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Wegbeschreibung
ОглавлениеEs war kalt. Und dunkel. Die Hand, mit jener Sicherheit ausgestatttet, die uns im Schlaf über Dächer gehen läßt, die Hand griff nach rechts, fand den Schalter; die Lampe gab ein warmes und milchiges Licht, weich und rosa, das aber den Flur nicht ganz erhellte und ihn zu einer Art Höhle mit halbdunklen Ecken machte.
Wie immer in solchen Nächten empfand er sein Eingesperrtsein in diese Wohnung, in seine Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten ganz besonders intensiv, bedrückend und schmerzhaft, es war tatsächlich so etwas wie ein körperlicher Schmerz, diese Sehnsucht nach Landschaft, klarer Luft und einem Sehen, das nicht sofort an einer Häuserwand kleben bleibt, sodaß in einer fast dunklen Küche das Bedürfnis danach hergestellt wird, aus dem Mangel an Raum und Licht heraus. Wie immer machte ihn der Wein wacher und hellsichtiger, er registrierte, wie sein Geist unruhig hin und her ging, schon wanderte, während sein Körper noch hier auf diesem Küchenstuhl saß, nachts um halb drei oder vier Uhr, je nachdem, wie lange er nicht auf die Küchenuhr an der Wand links geschaut hatte, er würde morgen in einer Art Nebel herumlaufen, aber das war nicht wichtig, nichts von dem, was hier und jetzt passierte, war wichtig, er fühlte sich verantwortungslos und gelangweilt.
Es wurde Zeit, daß er aufbrach.
Schwer fiel er in einen unordentlichen Schlaf mit Traumfetzen, die ihn verstörten, noch im Traum, er wachte auf von einem Schrei und horchte beklommen nach draußen, aber da war nichts. Es war sein eigener Schrei gewesen. Und draußen war es jetzt hell. Aber es war kein Licht, sondern eine fahle Winterhelligkeit, trüb und diesig - Nebelfetzen zwischen trüben Straßenlaternen -
- aber wie klar und hell und erbarmungslos das Licht über Feldern im August, Sonnenblumenfelder, Mohnblumenrausch; oder über der Ägäis, das überwältigende Licht des Südens, harte Schatten, schwere Hitze im Mittag und Geruch nach Nadelhölzern, Pinien oder Kiefern, wildem Salbei und Thymian, trockener Duft und der Geschmack von geharztem Wein auf der Zunge, und die Hitze, und geschlossene Jalousien, und das Licht und die Hitze, das Licht, vor allem das Licht, daran zu denken jetzt! in dieser nördlichen Dezembertrostlosigkeit.
Es war die letzte Vorlesung vor Weihnachten gewesen und wie immer an diesem Tag wich er ab von der vorgegebenen Themenfolge des Vorlesungsplans und las, dafür war er inzwischen bekannt, über ein mit der Semestervorlesung oft nur am Rande oder gar nicht zusammenhängendes Thema über etwas, was ihn gerade interessierte. Im Laufe der Jahre hatte er über die Jungfrauengeburt in den verschiedenen Hochreligionen, über Auferstehungsmythen seit dem Neolithikum, die Heilige Zahl Drei, den Hieros gamos, über Urschuld und Vatermord, die Zerstückelung von männlichen Göttern und die Entmannung ihrer Anhänger, oder auch über Bärenopfer in der Altsteinzeit vorgetragen. Das Besondere daran war das Spekulative, mit dem er einen Stoff darbot, der normalerweise niemanden außerhalb der eigentlichen Fachrichtung interessierte. Manchmal, so auch gestern, war unter den Gästen einer der Priester oder Pfarrer der örtlichen Gemeinden, aber diesmal war ihm nichts Sensationelles eingefallen, er hatte über die Chaos-Vorstellungen in den Mythen der verschiedenen Hochreligionen, jenen Mythen, die sich mit dem Ursprung der Welt befaßten, gesprochen; er hatte auf die Erklärungsmuster für die Wirklichkeit, hier die Wirklichkeit der Natur, ihrer ungeordneten Allgewalt, ihrer Bedrohlichkeit für den Menschen bis in die Gegenwart, über die Scheu des Menschen vor Übergriffen auf die Natur und seine ständige Verletzung ihrer Gesetze und Grenzen hingewiesen und dargelegt, wie der Mensch immer wieder versucht habe, durch Opfer, durch Taburegeln, dadurch, daß er Dinge und Menschen für „mana“ erklärte, für unantastbar, gefährlich, tödlich, wie also immer wieder versucht wurde, die Schuld abzutragen, die der Mensch auf sich geladen hatte, die Harmonie der Welt wieder herzustellen, die er verletzt hatte aus Not, aus Gier, aus Unwissen.
