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Château d’If

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Es war eine klägliche Rolle, die mir im Weltkriege 1914 zufiel, ich hatte mir alles so anders gedacht, als ich auf den ersten Kriegsruf hin von Malaga nach Barcelona fuhr, mich zu stellen. Zweimal machte ich die Fahrt, war inzwischen auch in Valencia, um dort einen Weg nach der schwerbedrohten Heimat zu suchen. Die Würfel fielen ungleich. Während einige von uns mit gutem Glück nach Genua gelangten, wurden wir trotz der Zusicherung, die wir von der deutschen, französischen und spanischen Regierung erhielten, in Marseille gefangengenommen und zur Untätigkeit rettungslos verdammt. Wenn mir je ein Wort Goethes Trost gewesen, so war es in dieser trostlosen Zeit Fausts Mahnung an den Menschen: Er stehe fest und sehe hier sich um, dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Dieses weltumfassende Wort verkleinerte ich mir für meine augenblickliche Lage so: Nicht jedem ist es vergönnt, in so gewaltiger Zeit da zu stehen, wo der Tod oder das E. K. winkt. Auch andere Posten verteilt das eherne Kriegsgesetz, und wen es auf minderwertigen gestellt, von dem fordert es gleiche Hingabe wie vom Vorposten. Fest soll er stehen und sich umsehen, dem Tüchtigen weist auch geringe Stellung seine Aufgabe, und ein Zusammenarbeiten aller erfordert so ernste Zeit. So lernte ich mich bescheiden und gewöhnte mich daran, dem Kasernenton französischer Korporale zu gehorchen und die hämische Behandlung unserer Vorgesetzten zu ertragen, unter der wir mehr litten, als unter schlechter Behausung und Ernährung. Ich suchte meinen Anteil am Kriege zu gewinnen, so klein er sei, und es ist mir oft gelungen, nicht immer.

Was ich bringe, ist wahr, mag es auch romanhaft klingen. Alle Briefe sind authentische Kopien, mit Ausnahme der Briefe an meine Frau, welche nur meinem Bedürfnis Rechnung trugen, mich ihr mitzuteilen, die ebenso litt wie ich. Sie hätten natürlich in dieser Form die Zensur nie passiert. So mag das Buch von seelischen und körperlichen Leiden erzählen. Es bringt davon vielleicht mehr, als sonst Gefangene erduldet haben; es mag auch berichten von einer Auferstehung unserer selbst, die viele, nicht alle, feiern durften.

Da unsere Beglaubigungen, die der Sisterleute, in Bausch und Bogen gemacht sind, bringe ich diejenigen zur Veröffentlichung, mit welchen versehen zwei Herren, auf demselben Wege wie wir, drei Wochen später unser Schicksal zu teilen gezwungen wurden. Die beiden Herren, Herr Müller und Herr Weißschedel, trugen folgendes Schriftstück in spanischer und französischer Sprache und amtlich beglaubigt bei sich:

Staatsministerium: Als Resultat der vom Staatsministerium bei Empfang der Verbalnote der deutschen Gesandtschaft vom 24. August d. J. unternommenen Schritte, gibt die Regierung der französischen Republik die Zusicherung, daß die deutschen Untertanen – Nichtkombattanten – , welche, von Barcelona kommend, auf der Heimreise einen französischen Hafen berühren und mit einem Ausweis des deutschen Generalkonsulats, der vom Zivilgouverneur von Barcelona visiert ist, versehen sind, weder angehalten noch belästigt werden sollen. San Sebastian, 28. August 1914.

In den ersten Morgenstunden des 24. August fuhren wir auf dem spanischen Schiff „Sister“ an den Inseln „Château d’If“ und „Frioul“ vorüber in den Hafen von Marseille, von wo wir, nach kurzem Aufenthalt, nach Genua sollten. Die Gestalt der durch Dumas Grafen von Monte Christo, genugsam bekannten Insel in der fahlen Dämmerbeleuchtung reizte uns zur üblichen Unterhaltung. Wir ahnten nicht, wie tief wir in die Geheimnisse der sagenumsponnenen Ruine eindringen sollten. Aber der Anblick allein warf seine Schatten voraus. Es ging wie ein banges Ahnen durch unsere Reihen, und die frohe Stimmung des gestrigen Abends wollte nicht mehr aufkommen. Wir verloren an dem bedrückenden Morgen mehr und mehr die Zuversicht, und wie ein Alpdruck legte sich langsam die Erkenntnis unserer Lage auf uns. Nachmittags war es bestimmt: 72 Männer, also fast alle, gleichviel ob sie über 45 Jahre, ob sie Invaliden, Aerzte oder Priester waren, wurden zu Kriegsgefangenen der französischen Republik gemacht. Wehrlos mußten wir den Bajonetten der französischen Soldaten gehorchen, und nach einem kurzen und würdigen Abschied von den Unseren – ich reiste mit meiner Frau und meiner 16jährigen Tochter – wurden wir aufs Ponton kommandiert, von Bajonetten umschlossen, und fuhren, zuerst von dem erschütternden Jammern der Unseren, dann von dem Johlen und Kreischen der Marseiller Weiber: à bas! à bas! à la mer! à la mer! begleitet nach Château d’If. —

