Читать книгу Wegbeschreibung - Bärbel Gudelius - Страница 4
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ОглавлениеNachdem er sich zwei Tage in dieser weißgoldenen Barocklandschaft bewegt hatte, üppige Polster von Schnee lagen auf den Tannen und an den Bachrändern, es glitzerte bis zum Horizont hin, zwei Tage nach seinem schnellen Aufbruch also waren Angst und Verzweiflung weg, er dachte kaum noch daran, und auch darin lag ein Sinn, daß Dinge hinter ihm blieben, die sich in der geschlossenen Atmosphäre der Stadt und seiner Wohnung, an die er übrigens jetzt nur noch selten und vage dachte, potenziert und aufgeblasen hätten zu einem Ballon, in dem er gehockt hätte voller Furcht und Ekel.
Er wünschte, er könnte eine Form finden für sein Leben.
In dieser Form jedoch müßte er seine Krankheit, oder wie man es nun immer nennen wollte, seinen Defekt, seine Störung und Verstörung unterbringen. Und schon wäre es aus mit einer Form, welcher Art auch immer. Er hatte auch gar keine Vorstellung davon, wie so etwas wie eine Form des Lebens aussehen könnte, es gab keine Vorbilder dafür, jedenfalls nicht für ihn, die Phase bürgerlicher Ehe und Lebensform lag hinter ihm, das wollte er nun nicht mehr, und der Einsamkeit war keine Form abzugewinnen, sie war einfach, sie war da. Sein philosophisch geschulter Verstand sagte ihm, daß er die Form in sich selbst finden müsse, daß es keinen Zuschnitt des Lebens gebe, der ihm angemessen sei und der von außen komme, er müsse dieses fragile Gebilde schon selbst aufbauen. Aber es war ihm alles zerbrochen; geblieben war eine Sehnsucht, ein Verlangen nach einer anderen Zeit, einem anderen Raum. Einer bestimmten Form von Gemeinsamkeit.
Das aber gab es nicht.
Der Tag war ganz windstill, selbst noch gegen Abend, als er ein Dorf erreichte, in dem es, nach der Karte, einen Gasthof geben sollte, nur war der Gasthof geschlossen, schon lange, sagte der Pfarrer, bei dem er anklingelte, um sich zu erkundigen. Der Pfarrer, ein dunkelhaariger Mann ungefähr in Richards Alter, der einen einfachen schwarzen Pullover trug, war offensichtlich erfreut über Besuch, bat ihn herein, stellte einen Schnaps auf den Tisch: weil es so kalt ist. Und überhaupt. Die beiden Gläser beschlugen sofort und der Schnaps schmeckte nach Brombeeren und Wald, selbst angesetzt, sagte der Pfarrer mit einem verschmitzten Lächeln, sie saßen in der Küche des Pfarrhauses, auf dem großen Elektroherd kochte ein Gericht, dessen intensiver Geruch nach Hühnerfleisch, Nelken, Zimt und noch einigen anderen, nicht identifizierbaren Gewürzen Richard schlagartig klar machte, wie hungrig er war.
Der Pfarrer fragte ihn nach Art der Bauern aus, woher und wohin und alles zu Fuß? Ist selten geworden. Übernachtungsmöglichkeiten? Gibt es im Dorf nicht, aber oben am Hang die Frau auf dem Oberlinhof, einem ehemaligen Einödhof, vermietet im Sommer Zimmer und Appartements. Wäre die einzige Möglichkeit.
Und die Alternative ein Taxi in die nächste Stadt. Dazu hatte Richard keine Lust.
Er ging im letzten Licht des Abends, in einem einzigartig goldenen, durchsichtigen Licht, den Berg hinauf und erreichte den allein dastehenden Hof mit der anbrechenden Dunkelheit. Und wie hingestreut lag noch ein Schimmer auf dem tief heruntergezogenen Dach über, so schien es ihm, einem sehr großen, alten Gebäude, die Fenster zur Straße hin waren hell erleuchtet, nach hinten verschwand alles in tiefen Schatten. Zwei wahnsinnig gewordene Hunde tobten im Hof und auf den Zaun zu, er stand am Tor und wartete geduldig. Die Frau kam mit langsamen Bewegungen über den Hof und sah ihn fragend an.
Nein, um diese Jahreszeit vermietete sie nicht. Die Zimmer waren gar nicht geheizt. Das störte ihn nicht. Nachdenklich sah sie ihn an. Nun, man könnte schon heizen, nein, im Dorf gäbe es keine Übernachtungsmöglichkeit mehr, so? der Pfarrer habe ihn hergeschickt? Das sei etwas anderes. Sie öffnete das Tor und wies die Hunde mit einer herrischen Geste zurück. Im Zimmer stand ein großer warmer Kachelofen, und in einer Art von gläsernem Anbau oder Veranda, deren Licht er draußen gesehen hatte, ein Baum, vom Boden zur Decke reichend, mit altem Glasschmuck und roten Kerzen und einem großen Engel an der Spitze, weiß und gold. Duft nach Tannen und Kerzen. Der Tag vor Weihnachten. Überwältigt schloß er die Augen, für einen Augenblick war er nicht hier, war er zu Hause, im Wohnzimmer seiner Eltern, das war seine erste Empfindung, sonderbar, natürlich hatten sie nicht einen solchen Baum gehabt, in der Größe und mit dem kostbaren Schmuck, sie hätten ihn gar nicht bezahlen können, jedenfalls nicht, solange er klein war und in seinem blauen Bleyle-Strickanzug an der Hand der Mutter, nachdem das Glöckchen geklingelt hatte, endlich durch die Tür des Wohnzimmers treten durfte, die Tür, die einen ganzen Nachmittag verschlossen war, unter der aber jenes verheißungsvolle Licht hervorschimmerte und hinter der zuerst sein Vater und später seine Mutter verschwanden, während der andere jeweils mit ihrem einzigen Kind in der Küche saß und Plätzchen buk. In späteren Jahren, als er größer war und keinen Bleyle-Anzug mehr trug, sondern lange Hosen, Sonntagshosen, und das Geschäft seines Vaters einen ungeahnten Aufschwung nahm, gab es dann auch Gänsebraten. Derselbe Geruch wie hier, im Flur -.
Mit einer heftigen Bewegung stand er von der Bank auf, griff nach dem Rucksack, hier konnte er keineswegs bleiben, er würde den Pfarrer bitten - aber da stand sie in der Tür und sagte freundlich, nehmen Sie doch Platz, ich habe die Heizung oben aufgedreht, möchten Sie einen Kaffee? Abendessen gibt es um acht Uhr. Ihre Schuhe können Sie in den Flur stellen.
