Читать книгу Dunkle Tiefen der Seele - Bärbel Junker - Страница 4
VERWECHSLUNG!
ОглавлениеAls Fred Kowalski an diesem strahlend schönen Sommertag erwachte wusste er, etwas Schreckliches würde geschehen. Er starrte gegen die Zimmerdecke und schalt sich einen Narren, doch das ungute Gefühl blieb. Seufzend schlug er die weiche Daunendecke zurück und stand auf.
Nach dem Duschen fühlte er sich zwar besser, aber eine düstere Vorahnung blieb. Ein gutes Frühstück mit frischen Brötchen wird die düsteren Gedanken schon vertreiben, dachte Fred, und schlüpfte eilig in Jeans, T-Shirt und Lederjacke.
Wenig später öffnete er die Tür zum Bäckerladen und trat ein. An dem einzigen Caféhaustisch neben der Eingangstür stand ein schwarz gekleideter Mann, der die Morgenzeitung las. Als Fred an ihm vorbeiging hob er den Kopf mit dem breitkrempigen schwarzen Hut und starrte ihm hinterher; und obwohl die dunklen Brillengläser die Augen des Fremden verbargen, spürte er deren stechenden Blick wie Nadelstiche auf seiner Haut.
Fred bezahlte hastig seine drei Vollkornbrötchen, um den Augen hinter den dunklen Gläsern zu entfliehen. Mit knurrendem Magen eilte er nach Hause. Als er jedoch vor dem Teller mit den belegten Brötchen saß, verging ihm plötzlich der Appetit. Er nippte an seinem Kaffee und starrte vor sich hin.
Was war bloß mit ihm los?
Da hatte er nun endlich mal einen freien Tag und wusste nichts Besseres damit anzufangen, als trübsinnig in seine Tasse zu starren.
Der Türsummer schreckte ihn auf. Wer mochte das sein? Er erwartete keinen Besuch und wollte auch niemanden sehen. Er würde einfach nicht aufmachen. Doch er hatte nicht mit der nervtötenden Ausdauer seines ungebetenen Besuchers gerechnet. Das Klingeln hielt an.
„So eine Frechheit“, schimpfte Fred. Er sprang auf und eilte zur Wohnungstür. Durch den Spion erkannte er den Unbekannten aus dem Bäckerladen. War der Mann ihm etwa gefolgt? Und wenn schon! Er hatte absolut keine Lust sich auch noch in seiner Freizeit mit Fremden abzugeben. Er wollte seine Ruhe haben. Fred zuckte mit den breiten Schultern und wandte sich ab.
„Bitte öffnen Sie, Herr Kowalski. Ich weiß, dass Sie zu Hause sind.“
Fred fühlte sich ertappt und öffnete zögernd die Tür. „Ja, bitte?“, fragte er verlegen. „Kennen wir uns?“
„Nein, aber ich muss Sie unbedingt sprechen. Sie sind doch bei der Polizei?“
„Ja, das ist richtig“, erwiderte Fred. „Was kann ich für Sie tun?“
„Darf ich kurz hereinkommen?“, bat der Mann heiser. „Es ist wirklich wichtig. Ich glaube, meine Schwester befindet sich in großer Gefahr.“
Und obwohl ihn eine innere Stimme warnte und er üblicherweise keine Fremden in seine Wohnung ließ, siegte Freds Hilfsbereitschaft. Er öffnete die Tür. „Ich wollte gerade frühstücken. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“, fragte er auf dem Weg zum Esszimmer. Der Mann nickte. „Schwarz, bitte“, sagte er, und Fred holte eine zweite Tasse Kaffee aus der Küche.
Als er zurückkam, hatte der Mann bereits am Tisch Platz genommen. Fred stellte die Tasse auf den ovalen Mahagonitisch und nahm dem Fremden gegenüber Platz. „Also, was kann ich für Sie tun?“, fragte er, wobei er befremdet die in feinen Lederhandschuhen steckenden Hände seines Besuchers musterte.
„Eine unangenehme Hautkrankheit“, erklärte dieser und hob die Tasse an den Mund. Er starrte Fred über den Tassenrand an. „Sie erkennen mich nicht, oder?“, stieß er hervor.