Und immer wieder war er auf die Schuld zu sprechen gekommen, hatte dieses Wort Schuld vom Begriff der Erbsünde abgesetzt, welche ja doch eine ganz späte Erfindung, nämlich der christlichen Kirchenväter, vor allem des Augustinus, gewesen sei und deshab gar nicht geltend gemacht werden konnte für andere, frühere Zeiten, für die Zeit des Mythos, er wünsche für diese Zeiten, da er historisch argumentiere, auch wenn das Thema spekulativ sei, von Schuld zu sprechen, von ganz konkreter Erfahrung von Schuld, die für das hereinbrechende Chaos verantwortlich gemacht wurde, dieser Zusammenhang sei dem mythischen Menschen völlig klar und selbstverständlich gewesen, was man von der Gegenwart mit ihrer Verantwortungslosigkeit gegenüber der Natur, mit der zunehmenden Verantwortungslosigkeit von Menschen gegen Menschen, mit der Ausbeutungsmentalität gewisser Konzerne und ihrer Herren, er formuliere das bewußt allgemein, nicht sagen könne.
Er wies, um der Klarheit willen, noch einmal darauf hin, daß er nicht psychologisch argumentiere, der Begriff von Schuld, wie er ihn zu verstehen wünsche, sei geschichtsbildend gewesen, unter anderem. Und daran könne man den Unterschied zum Begriff der Erbsünde ablesen, der in die theologische Diskussion gehöre und der nach seinem Verständnis deterministisch sei, den Menschen festlege auf etwas Unabänderliches, das von ihm als Subjekt nicht ausgelöst worden sei, gar nicht ausgelöst werden könne, sondern ein betonierter Begriff, während auf dem Hintergrund von Schuld die Verfehlung stünde, gegen die Natur, gegen die Gesellschaft, ja auch gegen das Göttliche, was immer man darunter verstehen mochte und das sei schon immer als der Einbruch des Chaos in die Welt der Ordnung empfunden worden. Deshalb die Opfer, bis hin zum kostbarsten, dem Menschenopfer.
Das Wunder des Beginns der menschlichen Zivilisation lag für ihn in der Steinzeit und nicht in Griechenland.
Obwohl er nie Steinzeit sagte.
Diese Vorlesungen begann er stets mit dem Satz, der inzwischen unterdrücktes Gelächter und Glucksen hervorrief, bei seinen Studenten, und ein verständnisvolles Lächeln bei Kollegen und Gästen, denn von Jahr zu Jahr tauchten immer mehr universitätsfremde Zuhörer auf, Männer und Frauen, von denen er einige kannte, manche waren regelmäßig jedes Jahr dabei, er begann also diese Vorlesung jedesmal mit dem Satz: Wir wollen uns heute einmal die Freiheit nehmen, zu spekulieren...
Er hatte also seinen eigenen Schrei gehört und wußte, daß er gehen mußte. Solche Nachtstunden verstörten ihn zutiefst, sie hingen an ihm mit Fetzen von Träumen, angstgebärenden, furchtbaren Bildern. Er hatte sein Programm auf dieselbe Weise absolviert, wie die Studenten zuhörten, unaufmerksam. Zwischen die Klarheit seiner Gedanken und Sätze versuchten sich jene kurzen heftigen Bilder der Nacht zu schieben, er konzentrierte sich auf die Bilder an der Wand, die der Projektor auf den kurzen Klick der Handbedienung auswarf, er konzentrierte sich auf seine Sätze, wie immer, über die Irritationen seines Gehirns hinweg.