Sie trug das schwarze Haar über der Stirn zurückgekämmt und in einen langen lockeren Zopf geflochten, der über ihre Schulter herabhing. Ihre Augen waren dunkel und schmal über den hohen Wangenknochen, es hatte etwas Asiatisches, eine ganz winzige Augenfalte, und der Mund breit, und lang in den Winkeln auslaufend und von einem intensiven Rot. Langsam setzte er sich wieder, sie brachte einen Teller mit Weihnachtsstollen und schenkte Kaffee ein. Später hörte er sie hinten im Haus herumgehen, dann kam sie und zeigte ihm sein Zimmer, das warm und freundlich war, ein breites Bauernbett und ein paar schlichte, alte Möbel. Schon unten war ihm aufgefallen, daß es keine modernen Schränke oder Tische gab, alles war aus altem dunklem Holz und glänzte. Er liebte alte Dinge und er hielt viel von Leuten, die sich mit alten Dingen umgaben, in seinem Elternhaus hatte es, wegen Krieg und Bomben, nichts Altes gegeben, alle Möbel waren nach dem Krieg neu angeschafft worden, überhaupt hatte man altes Gerümpel, wie sein Vater es zu nennen pflegte, nicht geschätzt, die wenigen Dinge, die die Bombennächte überlebt hatten, verschwanden irgendwann, ohne daß jemand hätte sagen können, wohin; und Richard erinnerte sich auch nicht daran, wie es in den Wohnungen seiner Großeltern ausgesehen hatte, aber wenn er überhaupt darüber nachdachte, wie jetzt, inmitten dieser dunkel polierten Schränke und Tische, dem Fenster mit den weißen bodenlangen Vorhängen, so leicht, daß ein kleiner Hauch sie hin und her bewegen könnte, den Holzdielen, auch dunkel und glänzend, fielen ihm Einzelheiten ein, kleine Bilder, ein Eßzimmer mit einem großen Buffet mit geschnitzten Türen und Aufsätzen, hochlehnige Stühle um einen großen Tisch in der Mitte des Zimmers; und wohin mochte wohl das alte Fotoalbum geraten sein, das er, und das konnte er mit Bestimmtheit sagen, in der Hand gehabt, die Fotos angesehen hatte, merkwürdige Topfhüte, von den Frauen tief in die Stirn gezogen, und unkleidsame Rocklängen bei dunklen Kleidern und Tangoschuhe. Er erinnerte sich nur an die Frauen, waren denn überhaupt Männer auf diesen Bildern gewesen, er wußte es nicht mehr.
Die Frau hieß Irene.
Er erfuhr ihren Namen, als der Pfarrer kam, plötzlich stand er in der Tür der Stube, die Hunde hatten sich nicht gerührt, er stand als dunkle Silhouette gegen das helle Licht der Diele, stampfte die letzten Reste Schnee von seinen Schuhen. War er zu Fuß gekommen? Richard hatte kein Auto gehört. Er fahre nicht, er habe zwar ein Auto, aber keinen Führerschein, das Auto würde Octavia fahren, manchmal nehme Irene ihn mit, wenn es was zu besorgen gebe. Und hier war sie, in den Händen ein Tablett mit drei dampfenden und nach Weihnachtsgewürzen duftenden Gläsern.
Sie wandern also, sagte der Pfarrer und ließ sich neben ihm auf die Bank nieder, rieb sich die kalten Hände und legte sie um das dampfende Glas, das hat mich doch interessiert; wenn man in einem Dorf lebt wie wir hier, da wird man neugierig. Und außerdem war ich zum Essen eingeladen.
Die Frau lächelte, ihr Gesicht war anders geworden mit der Ankunft des Pfarrers, weicher und offener. Richard hatte für einen kurzen Moment, und obwohl er den Gedanken sofort als absurd verwarf, den Eindruck, sie sei seine Tochter, es lag so viel vertraute Selbstverständlichkeit in der Art, wie sie miteinander umgingen.
Es gibt Semmelknödel, sagte sie und sah Richard an, richtige bayrische Knödel. Mögen Sie das? Und Gänsebraten. Doch, antwortete er und dachte überrascht darüber nach, daß er diese süddeutsche Spezialität lange nicht mehr gegessen hatte. Um diese Zeit kämen Fremde nie hierher, also seien Knödel und Gänsebraten etwas, was sie für sich selbst und für ihren Pfarrer mache. Unter anderem. Und warum er zu Fuß ginge, bei dem Wetter.
Das Wetter ist gleichgültig. Richard machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Das Gehen ist wichtig. Und die Erfahrung.
Was für Erfahrungen? Die Augen des Pfarrers waren wach und blank. Neugierig.
Richard zögerte etwas und meinte dann, es gehe um den Raum: Der Raum sei etwas völlig Abstraktes, solange man sich nicht durch ihn hindurchbewege. Durch ihn hindurch gegangen sei. Es geschehe mit dem Gehen dann eine eigenartige Umwandlung des Abstrakten, eine Konkretion. Der Raum gerate in der Erfahrung des Gehens und der Zeit, die man dazu benötigte zu etwas wie einer inneren Wirklichkeit, die man nur dadurch erfahren könne, sonst sei sie nicht vorhanden.
Ich bin - er rührte gedankenverloren in seinem Kaffee - ich bin vor einiger Zeit einmal in Mecklenburg gewandert, da erreicht die Vorstellung von Raum eine ganz neue Dimension, die man sich hier überhaupt nicht vorstellen kann, der Blick, der über die östliche Grenze, imaginär, versteht sich, über die russischen Steppen geht, höchstens einmal am Ural hängenbleibt, gewinnt für die Vorstellung den Eindruck eines erdrückenden Raumes, eines wahnsinnigen Raums, eines unvorstellbaren Raums, überhaupt nicht begehbar, nicht auf die Weise, wie wir - äh, wie ich gehe. Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: Bei mir entstand damals die Vorstellung eines archaischen, bedrohlichen Schlundes, vor dem das Individuelle nicht existiert, in den der Einzelne hineinfallen kann wie eine Gräte und darin liegenbleibt, ohne daß der Schlund sich verschluckt. Selbst wenn es mir, als diesem Individuum, gelänge, zu gehen und diesen Raum in einem winzigen Teilbereich zu durchmessen, wäre er keine Erfahrung geworden, sondern bliebe immer noch nur eine Vorstellung. -
Und doch - Irene stützte den Kopf in ihre linke Hand und blickte an ihm vorbei aus dem Fenster - wäre es eine Erfahrung, wenn auch nur in der Phantasie. Denn das, was wir in unserer Phantasie erleben, sind doch ebenso Erfahrungen. Das ist wie mit den Büchern. Wir lesen von fremden Leben, fremden Entscheidungen, die wir selbst niemals so treffen würden, fremden Gedanken und Phantasien - und haben dabei das Gefühl, daß das alles uns doch etwas angeht. Daß es Erfahrungen sind, die wir auch machen könnten und die wir ja doch dann gemacht haben, wenn wir sie lesend für uns in Anspruch nehmen.