Wir langten etwa um 4½ Uhr nachmittags an der Landungsbrücke an, mußten unsere Koffer usw. bis nach oben zum Platze, der das eigentliche Château umgibt, tragen, dann kam die Revision des Gepäcks auf Waffen, Ferngläser und photographische Apparate, eine Untersuchung, die sich in der Zeit unserer Gefangenschaft noch bis zum Ueberdruß wiederholen sollte. Dann waren wir für einige Zeit uns selber überlassen. Wenn man mir mit einer Keule über den Kopf geschlagen hätte, mir wäre, glaube ich, nicht übler zumute gewesen, als diesen Nachmittag. Der Major, welcher uns auf dem Schiffe gefangennahm, hatte so freundlich meiner Frau versichert: „Seien Sie ganz unbesorgt, Ihr Herr Gemahl wird es gut haben, gutes Bett, gutes Essen, gerade wie zu Hause.“ Er hatte das so treuherzig versichert, und wir kannten damals die hämische Art unserer Quäler noch nicht. Nun standen mein Freund Moritz und ich vor den öden Mauern der Burgruine, durch deren vergitterte Fensterhöhlen die untergehende Sonne kümmerlichen Weg suchte. Wir sahen erstaunt einander an und unsere blöden Gesichter fragten: „Soll das die standesgemäße Unterkunft für uns bedeuten?“ Gegenüber vom Kastell lag ein Café für Sonntagsbesucher; der Preis für Erfrischungen war noch aufgeschrieben, aber die Wirtschaft war außer Betrieb gesetzt. Senkrecht dazu die Kantine, welche uns ihre Räume heimlich öffnete und uns, die wir den ganzen Tag nichts genossen, etwas Speise und Trank verabreichte. Vergebens spähte unser Auge nach einem kasernenartigen Gebäude, das uns wenigstens gefensterte Räume, die durch Türen zu schließen waren, geboten hätte. Man ließ uns keine Zeit zu solchen nichtswürdigen Betrachtungen. Château d’If öffnete sein Kerkertor, nachdem wir je 2 und 2 Mann mit einer Strohmatratze beladen waren, und schloß sich hinter uns. Wir suchten ermüdet Raum, wo wir ihn fanden, uns zu betten, und die kleinen Schlafgesellen, die wir von nun an nie mehr ganz entbehrten, hätten uns kaum erweckt, wenn nicht ein französischer Offizier diese Aufgabe übernommen hätte, wohl in der löblichen Absicht, uns daran zu gewöhnen, daß wir in Frankreich nicht auf Rosen gebettet seien. Wie einer nächtlichen Vision erinnere ich mich dieses Besuches. Das Geisterzimmer plötzlich blendend hell, durch Fackeln erleuchtet, blitzende Uniformen, grell leuchtende Bajonette, ein kurzer Befehl, vier Hände rissen eine Matratze mit rasender Geschwindigkeit an sich, deren schlaftrunkene Inhaber zu einem kunstvollen Saltomortale gezwungen wurden. Aufschlagen, wie von gebrochenen Leibern, Abmarsch der Sieger, leises Wimmern der Besiegten, tiefe Dunkelheit und Ruhe. – Wir hatten es eben ganz wie zu Hause. – Am nächsten Morgen erwachten wir beim ersten Grauen des Tages. Es lag eine bleierne Schwere auf uns, die in tiefem Schweigen Ausdruck fand. Was einer dem anderen mitzuteilen, was er ihn zu fragen hatte, das tat er in geheimnisvoll erwartendem Tone. Ich denke mir, so müssen die Gefangenen in der Bastille miteinander gesprochen haben, und es erinnert mich an die Darstellung von Hanneles Himmelfahrt im Schauspielhause, als beim toten Hannele die Leidtragenden vorüberdefilieren und sich ihre Beobachtungen mit Grabesstimme zuraunen. Die Sonne stieg höher und noch öffneten sich die Kerkertore nicht. So machten wir uns schnellere Bewegung, wie die Engländer auf dem Schiffsdeck, und die Szene wurde lebhafter. Wir konnten durchaus Anspruch darauf machen, mit den Gefangenen damaliger Zeit verglichen zu werden, denn unsere Gesellschaft war recht bunt zusammengesetzt und bestand zum großen Teil aus Geistlichen und Gelehrten. Wir zählten 10 geistliche Herren und 12 des Gelehrtenstandes unter 72. Außerdem Kaufleute, Farmer, gewesene Offiziere usw. Gleiches Leid führt leicht zusammen, und so begannen wir, uns einander zu nähern und die ersten Meinungen über das Schicksal auszutauschen, das uns bevorstand. Da stießen wunderbare Optimisten gegen ebenso gewaltige Pessimisten. Von der Freilassung heute, morgen, ging es sprungweise zum Kriegsgericht, zur Füsillade. Im Grunde konnte jeder recht haben, und das sollten wir später mehr und mehr einsehen, vielleicht gerade der, welcher am wenigsten logisch deduzierte, denn wir waren von heute an Gefangene im großen Frankreich, dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Ueber Denken und Erwägen richtet die Metze Fortuna. – Von 5 Uhr morgens bis 10 Uhr ist eine lange Zeit für den, welcher es nicht gewohnt ist, mit der Sonne sich zu erheben, und so schienen die Stunden unendlich langsam zu vergehen.

Um 10 Uhr begann unser Sträflingsleben. Wir wurden etwa eingekleidet, der Arzt erschien, ein freundlicher, grauer Herr, der nach geruhigem Familienleben und behaglichen Mahlzeiten aussah. Der Uniformrock stand ihm schlecht. Er trat uns mit Worten wohlwollend entgegen, sonst ging er weder im positiven noch im negativen Sinne über den Nullpunkt hinaus. Die ausgestreckte Zunge wurde meist recht gut befunden und blieb maßgebend für Lungen-, Leber-, Nieren- oder sonstige Leiden. Darüber hinaus erstreckte sich die Untersuchungskunst nicht, und nachdem er unsere Zuchthausfähigkeit im allgemeinen festgestellt hatte, enteilte der Brave froh getröstet zum heimischen Frühstück. Eine Ahnung sagte uns, daß wir doch wohl länger als die Optimisten hofften, beieinander bleiben dürften, und wir beschlossen, uns zu organisieren, um allen an uns herantretenden Fragen einig entgegentreten zu können. Und das war gut, es hat uns in Château d’If eine relativ selbständige Stellung gegeben, die wir später nie mehr gekannt haben. Auf den Vorschlag der Patres wurde ich zum Präsidenten gewählt und auf meinen Vorschlag die Herren Dr. theol. Franz Beyer, der Grazer Kanzelredner, und Leutnant a. D. Kurt Schmidt aus Las Palmas als Beisitzer. Als unser Dolmetscher wurde Herr Peter Klein aus Saarburg-Lothringen gewählt, ein Herr, der aus französischer Abstammung im Herzen französisch war, dem aber meine Gefährten und ich das Zeugnis ausstellen können, daß er, solange er an unserer Seite wirkte, uns ein treuer und ehrlicher Kamerad gewesen ist. Ich betone das schon hier, weil er leider zu den ganz wenigen Ausnahmen in unseren schweren Erfahrungen gehört, die wir auf diesem Gebiet gesammelt haben. Und da ich von lobenswerten Ausnahmen spreche und unsere Leidenszeit daran so jämmerlich arm war, so will ich gleich hier unseres aufsichtführenden Sergeanten gedenken. Er war ein Mann aus einfachem Stande, von ehrlicher und vornehmer Denkungsart, von ernstem Wohlwollen gegen uns, die wir ihm unterstellt waren. Wir haben ihn als einzigen Vorgesetzten kennengelernt, den wir voll und ganz achten konnten. Ganz besonders hoch sei es ihm angerechnet, daß er deutsche Patrioten höher schätzte als deutsche Verräter und demgemäß handelte. Er ist der einzige dieser Kategorie geblieben. – Wir hatten Muße genug, unser Gefängnis von außen und innen zu betrachten, da wir zwei Stunden auf dem Platze spazierengehen durften, wo wir zugleich unsere erste Atzung: Kohlsuppe, Brot und ein Stück Wurst, erhielten. Der Hunger suggerierte uns ein köstliches Mahl, und wir äußerten uns gegenseitig sehr befriedigt über die schmackhafte Kohlsuppe. Dann ging’s in geordnetem Zuge zurück über die Brücke, zu zwei und zwei geordnet, um besser gezählt zu werden, was selten beim ersten Male ganz gelang. Die Pforte schloß sich knarrend hinter uns, und als ich sie sinnend von innen betrachtete, fiel mir zum ersten Male die große Inschrift auf dem Torbogen auf: Hotel du peuple souverain. Nun wußte ich, wo ich geborgen war. Nichts ist mir im Leben so zuwider gewesen, wie der souveräne Pöbel, von dessen Herrschaft Château d’If so prächtig Zeugnis ablegt. Dessen Zwangsgast also war ich geworden. – Wenden wir uns vom Eingang nach rechts, so stoßen wir auf ein großes Tor, welches in einen weiten und wüsten Raum führt, der uns einen geradezu unheimlichen Eindruck machte. Die Wände waren feucht und modrig, Gestank erfüllte die Luft, der Fußboden bestand aus trockenem und feuchtem Lehm, Staub, Abfällen von Lumpen und Kot. Dieser Raum erschien uns, so sehr wir unsere Ansprüche auf das Mindestmaß herabgesetzt hatten, kaum für Hunde bewohnbar.