Manchmal fürchtete er, man würde ihm alles ansehen.
Daß er Vorlesungen hielt, war nur bedingt nötig, seit seine Eltern tot waren; es war jedoch ein disziplinierender Zustand, etwa so, als ginge man einer Tätigkeit in einer Bank nach, auch dort wurde auf Pünktlichkeit und Verläßlichkeit gesehen; und so waren diese Stunden ein Korsett für ihn, oder eine Möglichkeit, sein auseinanderdriftendes Leben einigermaßen in einer Form zu halten.
Aber die Form war nur die eine Seite, die andere war das Chaos, das Wollüstige und Disparate, das man nach seiner Meinung an seiner breiten Nasenwurzel ablesen konnte, und das durch gewisse Signale ausgelöst werden konnte. Das Klacken hochhackiger roter Sandaletten auf dem Pflaster. Oder ein bestimmter Duft. Oder vielmehr, es waren nicht zwei Seiten, sondern die eine bedingte die andere, ohne das Chaotische in seinem Leben wäre ihm niemals etwas an einer Form gelegen gewesen. Es konnte auch die nur angedeutete Schlucht zwischen zwei Brüsten sein, oder ein breiter Mund oder eine einfache Handbewegung. Das mit der Form Unvereinbare hing immer mit einer Frau zusammen, mit einer bestimmten Art von Frau -
Er ging durch den trüben Winternachmittag, ein großer schlanker Mann Anfang Fünfzig, mit kurzgeschorenem Haar, das einmal blond gewesen war, seit einiger Zeit aber ins Eisgrau hinüberwechselte, ein Mann mit einem charmanten Zug um den Mund, ein Eindruck, der in den nach oben gebogenen Mundwinkeln entstand und beim Lächeln sofort das ganze glattrasierte Gesicht einbezog, was ihm immer schon die Sympathien aller, denen er begegnete, Männer wie Frauen, einbrachte, er ging an diesem trüben Winternachmittag durch den Hofgarten zur Adenauerallee, um in der Bibliothek die Bücher abzuholen, die er für die Ferien bestellt hatte, fand jedoch, als er die Bibliothek verließ, wie überflüssig sie waren angesichts der heftigen Unruhe, die ihn heute Nacht angefallen und seither nicht mehr losgelassen hatte. Zu Hause legte er sie ordentlich gestapelt auf seinen Schreibtisch und betrachtete sie grübelnd.
Er empfand sich als Dilettant. Ein Liebhaber schöner Bilder, einer geheimnisvollen und letztendlich, trotz unendlicher Bemühungen, uninterpretierbaren Bilderwelt, der er verfallen war, seit er sie zum erstenmal wahrgenommen hatte. Einer, der in anderen Zeiten zu Hause war, dem vergangene Zeiten immer auch eine Art Zuflucht waren oder besser, das, was von ihnen, von den verschiedenen Zeiten, übriggeblieben und auf uns gekommen ist. Bilder. Tempel und Säulen. Statuen und Statuetten. Pyramiden und Sphingen. Reliefs und Tonkrüge. Aber vor allem die Bilder, die einfach da sind, die nichts wollen, die keine Botschaft haben, kein Anliegen. Nicht für uns. Für uns sind sie einfach nur da. Was sie einmal bedeuteten, wissen wir nicht -
- das Rot und die schwarzen Striche, die kräftigen Umrandungen, die zarten Tupfer, gefleckte Leoparden, die gebogenen Hörner, mondgleich, die Tiergesichter mit ihrem sanften Ausdruck, das Sonnengelb und Orange, die Brauntöne, braun und erdig, die übereinanderlagernden Schichten, die geheimnisvollen Zeichen, eine unerreichbare Welt, eine Welt, die vor zehntausend Jahren unwiderruflich zu Ende gegangen ist -
Eine Obsession, die von ihm Besitz ergriffen hatte, als er jung gewesen war, das hatte ihn sein Leben lang interessiert, etwas, was niemand verstand - seine Eltern nicht, die ohnehin sich nicht vorstellen konnten, was eine Obsession war, aber auch Kollegen und Freunde nicht. Außer Miriam natürlich. Und Franz. Der eines Tages mit diesen Bildern, oder vielmehr mit den Hochglanzfotos der Bilder, angekommen war, in seiner Berliner Studentenbude, ein Bildband, zufällig entdeckt, mit Fotos aus Lascaux, eine der am frühesten entdeckten Höhlen; ein Zufallsfund, sagte Franz, während er den Band aufblätterte und die Bilder präsentierte, auf sie hinwies, auf Details die Richard natürlich genauso sehen konnte, aber Franz zeigte die Bilder mit einer Begeisterung, mit einem Stolz, als seien es seine eigenen. Eigentlich, sagte er, suchte ich einen Bildband über frühe Kunst, über Sumerer oder noch früher womöglich, der Buchhändler zog also dieses hier heraus. Er war offenbar froh, daß ich es ihm abnahm, hat noch was nachgelassen; er saß wohl schon lange darauf.