Richard nickte. Lesen sei tatsächlich dem Gehen ähnlich. Fremde Leben, fremder Raum - zwei intensive Formen des Reisens, dabei sei die zu erfahrende Landschaft in Wahrheit nicht erfahrbar, sie sei, so oft man durch sie hindurch- und über sie hingehe, in allen vielfältigen Erscheinungen etwas außerhalb unserer selbst, diese intensive Empfindung von Fremdheit manchmal, oder sie sei erfahrbar auf eine besondere Weise, die er sich versuche anzueignen, die er sich noch aneignen müsse; Erfahrung, sagte er langsam, hat auch etwas mit Erinnerung zu tun, wenn ich mich nicht täusche, denn Erinnerung ist etwas, womit ich die Dinge und Ereignisse aufnehme, sie in mich hineinnehme, sie mir anverwandle, sodaß sie ein Teil meiner selbst werden.
Sie meinen, ohne Erinnerung ist auch Erfahrung nicht möglich?
Der Pfarrer begann ihn zu interessieren. Diese Art des Verständnisses erfuhr er sonst nicht von Fremden, die meisten betrachteten ihn als ein Relikt, also so etwas wie einen Dinosaurier, ausgestorben, aber konserviert. Insofern interessant. Dieser Mann hier jedoch wußte etwas von zentralen und ungewöhnlichen Erfahrungen, wieso lebte er hier in einem so abgeschiedenen Teil des Landes, oder war es vielleicht umgekehrt, verstand er eben darum etwas vom Abseitigen, Seltsamen?
Die Frau, Irene, stand auf und ging hinaus. Und Bücher, fuhr Richard fort, ja auch die; das Lesen eines Buches kann wie eine Reise sein, in gewisser Weise gleichen sich die Reisen zu Fuß und die Reisen durch ein Buch; man braucht Zeit, Geduld, Anstrengung.
Irene kam wieder herein und ging an ihnen vorbei in den Raum, in dem der Baum stand, deckte dort den Tisch und zündete Kerzen an. Wir beide, der Pfarrer und ich, sagte sie lachend zu Richard, feiern Weihnachten immer einen Tag zu früh. Von Morgen an hat er viel zu tun, drei Tage lang, er muß nicht nur hier den Gottesdienst halten, sondern auch noch in drei anderen Kirchen. Ich werde dann dauernd unterwegs sein, weil ich ihn fahre. Das machen wir schon seit Jahren so. Und wieder kam Richard der Gedanke, die beiden seien verwandt, vielleicht Geschwister? - bei dieser Vertrautheit. Oder handelte es sich um etwas ganz Anderes? Er genierte sich vor seinen eigenen Gedanken und stand auf: Kann ich Ihnen helfen?
Oh nein. Sie wehrte ab. Oder doch. Sie könnten die Gans hereintragen. Feierlich trug er die Gans in ihrer Schüssel auf, kross und knusprig gebraten, sofort zog der Duft durchs Zimmer. Der Pfarrer schenkte einen dunklen Rotwein ein.
Erzählen Sie, sagte er, erzählen Sie von Ihren Wanderungen! Ich habe mit einemmal das Gefühl, auch ich hätte Lust dazu.
Padre! Du? Irene lachte. Was wird Octavia dazu sagen?
Sie kommt mit. Wird ihr auch gut tun.
Wer mochte Octavia sein? Richard ging der Frage jedoch nicht weiter nach; der Raum, sagte er, Zeit und Raum fallen nicht mehr auseinander, nicht so, als wenn man mit dem Auto fährt, vom Fliegen ganz zu schweigen.
Irene stützte den Kopf auf ihre rechte Hand, den Ellbogen auf den Tisch gestützt und hörte ihm mit weit geöffneten Augen zu.
In der Nacht kam sie zu ihm, das lange schwarze Haar verschmolz mit der Dunkelheit hinter ihr, nur ihr weißes Hemd und ihr weißes Gesicht waren zu sehen, sie öffnete fast lautlos die Tür und stand vor ihm, es wunderte ihn nicht, aber neben dem müden Zug von Resignation war auch sofort die Erregung da, oder vielmehr, die Erregung war schon den ganzen Abend in ihm gewesen, niedergehalten, aber wirksam und spürbar als etwas Atmosphärisches zwischen ihnen, etwas Hin- und Herschwingendes, das die Konturen verwischte wie die heiße Luft über der Kerzenflamme. Sie war von einer geradezu atavistischen Schönheit, schon das war dazu angetan, ihn zu verführen, und diese Situation im Dunkeln, bei der man das Gesicht nicht sehen konnte, er wollte überhaupt nichts sehen, er konzentrierte sich auf sein Zentrum, sie schlüpfte aus dem Hemd und ihr schwarzes Haar fiel über die Brüste, die weiß waren wie ihr übriger Körper, alles war ganz weiß außer ihren Haaren. Außer dem Dreieck unten.
Und sie nahm ihn, überwältigte ihn mit einer Wildheit und Ungezügeltheit, vor der erschrak, zurückzuckte, die weibliche Fähigkeit zur Wildheit, Gewalttätigkeit, Destruktivität, die schlummernde, ewig unterdrückte, entsetzende Urkraft, die im Liebesakt an die Oberfläche kommen kann, und die männliche Angst vor einem dunklen und unbegreiflichen Wissen, blind und zerstörerisch, von dem frühere Zeiten noch mehr gewußt haben mochten als wir heute, diese Frauen waren es, die Geheimnisse hatten, Geheimnisse, die sie hüteten, bedingungslos und ohne je die Absicht zu haben, sie zu mitzuteilen, ein eifersüchtiges Behüten und Bewahrenwollen, unbewußt oder verdeckt oder unaussprechlich. Es war eine Art alchimistischer Substanz, eine im Inneren eines Menschen wie in einem Glaskolben wirbelnde Materie, vielleicht würde eines Tages das Gold ausgeschieden, wer weiß, aber auch das Gold würde noch ein Geheimnis bleiben, die Art, wie es entstanden wäre und wie es genutzt würde. Denn diese Wildheit war auch seine eigene Gewalttätigkeit, seine in ihm hockende Destruktivität, und seine Angst davor und sein Grauen galt auch ihm selbst, das Grauen vor der Begegnung mit dem Furchteinflößenden im Leben, der anderen, der dunklen Seite, der Negativität, aber auch dies Wilde barg ein Geheimnis, vielleicht war es eine Art von Weisheit, es zu akzeptieren, was ihm bisher nicht gelungen war, aus Furcht. Dann kam die Erregung und schwemmte alle Gedanken und Bedenken fort, er hatte anderthalb Jahre lang keine Frau mehr gehabt, die aufgestaute Energie entludt sich rasend schnell, alle Wahrnehmung war ausgeblendet, als habe jemand, vielleicht der Henker, ein schwarzes Tuch über seine Augen geworfen, er nahm keine Rücksicht, konnte keine Rücksicht auf sie nehmen, alles war fortgeschwemmt, sein Ich, seine Gedanken, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, geblieben war die eine Spitze Lust, ein einziger scharfer schmerzhaft-lustvoller Augenblick.