Dieses Gefängnis sollte in kurzem Grund zu einer tragikomischen Szene geben, und Grauen sollte ihm folgen. Der innere Längsraum verlängerte sich noch zu einem Querraum, dieser stieß – verbunden durch eine Tür – an den durch Dumas berühmt gewordenen Danteschen Kerker.

Ob Dumas aus reiner Phantasie geschöpft hat, weiß ich nicht, einiges scheint wahr zu sein, oder wird heute noch geglaubt. Die Verbindung zwischen dem Kerker Edmond Dantes, des künftigen Grafen von Monte Christo, und dem des Abbé Faria durch ein ziemlich bedeutendes Mauerloch besteht noch. Wir haben sie des öfteren und genau beleuchtet. Fürwahr, genug Elend ist geschichtlich wie sagenhaft in den wenigen Räumen aufgespeichert, und man darf sich nicht wundern, wenn unseren erregten Sinnen sich manche der bleichen Gestalten belebten. Wußten wir, was Frankreich mit uns vorhatte?

Aber der obere Raum bietet der Phantasie noch größeren Spielraum, und der war uns vorläufig als Wohnraum bestimmt. Eine Treppe führt vom unteren Brunnenhof auf die obere Galerie, welche die dort befindlichen Kerkerräume verbindet. Wenden wir uns von der Treppe gleich nach links, so kommen wir zum Kerker des Abbé Peretti, welches nun unseren Priestern Wohnung bieten sollte.

Dann folgte das Zimmer der eisernen Maske, die wieder Dumas zu einem Roman gereizt hat. Die Inschrift des Nebenraumes lautet: Kerker Louis Philipps von Orleans, genannt Philipp Egalité! Dann kam die Zelle, die mir für die nächste Zeit Herberge gewähren sollte, und die wenigstens insofern bevorzugt war, als in sie, wie die Inschrift besagte, ein Glücklicher seinen Einzug gehalten hatte: In diesem Raum wurde der einbalsamierte Leichnam des Generals Kleber nach seiner Ueberführung aus Aegypten im Jahre 1806 aufgebahrt. Die Beisetzungsfeierlichkeiten haben in seiner Vaterstadt Straßburg stattgefunden. Es war das einer der angenehmsten Räume. Ein weiteres Zimmer war der Kerker des Verräters Prinzen Casimir, Bruder des Königs von Polen, Ladislaus XVII., der sich gegen Frankreich mit den Spaniern verbündete. Mir ist das Zimmer des Verräters später das behaglichste geworden, das ich in Château d’If fand, soweit von Behaglichkeit auch nur annähernd die Rede sein kann. Dem folgten die finsteren und geheimnisvolleren Räume. Es blieb noch ein letzter trostloser Raum, oder vielmehr waren es ihrer zwei, klein, abgeschlossen von allem, was Leben in dieser Ruine heißen durfte. Einer stockfinster, der andere, daran grenzend, halbfinster. Es knüpft sich auch an diesen Raum eine humoristische Erinnerung. Als wir aus unseren Zellen einige Wochen nach unserer ersten Besitznahme vertrieben waren, suchten Schmidt, Moritz, Bonitz und ich einen Raum, wo wir uns vor der Unmenge von Ungeziefer und Unrat wehren konnten, und fanden endlich diesen. Wir waren schon glücklich, ihn gemeinsam und eng geschlossen bewohnen zu dürfen, nachdem wir die nötigsten Ausbesserungen selber besorgt hatten, und baten unseren braven Sergeanten Bonel um die Erlaubnis, ihn uns anzuweisen, die er aber streng verweigerte, wohl weil höherer Befehl ihm verboten hatte, so kostbare Wohnräume an uns abzugeben. Um unsere Bescheidenheit zu beweisen, bringe ich hier die Inschrift, die über diesen beiden Dunkelräumen prangte, die uns so begehrenswert erschienen: Gefängnis der zum Tode Verurteilten. Der brave Sergeant hatte auch Humor bewahrt, denn gleich darauf überließ er uns das immerhin bessere Casimirgefängnis. Die Wendeltreppe führte weiter hinauf zum Mauggouvertturm mit flachem Dache, der einen wunderbaren Ausblick auf Marseille, Frioul und das offene Meer bot, leider aber die unangenehme Eigenschaft hatte, daß die köstlich reine Meerluft durch Abortdünste stark gefälscht wurde. Oben befand sich noch ein großer runder geschlossener Kuppelraum, in dem später neue Gefangene einquartiert wurden. Unten im Erdgeschoß war der große Ziehbrunnen, welcher uns hygienisch noch viel zu schaffen machen sollte. Weiter bot das Château noch drei große Räume, welche nicht von der Hauptpforte zugängig waren und eigene Türen nach draußen hatten: Es waren das zwei beiderseits gleichliegende und gleich große Kuppelräume im Erdgeschoß, deren einer uns bald als Hospital diente und ein dritter, der Donjon, in welchem die Hinrichtungen vollzogen wurden. Wenn nun auch durch die Freundlichkeit unseres Sergeanten schon am nächsten Tage Wandel geschaffen wurde in unserer Freiheitsbeschränkung, und unsere Lage sich in dieser Beziehung von Tag zu Tag besserte, so war doch unsere Ernährung ganz minderwertig und entsprach nicht im entferntesten dem, was wir gewohnt waren. Wir litten bald durch eine Unterernährung beträchtlich, die wir im Anfang für gering achteten, als unser Körper noch genug Widerstand bot. Wir Sisterleute waren zum größten Teil aus gesellschaftlichen Klassen, die an ein gewisses Wohlleben, und sei es in einfachsten Grenzen, gewöhnt waren. Was uns jetzt geboten war, stand in Quantität und Qualität weit unter dem, was der Körper forderte. Der täglichen Kohlsuppe wurden wir zum Speien überdrüssig, und als Zugabe immer ein Stück fetter und harter Knoblauchwurst verbesserte die Verdauung nicht. Ich fing bald an, meine Kameraden auf das eindringlichste zu warnen, ja nicht einer gewissen heroischen Energie das Wort zu sprechen, sondern sich klarzumachen, wie wichtig die Pflege des Leibes sei, und wie schwere Folgen eine Vernachlässigung haben könnte. Daß ich recht hatte, erwies sich später. So mußten wir uns Extrasachen kaufen. Zuerst den Morgenkaffee, den wir nicht geliefert bekamen, dann anderes. Aber auch mit dem Kaufen war es eine eigene Sache: wir waren von der Seite unserer Familie gerissen und hatten denen von dem knappen Gelde, das wir meist auf der Heimreise bei uns führten, geben müssen. So war unsere Barschaft gering, außer bei einigen wenigen, und wir wußten nicht, woher Geld nehmen. Es war vor allem das „Wie“ des Geldsendens, welches uns Sorge machte; dazu kam, daß kaum einer Franken bei sich führte, sondern Lire, Pesetas und Mark. Wie wechseln auf dieser Insel und bei wem? Freilich boten sich bald genug Gemütsmenschen an, die dieses Geschäft aus lauter Menschenfreundlichkeit auf sich nahmen; aber die Augen gingen uns über bei solchem Tausch, zu dem wir bald gezwungen waren.