In diesem Moment, in Richards erstem eigenen Zimmer, seiner Bude in Berlin-Lichterfelde, Blick aus dem Fenster auf eine Brandmauer von überzeugender Häßlichkeit, begann sie und hörte nicht mehr auf, seine Leidenschaft für diese Bilder.
Was ihn jetzt forttrieb, war die leere höhlenartige Wohnung, das grelle Neonlicht der Küche, vor allem die Vorstellung, hier vierzehn Tage leben zu müssen, noch dazu an Weihnachten, und Gabriele und Wolf zu besuchen, womöglich an Weihnachten -
Manchmal fragte er sich, ob dieser Wurzellosigkeit, diesen anfallartigen Fluchtbewegungen ein Defekt zugrundeliege, ein ererbter Schaden, zurückzuführen auf einen Vorfahren, der Händler war oder Zigeuner, irgendein fahrendes Volk, nur war ihm nichts bekannt darüber, früher hatte es ihn nicht interessiert, jetzt fehlten alle Personen, die ihn an eine familiäre Vergangenheit binden könnten, die noch etwas wüßten von Großeltern, Urgroßeltern, Ahnen, von deren Leben er nur verschwommen und ungenau wußte. Das Äußerliche. Beruf des Vaters: Metzger. Beruf des Großvaters: Metzger. Die Mutter und die Großmutter, die im Laden gestanden hatten. Und Ähnliches. Aber was sie geglaubt hatten, welche Ängste und Träume sie gehabt hatten, und was sie darüber dachten, daß Nationalsozialismus und Krieg ihnen alles aus der Hand geschlagen hatten, darüber wußte er nichts, das alles war in der allgemeinen Anstrengung zu Wiederaufbau und Verdrängung untergegangen. Als seine Eltern noch lebten, hatte er nicht gefragt. Natürlich waren da noch Gabriele und Wolf, aber es war nicht seine Familie, mit ihnen verbanden ihn keine frühen Erinnerungen.
Er würde sie von unterwegs aus anrufen, auch wenn es ihn anstrengen, belasten würde; seine innere Entfernung von beiden vergrößerte sich mit jedem Gespräch, mit jedem Besuch. Vielleicht nicht so sehr von Wolf, er war resigniert, ja, aber sie mochten sich von Anfang an und Wolf fand in ihm nicht nur einen guten Schachpartner, sondern auch einen verständnisvollen Zuhörer; Gabriele jedoch war jedesmal, wenn sie ihn sah, mit ihm sprechen mußte, einer Art von Auflösung nahe, dem nächsten Zusammenbruch, mit haltlos zwischen Weinkrämpfen und verebbenden Schluchzern hervorgestoßenen Schuldzuweisungen; Tabletten verweigerte sie rundheraus, sie wolle nicht ruhig gestellt werden, schrie sie und schlug nach Wolf; dann war Richard schon im Flur, im Aufbruch. Um Gabriele zu schonen, aber auch um seinetwillen hatte er mit Wolf vereinbart, nicht mehr allzu häufig zu Besuch zu kommen, nach Möglichkeit nur dann, wenn Wolf absehen konnte, daß Gabriele stabil war.