Nachdem sie gegangen war, stand er auf und ging ans Fenster und blickte hinaus, mit einem intensiven Empfinden für das Universum, in dem er sich drehte mit dieser Erde, auf der er stand, für den Kosmos, dessen Teil er war, eine ungeheure schwarze Hülle, die die sich darin drehende Erde und ihn selbst umgab, gerade jetzt ein tröstlicher Gedanke, umhüllt und geborgen im unendlichen Raum, gehalten von der Gravitation, einem Gesetz, das freischwebende Körper in ihrer Bahn hält und das verhindert, daß sie stürzen; aber warum das so ist, warum das funktioniert, er wußte es nicht. Ein bleiches Licht vom vollen Mond lag über dem Berg vorm Haus. Und auch das Haus umschloß ihn, dieses Haus, das er eigentlich verlassen wollte, jetzt, sofort, er wollte dort draußen gehen, über die weißen Felder, irrsinnigen schwarzen Raum um sich spüren, das Schwarz-weiß von Schatten und Mond, das Knirschen des Schnees unter den Schuhen, die Kälte. Sie nicht noch einmal sehen müssen, geschweige denn umarmen, diese Nacht war diese Nacht, dieses Zimmer war dieses Zimmer, und draußen war etwas Anderes, er würde ein Anderer sein, ziellos, Wanderer im Unendlichen -
Das Geheimnis war der Tod.
Und die Liebe. Die Zweiheit.
Der Eros: das was uns verbindet und was uns trennt. Wie der Tod. Der Tod ist das, was uns trennt und dieses Trennende, die Abschiede, sind das Verbindende zwischen dem Tod und der Liebe. Dieser Schmerz - danach.
Eine Tür klappte.
Draußen bellte ein Fuchs; die Hofhunde antworteten mit rasendem Gebell und stürmten zum Zaun. Ein leiser Pfiff; und es war ruhig. Er konnte sie nicht sehen, obwohl der Mond den Hof ausleuchtete, die Eingangstür war direkt unter seinem Fenster; kurz darauf knarrte die Treppe, er hört nur dies, das Knarren, nicht ihre Schritte. Das hatte etwas Beunruhigendes, aber es geschah nichts weiter. Eine Tür klappte.
Es gibt Nächte, in denen man keinesfalls an das Weltall denken darf, Nächte, in denen der Gedanke an diese Ungeheuerlichkeit - und Irene schloß das Fenster, weil der Wind mit einem einzigen eisigen Flügelschlag über ihre nackte Haut gefegt war, diesen bodenlosen, weil nach allen Seiten hin offenen Raum - und sie schlüpfte in ihren warmen Pyjama und kroch unter die Daunendecke - an eine schwarze Hohlform, die nicht einmal in Lichtjahren und mathematischen Formeln auszudrücken ist, unerträglich ist. Denn wie ist es möglich, daran zu denken, wie ist das möglich, ohne Angst daran zu denken? Eine Art Angst, die in nichts begründet ist? Unsere Erfahrung, inzwischen ja sogar unsere Anschauung, da wir diese Kugel, auf der wir herumkrabbeln, jetzt auch von außen sehen können, mit einem Blick aus ebendiesem Weltraum, unsere Erfahrung also lehrt uns doch, daß wir nicht hineinfallen in - und wenn man bedachte, daß es Millionen, ja Milliarden Sterne gab, Gaskugeln mit Durchmessern von Lichtjahren und Lichtjahren und immer weiter fort, sodaß allein der Gedanke daran nicht nur schwindlig machte, sondern auch diese unbestimmbare, unbenennbare Angst hervorrief, die nur zu bewältigen war durch eine Umarmung oder ein Buch -
- und sie griff nach dem Buch auf ihrem Nachttisch und versenkte sich augenblicklich, Nacht und Lichtjahre und Gaskugeln hinter sich lassend, in die Geschichte von Sor Suana Inés de la Cruz, die ein vollkommen anderes Weltbild sowie die Inquisition gekannt hatte, und von der es auf Seite 400 heißt: Ihr wahres Leben war das innere Leben. Und die der Auffassung war, daß Lieben mehr bedeute denn Wissen, aber da war Irene anderer Meinung, denn, sagte sie laut in die Stille ihres Schlafzimmers, indem sie das Buch zuklappte und zurücklegte, denn Lieben und Wissen schließen einander nicht aus.
Richard wäre auch am Morgen gerne gegangen, ohne ihr noch einmal zu begegnen, aber sie war natürlich schon auf, als er nach unten kam. Zwischen ihnen Fremdheit und etwas Verlegenheit, die sich immer einstellen nach einer solchen Nacht unter Fremden; und doch lächelte sie und stellte ihm ein Frühstück auf den Tisch, setzte sich dazu und fragte erst jetzt, woher er käme und wohin er heute gehen wollte. Ihre Natürlichkeit ging dann auf ihn über: von Iphofen vor zwei Tagen über den Steigerwald, sonst aus Bonn, und die nächsten Tage durch den Bayerischen Wald nach Südosten. Vor Sylvester treffe ich mich mit einem Freund aus München, wir gehen dann drei Tage zusammen, feiern in irgendeinem kleinen Dorf Sylvester und danach fahre ich zurück. Und wie gestern stützte sie das Gesicht in die Hand, eine ihr offenbar ganz eigene Geste, und hörte zu; dann begleitete sie ihn zm Tor.
Sich nicht einlassen - das wurde immer mehr zu einem Bedürfnis.
Auf der Höhe aber drehte er sich dann doch noch einmal um und sah sie als einen schmalen dunklen Strich in der weißen Landschaft, und wieder lag etwas Gold auf dem Dachfirst.
Worauf er sich allerdings immer wieder und immer lieber einließ, das war die Landschaft, nicht unbedingt diese hier oder eine andere besondere, sondern Landschaft überhaupt, niemals war sie ihm fremd wie ein Mensch ihm fremd sein konnte, stets war da eine Koinzidenz von ihm selbst mit der Landschaft, das intensive Gefühl, ein Teil von ihr zu sein, in ihr zu sein - eine natürliche Zugehörigkeit, eine Verschmelzung, ein Auflösen und Aufgehen im Blau. So müssen, dachte er manchmal, die Menschen des Paläolithikums empfunden haben, wenn ihn dieses Gefühl überwältigte, ein Gefühl, von dem er anahm, daß alle Menschen es einmal besessen hatten, das uns abhanden gekommen ist, das sichere und konstante Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein, nicht fremd, er konnte das sogar begründen, auch wenn das spekulativ und unwissenschaftlich war, er begründete es aus ihrer Kunst, und er vertrat konsequent die Auffassung, daß solche Aussagen sich nur aus der Kunst einer Epoche heraus machen ließen, also Aussagen über Gefühle und Befindlichkeiten, und nicht aus wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen, sofern sie überhaupt bekannt waren. Bei den eiszeitlichen Felszeichnungen und Höhlenbildern, fand er, war es besonders leicht, weil die Kunst einheitlich war, nicht zersplittert in Richtungen, Schulen oder Epochen; der Auflösungs- oder Zersplitterungsprozeß, das Gefühl, die Welt zerfalle, setzte vermutlich erst viel später ein, vielleicht schon im Neolithikum, vielleicht aber auch erst in den ersten Hochkulturen; da begann die Suche nach einer anderen Einheit, einer religiösen, nach dem einen Gott, der einen Religion; Ausdruck, sagte er seinen Studenten, einer Suche nach etwas Verlorengegangenem, so wie wir aus dem Einen hervorgegangen sind, so wollen wir zu dem Einen wieder hin, wobei er offenließ, was er mit dem Einen meinte, Gott oder den Urknall oder den Einzeller oder was.