Also unser offizielles Essen, bestand morgens um 10 Uhr aus Suppe und Brot, dazu ein Stück Wurst oder Käse, abends 4½ Uhr Suppe; das war alles. Jeden zweiten Tag ein Stückchen Fleisch dazu. Die Suppe war, wie gesagt, fast immer eine reichlich wässerige Kohlsuppe, ohne anderen Inhalt; Bohnen oder Linsen gab es nicht oft. Einer solchen Leibespflege waren wir nicht gewachsen. Nun hält der Mensch viel aus, aber nicht auf die Dauer, und wenn wir noch anfangs uns aufrechterhielten, das blieb nicht lange so. Wir mußten Wandel schaffen, und damit begann unsere Organisation. Dieses unselige System, die Verpflegung der Gefangenen an den Meistbietenden zu vermieten, wie das in Château d’If und in Frioul geschehen war, muß natürlich zum Nachteil der Gefangenen ausschlagen. Wir wurden vom Unternehmer schamlos ausgehungert und konnten ihm nachrechnen, daß er für die Beköstigung des einzelnen – der für 8 °Cts. Nahrung zu fordern hatte – höchstens die Hälfte bezahlte. Was half es uns, wenn auf dauernde Beschwerden, deren Berechtigung eine Nachprüfung ergab, der erste seines Amtes entsetzt und ein zweiter eingesetzt wurde? Zwei Tage ging es, und dann war es gerade wie vorher. Wir wandten uns also an unseren ersten Retter in der Not, eine Frau, welche die Kantine unter sich hatte, eine dicke, rundliche, freundliche und tüchtige Frau, welche mit gewisser Gutmütigkeit von nun an für uns sorgte, nie ohne reichlichen Gewinn (Wein mit 100 Proz. Aufschlag mindestens), aber doch zu unserer Zufriedenheit. Wir sind später weit mehr und in weniger freundlicher Art geschröpft worden. Die gute Frau hatte auch einige, die sie besonders bevorzugte, zu denen ich mich rechnete. Sie gab mir stets den Ehrentitel „monsieur le président“, und es gelang mir bald, in meinem kümmerlichsten Französisch mich mit ihr zu verständigen. So richteten wir denn ein tägliches Extragericht ein, das etwa 30–4 °Cts. pro Teller kostete und auf Vorbestellung hin ausgehändigt wurde. Es handelte sich um einfache und nahrhafte Gerichte, und da die Frau außerdem für gute Schinkenstullen, Käse und Eier sorgte, so war der augenblicklichen Not einigermaßen gesteuert. Leider waren unter uns einige, die die Not zwang, sich alle Extrakost zu versagen. Denen zu helfen, fanden wir allmählich Wege. Schlimmer bestellt war es um andere, welche ihrer Widerstandsfähigkeit zu viel zutrauten, denen war nicht zu helfen. Aber die meisten kehrten bald von selber geängstigt um, bei zweien war es zu spät gewesen.

Da die Geldfrage prekär war, so wurde es auch den meisten unmöglich gemacht, sich ein einigermaßen annehmbares Lager zu verschaffen. Geliefert wurden uns nur Strohmatratzen, und zwar in unserem Zimmer 4 für 11 Mann. Sie wurden zusammengelegt, und nun hatte jeder selber dafür zu sorgen, daß er sich zwischen eng zusammengekeilte menschliche Körper einzwängte. In unserem Zimmer – man verzeihe es einer kindlichen Gewohnheit aus früheren Zeiten, wenn ich Räume, die uns zwangsweise als Wohn- und Schlafräume zugewiesen wurden, euphemistisch mit dem Worte Zimmer bezeichne, derlei sprachliche Ungezogenheiten laufen dem Neuling so leicht durch, der sich noch nicht zum Verbrecherjargon durchgearbeitet hat – also in unserem Zimmer gab es einige Begüterte, welche sich den Luxus eigener Matratzen schon in den ersten Tagen gönnten. Dadurch wurde uns anderen der relative Luxus zuteil, daß wir das übriggebliebene Material in Anspruch nehmen und uns zu zweit auf einer Matratze breitmachen durften. Decken, Kissen usw. erhielten wir als durchaus entbehrlich nicht und suchten aus den Koffern vorerst das notwendige Ersatzmaterial. Mein Freund Bonitz aus Málaga und ich einigten uns nun zu ständigem gemeinsamen Besitze einer Matratze, die wir später, als unsere Finanzen stiegen, durch eine ganz neue eigene ersetzten. Auf dieser einen Matratze haben wir beide fünf Monate lang geschlafen und uns so aneinandergewöhnt, daß wir eine körperliche Beschränkung kaum mehr empfanden. Ich entsinne mich nicht eines Streites, den wir wegen Raummangels gehabt hätten. Wir waren bescheiden geworden, und andere Sorgen quälten uns weit einschneidender bald so schwer, daß Bequemlichkeit nicht mehr gegen seelische Leiden in Frage trat. Unsere Unterkunft entsprach auch sonst nicht dem „Ganz-wie-zu-Hause“, das merkten wir an den von nun an ständigen Begleitern, die in veränderter Gestalt grimmige Gewalt übten, und die wir schon nicht mehr entbehrten, wenn sie gleich kalt und frech uns selbst verhöhnten. Hier in Château d’If traten sie vorwiegend in Gestalt der Skorpione und Flöhe auf. Die letzteren behandelten wir von Anfang an mit souveräner Verachtung, den ersteren hatten wir mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, etwa täglich wurde Jagd auf sie gemacht und täglich einige Exemplare gefunden. Sie dienten auch zur Beschäftigung der schwindligen Gemüter. Wie oft haben wir sie zu dem sagenhaften Skorpionenselbstmord in Feuerumzingelung treiben wollen. Gelungen ist es uns nie. – Von uns hat auch keiner Selbstmord begangen! —

So verteilten wir mit dem Sergeanten Bonel die verschiedenen Räume. Er überließ uns derartige Bestimmungen bald allein, da er sah, daß unsere Selbstverwaltung sehr gut funktionierte. Der zweite Punkt, auf den wir unser Augenmerk richteten, war die Hygiene des Körpers. Zuerst die Wasserfrage. Ein tiefer Ziehbrunnen stand in der Mitte des Kastellhofes. Es wurde uns zwar von dem Arzt versichert, das Wasser sei gut, aber wir sind doch recht vorsichtig damit gewesen, besonders, da uns einmal der furchtbare Verdacht aufstieg, der sich glücklicherweise als grundlos herausstellte, die Bedürfnisanstalten des oberen Stockes hätten in ihrem Abfluß auch einen Weg zum Brunnen gefunden. Um aber einer Verunreinigung des Brunnens durch falschen Gebrauch vorzubeugen, wurden strenge Weisungen gegeben, und eine Wache hatte den Wasserausschank nach ärztlicher Verordnung zu überwachen. So entstanden die ersten Gesetze in unserer Republik Château d’If, auf die ich sämtliche Mitgefangene durch Handschlag feierlich verpflichtete.