Schon damals, als er sie kennenlernte, in ihrer Kölner Wohnung, Miriams Mutter, wie lange war das her? - fünfundzwanzig Jahre, ja, lag so etwas wie Müdigkeit in ihren Augen, eine leichte Melancholie, große grüne Augen, die Miriam geerbt hatte. Würde auch Miriam, seine schöne Miriam, eines Tages umschattet sein von dieser Art schwarzen Fremdseins? War so etwas vererbbar? Er schob den Gedanken beiseite und heiratete Miriam, gegen Gabrieles Willen. Er würde sie von unterwegs aus anrufen.
Denn er mußte fort. Es war dies ganz sichere Gefühl, das er manchmal hatte, fast immer nach solchen trostlosen Nächten und Tagen, das hatte nichts mit Verstand zu tun, nichts mit irgendeiner Urlaubsplanung, schon das Wort Urlaub war ihm zuwider, es war die ganz schnelle und spontane Entscheidung, die er brauchte, um los zu gehen.
Er fuhr bis Würzburg, blieb jedoch nicht dort, sondern nahm den Nahverkehrszug nach Iphofen. Dort übernachtete er und nach einem Frühstück, das irgendwie an eine Lebensmittelzuteilung erinnerte, zwei Brötchen, ein Stück Butter, Marmelade, zwei Scheiben Käse, zwei Scheiben Blutwurst, eine Scheibe Leberwurst und dazu ein fader Kaffee, nach diesem Frühstück, das ihn nicht satt gemacht hatte, ging er mit schnellen Schritten, ging er so schnell wie möglich zum Steigerwald hin, es dauerte etwa zwei oder drei Stunden, am frühen Mittag war er oben auf dem Kamm, nun brauchte er keine Karte mehr.
Es hatte ein wenig geschneit, daher und weil die Sonne durch die kahlen Bäume scheinen konnte, war alles sehr hell, hier war das Licht, auf das er gehofft hatte, ein glasklares, hartes, weißes Winterlicht, das scharfe schwarze Schatten schlug, die weiter drinnen im Wald ins Bläuliche wuchsen, und am frühen Nachmittag kam Sturm auf, er fuhr oberhalb der Wipfel über ihn hinweg, zerrte die letzten Blätter von den Zweigen, brach hier und da einen Ast ab, der mit einem schweren Akkord durch die Baumkronen nach unten schlug, aber nie auf den Weg, der Sturm ging über ihn hinweg, er hörte ihn, er fand, daß ein Sturm zu einem Wintertag unbedingt dazugehört und erst am Abend, in dem Gasthof, in dem er übernachtete, erfuhr er, daß dieser Sturm mit Geschwindigkeiten von hundert und mehr Kilometern in der Stunde über ganz Westeuropa hinweg gefegt war, er legte ganze Waldteile um, deckte Hausdächer ab, schlug selbst in den Städten Bäume um, die Autos unter sich begruben, auch Menschen, eine Katastophe, er hatte, ohne es zu ahnen, auf diesem Kammweg in der Gefahr geschwebt, von herabstürzenden Ästen erschlagen oder zumindest verletzt zu werden, aber es geschah ihm nichts, kein Baum stürzte um, nur kleinere Äste und der pulverige Schnee und mürbe braune und graue Blätter flogen über den Weg. Er spürte den Sturm, aber nur wie einen starken und angenehmen Wind, der über dem Kammwald, hoch über den Wipfeln der Buchen, der Eichen und Fichten, die Wolken vor sich hertrieb und die bläulichen Schatten aufwirbelte und verschwinden ließ, kalt und klar wurde die Welt um ihn her, er konnte, da der Kammweg gerade war, ohne Auf- oder Abstiege, rasch ausschreiten, er spürte seinen Körper wieder, die Muskeln, die Sehnen, die