Solange es Menschen gab, waren sie gegangen, von Anfang an, das einzige Lebewesen, sagte er, das nicht für die Dauer ein Revier absteckt, sondern ins Offene geht, war der Mensch. Das war etwas, was ihm gefiel: ins Offene zu gehen, ins Unbekannte, für Professor Richard Thorwald war dies das Typische für den Menschen, in seiner Bedeutung kam es der Zähmung des Feuers oder der Erfindung von Werkzeugen gleich. Bis Hirtennomaden auf den Einfall kamen, daß man auf einem mehr oder weniger gezähmten Pferd oder Esel oder Rentier schneller voran kommt, sind sie gegangen, haben sie wahrscheinlich den Rausch gespürt, der entsteht, wenn der Körper schmerzstillende Stoffe produziert, dieser geheimnisvolle chemische Vorgang, diese Alchimie des Körpers, die Eigenproduktion von opiaten Stoffen, auch hallizugenen, beim Gehen entstehen die merkwürdigsten Gefühlszustände, manchmal ein leichtes Schwindelgefühl wie nach Champagner, ein Glücksgefühl, euphorisch -
Das Offene also, die Fremdheit, mit der man einer Landschaft begegnet und die einen in sich hineinzieht, ist, genau so, wie man einer neuen Musik oder einem fremden Menschen begegnet, die Fremdheit in uns selbst, mit der wir, in ganz seltenen Augenblicken, uns selbst begegnen, gegenüberstehen, uns verwirrt fragen, warum wir ausgerechnet dort stehen, wieso wir das sind, oder ein Anderer vielleicht, diese Fremdheit, die er heute nacht wieder einmal erfahren hatte, die aber umgeschlagen war in das Bedürfnis nach Nähe, einmal diese Nähe gespürt und schon will man nicht mehr allein sein. Das Alleinsein war ja ebenso unnatürlich, oder besser: dem Menschen fremd wie das Fahren. Am besten war das Gehen miteinander, nur daß er kaum noch jemanden kannte, der bereit war, mit ihm zu gehen, schon gar nicht über einen längeren Zeitraum, Franz, ja, und Miriam war gerne gegangen, sie war eine Nomadin, ein zigeunerhaftes Wesen gewesen, oder ein Wüstenmensch, vorbehaltlos war sie mit ihm gegangen, immer, ohne je zu klagen und trotz manchmal kaputter Füße, stoisch.
Sie fehlte ihm so sehr.
Irene, während sie ins Haus zurückging, fragte sich wie nebenbei, eher am Rande ihres Bewußtseins, ob sie wünsche, daß er zurück käme, daß er wiederkäme? - wie er da gestanden hat, eine unförmige Silhouette gegen den im Westen gerade noch hellen Streifen unter dem Sturmhimmel, während ich auf ihn zu ging, konnte ich nichts erkennen wegen Gegenlicht, dann sah ich, wie naß er war, wie dreckig die Schuhe, aber es waren die richtigen Schuhe, daran kann man es immer erkennen, daran und am Rucksack, sobald er sprach, waren die Hunde still, auch das ist ein Zeichen, sein Gesicht sah ich ja erst, als er in der Diele stand - und sie stand in der Diele, nachdem sie die Haustür geschlossen hatte, und empfand die Stille und die Einsamkeit deutlicher als sonst - wie er den Hut abnahm, vernünftige breite Krempe, er war gut ausgerüstet, sowas mag ich, aber da war auch die Müdigkeit um seine Augen und dieser Zug von permanenter Anspannung um den Mund, als er auf seinen dicken Socken ins Zimmer kam, machte er diese Fluchtbewegung, warum? - das hätte ich gerne gewußt, aber richtig gesprochen haben wir ja erst, als der Padre kam - ob der wohl was ahnt von meinem geheimen Leben, das Dorf klatscht natürlich, aber darauf gibt er nichts, das weiß ich, ob er wohl darüber nachdenkt oder spekuliert, oder schickt er mir einen Zimmer suchenden Mann naiv und unberührt von jedem Hintergedanken ins Haus, ich würd es ihm ja zutrauen oder eben solche Spekulationen über mein Liebesleben nicht zutrauen, er ist so ein Lieber, der Padre, ich vergesse selbst immer, wie kompliziert das alles in Wirklichkeit ist, in der Alltäglichkeit wird es noch komplizierter - und sie ging langsam ins Wohnzimmer und lehnte sich gegen den warmen Kachelofen - worüber soll man reden, er lehrt Geschichte an einer Universität, so viel habe ich mitbekommen, hat er eigentlich keine Frau? - wie das stürmt draußen, was für eine Zeit für eine Wanderung, wie kam er bloß dazu? aber er meinte, es mache ihm nichts aus, im Gegenteil, er liebe den Sturm, wie es gestürmt hat in der Nacht, ich liebe das auch, das war ja auch der Grund, warum ich, diese Übereinstimmungen von draußen und drinnen, es war eine Nacht, eine gute Nacht, so muß es sein, nein, er wird nicht wiederkommen, so muß es sein - und Irene stand auf und ging über den Flur und den Gang hinunter. Vor der weißen doppelflügligen Tür blieb sie einen Augenblick stehen und schloß die Augen, sie konzentrierte sich mit einem tiefen Atemzug, beschloß zu lächeln, betrat das Krankenzimmer und sagte: Ich bins, Mamma. Die Schwester kann heute nicht kommen; ich helfe dir, komm. Und mit geübtem Griff, den die Gemeindeschwester ihr beigebracht hatte, hob sie die kleine, zusammengesunkene Gestalt aus dem Bett und brachte sie ins nebengelegene Bad.