Fred runzelte die Stirn. „Ich habe Sie noch niemals zuvor gesehen“, sagte er kühl und trank seinen Kaffee aus. „Wer sind Sie? Und was wollen Sie?“
„Meinen Namen erfahren Sie schon noch früh genug“, entgegnete der schwarz gekleidete Besucher aggressiv.
Jetzt wurde der Kerl auch noch frech! „Verlassen Sie sofort meine Wohnung“, verlangte Fred empört über den unverschämten Ton seines Besuchers.
„Ich denke nicht daran“, erwiderte dieser frech.
Fred musterte ihn fassungslos. Das durfte doch nicht wahr sein! Er setzte zu einer gepfefferten Antwort an, brachte jedoch keine Silbe hervor. Seine Mundhöhle verwandelte sich von einer Sekunde auf die andere in kochend heiße Lava, die sich brennend in seinen Rachen ergoss, ihm den Schweiß aus sämtlichen Poren trieb und seinen bräunlichen Teint grünlich verfärbte.
„Ist Ihnen nicht gut?“, drang die Stimme seines Besuchers so dumpf wie durch eine dichte Nebelwand an sein Ohr.
„Mir ist plötzlich so übel“, murmelte Fred unter einem, bis ins Mark gehenden, Kälteschauer erbebend. Er riss sich zusammen und starrte den Mann aus blutunterlaufenen Augen an. „W...was wo ...“. Eine plötzliche Hitzewelle nahm ihm den Atem. Stechende Schmerzen tobten durch seine Gedärme. Sein schweißüberströmtes Gesicht verzog sich gequält.
„Was ist nur plötzlich mit mir los?“, flüsterte er mit verzerrtem Gesicht. Er hatte Mühe beim Atmen. Unerträgliche Kälteschauer vertrieben die Hitze, breiteten sich in seinem Körper aus und kristallisierten die Schweißperlen auf seinem Gesicht. „W...wer si...sind Sie?“, stammelte er unter Qualen. Sein Besucher starrte ihn an. „Bitte, helfen Sie mir“, keuchte Fred. Er versuchte aufzustehen, doch seine kraftlosen Beine trugen ihn nicht. Er stürzte, schlug schwer auf dem Boden auf und blieb zusammengekrümmt liegen. Mein Gott! Ich sterbe, schoss es ihm durch den Kopf.
Ein Stuhl wurde zurückgeschoben. Schritte näherten sich. Kurz darauf ragte der unheimliche Fremde wie ein Rachegott über ihm empor und starrte aus funkelnden Augen auf ihn und sein Elend herab.
Fred sah stöhnend in das mitleidlose Gesicht über sich. Bittend hob er die Hände. „Helfen Sie mir“, flehte er unter einer neuerlichen Schmerz- und Kältewelle erbebend.
„Helfen?! Ausgerechnet dir soll ich helfen?“, stieß der Mann hasserfüllt hervor. „Von wegen! Ich werde sie rächen, du verdammter Mistkerl!“, keifte er mit sich überschlagender Stimme. „Na, fällt endlich der Groschen?“
„Wer – wer ...?“, stöhnte Fred. Doch ein entsetzlicher Krampf in seinen Eingeweiden verhinderte jedes weitere Wort.
„Wer, wer“, äffte ihn sein herzloser Besucher nach. „Du weißt, weshalb ich gekommen bin. Ich sagte doch: Ich werde sie rächen“, zischte er. „Du fragst dich wie? Na, wie wohl!“
„Du stirbst!
Du stirbst hier und jetzt, und ich werde deinen Todeskampf bis zur letzten Sekunde genießen.“
„Wo...wovon reden Sie?“, presste der todgeweihte Mann mit letzter Kraft hervor. Gift! Der Kaffee! schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Er hat mich vergiftet. Und er hat Recht! Ich sterbe wirklich. Mit allen Fasern seines Körpers spürte er das Absterben seiner Glieder; und das grauenhafte Kältegefühl war kaum noch zu ertragen. Seine Atmung verlangsamte sich von Sekunde zu Sekunde. Er spürte den nahenden Tod.
Aber ... W A R U M ?!