Gelenke, mit jedem Schritt dehnte er sich, wurde geschmeidiger, jünger. Mittags ging er in ein neben dem Wege gelegenes Dorf, um ein Gasthaus zu suchen und fand keins, das Dorf schien ausgestorben zu sein, wie nach der letzten Pest, dachte er, aber die kleine Dorfkirche war offen, mit wenigen hölzernen Bänken und einem bäuerlichen Altarbild, der Sturm heulte mit merkwürdigen Klagelauten um die Mauern, es klang viel bedrohlicher als im Wald, offenbar verstärkte das Drinnensein, verstärkten die dicken alten Mauern die auf und ab schwellenden, wie von verstorbenen und verlorenen Seelen hervorgestoßenen Klagelaute die Wucht des Geheuls -
Er trank Wasser aus der Flasche, er hatte am Morgen das Wasser fast heiß eingefüllt, jetzt war es schon kalt, zu essen hatte er nichts dabei, er setzte sich bequemer in die Holzbank und schloß die Augen, horchte auf den Sturm und auf das Gefühl, geborgen zu sein. Daß er allein auf der Welt wäre; daß draußen gerade der letzte Akt der Apokalypse stattfände: daß, wenn er nachher hinaus ginge, er eine Welt vorfände, in der alles, alles von vorn anfinge; dieser Gedanke, der kein Gedanke war, sondern ein flüchtig am Rande des Schlafs und des Bewußtseins durch sein Gehirn ziehendes Gedankenatom, verwandelte sich noch im Entstehen in ein intensives Glücksgefühl; ein Einverstandensein mit dem Tod. Tot auch das Dorf, durch das er später ging, Richtung Wald und Kammweg, niemand war zu sehen.
Dieses Gehen über eine große Distanz, durch einen längeren Zeitraum, war ein Teil dessen, was er unter Freiheit verstand. Eine Art nomadisches Dasein, mit ganz wenig Gepäck, nur das Notwendigste im Rucksack, Socken, Unterwäsche, Pullover, ein zweites Paar Hosen und Schuhe, Zahnbürste und Seife, Alpenkräuter Fußbalsam, Pflaster und Schere, Aspirin, Wanderstöcke seit einiger Zeit, sein Wandertagebuch, ein oder zwei Bücher, um abends beim Essen oder vor dem Einschlafen nicht gänzlich allein zu sein; die er selbst früher, als er noch mit Miriam ging, dabei hatte, meist jedoch ungelesen oder nur angelesen wieder nach Hause trug, weil mit Miriam niemals die Gespräche ausgingen. Damals wie heute jeden Abend in einem anderen Gasthaus, manchmal, selten, in einem Hotel, nicht wegen des Geldes, das war ihm nicht wichtig, sondern weil diese Gasthöfe am Wege lagen, mitten in den Dörfern, meist neben der Kirche, weil sie rauchige halbdunkle Höhlen waren, in denen Männer am Tresen standen, aufgestützt, die aufhörten zu reden, wenn er eintrat, und ihm mit den Augen folgten, bis er sich gesetzt hatte, dann sich umdrehten und in einem ihm selten verständlichen Dialekt weitersprachen. Niemand kannte ihn, er kannte niemanden, aber manchmal setzte sich einer an seinen Tisch, fragte, woher er käme und wohin er wolle, uralte Fragen, schien ihm, so haben sie den Fremden schon vor Jahrhunderten, Jahrtausenden ausgefragt, meist gaben sie sich zufrieden mit seiner Antwort, als sei alles damit gesagt, was es über ihn zu wissen gab, nur manchmal wollte jemand noch wissen, warum er das mache.
Das Gehen. Sie sagten meist: wandern. Warum? Jetzt, bei dem Wetter? Man schickt doch keinen Hund vor die Tür, bei dem Wetter.