Der Mensch der Steinzeit, der Eiszeit, des Paläolithikums, er war in Gruppen gegangen, niemals allein, ein Mensch allein in jener Zeit wäre verloren gewesen. Richard war überzeugt davon, daß jene fernen Vorfahren zwar alle möglichen Krankheiten gehabt haben mochten, aber keine seelischen Störungen, keine Neurosen, keine Depressionen, keine Herz-Kreislauf-Schädigungen, keine Herzinfarkte. Er führte es aufs Gehen zurück. Vielleicht auch keinen Krebs. Das wußte man nicht so genau. Es war die Welt, in der er hätte leben mögen, wenn man ihm die Wahl gelassen hätte. Sie war nur noch in den Bildern lebendig, in den wenigen kunstvoll verzierten Gerätschaften und Waffen und in den exakt zugeschliffenen Werkzeugen aus Stein. Vor allem aber in den Bildern. Sie glichen in nichts dem, was er kannte, was wir kennen und wirken doch in einer schmerzhaften Weise vertraut, wir haben Namen für alle diese Tiere, die auf dunklen Felswänden, in tiefen Höhlen ihr geheimnisvolles Leben leben, seit zehntausend, seit zwanzigtausend und mehr Jahren. Lange hatte er über das Wesen der Bilder, über ihre ursprüngliche Bestimmung, ihre Bedeutung nachgedacht, sich Notizen gemacht, Material gesammelt, die Bilder angeschaut, immer wieder, sich etwas vorgestellt und doch gewußt, daß er dem Geheimnis niemals auf die Spur kommen würde. Inzwischen glaubte er, daß das auch nicht wichtig war, nicht wirklich wichtig, die Annäherungen mußten genügen. Mit diesem Verzicht, der ihm dann doch irgendwann leicht gefallen war, nahm er Abschied von dem Gedanken an eine große Veröffentlichung, oder von der Vorstellung, ein Buch zu schreiben über das Geheimnis, das sich in den Höhlen verbarg und das er, Richard Thorwald, gelüftet hätte. Mit einer kühnen, einleuchtenden These zu den Bildern, von der Ethnologie über die Kunstgeschichte bis zur Archäologie.
Es gab ja genügend Theorien, die Höhlen als Kathedralen der Eiszeit, Jagdzauber wie bei den Pygmäen noch heute oder, jedenfalls vor nicht allzulanger Zeit, Beschwörung und Bann.
Das alles mochte stimmen oder auch nicht.
Für ihn waren die eiszeitlichen Bilder Spiegel; man konnte auch sagen, Entsprechungen.
Entsprechungen von was?
Es war nicht leicht, das auszudrücken, denn dann mußte er das Wort Seele benutzen. Dachte er darüber nach, war alles einleuchtend. Schrieb er es nieder, wurde es merkwürdig. Jene Menschen, die diese Kunstwerke schufen, deren Stil und Objekte sich innerhalb von mehr als dreißigtausend Jahren nur wenig änderten, nur unmerklich variierten, aber innerhalb des großen Themas immer neue Zusammenstellungen schufen, sahen sich offenbar in allem wieder, in den lebendigen Tierherden, denen sie ihr Leben lang nachzogen, wie in den Bildern, die sie davon schufen. Sie selbst waren in den Bildern, die Bilder warfen ihnen das zurück, was sie waren, aus einer seltsamen unbestimmten Entfernung, mit imaginären Augen; so waren es nicht nur Bilder, sondern der andere, unsichtbare Teil der Menschen selbst, wie die Familie, die Gruppe, der Clan eine Familie, eine Gruppe, ein Clan war und gleichzeitig das Selbst des Einzelnen, das umfassende Selbst, dessen Verlust heute von so vielen beklagt wird, das wir aber nicht mehr leben könnten, eine Einheit von Entsprechungen. Wir können so nicht mehr leben, weil es eine Regression wäre. Die wir gar nicht wollen. Nicht wirklich.
Um es so zu sagen: sie sahen die Außenwelt, die Tierherden und vereinigten sich mit ihnen und trugen sie als Bilder in ihrer Seele in die Höhlen und schufen sie wieder als Außenwelt, als Entsprechungen, als Spiegel, mit vertrautem Blick zurückschauend. Nichts war getrennt, gespalten, der Löwe neben dem Lamm, ein Netz von Verwandtschaften zwischen Mensch und Mensch, zwischen Tier und Mensch, eine unendliche Harmonie, so ungefähr ging seine Theorie. Spiegeltheorie. Es gab wohl keine Unterscheidungen, keine Abgrenzungen im Bereich seelischer Erfahrungen und Empfindungen, und so könnte der Mensch auch mit dem Tier umgegangen sein, dem er menschliche Einsichten zutrauen und ihm ein menschliches Gesicht geben konnte, wie er dem menschlichen Körper einen Tierkopf aufsetzte, ihm einen Schwanz oder ein Geweih gab.
Er wußte genau den Zeitpunkt, wann er angefangen hatte, sich für die Anfänge und Ursprünge zu interessieren. Als seine Eltern mit gebrochenem Genick aus ihrem Auto gezogen wurden, in das ein Anderer hineingefahren war, als er das lukrative Geschäft seines Vaters zu einem guten Preis verkaufen konnte, als ihm hohe Summen von der Versicherung ausgezahlt wurden, begriff er, daß er zwar mit einem Schlage finanziell unabhängig geworden war, mit diesem Schlag aber auch seine Wurzeln endgültig abgeschnitten, durchgehauen worden waren, es gab keine Familie, keine Gruppe, keinen Clan mehr, da war niemand außer Miriam neben ihm, vielleicht noch ihre Eltern, aber da waren seine Wurzeln nicht, und seit einem Jahr war auch sie fort, seine Miriam, für immer.
Die Spiegeltheorie lag auch den Studien und Aussagen in seinem Lehrfach zugrunde, er bot sie stets den Erstsemestern an, die sie eifrig mitschrieben und dann vergaßen, was er in den Prüfungen jeweils feststellen konnte, daß nämlich Aussagen von historischen Ereignissen niemals authentisch sein, sondern immer nur im Spiegel der Denkweisen unseres eigenen Jahrhunderts gelesen werden können.
Das Gehen gehörte unbedingt dazu, es war eine andere Art der Selbstvergewisserung, die er auch in seinem Leben, in seinem Jahrhundert, erfahren konnte, und diese Erfahrung mußte ihm genügen und sie genügte ihm, eine Erfahrung, die er ebenfalls kaum jemandem mitteilen konnte, der sie nicht selbst gemacht hatte, Franz wußte es, Miriam hatte es gewußt.
Eine Zeitlang ging er durch Tannenwald, oder waren es Fichten, er konnte das nie so genau auseinanderhalten, dicht stehende Stämme, deren untere Zweige mangels Licht vertrocknet, abgestorben waren, und keine Durchblicke zuließen. Diesen Weg war er schon einmal gegangen, waren sie beide gegangen, Miriam und er, Richard erkannte es auf der Karte und auch am Weg, am Wald selbst, obwohl er sich sagen konnte, daß er über viele solcher Wege gegangen war in der Vergangenheit, viele Wälder durchquert hatte und der Schnee, der in dicken Kissen auf den Bäumen, auf dem Weg lag, veränderte ohnehin jede Erinnerung, veränderte jede Landschaft, gab aber eigentümlicherweise dem Wald sein Wesen zurück, oder sein Geheimnis, der Schnee vertiefte die Stille, aus der der Wald lebt, es war so still, daß er hören konnte, wenn Schneeplacken von den Zweigen fielen, wenn Schnee herabrieselte, von einem leicht, kaum auf der Haut zu spürenden Wind berührt.