Da alles im Leben Geld kostet, auch Reinlichkeit und Ordnung, und da kein Staat ohne Finanzen regiert werden kann, so wurde eine Sammlung veranstaltet, die über 100 Fr. ergab, und Schmidt stieg auf zum Finanzminister. Das Geld hat sich stetig durch neue Spenden vermehrt und ist später sehr segensreich geworden. Die Körperreinlichkeit wurde dadurch ermöglicht, daß das Waschen im Freien und in Gruppen zu sechs Mann eingerichtet wurde. Die Erlaubnis zum Baden im Meere bekamen wir leider damals nicht. Ein anderes Erfordernis trat an uns, die Gedanken aus dem täglich sich mehrenden Elend auf etwas Besseres abzulenken. So begannen wir, uns abends auf der Galerie zu vereinen, sangen zuerst einige Volkslieder und hielten bald auch Vorträge. Einer der eifrigsten Förderer solcher Bestrebungen war Dr. Beyer, der mit seiner klangvollen Stimme uns Loewesche Balladen und Arien oft weihevoll vortrug. Er hat auch später durch seine Predigten und Ansprachen sich große Verdienste um uns erworben, und manch einen, auch mich, verband bald eine herzliche Freundschaft mit ihm, die, so schwerer Leidenszeit entsprungen, hoffentlich desto fester hält. Ich werde den tief sentimentalen Eindruck nicht vergessen, den solche Abende auf uns machten. Es war die Zeit des Vollmondes, und wenn der in das kahle Gemäuer unheimlich strahlte, und wir Gefangenen unter französischen Bajonetten mit halb unterdrückter Stimme heimatliche Lieder sangen, so trieb die Wehmut manch einem von uns die Tränen in die Augen. Ich habe nie in so stimmungsvoller Umgebung Bürgers „Leonore“ und Goethes „Totentanz“ vorgetragen, und eigenartig paßte es auch in die Umgebung, als Schmidt und ich dort die ersten Akte „Faust“ rezitierten. Bei schlechtem Wetter hatten wir den Hintersaal „Eiserne Mark“ für Vorträge und für den Gottesdienst eingerichtet und denken gern der herzlichen Worte, die zu uns, gleichviel welchen Glaubens, von katholischen Geistlichen Sonntags gesprochen wurden.

Doch auch die Lust an Vorträgen und Unterhaltungen ließ bald nach, als ein Gespenst, zuerst in unseren Reihen kaum merkbar, dann aber mehr und mehr sichtbar, sich eingeschlichen hatte, das wir nie mehr ganz von uns abschütteln sollten, das Gespenst des Kleinmuts, der Verzweiflung. Wie manchen von uns hat es die ganze Zeit der Gefangenschaft so fest umkrallt gehalten, daß er die Folgen bis an sein Ende spüren wird! Gepackt hat es jeden von uns, und jeder von uns hat eine Zeit durchgemacht, da er wie ein Schwerkranker sich von der Gesellschaft ausschloß und den bittersten Gedanken nachgrübelte. Ich weiß von manch einem, und es war durchaus nicht immer ein Weichling, der sich nachts die Decke über den Kopf zog und bitterlich weinte. Das war nicht Schwäche, das war Scham vor sich selber. In Château d’If waren es noch wenige, in Frioul mehrte sich die Zahl, und in Casabianda griff die geistige Ansteckung erschreckend um sich, und in jener Zeit, da wir unsere Kameraden an Dysenterie und Typhus verloren, da die Fluchtversuche mißglückten und auf das härteste bestraft wurden, hatte das Gespenst gewonnenes Spiel. Nur langsam richtete den einen oder den anderen wieder der kategorische Imperativ auf: Du darfst nicht in Feindesland kläglich erliegen! – Daß keiner von uns durch Selbstmord fiel, betrachte ich noch heute als große Genugtuung. Wie nahe hat manch einer von uns vor solcher Lösung gestanden. Was diesen Kleinmut erhöhte, war die ewige Sehnsucht nach Freiheit, die täglich wiederkehrende Hoffnung, sie stünde uns nahe bevor, und die täglich wiederkehrende Enttäuschung. Wer von uns gedenkt nicht der Sistermontage, der festen Hoffnungen, die sich an das montägliche Wiedererscheinen dieses verdammten Fahrzeuges geknüpft hatten. Es war wie eine fixe Idee in uns, die Sister, die uns so heimtückisch ins Gefängnis geführt, müsse uns die Freiheit wiederbringen. Und unsere braven Kommissäre, denen wir trotz ihrer Verlogenheit immer wieder trauten, bestärkten uns hämisch in diesem Glauben. Wie oft mögen sich die Braven ins Fäustchen gelacht haben, wenn sie uns wieder einmal zum Narren gehalten hatten! – Ich darf mich wohl zu denen rechnen, die eigene Energie aufrechterhalten hat, wenngleich ich die Tage und Stunden der Verzweiflung durchmachte, wie jeder von uns, der etwas zu verlieren und etwas zu wünschen hatte. Als die Aussicht, freizukommen, immer weiter entschwand, entschloß ich mich, den Franzosen meine ärztlichen Dienste anzubieten, wenn sie mich in ein Lager schicken wollten, in welchem ich verwundete Deutsche behandeln könnte. Ich war naiv genug, zu glauben, daß mir die Bitte erfüllt werden könnte. Mein Gesuch wurde aber zweimal abgeschlagen und mir bedeutet, daß es ganz aussichtslos sei, wenn ich ein offizielles Gesuch an das Kriegsministerium richten würde. Es wären auch zu viele Bedingungen, die ich absolut stellen mußte, ein Hindernis gewesen. Doch hat meine an Ereignissen so reiche Gefangenschaft auch eine Periode gekannt, die mich offiziell zum Medizinmajor in Vertretung beförderte, die freilich, wie ich später berichten werde, mit traurigem Eklat endete.

Auch an den Ratsversammlungen, die fast täglich auf der Galerie abgehalten wurden, war es mehr und mehr erkennbar, wie eine gewisse Hast und Nervosität sich vieler bemächtigte. Es wurden Anträge auf Anträge gestellt, bei der französischen Regierung, bei der spanischen und deutschen, bei der amerikanischen Botschaft vorstellig zu werden wegen unserer ungerechten Gefangensetzung, das und das zu fordern für bessere Behandlung usw.; besonders war es wieder das Tribunalzimmer, das die äußerste Linke bildete. Ich war durchaus gegen solche Schritte und mit mir meine Kollegen vom Vorsitz. Noch in späteren Tagen ist mir der Vorwurf gemacht worden, daß ich durch starke Ablehnung solcher Vorschläge vielleicht eine frühere Freilassung verhindert hätte. Die Zeitenfolge hat bewiesen, daß dieser Vorwurf ungerechtfertigt war. Eingaben an alle Regierungen, die etwa tagtäglich gemacht wurden, führten zu nichts, als zu ewigen Enttäuschungen, welche die Nervosität zum Unerträglichen steigerten.

Mit dem Tribunal schloß ich an einem feierlichen Tage Frieden, es war der 2. September, den wir in diesem Zimmer im kleinen Kreise und so heimlich als möglich feierten. Und doch war diese Feier, so primitiv sie war, von unvergeßlicher Weihe. Ich sprach in kurzen Worten von der Bedeutung dieses Tages und dem wehmütig-zaghaften Gefühl, mit dem wir hinter Schloß und Riegel unserer Helden von damals und unserer Helden von heute gedächten. Dann sprach noch Dr. Beyer herzliche Worte für mich, und es wurden mit leiser Stimme patriotische Lieder gesungen. Erst um 9½ Uhr trennten sich die nächtlichen Schwärmer. Eine Pfirsichbowle, die wohlpräpariert war, hatte wesentlich zur Hebung der Stimmung beigetragen. So seltsam habe ich den 2. September nie begangen.