Das mit der Freiheit leuchtete ihnen nicht ein, die Erfahrung hatte er schon gemacht. Sie war ihnen, so schien ihm, eher suspekt, es war etwas Unordentliches, Wildes um die Freiheit, ihre Mienen wurden bedenklich, sie waren seßhafte Leute, denen das Zigeunerhafte unangenehm war, die vor fahrendem Volk die Türen verschlossen. Und dennoch gab es einen Satz, der manchmal danach kam, etwas nachdenklich oder wehmütig, und der zeigte, daß das mit der Seßhaftigkeit so eine Sache war: Ja, das müßte man machen. Früher sind wir viel gewandert. Früher - . Der Bauer an seinem Tisch hatte sich noch ein Bier bringen lassen, Richard trank einen Trollinger. Da erleben Sie ja viel!
Dazu gab es nichts zu sagen. Richard erlebte nichts auf seinen Wanderungen, er sah und erfuhr einiges und das auch nur wie durch Osmose, nicht bewußt, er suchte die Stille und das Alleinsein, und manchmal gab es dabei Augenblicke des Glücks, ekstatische Sekunden oder Minuten, aber das waren keine Erlebnisse, sondern Verlustmomente von Zeit und Realität; er sah sich selbst dabei nur undeutlich wie in einer Hülle aus Blau oder Wind.
Und der Sturm heute? Wie war es oben im Wald? Sind viele Bäume umgestürzt?
Er war überrascht. Nein, ich habe keine gesehen. Der Bauer sah ihn ungläubig an, drehte sich um und rief in den Raum: Oben im Steigerwald hats keine Schäden gegeben, der Herr hier ist oben gewesen, er ist den ganzen Tag über den Kamm und keine Brüche. Erst jetzt bemerkte Richard, daß die Männer an der Theke nur ein Thema hatten, er ließ sich über den Sturm alles, was sie wußten, berichten, schnell langweilte es ihn, für die Bauern war es existentiell, es gab nichts Gemeinsames zwischen ihnen und ihm, sie kehrten zurück zu ihren Ställen, ihren Feldern und Wäldern, zu ihrer Buchführung, ihren Frauen, wie die Männer hart arbeitenden Frauen, die früh alterten und Furchen ins Gesicht bekamen, deren Hände zupackend und breit und rissig waren, mit abgebrochenen Fingernägeln, Menschen, die von ihrem Hof als Betrieb sprachen, und das war er ja wohl auch, ein durchorganisierter, nach Möglichkeit, da man niemanden mehr bekam, der die Arbeit als Lohnarbeit machen wollte, maschinisierter, ja vielleicht industrieller Landwirtschaftsbetrieb. Er verließ am nächsten Morgen ohne Bedauern das Dorf und wurde noch gegrüßt auf der Straße, erkannte aber keinen der Männer vom vergangenen Abend wieder. Er war von ihnen getrennt durch mehr als durch Herkunft oder Bildung, sie sprachen eine andere Sprache und das lag nicht nur am jeweiligen Dialekt, sie waren langsamer mit ihren Sätzen und in ihren Bewegungen, ihre Interessen richteten sich auf Schweine, Rinder und Hühner, auf Luzerne und auf Misthaufen, sie wußten, was ein Klafter Holz ist und bereits ihre halbwüchsigen Kinder konnten den Traktor nicht nur fahren, sondern auch sachkundig warten, ihre Blicke richteten sich nach Brüssel, um die nächsten Subventionen abzutasten und ins Landwirtschaftsministerium, das ihre Interessen zu vertreten hatte, während Richards Blick sich meistens nach innen richtete oder auf die Schönheit der eiszeitlichen Bilderhöhlen und er, hätte man ihn gefragt, den Namen des Landwirtschaftsministers nicht gewußt hätte. Jedoch ging er gerne durch ihre Dörfer und betrachtete ihre Welt und fragte sich, wie man so leben mochte, unter diesen Dächern, mit einer hohen Verantwortung für Tiere, Wald und Felder, mit einer Frau, die dieses Leben zu teilen bereit war, die Brot buk oder Kuchen, ohne die Frage nach dem Sinn zu stellen.