Dann aber öffnete sich der Wald und weit vor ihm erstreckte sich das Tal. Auch das erkannte er sofort. Obwohl das eigentlich kaum möglich war, denn jetzt war die Wiese ein sehr weißes, glattes und mattschimmerndes, unregelmäßiges Oval, seitlich begrenzt vom Bach, der wegen der vorgewölbten und überhängenden Schneepolster schmaler wirkte, als er ihn in Erinnerung hatte, so, als hätten die beiden Ufer sich zusammengeschoben. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wald, hier keine Fichten oder Tannen, sondern Laubbäume, schwarz und starr, ihre entlaubten Kronen in den Himmel gereckt, darunter Unterholz und zwischen den Stämmen und Zweigen hing ein leichter Nebel, der alle Konturen auflöste, die Formen veränderte und entwirklichte.
Richard blieb stehen und stützte sich schwer auf seine Stöcke.
Etwas legte sich über das Tal, über den Schnee, über die kahlen Bäume -
- eine Stickerei aus Schafgarbe zog sich weiß am Ufer des Baches hin, dessen Schwarzwasser zwischen geschwellten grünen Moospolstern mit einer sachten, fast unsichtbaren Bewegung abfloß. Am gegenüberliegenden Ufer gelbe Sumpfiris, die Schmetterlingsflügel ausgebreitet, auf hohen grünen harten Stengeln, mit wehrhaften Lanzettblättern. Und das Gelb setzte sich fort, mit Löwenzahn und Dotterblumen bis an den Waldrand, alles leuchtete grün und gelb, und das Wasser blinkte und am Waldrand blühte noch ein Apfelbaum und dann hörte er Miriams Stimme, klar und hell wie immer, Liebster, alles ist gut. Der Schmerz war hart und preßte ihn, war frisch und unerträglich wie am ersten Tag, an jenem Tag; er beendete das Bild abrupt. Seine klammen Finger an den Stockgriffen waren weiß vor Anstrengung und Kälte; die Nebel zogen in weißen Fetzen zwischen den Bäumen. Er fror plötzlich, ihm schien, es sei kälter geworden und dunkler, und der Schmerz war da, und er krümmte sich über dem Schmerz, so sehr vermißte er sie.
Ihre Stimme. Er wagte kaum zu atmen.
Irgendwann merkte er, daß er wieder ging.
Links immer noch der Bach, schwarz und schmal, der Weg war, wie fast überall auf dieser Wanderung, kaum zu sehen, wegen des Schnees, hier konnte er sich am Bach orientieren, ein krummer alter Holzzaun tauchte irgendwann aus dem Nebel auf, verschwand wieder, auch der Bach verschwand und mit ihm das winzige Geräusch, das sanft fließendes Wasser in einer großen Stille macht, dann nur noch die Stille.
Jedes Geräusch, auch das seiner Schritte, vom Nebel, vom Schnee verschluckt.
Einmal kam er an einem alten Schäferwagen vorbei, dessen Verfall eine vielleicht zuvor nicht erkennbare Schönheit offenbarte, oder Zweckmäßigkeit, oder lag es am Material, Holz, jetzt fast silbern, dazwischen dunkle Streifen von Nässe, ein Rad war zusammengebrochen, der Wagen lag auf der Seite, vermittelte eine Art von Hilflosigkeit, ein Opfer.
Er ging ein paar Tage nach Osten, erreichte den Naturpark Bayerischer Wald, umging einige Gebiete mit Betretungsverbot und wandte sich Richtung tschechische Grenze und Böhmerwald, dann südwärts. Die Tage waren kurz, das Wetter diesig, wolkenverhangen, kalt, selten kam die Sonne durch. Manchmal schneite es. Am neunundzwanzigsten Dezember rief er abends Franz an und verabredete sich für den nächsten Tag mit ihm.
Ich bin vor Dunkelwerden da, also ungefähr zwischen vier und fünf Uhr nachmittags.
Wie hoch liegt der Schnee? Kommt man gut durch?
Unterschiedlich. Heute war alles sehr verschneit, manchmal kniehoch. Ich hab nicht so viel geschafft, wie ich wollte.
Es ist Neuschnee angesagt, hoffentlich schneit es nur nachts.
Sie lachten und verabschiedeten sich. Richard ging auf sein Gasthofzimmer und fiel in einen erschöpften, unruhigen und von wüsten Träumen durchzogenen Schlaf.
Auf der Karte sah er, daß der Weg am Waldrand entlang führte und dadurch einen großen Bogen machte; wenn er quer durch den Wald ginge, auf einem sehr schmalen, kaum sichtbaren Waldweg, würde er durch eine Schlucht, von der er nicht wußte, wie dicht bewachsen oder wie steil sie sein mochte, nach unten ins Tal kommen. Er würde aber Zeit sparen, und das gab den Ausschlag. Der kleine Waldweg war kaum verschneit und er kam gut voran bis zur Schlucht. Sie war sehr steil, stellenweise auch glatt, er setzte die Füße fest auf und suchte nach trittfesten Stellen. Ein Baum lag quer über dem Weg, den er lange betrachtete, nicht nur, um herauszufinden, wie er ihn umgehen könnte; schließlich nahm er den Rucksack ab und kroch unter dem mächtigen, uralten Stamm hindurch, Durchmesser ungefähr achtzig Zentimeter, ein Baum von enormen Ausmaßen, mit schwarzer rissiger Borke und einem eigenartigen, in die Luft starrenden Wurzelgeflecht, eine uralte Eiche, die vielleicht einen natürlichen Tod gestorben war und schon lange hier lag; und ist nicht, dachte er, die Erde früher einmal mit einem Baumstumpf verglichen worden ist, in einer mythischen Zeit, oder vielmehr nicht verglichen, sondern geglaubt, daß die Erde ein abgesägter Baum sei, dessen Wurzeln in unendliche Tiefe hinunter reichten, was ihre unerschütterliche Festigkeit erklärte, auf dessen glatter Schnittfläche die Menschen sich bewegten, er wußte nicht mehr, wer so gedacht hatte und vielleicht hatte er es auch ganz falsch im Gedächtnis; die Rinde dachten sich diese frühen Menschen aus Tag und Nacht bestehend oder aus Licht und Dunkelheit, die sich um die Erde legten wie Rinde um einen Baum - Lichtringe, Schattenringe, die wie die Jahresringe eines Baumes übereinander lagen und die täglich zweimal zerrissen, sodaß wir in der Nacht durch die Risse der Dunkelheit das Leuchten des nächsten Ringes sehen könnten - die Sterne - was für ein poetisches Weltbild - er warf den Rucksack über und ging weiter, die Schlucht hinunter, manchmal schlitternd, sodaß er noch schneller vorwärts kam als gedacht.