Bald darauf begann ein neuer Einzug der Gäste in unsere Burg. Es waren das Offiziere und Mannschaften der „Elsa Köppen“ und einiger anderer Schiffe. Die „Elsa Köppen“ war in Nizza angehalten und ihre Mannschaft gefangengenommen, ehe noch der Krieg ausgebrochen war. Das nahm uns nicht wunder; derlei waren und wurden wir immer wieder von neuem gewöhnt. Es waren 34 Mann, darunter der Kapitän und mehrere Offiziere. Sie waren teilweise scharf zugerichtet und erzählten von ähnlichem Empfang durch die französische Damenwelt, wie er etwa den meisten zuteil geworden ist, und den wir erst später genauer kennenlernen sollten. Wir begrüßten die Herren und räumten ihnen mit Einverständnis des Sergeanten Bonel als vorläufige Unterkunft den Festsaal ein. Die Offiziere wurden in einzelne Zimmer verteilt, der Kapitän William ins Tribunal, der Erste Offizier Heinrich zu uns. Am nächsten Tage gab es Revolution im revolutionären Zimmer: der neue Ankömmling schnarchte so, daß die festesten Mauern der Ruine ins Wanken gerieten. Es gibt Charaktersünden des Menschen, die beim Kriegsgefangenen zur Todsünde werden; dazu gehört das Schnarchen. Der Kapitän selbst verstand die Aufregung der Masse durchaus nicht und erklärte am nächsten Morgen mit Seelenruhe, daß er selten so gut geschlafen habe. Er ließ sich auch später nie durch die Nervosität der anderen aus so gleichmäßiger Ruhe bringen. Uebrigens liegt es mir fern, dem Herrn etwas Böses nachsagen zu wollen; er hat mir im Winter durch einen prachtvollen dicken Wintermantel und Kopfkissen die kalten Nächte erträglich gemacht. Auch wurde gegen etwaiges Weitertragen der Krankheit dem Herrn Kapitän mit drei anderen Herren, die rücksichtslos demselben Laster frönten, ein Extracachot in Château d’If angewiesen, dessen Akustik minderwertig war. Diese 34 reihten sich uns an, und wenn wir 72 Gefangene der Sister als Sisterleute von nun an eine eigene Gruppe bildeten, so erweiterte sich diese mit den 34 Matrosen zu den Château d’Ifern. Zu uns gesellten sich dann noch der alte Herr Müller und Herr Weißschedel, deren Schriftstücke mit der Versicherung ungehinderter Fahrt ich anfangs in Kopie wiedergab. Der eine von ihnen war ein Greis, der andere schwer krank; aber doch hielt sie Frankreichs Starrsinn und Unberechenbarkeit als mobilisable Gefangene.

Und noch eines muß ich gedenken, der in unsere Gruppe aufgenommen wurde. Den darf ich nicht mit drei Worten abspeisen; er bot uns lange Unterhaltungsstoff und war ein Gradmesser für unsere erregten Nerven. Es war an einem Dienstag. Wir schrieben den 9. September. Hinter uns lagen die üblichen Sonntagsbesuche, die meist aus Damen bestanden, welchen wir als „boches“, also als besondere Spezies von Menagerietieren, gezeigt wurden. Der Montag hatte uns mit dem Einfahren der Sister die üblichen Hoffnungen, mit ihrer Ausfahrt die übliche Enttäuschung, der Dienstag den Katzenjammer gebracht. Unsere Stimmung war die denkbar schlechteste und gefährlich für Kombinationen. Noch dazu hatte am Nachmittag einer der Herren tschechischen Geistes, der uns als besonders gewaltiger Redner gepriesen war, eine herzlich öde Rede über den Marienkultus gehalten, kurz, wir waren reif zur Aufnahme einer Sensation. Die ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie erschien – das war an und für sich durchaus nichts Besonderes – in Gestalt eines neuen Gefangenen. Aber die Begleitumstände! Die bekannte Treppe hinauf durch das Tor schritt ein Jüngling von etwa 24 Jahren, französische Soldaten – ja, das war es! – trugen ihm Koffer, Matratzen, Kissen und Decken nach; er lohnte sie ab und entließ sie.

Was das sagen will, versteht nur der, welcher je Sträfling gewesen ist. Ich will darauf nicht weiter eingehen, weil ich vielleicht nicht genug Sachverständige fände, die unser Entsetzen voll würdigten. Wer war der Jüngling, der wie ein verkappter Fürst, von französischen Soldaten bedient, hier einzog, wohin wir noch vor kurzem, begleitet und bedroht von französischen Bajonetten, unser Gepäck im Schweiße unseres Angesichts heraufgeschleppt hatten? Wer war der Knabe, der mit einer, nach unserer heutigen Anschauung, kompletten Schlafzimmereinrichtung hier eintraf? Sein Aussehen war kaum deutsch, eher französisch.

Während die Besonnenen unter uns sich scheu und vorsichtig zurückhielten, duldeten einige der Jüngeren seine Annäherung. Er sprach fließend Französisch, Deutsch und Spanisch, nannte einen deutschen Namen, „Silberger“; aber das kann schließlich jeder. Die Neugier überwog, und auch wir lauschten schließlich dem krausen Zeug, das der Ankömmling, sich überstürzend, im Anblick der erstaunten gläubigen Gemeinde vortrug. Mir ist nicht alles im Gedächtnis geblieben; aber wenn ich es heute rekapitulieren soll, war es etwa so: Die Russen waren in Eilmärschen bis dicht vor Danzig gelangt (da wohnt mein Bruder), nachdem sie Königsberg (da habe ich viele Onkel und Tanten) in zwei Tagen erledigt hatten, wurden von der russischen Flotte in der Zerstörung Danzigs unterstützt (armer Artur!), die inzwischen wohl schon Faktum geworden sei. Die Deutschen waren vor Paris (also doch!). Stettin wurde beschossen (da wohnt meine Mutter). Der Kurs der Mark war zu 60 für Franken usw. Er, der Träger dieser Nachrichten, war auf irgendeinem Ueberseeschiffe mit Franzosen zusammen gereist, hatte sich für deutschen Deserteur ausgegeben und sei gezwungen worden, die Marseillaise zu singen. Er unterrichtete uns schnell und legendär. Bald ging ein Raunen durch unsere Reihen, hier lauert Verrat! Wer ist der gesprächige Jüngling, und welchen Zweck verfolgt er? Und immer lauter wird die Frage: Gebet acht! – Und man gab acht, und es offenbarte sich immer mehr, was wir längst erwartet: Der Ankömmling, der so fürstlich ausgestattet zu uns kam, der in Marseille allein in einem Hotel gewohnt hatte, war ein von der französischen Regierung für uns bestellter Spitzel! Nun war es heraus und nicht mehr zu bannen. – Die Nervosität trieb wunderliche Blüten, und das mehrte sich, als er sich mir vorstellte, mich fragte, ob ich Arzt sei, und ob ich so freundlich sein wollte, ihn zu untersuchen, da er an einem schlimmen Fuße litte. Ich tat das auch ganz ruhig und stellte eine allgemeine Schlaffheit der Gelenkbänder fest. Damals stieg in mir noch nicht der fürchterliche Verdacht auf wie in den anderen. Bald wurde ich meines Leichtsinns wegen gescholten und schwer gewarnt: Durch die Kantinenwirtin, die es einem andern unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitgeteilt hatte, war es herausgekommen, daß die französische Regierung auf einen aktiven deutschen General mit falschem Paß fahnde, und der befände sich in unseren Reihen. Auf zwei fiel der stärkste Verdacht, auf Moritz und mich. Bei Moritz war die Feststellung nicht so einfach. Wenn auch sein Aussehen durchaus dem eines Generals entsprach, so war es doch schwer, ihm Gespräche zu entlocken, die ihn bloßstellten. Bei mir war es schon leichter; ich war nicht so vorsichtig und hatte mich außerdem als Arzt ausgegeben, und es brauchte nur festgestellt zu werden, ob ich wirklich Arzt sei. Daher die Konsultation. So kam etwas Spannendes in die Oede des Alltags, und die scharfen Beobachtungen, die wir dem Jüngling von nun an gönnten, wirkten als Nervenreiz. Ich hielt mich ganz frei von der allgemeinen Spitzelkrankheit, und alle Warnungen, auch die ängstlichsten, prallten ab. Schmidt und ich sahen uns den Herrn im Gegenteil zuerst von der nüchternen, praktischen Seite an und entlockten ihm für die allgemeine Kasse nicht nur reichlichen Beitrag, sondern auch Zigaretten usw., die wir zum allgemeinen Besten verauktionierten. Aber die Gespensterfurcht war nicht mehr zu bannen. Einen Moment ergriff mich selber der Wahn, als ich sah, wie sich der eine Kommissär dem Herrn näherte und ihm zuflüsterte: „Nun, sind Sie gut untergekommen?“ Auf meine Frage an Herrn S. erklärte dieser, daß er den Kommissär von früher her kenne. Das war wohl möglich und einfach. Das Einfachste aber glaubten wir natürlich am wenigsten. So wurde der Arme längere Zeit ängstlich gemieden, bis sich der Bann löste.