In ihre Kirchen ging er, manchmal große, häufiger aber kleine Kirchlein, auf einen Hügel über dem Ort gebaute, die Schiffen glichen mit breitem Bug und geheimnisvoller Fracht. Jetzt, wo er sich nach Süden wandte, begann das Barock, die Engel begannen zu schweben, ihre Gewänder bauschten sich unter einem unsichtbaren Wind und hoben sie empor, auch ihre Gesichter und ihre Hände, zusammengelegt, waren nach oben gewandt, zu einem Himmel oder einfach nur zur Kirchendecke, von der die Heiligen herabschauten oder bärtige Evangelisten, neben sich ernst blickende Löwen oder Stiere, die mit ihnen im heiligen Buch lasen; Madonnen mit bäuerlichen Gesichtern, rund und rotwangig, und sie trugen auf den Armen lebhafte rundbäuchige Kinderchen, und manchmal hatten sie ein Schwert im Herzen und diesen entrückten Blick nach oben.
Zwischen Ranken und Ornamenten, al fresco, Fabeltiere und traurige kleine Chimären in den Kapitellen.
Ein schneeweißer Pelikan mit goldgerandeten ausgebreiteten Flügeln, der sich die Brust aufreißt, um seine Jungen zu nähren, drei Tropfen rotes Blut auf weißem Porzellangefieder.
Und Gold im Überfluß, lichte golddurchwirkte Räume, in denen das Schweben, das Aufwärtsdrängen den Betrachter irgendwann ebenfalls in einen Zustand von Leichtigkeit und Entrücktheit versetzt, und Richard, sonst kein Bewunderer von Barock und Rokoko, mochte diese kleinen Kirchen, diese offenen süddeutschen mit ihrer überladenen, glanzvollen Heiterkeit und den knieenden Menschen in den Bänken, die das Gesicht in die Hände gelegt hatten, jeder war hier auf seine eigene Weise und zu seiner eigenen Zeit andächtig, stumme intensive Zwiesprache fand statt, mit wem und worüber, fragte sich Richard, er fand keine Antwort.
Und er trat hinaus in eine immer weißer werdende Welt mit einem Goldrand von Wintersonne, kam ebenfalls in einen Schwebezustand, und ihm war, als ob das Innere der Kirchen und die Landschaft sich zu einer Einheit zusammenfügten, einer Ganzheit, ein Prozeß der Verdichtung fand statt, auch die Landschaft begann zu schweben. Der Gedanke, daß Drinnen und Draußen verschmelzen, ineinander übergehen, eine Einheit bilden, gefiel ihm gut, diese beiden Zustände, oder soll man sagen: Seinsweisen, wollte er gerne zusammenhaben, aber nur diese Verschmelzung, nur diese Helligkeit brachten es mit sich, daß ihm hier das Barock gefiel.
Es war der Sinn des Gehens, unter anderem, solchen Zuständen nachzuspüren. Im Gehen erfuhr er etwas über das Erfahren und über den Ursprung oder die Verwandtschaft dieses Wortes, im Sinne jenes mittelalterlichen Fahrens als Gehen, ein Fahrender zu sein, Pilger, Geselle, Scholar; das, was wir heutzutage als Fahren bezeichnen, schließt uns ja gänzlich von jeder Erfahrung aus, es sei denn, man verbuche das Steckenbleiben im Stau, den Blick aus einem Autofenster auf die vorüberflitzenden Landschaften und Dörfer oder gar einen Unfall auf der Autobahn als Erfahrung. Das Gehen hingegen in der weißen Landschaft unter einem dunkelblauen Himmel, in der Kälte, in dem scharfen Licht des Mittags reinigte seine Gedanken, seinen Geist von allem Ballast, von allem Negativen, befreite ihn von allem Ungeklärten, ließ ihn heiter werden, er ging leicht und schnell, spürte intensiv die Stille, beobachtete einmal ein Bussardpärchen, das mit schrillen Schreien, die aber die Stille nicht störten, sondern eher vertieften und dann leiser wurden, im Emporschrauben sich verständigte.