Später am Tag fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Wolf und Gabriele anzurufen. Sofort fiel dies Versäumnis und die Tatsache, daß er das unbedingt heute abend nachholen mußte, über seine Stimmung her, verdüsterte Himmel und Horizont und ließ den Goldrand am Schneefeld verblassen. Er versuchte, das Bedrückende beiseite zu schieben, es durch Gehen aufzulösen, aber als er kurz vor Dunkelwerden auf das Dorf zuging, in dem er übernachten wollte, wußte er, daß es Angst war. Es dauerte lange, bis der Hörer abgenommen wurde, er wollte schon, fast erleichtert, auflegen. Dann Wolfs tiefe, angenehme Stimme. Richard atmete auf, ein Aufschub immerhin, vielleicht konnte Gabriele nicht ans Telefon gehen. Er wußte nicht, wie Wolf das alles aushielt.
Schön, daß du anrufst, Richard.
Frohe Weihnachten, Wolf, sagte er, dir und Gabriele. Und dann, fast gegen seinen Willen: Wie geht es ihr?
Nun, was erwartest du. Es ist eben Weihnachten. Karl Hoffmann, du weißt, der Arzt, der sie behandelt, mich akzeptiert sie ja nicht mehr, war Heiligabend hier und hat ihr Antidepressivum verdoppelt, aber trotzdem - sie hat fast nur geweint. Wolfs Stimme brach, er schwieg, Richards Magen zog sich zusammen -
Nun. Wolfs Stimme klang jetzt stumpf. Es ist vielleicht doch gut, daß du nicht da warst. Obwohl -
Das blieb in der Schwebe. Und auch der unausgesprochene Vorwurf hing da: hatte seine Absage für Weihnachten zu dem Zusammenbruch beigetragen? So etwas konnte man dann eben auch nicht fragen, weil es nur Verwirrung stiften, weil es nur sein schlechtes Gewissen offenbaren würde. Und weil es nichts nützen und nichts ändern würde.
Ich komme nach Neujahr, sagte er.
Ja. Ja, das ist gut. Bis dahin ist Gaby sicher auch wieder stabil.
Es ist nicht gut, dachte Richard, nachdem er aufgelegt hatte und in den Gastraum zurückkehrte, es ist nicht gut, wenn die Toten Macht über uns haben.
Draußen ein dramatischer Sylvesterhimmel mit Sturmwolken und schräg fegenden Schneestreifen.
Draußen tobte nicht nur der Sturm, sondern auch das Feuerwerk mit seinem Getöse und Geknalle. Der Hund, der zum Gasthof gehörte, war jaulend unter die Bank gefahren und lag nun dort seit Stunden, ab und zu leise wimmernd. Richard und Franz hatten sich für Forellen und fränkischen Sylvaner entschieden, einen Wein, den sie fast immer tranken, wenn sie zusammen waren.
Und sie waren schon lange zusammen, wenn auch in verschiedenen Gegenden und unterschiedlichen Lebensumständen. Zusammengekommen waren sie an der Freien Universität und sie waren beide, der eine aus Bayern, der andere aus dem Rheinland, in Berlin, um der drohenden Einziehung zur Bundeswehr zu entgehen. Das war ihre erste Gemeinsamkeit gewesen: sich niemals und von niemandem instrumentalisieren zu lassen. Natürlich wollten sie die Welt verändern und natürlich ödete sie die Germanistik an, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, kraftlose Interpretationen, jetzt, da sie beide fast fünfzig waren, dachten sie daran mit einem leisen Lachen und einem kleinen nostalgischen Gefühl, denn das war die wirkliche Gemeinsamkeit, daß sie sich nicht für das Studium, sondern für die Bilder interessierten, stundenlang liefen sie durch die Museen und besuchten die Galerien, lernten mehr über die Bilder als über die Literatur, und nach einiger Zeit zogen sie die Konsequenz, Richard wechselte zur Geschichtswissenschaft, ohne die geringste Ahnung zu haben, was er eines Tages damit anfangen würde, einfach weil es ihn interessierte, Franz machte eine Galerie auf, die ziemlich viel Geld verschlang und ziemlich schnell zugrunde ging und wartete mit unterschiedlichen Anstellungen in den unterschiedlichsten Galerien, aber immer am Kudamm, auf den Moment, in dem der Staat es leid war, seinen langen Arm nach ihm auszustrecken. Und dann war da noch Miriam.
Die Schüsse nachts über den Teltowkanal hinüber, die Schüsse, die in die Träume eindrangen und sie im Schlaf beunruhigten, das Gefühl des Eingesperrtseins, das sich manchmal in gegenseitigen Aggressionen Luft machte, die Trostlosigkeit dieser Stadt vor allem im Winter, man kam auf die absurdesten Ideen, Richard ging eine Zeitlang mit einer Gruppe der Heilsarmee auf die Straße und sang ihre Lieder mit, nur um zu wissen, wie so etwas sich auswirkte auf ihn, eine Art Selbstversuch -
Er, auch er wollte die Welt zu einem bewohnbareren Ort machen und als er verstanden hatte, daß die Religion am Anfang aller menschlichen Bemühungen um diese Bewohnbarkeit stand, schien sie ihm zu diesem Zweck genau so brauchbar zu sein wie eine politische Partei, eine Studentenbewegung oder eine Revolution. Franz, der immer außerhalb von allem stand, amüsierte sich: Gib dir keine Mühe. Du verfällst der Idee der Institution. Das war sein Lieblingsgedanke: daß Institutionen Gefängnisse sind, Mauern und Gitter, jeder, sagte er, der einer Institution beitritt, geht freiwillig in den Knast. Und die Welt wird dadurch nicht verändert, aber du veränderst dich, und nicht zu deinem Vorteil. Du wirst zu einem Funktionär und siehst du, was das Wort enthält, funktionieren. Du bestehst nur noch aus Funktionen und dem Funktionieren deiner Organisation. Darüber ging der Winter in Berlin dahin und im Frühling traf Richard Miriam und damit änderte sich alles.
Miriam war der erste feste Punkt in seinem auseinanderdriftenden Leben. Und die Bilder. Die Höhlen. Die Bilder in den Höhlen. Und er verstand, was Leben ist, Lebendigkeit, eine Bewegung, die sich über einen Zeitraum von zehn-, zwanzig-, dreißigtausend Jahren mitteilen kann, galoppierende Pferde, Urpferde mit vorgestreckten Hälsen, mit gedrungenen Köpfen und hochstehenden Mähnen; die traurigen, so ungemein menschlichen Gesichter der Wisente mit ihren Bärten, Steinböcke im Sprung, Hirsche und Hirschkühe, Auerochsen, Löwen, eine ungeheure Realität, lebendig und beweglich, wenn man länger hinschaut, könnte man glauben, sie zögen an einem vorbei.
Und diese Anmut -
Aber was bedeutete es, daß sie fast ausschließlich Tiere gemalt haben. Nur Tiere - keine Pflanzen, keine Früchte, keine Bäume. Und wenn, ganz selten, ein menschlicher Körper auftraucht, dann in einer Verwandlung, ein Löwenkopf auf einem grob geschnitzten Frauenkörper; ein Tänzer, oder ist es ein Flötenspieler, ein Mischwesen mit einem Gehörn, einem Schwanz, Tiermenschen -