Wieso sprach der Mann von Rache? Rache wofür? Und woher sollte er ihn kennen? War der Fremde verrückt?
Dieser ragte noch immer über ihm auf und starrte hasserfüllt auf sein Opfer herab. „Sieh her“, knurrte er und nahm die große Sonnenbrille ab. Vorsichtig rieb er sich mit einem Taschentuch die Schminke ab.
Fred starrte in das Gesicht. Er kannte es, aber woher? Und obwohl dem Tod bereits so nah, arbeitete sein Polizistengehirn noch immer tadellos. Er sah den kaum verheilten tiefen Riss über der Augenbraue und die im Abklingen begriffenen Blutergüsse, registrierte die blauvioletten Flecken auf den Wangen ebenso wie die lange, kaum verheilte Narbe am linken Nasenflügel. Schlimme Verletzungen von brutaler Menschenhand, erkannte Fred. Nur, was hatte das mit ihm zu tun?!
Er versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein unverständliches Krächzen hervor. Dafür begann sein mitleidloser Besucher zu reden. Doch vorher erhielt Fred einen Tritt in die Rippen, den er jedoch schon nicht mehr spürte. Er sah ihn zwar kommen, doch der Schmerz blieb aus; seine Gliedmaßen waren bereits abgestorben.
Was für ein Gift hat mir der Verrückte verabreicht, überlegte er. Strychnin? Blausäure? Nein, Blausäure nicht; den Geruch hätte ich bemerkt. Also Strychnin? Nein, auch nicht. Die Symptome sind anders, und der Tod stellt sich schneller ein. Aber schließlich war das für ihn nicht mehr wichtig. Er starb so oder so. Was sagte der Mann gerade?
„... und ich dachte noch: Geh zur Polizei. Schalte die Polizei ein. Ausgerechnet die Polizei! Du Perversling bist doch die Polizei! Mein Gott! Wie ich dich hasse!“, keuchte der Unbekannte und versetzte Fred noch einen Tritt. „Weißt du jetzt, weshalb ich gekommen bin?“, zischte er.
„Nei...ein“, stöhnte Fred.
„Aber jetzt?“, keuchte der Mann und riss sich den Schlapphut vom Kopf.
„Wa...as? Wie...wieso?!“, stöhnte Fred.
„Na? Begreifst du jetzt?“
Fred versuchte zu sprechen, zu fragen, zu erklären, brachte jedoch nur ein einziges Wort hervor:
„VERWECHSLUNG“
Sein Mörder starrte ihn an.
„VERWECHSLUNG!“, keuchte Fred entsetzt. Und in einer letzten Erkenntnis, bereits auf den Stufen ins Jenseits, schoss ihm ein Name durch den Kopf:
PAUL! Mein Gott! PAUL!
Sein durchtrainierter Körper bäumte sich auf. Ein letztes, gequältes Stöhnen. Dann Stille.
Es war vorbei. Fred Kowalski war tot.
Minutenlang starrte der Mörder auf den Toten zu seinen Füßen. Endlich hatte er sich gerächt! Drei Tage lang hatte er Fred Kowalski beobachtet und verfolgt; hatte nach einer Chance gesucht es ihm heimzuzahlen. Und es war ihm gelungen!
Er starrte auf den Leichnam und ... fühlte nichts. Wo blieb der Triumph dieses Monster bestraft zu haben? Wo, das euphorische Gefühl der Genugtuung? Nur Leere. Absolute Leere.
„Er hat den Tod verdient!“, rief der Mörder in die Stille des Raumes und zuckte vor dem Klang seiner eigenen Stimme erschrocken zurück. Hastig stülpte er sich den Hut über den Kopf und zog ihn tief ins Gesicht. Jetzt noch die Sonnenbrille! Er musste hier raus! Plötzlich bekam er keine Luft mehr. Die Stille des Raumes drohte ihn zu erdrücken. Er hastete aus dem Zimmer und öffnete vorsichtig die Wohnungstür. Er lauschte. Nichts! Im Treppenhaus hielt sich niemand auf. Geräuschlos zog er die Tür hinter sich zu und eilte die Treppe hinunter. Aufatmend trat er in den hellen Tag hinaus. Mit ruhigen Schritten ging er davon.