Er hat unsere Gefangenschaft redlich geteilt, und da er durch die Kenntnis der französischen Sprache oft zum Vermittler gewählt wurde, so bot sich ihm auch Gelegenheit, sich den Gefangenen nützlich zu erweisen; und die hat er ergriffen und sich immer unzweideutig auf unsere Seite gestellt, was man leider nicht von allen sagen konnte, die des Französischen mächtig waren.

Das gute Klima und der Ueberschuß an Gesundheit, den wir alle mitbrachten, verhinderte noch damals das Auftreten von Epidemien, wie sie bald in Frioul und später in besonderer Schärfe in Casabianda uns bedrohten. Immerhin gab es Kranke genug. Dr. Heller und ich teilten uns in die Behandlung. Die französischen Aerzte taten nichts für uns. Von dem einen habe ich schon gesprochen; der andere war ein ganz schneidiger Bursche. Um seine tiefwissenschaftliche Art zu kennzeichnen, will ich kurz von seiner ärztlichen Tätigkeit berichten. Die erste Meinung, welche der Menschenfreund äußerte, war, die Brunnen sollten geschlossen werden. Er hielt den Ausschank von Wasser an die „boches“ durchaus für Luxus. Dann schlug er einem im Vorübergehen die Mütze vom Kopf, sagte einem anderen, welcher um die Bewilligung von Decken für die Gefangenen bat, daß Decken für solche Banditen überflüssig seien. Er fand das Essen als Völlerei und schritt nach solchen Vorbereitungen zur ärztlichen Untersuchung. Wie immer gab es einige Harmlose, die ihn wirklich konsultierten. Den ersten, einen alten Herrn mit Blasenkatarrh, fuhr er an: „Sie sind ein Schwein“; dann ertönte sein Kommando: Die Zunge herausstrecken! Aus dem Befund diagnostizierte er mit tödlicher Sicherheit, daß ein Blasenleiden nicht vorliege. Von nun an nahm er sich nicht so ausgedehnte Zeit zu weiterer Untersuchung. Die Patienten mußten schon mit ausgestreckter Zunge herantreten, und da diese meist reinlich war und keine Zeichen von Ueberfütterung des Magens aufwies, so trieb er schnell seine Opfer davon und strich sie aus den Listen der Kranken. Damals stand noch nicht Gefängnis auf solcher Krankmeldung, wie später; aber verdient hätten sie es. So schlug der Herr im Gebiete der Schnelluntersuchung wohl den äußersten Rekord. Ich sah dem tüchtigen Kollegen von der Galerie aus bewundernd zu, und als ich mich auf einen Augenblick in das Zimmer verfügte und wieder heraustrat, war die Diagnose bei zwölf Kranken gestellt. Zu einigen Krätzekranken sagte er: „Ihr seid Wilhelms Söhne!“ Ich habe unter den französischen Aerzten in unserem Lager die besten und die schlechtesten kennengelernt; auch ein Ungeheuer war unter ihnen, dem ich später noch ganze Kapitel widmen muß und das die französische Regierung gern zu den Geisteskranken geworfen hätte. Als später noch Dr. Vosselmann in unser Lager kam, traten wir zu dritt in die Organisation der Krankenbehandlung ein. Sergeant Bonel hatte uns drei Aerzten das Casimirzimmer eingeräumt und den größeren, etwas dunklen Kuppelraum außerhalb des Gefängnisses als Hospital sowie einen kleinen Schuppen am Meere als Infektionsstation übergeben. Das war sehr dankenswert von unserem braven Sergeanten, und da er uns Aerzten noch laissez-passer ausstellte, die Erlaubnis, uns zu jeder Zeit frei auf der Insel zu bewegen, so wurde unsere Lage recht erträglich. Ich bin in den letzten Besprechungen schon der Zeit vorausgeeilt und wende mich zurück zum Tage neuer Einquartierung.

Am 10. September erfuhren wir, daß wir am Abend den Einzug von 130 neuen Gästen zu erwarten hätten. Wir sahen Kommissäre und Offiziere geschäftig hin und her wandern, alle Räume durchstöbern, um zu erkunden, wo ihre Unterbringung möglich wäre. Selbst das Prison des condamnés politiques wurde einer eingehenden, langdauernden Untersuchung unterzogen. Ich habe dieses im Anfang des genaueren geschildert. Kot und Abfälle lagen dort herum; der Raum war dunkel und stank nach Urin und verschimmelten und verdorrten Kadaverteilen. Der Boden war aufgewühlt, staubig, lehmig; jede Berührung des Bodens trieb den bazillengeschwängerten Staub in die Höhe. Daß dort Menschen untergebracht werden sollten, war ja ganz undenkbar. Ein Schweinestall, der monatelang nicht ausgemistet war, erschien palastartig gegen diesen Raum.

Nachmittags hielten wir auf der Galerie Versammlung ab über eventuelle Maßnahmen für den Empfang der neuen Ankömmlinge. Und nun ereignete sich etwas, was in seiner Tragikomik allen unvergeßlich bleiben wird. Es trat als Redner auf Herr Julius Meyer, welcher auch sonst zündend und reichlich lange zu sprechen pflegte. Dieser setzte uns in bewegten Worten auseinander, daß aus den Besichtigungen der unteren Räume, die nun einige Tage hintereinander sich wiederholt hätten, erleuchte, daß diese Räume den Erwarteten als Unterkunft angewiesen werden sollten. Im Namen der Humanität wende er sich gegen die Möglichkeit solcher Maßnahmen. Die Aerzte müßten zugeben, daß ein Wohnen in solchen Räumen Todesgefahr berge (wir gaben das unbedingt zu); im Namen der Humanität fordere er von den beiden Aerzten, daß sie sofort vorstellig würden, dergleichen Ungeheuerlichkeiten zu vermeiden. Im Namen der Humanität fordere er von uns allen, daß wir zusammenstehen, und im Falle, daß die französische Regierung wirklich derart Gefangene unterbringen wollte, auch zusammenrückten und die armen Opfer in unseren Zimmern aufnähmen, und ob wir gleich wie die Heringe zusammengepreßt würden. Im Namen der Humanität. Dixi!

