß sich nicht; schließlich aber setzte er sich doch auf seinen Zylinder, was Männer in der Regel nicht tun, wenn sie kalten Blutes sind, und als er sich dann bemühte, ruhig zu erscheinen, spielte er mit einem Messerchen, das auf dem Tische lag, dass ich beinahe weinen musste. Er sprach sehr ernst mit mir. Er sagte mir, wie lieb ich ihm sei, obgleich er mich doch erst so kurze Zeit kenne, und wie schön sein Leben wäre, wenn ich ihm helfen und ihn erheitern wollte. Dann sagte er, er würde sehr unglücklich sein, wenn ich ihn nicht erhöre; als er mich aber dann weinen sah, schalt er sich einen Barbaren und versprach mir, meinen Schmerz nicht noch vergrößern zu wollen. Dann brach er ab und fragte mich, ob ich ihn denn nicht mit der Zeit lieb gewinnen könne, und als ich mit dem Kopf schüttelte, zitterte er und fragte stockend, ob ich am Ende schon einem anderen gehöre. Er brachte es so schön heraus, indem er sagte, er wolle sich mein Vertrauen nicht erzwingen, sondern nur Klarheit haben, denn ein Mann dürfe die Hoffnung so lange nicht sinken lassen, als die Angebetete noch frei sei. Da, liebe Mina, fühlte ich mich gezwungen ihm zu sagen, dass ich schon gebunden sei. Ich sagte ihm das; da stand er auf und sah recht ernst und schwermütig drein, als er meine beiden Hände ergriff und sagte, er hoffe, dass ich glücklich werde, und wenn ich je eines Freundes bedürfe, so solle ich ihn zu meinen besten zählen. Ach, Mina, ich kann nicht anders, ich muss weinen; entschuldige die Flecke auf dem Briefe. Verlobt zu sein ist ja ganz hübsch, aber es ist immerhin nicht angenehm, so einen wackeren Mann mit gebrochenem Herzen von Dir schicken und erkennen zu müssen, dass Du, was er auch immer sagen mag, dennoch für immer aus seinem Leben gestrichen bist. Liebste, ich muss aufhören; ich fühle mich so elend, wenn ich auch glücklich bin.

Bram Stoker: Dracula

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