Die Rede war schwung- und wirkungsvoll und verfehlte nicht tiefsten Eindruck. Armer Julius Meyer! Es kommt manchmal so ganz anders, und das Tragische liegt so nahe beim Komischen. Die Wirkung, die die Rede gehabt und die sicher die Bewilligung der geforderten Opfer zur Folge gehabt hätte, wurde zunichte durch den lakonischen Befehl, welcher von draußen zu uns drang: Sämtliche Deutsche haben sofort die oberen Zimmer zu räumen und ziehen in das Prison des condamnés politiques! Die Ankömmlinge übernehmen die oberen Zimmer. – Schluß!

Armer Julius Meyer, wo blieb die Humanität, die dich also beseelte bei den Neuangekommenen?

Und wer den bittersten Schaden hat, soll noch den Spott dazu in Kauf nehmen, das ist harte Bedingung. Den Namen „Humanitätsmeyer“ bist du nie losgeworden, und für uns wirst du ihn bis an dein seliges Ende tragen. Aber doch hast du es gutgemeint.

Also das war der Anfang!

Unsere tüchtigen Seeleute griffen nun ein. Wir erhielten vom Sergeanten Erlaubnis zur gründlichsten Reinigung des Todesraumes. Er versicherte uns mehrfach, wie peinlich ihm die Ausführung des Befehls, der von oben kam, geworden sei. Es wurde tüchtig gearbeitet, alles nach draußen getrieben, während drinnen die Ausräumung des Augiasstalles unternommen wurde. In Haufen wurde der Dreck in den Graben geworfen, der das Kastell umgab. Die Skorpione wurden an einzelne Liebhaber verschenkt; dann wurde gescheuert und gewaschen, bis es schien, daß der Raum bewohnbar sei. Aber unser bemächtigte sich eine tiefe Depression. Wenn das möglich war, wie werden wir Epidemien auf die Dauer fernhalten? Der Sergeant hat uns auch hier geholfen. Er nahm erst einige, dann andere aus dem furchtbaren Raum, erst uns Aerzte, dann die Priester, und später belegte er mehr und mehr den oberen Turmraum. Er hat mir noch einmal wiederholt, wie schwer es ihm geworden sei, dem Befehle zu gehorchen, da er uns höher einschätzte. Es ist das ungefähr das einzige Mal gewesen, daß wir solche Meinung von einem Franzosen gehört haben.

Unsere Gefangenschaft in Château d’If nahte mehr und mehr ihrem Ende, und nur weniges ist noch von ihr zu berichten. – Ich wurde eines Tages zu den Kommissären gerufen. Man bedeutete mir, daß ein großer Korb mit Damenkleidern noch im Lager sei, und man vermeinte, es sei der meinige. Zu meinem Schrecken mußte ich das zugeben. Meine arme Frau wird schön in Verlegenheit gekommen sein! Da sie im letzten Augenblick noch einige Sachen aus dem Reisekorb für mich herausgegeben hatte, war dieser zum Schluß auf dem Ponton geblieben. Mein Entsetzen wurde indes falsch gedeutet, und da ich auf die Frage, wem die Kleider gehörten, antwortete, „meiner Frau und Tochter“, stellte man immer verfänglichere Fragen, ob meine Frau kleiner sei als ich usw. Ich war harmlos genug, immer noch nicht darauf zu verfallen, in welch fürchterlichem Verdacht ich stände, bis der Kommissär mich aufklärte, ob ich denn nicht begriffe, daß ich dadurch in den Verdacht käme, in Frauenkleidern spioniert zu haben. Nein, daran hatte ich nicht gedacht. – Ich weiß von vielen, die um Geringeres an die Wand gestellt wurden. Gut, daß die Kleider mir durchaus nicht paßten. So entging ich meinem Schicksal und trug meiner Frau Kleider auch weiterhin mit uns. Aus verschiedenen Gründen riskierte ich es nicht, sie nach Hause zu schicken.

Das Baden im Meere war uns in letzter Zeit erlaubt, aber das Wetter, das sonst unser einziger guter Freund gewesen war, ließ uns nur einige Male zum vollen Genuß kommen. Immer lauter wurde gemurmelt, daß unsere Tage in Château d’If gezählt seien, und unsere Freude, daß die Freiheit winke, wurde zu ausgelassenem Jubel, als wir eines Tages herausgerufen wurden, der Kommissär uns antreten ließ und mitteilte, daß beide Regierungen einen Austausch der Zivilgefangenen beschlossen hätten, und daß die Sisterleute zuerst in Frage kämen. Dann stellte er an jeden einzeln die Frage, ob er zum Austausch bereit sei, die jeder einzeln, fast schreiend, mit „ja“ beantwortete. Dann waren wir entlassen. Wie die Kinder oder wie die Trunkenen gebärdeten wir uns in unserem Jubel. Ich stürmte herauf, Moritz, der sich krank fühlte und sich hingelegt hatte, die Nachricht zu bringen; aber Bonitz war mir schon zuvorgekommen, und Moritz war im Augenblick gesund. Wir vereinigten uns im Saale der Matrosen, da verteilten wir unsere Kasse, sammelten für die Hinterbliebenen, Rede und Gegenrede wurde gehalten, über all das, was wir gemeinsam und einzeln uns angeschafft, wurde verfügt, Abschied wurde genommen; denn schon drang durch den Kantinenwirt ein neues Gerücht zu uns, daß wir noch heute nacht abgeholt werden sollten, um an die Schweizer Grenze befördert zu werden. Aber die Nacht verging, die viele wachend zugebracht haben, und noch manche Nacht, bis endlich der Tag erschien, da das Gerücht deutlichere Fassung annahm, es geht wirklich fort. Die Kantinenwirtin besorgte sich schon keinen Vorrat mehr, und unsere Koffer standen auf höheren Befehl gepackt. Der Kommissär kam eines Tages, und da wir in unsere Becher die Tage unseres Aufenthaltes in Château d’If eingeschnitzt hatten, fragte er, welchen wir denn als Abschiedstag gesetzt hätten. Wir sahen ihn fragend an, und er erwiderte: „Schreiben Sie getrost den heutigen Tag!“ Nun brach der Jubel von neuem los. So schändlich würde der Mann nicht an uns handeln und unser in dieser Lage spotten! Wir hätten ihm nicht trauen sollen. – Mein Panamahut war am Tage vorher bei kolossalem Sturm von oben aus ins Meer getrieben, und da ich seinen Verlust am nächsten Tage beklagte, trat „mit fröhlichem Gesichte ein Fischer“ vor mich hin und gab ihn mir wieder. Ein Aberglauben hatte manchen von uns stutzig gemacht, und ich stehe nicht an, heute zu bekennen, daß ich als aufgeklärter Mann jedem, auch finsterstem und albernstem Aberglauben mehr traue als dem Wort eines Franzosen. Wir haben darin noch bessere Erfahrungen gemacht.

Der Mann hat zweimal unser gespottet, hier und später in Frioul, und es mit herzlichstem Behagen getan.

Das Schiff kam wirklich, uns fortzuführen, aber nicht in den Hafen von Marseille, sondern am Nachmittag des 20. September in unseren zweiten Kerker nach Frioul.

J’accuse

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